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Document 62022CC0392

Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 13. Juli 2023.
X gegen Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid.
Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats 's-Hertogenbosch.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und Einwanderung – Antrag auf internationalen Schutz – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 4 – Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Art. 3 Abs. 2 – Umfang der Pflichten des Mitgliedstaats, der den zuständigen Mitgliedstaat um Wiederaufnahme des Antragstellers ersucht hat und den Antragsteller in den letztgenannten Mitgliedstaat überstellen möchte – Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – Beweismittel und Beweismaßstab für die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung infolge systemischer Schwachstellen – Praktiken der pauschalen Zurückschiebung (,pushback‘) und der Inhaftnahme an Grenzübergangsstellen.
Rechtssache C-392/22.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:593

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 13. Juli 2023 ( 1 )

Rechtssache C‑392/22

X

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch [Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Dublin-System – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Überstellung des Asylbewerbers in den für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat – Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 – Unmöglichkeit der Durchführung der Überstellung aufgrund systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Antragsteller – Bedeutung – Pauschale Zurückschiebungen an den Außengrenzen und Haftmaßnahmen an Grenzübergangsstellen – Beweisregelung – Pflicht zur Zusammenarbeit und Umfang der Zusammenarbeit zwischen dem Antragsteller und der zuständigen Behörde“

I. Einleitung

1.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen wirft ein weiteres Mal die Frage nach der Bedeutung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ( 2 ) auf, wonach, wenn es nicht möglich ist, eine Person, die internationalen Schutz beantragt, an den Mitgliedstaat zu überstellen, der ursprünglich als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt worden ist (im Folgenden: zuständiger Mitgliedstaat), weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweist, die die Person der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ( 3 ) aussetzen, der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fortsetzt, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

2.

Dieses Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X, einem syrischen Staatsangehörigen, und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) über dessen Entscheidung, die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz nicht fortzusetzen, da der dafür zuständige Mitgliedstaat die Republik Polen sei. X setzt sich gegen die Durchführung seiner Überstellung in diesen Mitgliedstaat mit der Begründung zur Wehr, dass er an den polnischen Außengrenzen pauschal zurückgeschoben und danach an der Grenzübergangsstelle dieses Mitgliedstaats in angeblich rechtswidrigen Gewahrsam genommen worden sei, und zwar unter Bedingungen, die zudem seinen Bedürfnissen nicht entsprochen hätten.

3.

In der vorliegenden Rechtssache muss der Gerichtshof sein rechtliches Gebäude erweitern. Er hat nämlich zunächst den Grundsatz, auf dem Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung beruht, im Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. ( 4 ), herausgearbeitet und später in den Urteilen vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. ( 5 ), und vom 19. März 2019, Jawo ( 6 ), dessen Bedeutung präzisiert. Der vorliegende Fall unterscheidet sich von diesen Präzedenzfällen der Rechtsprechung insofern, als die Überstellung aufgrund der Tatsache unmöglich gemacht werden würde, dass der normalerweise zuständige Mitgliedstaat an seinen Grenzen schwere und systematische Verletzungen der Grundrechte von Drittstaatsangehörigen begangen hat.

4.

Im Rahmen der vorliegenden Würdigung werde ich zunächst die Gründe dafür darlegen, warum ich der Ansicht bin, dass die unter Nr. 2 der vorliegenden Schlussanträge genannten Praktiken allein nicht die Annahme rechtfertigen, dass es einen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund zu der Annahme gibt, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Fall einer Überstellung in den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat der echten Gefahr ausgesetzt wäre, während und nach der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erleiden.

5.

Im Anschluss daran werde ich erläutern, dass die zuständige Behörde unter diesen Umständen verpflichtet ist, die Überstellungsentscheidung zu vollstrecken, ohne zuvor Überprüfungen vorzunehmen oder von dem normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zusätzliche Informationen oder individuelle Garantien hinsichtlich der Aufnahmebedingungen für den Antragsteller zu verlangen.

6.

Schließlich werde ich anhand der Grundsätze, die der Gerichtshof bereits in seiner Rechtsprechung entwickelt hat, die Beweisregelung und die Modalitäten der Zusammenarbeit erläutern, die bei der Feststellung der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Antragstellers im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung zu beachten sind.

II. Rechtlicher Rahmen

7.

In den Erwägungsgründen 19, 32 und 39 der Dublin‑III‑Verordnung heißt es:

„(19)

Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der [Charta] Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.

(32)

In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Verordnung fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden.

(39)

Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der [Charta] anerkannt wurden. Diese Verordnung zielt insbesondere darauf ab, sowohl die uneingeschränkte Wahrung des in Artikel 18 der Charta verankerten Rechts auf Asyl als auch die in ihren Artikeln 1, 4, 7, 24 und 47 anerkannten Rechte zu gewährleisten. Diese Verordnung sollte daher in diesem Sinne angewandt werden.“

8.

Art. 3 („Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)   Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der [Charta] mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

…“

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen

9.

Der Kläger, ein 1992 geborener syrischer Staatsangehöriger, stellte am 9. November 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Polen. Am 21. November 2021 reiste er in die Niederlande ein, wo er am 22. November 2021 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz stellte. Am 20. Januar 2022 verlangte das Königreich der Niederlande von der Republik Polen die Wiederaufnahme des Klägers auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin‑III‑Verordnung. Am 1. Februar 2022 stimmte die Republik Polen seiner Wiederaufnahme auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 1 Buchst. c dieser Verordnung zu. Am 20. April 2022 erging die Entscheidung des Staatssekretärs, den Antrag des Klägers auf internationalen Schutz nicht zu berücksichtigen.

10.

Dieser reichte gegen diese Entscheidung bei der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, Klage ein und beantragte gleichzeitig bei dem für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter einstweilige Maßnahmen. Am 3. Juni 2022 gewährte dieser die beantragten Maßnahmen und untersagte die Überstellung des Klägers nach Polen, solange über die Klage nicht entschieden worden sei.

11.

Der Kläger trägt vor, dass die polnischen Behörden seine Grundrechte verletzt hätten, und er befürchtet daher, dass dies nach seiner Überstellung nach Polen erneut der Fall sein könnte. In diesem Zusammenhang erklärt er, dass er von den polnischen Behörden nach seiner Einreise nach Polen drei Mal in einem „Pushback“ vom Gebiet der Union nach Belarus zurückgedrängt worden sei. Dieses Vorgehen verletze die Menschenwürde, was nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein absoluter Hinderungsgrund für eine auf der Grundlage der Dublin‑III‑Verordnung durchgeführte Überstellung sei ( 7 ). Der Kläger untermauerte seine Aussagen mit Verweisen auf Berichte von Nichtregierungsorganisationen (NGO) sowie auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der nationalen Gerichte. Der Kläger kritisiert auch die Art und Weise, wie die polnischen Behörden ihn an der Grenze behandelt hätten, wo er insbesondere keine Hilfe von einem Dolmetscher bekommen habe, um Erklärungen oder Informationen zu erhalten. Er habe jedoch ein Dokument in arabischer Sprache erhalten, in dem die Dublin‑III‑Verordnung erläutert gewesen sei. Auf Anraten einer Organisation habe er der Abnahme seiner Fingerabdrücke zugestimmt. Der Kläger beschwert sich außerdem über die Bedingungen, unter denen er nach der Einreichung seines Antrags auf internationalen Schutz in Gewahrsam genommen worden sei, da er nicht genug zu essen bekommen und keine medizinische Untersuchung erhalten habe. Schließlich behauptet der Kläger, dass die Justiz in Polen nicht unabhängig sei, und ersuchte das vorlegende Gericht, dem Gerichtshof dieselben Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen wie in der Rechtssache, die dem Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. Mai 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid ( 8 ), zugrunde gelegen habe.

12.

Der Staatssekretär ist hingegen der Ansicht, dass er sich in Bezug auf die Republik Polen uneingeschränkt auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens stützen könne, so dass davon ausgegangen werden könne, dass sich der Kläger nach seiner Überstellung in diesen Mitgliedstaat nicht in einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Situation befinden werde. Er führt aus, dass die Praxis des „Pushbacks“ für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung irrelevant sei, da der Kläger dieser Praxis nicht ausgesetzt sein werde, sobald seine Überstellung erfolgt sei. Darüber hinaus betont er, dass der Kläger nicht nachgewiesen habe, dass die Situation, in der er sich nach seiner Überstellung nach Polen befinden werde, die vom Gerichtshof im Urteil Jawo definierte besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen werde.

13.

Der Staatssekretär erklärt schließlich, dass er keinen Grund sehe, von der Ermessensklausel in Art. 17 der Dublin‑III‑Verordnung Gebrauch zu machen und den Antrag auf internationalen Schutz des Klägers auf eigene Initiative zu prüfen.

14.

Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass es ihm obliege, darüber zu entscheiden, inwieweit die sich aus den „Pushbacks“ ergebenden Verletzungen der Grundrechte von Drittstaatsangehörigen und die von dem normalerweise zuständigen Mitgliedstaat begangenen rechtswidrigen Inhaftierungsmaßnahmen den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigten.

15.

Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist die Dublin‑III‑Verordnung angesichts ihrer Erwägungsgründe 3, 32 und 39 in Verbindung mit den Art. 1, 4, 18, 19 und 47 der Charta dahin auszulegen und anzuwenden, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Staaten nicht teilbar ist, so dass schwerwiegende und systematische Verstöße gegen das Unionsrecht, die vom eventuell zuständigen Mitgliedstaat vor der Überstellung gegenüber Drittstaatsangehörigen begangen werden, die (noch) keine Dublin-Rückkehrer sind, der Überstellung an diesen Mitgliedstaat absolut entgegenstehen?

2.

Bei Verneinung der ersten Frage: Ist Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung in Verbindung mit den Art. 1, 4, 18, 19 und 47 der Charta dahin auszulegen, dass, wenn der eventuell zuständige Mitgliedstaat das Unionsrecht auf schwerwiegende und systematische Weise verletzt, der überstellende Mitgliedstaat im Rahmen dieser Verordnung nicht ohne Weiteres vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Staaten ausgehen darf, sondern alle Zweifel daran beseitigen muss, dass der Antragsteller nach seiner Überstellung nicht in eine Situation geraten wird, die Art. 4 der Charta widerspricht, bzw. glaubhaft machen muss, dass dies nicht geschehen wird?

3.

Mit welchen Beweismitteln kann der Antragsteller seine Argumente, dass Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung seiner Überstellung entgegensteht, untermauern, und welcher Beweismaßstab ist dabei anzuwenden? Hat der überstellende Mitgliedstaat angesichts der Verweise auf den unionsrechtlichen Besitzstand in den Erwägungsgründen dieser Verordnung eine Pflicht zur Zusammenarbeit und/oder eine Vergewisserungspflicht bzw. müssen bei schwerwiegenden und systematischen Grundrechtsverstößen gegenüber Drittstaatsangehörigen individuelle Garantien vom zuständigen Mitgliedstaat eingeholt werden, dass die Grundrechte des Antragstellers nach der Überstellung beachtet werden? Fällt die Antwort auf diese Frage anders aus, wenn sich der Antragsteller in Beweisnot befindet, sofern er seine konsistenten und detaillierten Erklärungen nicht mit Dokumenten belegen kann, während dies angesichts der Art der Erklärungen nicht von ihm erwartet werden kann?

4.

Fällt die Antwort auf die dritte Frage anders aus, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass Beschwerden bei den Behörden und/oder die Einlegung von Rechtsbehelfen im zuständigen Mitgliedstaat nicht möglich und/oder nicht wirksam sind?

16.

Der Kläger, die niederländische, die belgische, die tschechische, die deutsche, die italienische, die ungarische, die österreichische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV. Würdigung

A.   Zur Bedeutung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung (erste und zweite Frage)

17.

Ich schlage dem Gerichtshof vor, die erste und die zweite Vorlagefrage gemeinsam zu prüfen.

18.

Zum einen wird der Gerichtshof mit der ersten Frage darum ersucht, zu klären, ob Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung dahin auszulegen ist, dass er der Vollstreckung einer Entscheidung zur Überstellung eines Antragstellers entgegensteht, wenn nachgewiesen ist, dass der normalerweise zuständige Mitgliedstaat vor dem Erlass einer solchen Entscheidung „schwerwiegende und systematische Verstöße gegen das Unionsrecht“ in Bezug auf den Antragsteller begangen hat. Diese Frage ist zwar besonders weit gefasst, doch geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen eindeutig hervor, dass das vorlegende Gericht seine Fragen auf zwei Arten von Praktiken konzentriert, die dieser Mitgliedstaat offenbar anwendet, wenn Drittstaatsangehörige versuchen, seine Außengrenzen zu überschreiten oder gerade überschritten haben, nämlich die Praxis der pauschalen Zurückschiebung und die Inhaftierungsmaßnahmen an den Grenzübergangsstellen.

19.

Ich stelle daher gleich zu Beginn fest, dass diese Frage nicht zu den Fällen gehört, in denen der Antragsteller das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände geltend macht, die ihm eigen sind, wie z. B. eine besondere Schutzbedürftigkeit, ein Fall, auf den der Gerichtshof in Rn. 95 des Urteils Jawo Bezug genommen hat und den er im Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. ( 9 ), geprüft hat.

20.

Zum anderen ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit der zweiten Frage für den Fall, dass der Gerichtshof der Ansicht sein sollte, dass diese Praktiken der Vollstreckung der Überstellungsentscheidung nicht entgegenstehen, um Klarstellung, inwieweit die zuständige Behörde verpflichtet ist, sich zu vergewissern, dass der Antragsteller aufgrund der Überstellung nicht der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.

1. Zum Umfang und zu den Modalitäten der Beurteilung, ob aufgrund des Vollzugs der Überstellung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht

21.

Gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung darf eine Person, die internationalen Schutz beantragt, nicht an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass ihr dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta aufgrund von systemischen Schwachstellen im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat droht. Diese Bestimmung kodifiziert die Rechtsprechung, die der Gerichtshof im Urteil N. S. u. a. entwickelt hat.

22.

Im Urteil Jawo hat der Gerichtshof den Umfang der Kontrolle, die das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht durchführen muss, mit der Begründung erweitert, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem und der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auf der Zusicherung beruhten, dass „die Anwendung dieses Systems in keinem Stadium und in keiner Weise zu einem ernsthaften Risiko von Verstößen gegen Art. 4 der Charta führt“ ( 10 ), da dieser Artikel ein allgemeines und absolutes Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung enthalte ( 11 ). Folglich muss sich diese Kontrolle sowohl auf das Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung beziehen, dem der Antragsteller zum Zeitpunkt der Überstellung ausgesetzt ist, als auch auf das Risiko, dem er als Antragsteller während des Verfahrens zur Prüfung seines Antrags und nach Abschluss dieses Verfahrens entweder als Person mit Flüchtlingsstatus oder subsidiärem Schutzstatus ( 12 ) oder als Drittstaatsangehöriger, der auf seine Abschiebung wartet, wenn die Gewährung internationalen Schutzes abgelehnt wird ( 13 ), ausgesetzt ist.

23.

Der Gerichtshof erlegt der zuständigen Behörde eine Kontrolle auf, die zwei Schritte umfasst.

24.

Der erste Schritt besteht darin, das tatsächliche Risiko des Antragstellers, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben zu bewerten. Diese Angaben sollen es ihr ermöglichen, die Funktionsweise des Systems des internationalen Schutzes in dem zuständigen Mitgliedstaat einzuschätzen, insbesondere, ob bei der Aufnahme von Antragstellern entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen ( 14 ) vorliegen, und gegebenenfalls, ob die individuellen Garantien, die dieser Mitgliedstaat bieten kann, angemessen und ausreichend sind. Diese Angaben können sich insbesondere aus internationalen Gerichtsentscheidungen wie Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem Regelwerk der Vereinten Nationen sowie aus regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten internationaler NGO ergeben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bei den zuständigen Behörden „grundsätzlich davon auszugehen ist, dass ihnen die allgemeinen Mängel bekannt sind, die in zuverlässigen Berichten unter anderem des [Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen], des Europarats und der Einrichtungen der Europäischen Union ausführlich beschrieben werden“ ( 15 ).

25.

In Bezug auf die Kriterien, anhand deren die zuständige Behörde diese Beurteilung vornehmen muss, hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Schwachstellen, um unter Art. 4 der Charta zu fallen, eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen müssten, die von sämtlichen Umständen des Falls abhänge ( 16 ). Nach Ansicht des Gerichtshofs ist diese Schwelle in Situationen erreicht, die durch eine extreme materielle Not des Betroffenen gekennzeichnet sind, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzen, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist ( 17 ). Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht ( 18 ).

26.

Der zweite Schritt dieser Kontrolle muss es der zuständigen Behörde ermöglichen, konkret und präzise zu beurteilen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person aufgrund der Behandlung, die ihr bei und nach der Prüfung ihres Antrags zuteilwird, dieser echten Gefahr ausgesetzt ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden. Diese Einschätzung erfordert eine individuelle und vorausschauende Bewertung der Gefahr, der sie ausgesetzt sein wird.

2. Zu den Auswirkungen der pauschalen Zurückschiebungen von Drittstaatsangehörigen und der Inhaftnahmen von Antragstellern an Grenzübergangsstellen auf die Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung

27.

Im vorliegenden Fall bezieht sich das Vorbringen des Klägers nicht auf das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die ihm eigen sind, sondern vielmehr auf das Vorliegen von Verstößen oder Mängeln beim Vollzug durch den Mitgliedstaat, der normalerweise für die Verfahren zur Aufnahme von Drittstaatsangehörigen und Personen, die internationalen Schutz an seinen Grenzen beantragen, zuständig ist. Wie das vorlegende Gericht ausführt, beschwert sich der Kläger zum einen darüber, dass er vor der Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz an der polnischen Außengrenze mehrfach pauschal zurückgeschoben worden sei, und zum anderen über die Behandlung, die er bei seiner Einreise in das polnische Hoheitsgebiet und der Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz erfahren habe, da er an der Grenzübergangsstelle in Gewahrsam genommen worden sei. Das vorlegende Gericht betont insoweit, dass die Anwendung dieser beiden Praktiken durch objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Informationen belegt sei.

28.

Ich glaube nicht, dass diese Argumente, selbst wenn sie durch solche Informationen belegt sind, ausreichen, um die Anwendung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens auszuschließen und somit der Vollstreckung der gemäß Art. 29 der Dublin‑III‑Verordnung erlassenen Überstellungsentscheidung entgegenzustehen.

29.

Soweit diese Argumente Praktiken betreffen, die sich auf die Bedingungen des Überschreitens der Außengrenzen eines Mitgliedstaats und der Einreichung von Anträgen auf internationalen Schutz an diesen Grenzen beziehen, erlauben sie es nämlich nicht, die zu erwartenden Aufnahmebedingungen des Antragstellers im Fall einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat zu belegen.

30.

Was die Praxis der pauschalen Zurückschiebungen von Drittstaatsangehörigen von der Grenze eines Mitgliedstaats betrifft, so stellt eine solche Praxis eindeutig einen schweren Eingriff in die Grundrechte dieser Personen dar. Unabhängig vom Rechtsstatus der betroffenen Person ist der Grundsatz der Nichtzurückweisung, der in Art. 78 Abs. 1 AEUV sowie in den Art. 18 und 19 der Charta verankert ist, ein wesentlicher Bestandteil des Verbots der Folter und von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Dieser Grundsatz verbietet die Abschiebung, Ausweisung oder Auslieferung nicht nur in ein Land, in dem einer Person Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden droht (unmittelbare Zurückweisung), sondern auch in ein Land, in dem für sie eine ernsthafte Gefahr einer späteren Abschiebung in ein solches Land besteht (mittelbare Zurückweisung).

31.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüft die Rechtmäßigkeit dieser Praxis, die auch als „summarische Ausweisung“ oder „Zwangsrückführung“ bezeichnet wird, im Zusammenhang mit Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ( 19 )oder Art. 4 („Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern“ ( 20 )) des Protokolls [Nr. 4] zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, durch das gewisse Rechte und Freiheiten gewährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll ( 21 ) enthalten sind, in der durch das Protokoll Nr. 11 geänderten Fassung. Er knüpft sie an die Ausweisung, die jede zwangsweise Verbringung eines Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet eines Staats bezeichnet, unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der betreffenden Person, der Zeit, die sie in diesem Hoheitsgebiet verbracht hat, dem Ort, an dem sie aufgegriffen worden ist, ihrem Status als Migrant oder Asylbewerber oder ihrem Verhalten beim Grenzübertritt ( 22 ). Dem Drittstaatsangehörigen wird de facto die Möglichkeit genommen, Zugang zum Staatsgebiet zu erhalten. Dieser Zugang ist jedoch eine unabdingbare Voraussetzung für die Durchführung eines Verfahrens zur Ermittlung und Bewertung der besonderen Bedürfnisse der schutzbedürftigsten Personen. Für manche Drittstaatsangehörige kann es daher unmöglich sein, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

32.

In diesem Zusammenhang bin ich der Ansicht, dass die Praxis der pauschalen Zurückschiebungen von der Grenze eines Mitgliedstaats das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in seiner externen Dimension insofern beeinträchtigt, als sie den Zugang zu internationalem Schutz nicht gewährleistet.

33.

Die Tatsache, dass der normalerweise zuständige Mitgliedstaat im Rahmen des integrierten Grenzmanagements und der Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 ( 23 ) auf erhebliche Schwierigkeiten stößt, die ihn an der Grenze zu Praktiken veranlassen, die die Grundrechte der betroffenen Personen verletzen können, kann jedoch für sich genommen keinen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme darstellen, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt, im Fall einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat der echten Gefahr ausgesetzt ist, während der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz oder im Anschluss daran eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erleiden ( 24 ). Wie der Staatssekretär vor dem vorlegenden Gericht betont, ist die Praxis der pauschalen Zurückschiebung für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung nicht relevant, da der Kläger dieser Praxis nicht ausgesetzt sein wird, sobald seine Überstellung erfolgt ist.

34.

Die Art und Schwere der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, die dem Antragsteller aufgrund der Überstellung in den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat droht, ist anhand genauer Angaben zu den Schwachstellen oder Mängeln zu beurteilen, die dieser Mitgliedstaat in Situationen verzeichnet, die objektiv mit den Situationen vergleichbar sind, in die der Antragsteller nach der Durchführung dieser Überstellung in seiner Eigenschaft als Antragsteller während des Verfahrens zur Prüfung seines Antrags und danach entweder in seiner Eigenschaft als Person, der die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus nach Abschluss dieses Verfahrens zuerkannt wird, oder – im Fall der Ablehnung seines Antrags – in seiner Eigenschaft als Drittstaatsangehöriger, dem die Abschiebung bevorsteht, voraussichtlich geraten wird ( 25 ). Die Angaben zu den Praktiken, die der normalerweise zuständige Mitgliedstaat beim Versuch, seine Außengrenzen zu überschreiten, oder bei der Einreichung von Anträgen auf internationalen Schutz an seinen Grenzen anwendet, lassen keine Rückschlüsse auf die Behandlung zu, die dem Betroffenen im weiteren Verlauf und nach Abschluss des Verfahrens zur Prüfung seines Antrags gewährt werden wird. Selbst wenn diese Angaben auf schwerwiegende Verletzungen der Grundrechte von Drittstaatsangehörigen hindeuten würden, dürften sie nicht als relevante Daten für die Bewertung des Risikos einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung angesehen werden, die die zuständige Behörde auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung vornehmen muss, da dies die Funktionsweise dieser Verordnung beeinträchtigen könnte.

35.

Diese Schlussfolgerung gilt auch für die Mängel, denen der normalerweise zuständige Mitgliedstaat im Umgang mit Drittstaatsangehörigen beim Überschreiten der Grenzen und bei der Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen und an den Grenzübergangsstellen in Gewahrsam genommen werden, begegnet. Diese Mängel betreffen Situationen, die sowohl aufgrund des Status des Drittstaatsangehörigen als auch aufgrund des anwendbaren Regelwerks nicht mit der Situation vergleichbar sind, in der sich der Antragsteller, gegen den eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, voraussichtlich befinden wird. Da keine Daten vorliegen, die systemische oder allgemeine oder eine bestimmte Personengruppe betreffende Schwachstellen bei der Umsetzung der Richtlinie 2013/33 und insbesondere beim Zugang zu den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen belegen, reichen diese Erwägungen auch nicht aus, um einen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme zu schaffen, dass für die betroffene Person im Fall einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat eine echte Gefahr besteht, während oder nach der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung insbesondere dadurch zu erfahren, dass sie einer Situation extremer materieller Not ausgesetzt ist ( 26 ).

36.

Abschließend ist festzustellen, dass in Ermangelung objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben, die belegen können, dass in dem normalerweise zuständigen Mitgliedstaat systemische oder allgemeine Schwachstellen im System des internationalen Schutzes oder Schwachstellen bei der Aufnahme und Behandlung einer objektiv identifizierbaren Gruppe von Personen, zu der der Antragsteller gehört, vorliegen, für die zuständige Behörde kein Grund zu der Annahme besteht, dass die Behandlung, die dem Antragsteller während der Prüfung seines Antrags und im Anschluss daran zuteilwerden wird, ihn der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aussetzen wird. Stattdessen hat sich die Behörde bei ihrer Beurteilung gemäß dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auf die Tatsache zu stützen, dass die Grundrechte, einschließlich der Rechte, die im Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ( 27 ) in der durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzten Fassung ( 28 ) und in der EMRK ( 29 ) verankert sind, Beachtung finden werden.

37.

Unter diesen Umständen ist es der zuständigen Behörde nicht gestattet, von dem normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu verlangen, dass er zusätzliche Informationen oder individuelle Garantien in Bezug auf die Aufnahme- und Lebensbedingungen des Antragstellers während und nach der Prüfung des Antrags vorlegt, da sie anderenfalls den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens missachtet, den die Mitgliedstaaten einander entgegenbringen müssen und auf dem das Gemeinsame Europäische Asylsystem beruht. Darüber hinaus würden solche Schritte, da sie zusätzliche Zeit in Anspruch nehmen würden, nicht gewährleisten können, dass der zuständige Mitgliedstaat schnell ermittelt und die Anträge zügig bearbeitet werden, obwohl dies die Ziele sind, die der Unionsgesetzgeber mit der Dublin‑III‑Verordnung erreichen möchte ( 30 ).

38.

In Anbetracht dessen bin ich der Ansicht, dass Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung, gelesen im Licht von Art. 4 der Charta, dahin auszulegen ist, dass er der Vollstreckung einer Entscheidung zur Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt, die an der Außengrenze des Mitgliedstaats, der nach dieser Verordnung normalerweise für die Prüfung ihres Antrags zuständig ist, pauschal zurückgeschoben worden ist und die an der Grenzübergangsstelle dieses Mitgliedstaats angeblich rechtswidrig in Gewahrsam genommen worden ist, nicht entgegensteht, sofern der zuständigen Behörde keine Anhaltspunkte vorliegen, die belegen können, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass sie einer echten Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund ihrer Überstellung in den genannten Mitgliedstaat während der Prüfung ihres Antrags und im Anschluss daran unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden.

39.

In Ermangelung solcher Anhaltspunkte ist die zuständige Behörde verpflichtet, die Überstellungsentscheidung gemäß Art. 29 der genannten Verordnung zu vollstrecken, ohne zuvor eine Überprüfung vorzunehmen oder von dem normalerweise zuständigen Mitgliedstaat die Mitteilung zusätzlicher Informationen oder die Gewährung individueller Garantien hinsichtlich der Behandlung des Betroffenen während des Verfahrens zur Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz und nach dessen Abschluss zu verlangen.

B.   Zur Beweisregelung und zur Kooperationspflicht, die im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung gelten (dritte und vierte Frage)

40.

Ich schlage dem Gerichtshof vor, die dritte und die vierte Vorlagefrage gemeinsam zu behandeln.

41.

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof zum einen wissen, welche Beweisregelung im Rahmen der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung gilt. Es fragt insbesondere nach den Beweismitteln und dem Beweismaß, das erforderlich ist, um festzustellen, ob die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta infolge einer Überstellung in den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat besteht.

42.

Zum anderen fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob für die zuständige Behörde eine Pflicht zur Zusammenarbeit bei der Feststellung eines solchen Risikos besteht und wie weit diese gegebenenfalls reicht. In diesem Zusammenhang bittet es den Gerichtshof, den Umfang zu präzisieren, in dem die zuständige Behörde verpflichtet ist, Nachforschungen anzustellen, ob in dem normalerweise zuständigen Mitgliedstaat die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht, oder individuelle Garantien für den Fall zu verlangen, dass dieser Mitgliedstaat schwere und systematische Grundrechtsverletzungen begeht.

43.

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, welchen Einfluss das Fehlen eines effektiven Rechtsschutzes in dem normalerweise zuständigen Mitgliedstaat auf die Beweisregelung oder die im Rahmen der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung festgelegten Modalitäten der Zusammenarbeit hat.

1. Zu der im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin III‑Verordnung anwendbaren Beweisregelung

44.

Der Unionsgesetzgeber trifft keine Bestimmungen zur Beweisregelung, die bei der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung gilt. Ich bin jedoch der Ansicht, dass sich aus der Systematik dieser Verordnung sowie aus den Regeln, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, die Grundsätze ableiten lassen, auf denen diese Regelung beruhen muss.

45.

Erstens muss der Antragsteller bei der Prüfung, die gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der genannten Verordnung durchzuführen ist, die Möglichkeit haben, alle ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel vorzubringen, die zur Feststellung beitragen, dass bei einer Überstellung in den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht.

46.

Der Antragsteller muss diese Möglichkeit im Stadium des persönlichen Gesprächs und gegebenenfalls des Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung erhalten.

47.

Das persönliche Gespräch ist Teil der allgemeinen Grundsätze und Schutzgarantien, die in Kapitel II der Dublin‑III‑Verordnung aufgeführt sind. Nach Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung muss die zuständige Behörde ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller führen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern und um das richtige Verständnis der dem Antragsteller gemäß Art. 4 dieser Verordnung bereitgestellten Informationen zu ermöglichen. Dieses Gespräch soll dem Antragsteller vor allem die Gelegenheit geben, einschlägige Erklärungen abzugeben und/oder alle in Art. 21 Abs. 3 und Art. 22 Abs. 3 dieser Verordnung genannten Beweismittel und Indizien vorzubringen, die für die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats sprechen und auf die das Aufnahmegesuch gestützt wird ( 31 ). Diese Beweismittel und Indizien beziehen sich auf die Anwendung der in Kapitel III der Dublin‑III‑Verordnung aufgeführten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, was das „Ausschlusskriterium“ in Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung nicht umfasst ( 32 ). Meines Erachtens spricht jedoch nichts dagegen, dass diese persönliche Anhörung dem Antragsteller auch die Gelegenheit bietet, seine Befürchtungen darzulegen und gegebenenfalls Informationen mitzuteilen, die belegen können, dass die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht, falls seine eventuelle Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat in Betracht gezogen wird. Denn der Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der genannten Verordnung ist weit genug, um diese Auslegung zuzulassen, die zudem zur Erreichung des Ziels beiträgt, das der Unionsgesetzgeber mit der Forderung nach einem persönlichen Gespräch verfolgt, nämlich die Rechte der Antragsteller zu stärken und sie so weit wie möglich in den Prozess der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats einzubeziehen ( 33 ). Schließlich scheint mir diese Auslegung durch die Grundsätze gestützt zu werden, die der Gerichtshof in den Urteilen vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. ( 34 ), und vom 16. Juli 2020, Addis ( 35 ), entwickelt hat und die sich auf die Beurteilung der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung beziehen, der der Antragsteller im Fall einer Rückführung in den Mitgliedstaat ausgesetzt wäre, in dem er bereits internationalen Schutz genießt. Ich verweise insoweit auf die Nrn. 55 bis 57 der vorliegenden Schlussanträge.

48.

Nach Erlass einer Überstellungsentscheidung kann der Antragsteller im Rahmen des Rechtsbehelfs, den er gemäß Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III‑Verordnung gegen diese Entscheidung einlegen kann, die Gründe dafür anführen, dass ihn eine solche Überstellung der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aussetzt. Der vorliegende Fall ist ein Beispiel hierfür.

49.

Was zweitens die vom Antragsteller vorzulegenden Beweismittel betrifft, so hat die Kommission in ihren Erklärungen dargelegt, dass im Hinblick auf das Urteil Jawo „der Antragsteller objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben dafür vorlegen muss, dass entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, die eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen“.

50.

Dieser Analyse stimme ich nicht zu.

51.

Zum einen scheint mir diese Auslegung darauf hinauszulaufen, dass dem Antragsteller eine Beweislast auferlegt wird, die angesichts der Schwierigkeiten, mit denen er bei der Beweisführung konfrontiert sein kann, und insbesondere angesichts der ihm zur Verfügung stehenden Mittel übermäßig hoch ist.

52.

Ich teile die Ansicht, dass es grundsätzlich Sache des Antragstellers ist, Belege dafür vorzubringen, dass es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass er im Fall der Vollstreckung der Überstellungsentscheidung der echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre. Ich bin jedoch der Auffassung, dass bei den Anforderungen an die Art und das Maß der erforderlichen Beweise Umsicht erforderlich ist, da sie von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängen. So schließe ich mich der Bemerkung der polnischen Regierung an, dass das Fehlen jeglicher Dokumente, die die Erklärung des Antragstellers bestätigen, für sich genommen noch nicht ausreicht, um von einer mangelnden Beweiskraft auszugehen. Denn manche Antragsteller sind in der Lage, ihre Befürchtungen konkret darzulegen, indem sie aussagekräftige Informationen und sogar schriftliche Nachweise über die Bedingungen während der Aufnahme vorlegen, weil sie sich in dieser Eigenschaft im Hoheitsgebiet des normalerweise zuständigen Mitgliedstaats aufgehalten haben, bevor sie diesen verlassen haben. Andere wiederum sind nicht in der Lage, Beweise zur Untermauerung ihrer Erklärungen vorzulegen und, falls vorhanden, die aussagekräftigsten Beweise vorzubringen. Diesbezüglich betont die niederländische Regierung in ihren Erklärungen, dass der Antragsteller die über den betreffenden Mitgliedstaat verfügbaren Informationen vorlegen kann, wie etwa Berichte der Asylum Information Database (AIDA) oder Kooperationsvereinbarungen zwischen diesem Mitgliedstaat und der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) oder auch Berichte von Menschenrechtsorganisationen. Zwar können einige Antragsteller im Stadium des Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung effektiv die Mittel nutzen, die ihnen ihr Rechts- und Sprachbeistand bietet, doch bin ich nicht davon überzeugt, dass sie in der Mehrzahl der Fälle unbedingt wissen, aus welchen Quellen sie zweckdienliche Informationen über die Achtung der Grundrechte von Antragstellern in einem Mitgliedstaat beziehen können und wie sie gegebenenfalls Zugang dazu erhalten.

53.

Unter diesen Umständen kann vom Antragsteller zwar verlangt werden, dass er die Gegebenheiten seiner persönlichen Situation durch Art und Umfang seiner Erklärungen und gegebenenfalls durch schriftliche Nachweise oder Indizien, die sich in seinem Besitz befinden, hinreichend belegt, doch kann von ihm hingegen nicht erwartet werden, dass er objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben macht, mit denen das Vorliegen von Schwachstellen in dem normalerweise zuständigen Mitgliedstaat sowie das Ausmaß der Gefahr, der er ausgesetzt ist, nachgewiesen werden kann. Solche Schritte fallen meines Erachtens in die Verantwortung der zuständigen Behörde, die allein in der Lage ist, die rechtliche Beurteilung vorzunehmen, die die Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung erfordert.

54.

Zum anderen sehe ich keinen Grund, der es rechtfertigen würde, dass der Antragsteller eine schwerere Beweislast trägt als die, die ihn trifft, wenn er nachweisen muss, dass er Gefahr läuft, in einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenen Art und Weise behandelt zu werden, wenn er in den Mitgliedstaat rücküberstellt wird, in dem er bereits internationalen Schutz genießt.

55.

Ich erinnere daran, dass der Gerichtshof im Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. ( 36 ), das am selben Tag wie das Urteil Jawo verkündet wurde, dahin entschieden hat, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU ( 37 ) es nicht verbiete, dass ein Mitgliedstaat die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis ausübe, einen Antrag auf internationalen Schutz mit der Begründung als unzulässig abzulehnen, dass dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden sei, wenn der Antragsteller keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt sei, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als Person mit einem solchen Schutzstatus erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren ( 38 ).

56.

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof die gleichen Grundsätze aufgestellt wie im Urteil Jawo, wobei er dieses Urteil analog angewandt hat. So hat er festgestellt, dass die Behörden eines Mitgliedstaats, in dem Fall, dass sie über Angaben verfügten, die der Antragsteller vorgelegt habe, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem bereits subsidiären Schutz gewährenden Mitgliedstaat nachzuweisen, verpflichtet seien, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorlägen ( 39 ). Was die Schwelle der Erheblichkeit betrifft, so ist diese logischerweise mit der im Urteil Jawo definierten Schwelle identisch und impliziert, dass die betroffene Person der Gefahr ausgesetzt ist, in eine Situation extremer materieller Not zu geraten ( 40 ).

57.

Im Urteil vom 16. Juli 2020, Addis ( 41 ), ist der Gerichtshof zu dem Schluss gekommen, dass die Beurteilung der Gefahr einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung erfolgen müsse, nachdem dem Antragsteller die Gelegenheit gegeben worden sei, alle Umstände, insbesondere persönlicher Art, vorzutragen, die das Vorhandensein der Gefahr bestätigen könnten ( 42 ). So hat der Gerichtshof geurteilt, dass die persönliche Anhörung der Asylbehörde nicht nur die Möglichkeit geben müsse, die spezifische Situation des Antragstellers sowie den Grad seiner Schutzbedürftigkeit zu beurteilen, sondern auch sich zu vergewissern, dass der Antragsteller aufgefordert worden sei, „alle Umstände vorzubringen, mit denen nachgewiesen werden könnte, dass ihn eine Abschiebung in den Mitgliedstaat, der ihm bereits internationalen Schutz gewährt hat, der Gefahr einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung aussetzen würde“ ( 43 ).

58.

Es ist festzustellen, dass der Gerichtshof hier – wie der Unionsgesetzgeber – keine Anforderungen an die Art und die Beweiskraft der Beweismittel gestellt hat, die der Antragsteller zur Stützung seiner Behauptungen vorlegen muss. Meines Erachtens gibt es daher keinen Grund, im Rahmen der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung von diesen Grundsätzen abzuweichen, da die Situation des Antragstellers, der vorträgt, er sei der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt, nicht davon abhängt, ob er in den Mitgliedstaat, in dem er bereits internationalen Schutz genießt, oder in den zuständigen Mitgliedstaat zurückgeschickt wird.

59.

Ich komme zu dem Schluss, dass es dem Antragsteller obliegt, die einschlägigen Erklärungen abzugeben und gegebenenfalls alle in seinem Besitz befindlichen Beweismittel vorzulegen, die belegen können, dass es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass er aufgrund der Überstellung in den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat einer echten Gefahr ausgesetzt sein würde, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden.

2. Zum Bestehen und zum etwaigen Umfang der Kooperationspflicht der zuständigen Behörde im Rahmen der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung

60.

In einem zweiten Abschnitt seiner dritten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klärung, inwieweit die zuständige Behörde verpflichtet ist, mit dem Antragsteller zusammenzuarbeiten, um festzustellen, ob im Fall der Überstellung in den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung besteht. Eine solche Verpflichtung würde, da sie von dieser Behörde verlangen würde, das Vorhandensein einer echten Gefahr, eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung zu erleiden, eingehend zu prüfen und zu bewerten, die Schwierigkeiten ausgleichen, denen der Antragsteller beim Nachweis des Vorhandenseins eines solchen Risikos ausgesetzt ist, da er zudem nicht in den Genuss der gleichen Verfahrensgarantien gelangt, wie sie in den Richtlinien 2011/95 und 2013/32 vorgesehen sind.

61.

Die Dublin‑III‑Verordnung begründet keine Verpflichtung zur Zusammenarbeit zwischen dem Antragsteller und der zuständigen Behörde im Rahmen der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Verordnung.

62.

Zum einen beruht die Dublin‑III‑Verordnung in erster Linie auf den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Zwar wird der Antragsteller von der zuständigen Behörde in einem persönlichen Gespräch angehört, doch basiert das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß Kapitel VII dieser Verordnung insbesondere auf dem Informationsaustausch, dem Austausch von Daten sowie auf Verwaltungsvereinbarungen zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. So hat die Verordnung Nr. 1560/2003 gemäß ihrem ersten Erwägungsgrund zum Ziel, die Modalitäten für die wirksame Durchführung der Dublin‑III‑Verordnung klar festzulegen, „um die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Verordnung mit Blick auf die Übermittlung und Behandlung der Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuche wie auch hinsichtlich Informationsersuchen und der Durchführung von Überstellungen zu erleichtern“.

63.

Zum anderen hat Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung die Grundsätze kodifiziert, die der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache N. S. u. a. entwickelt hat, ohne dass der Unionsgesetzgeber besondere Bestimmungen zum Bestehen einer möglichen Pflicht zur Zusammenarbeit zwischen dem Antragsteller und der zuständigen Behörde aufgenommen hat.

64.

Angesichts des Schweigens dieses Texts schlägt die polnische Regierung in ihren Erklärungen vor, die in Art. 4 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Bestimmungen analog anzuwenden, wobei das vorlegende Gericht insoweit feststellt, dass die Verpflichtung zur Zusammenarbeit, die dann zum Zweck der Feststellung der Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Fall der Überstellung in den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat eingeführt würde, nach ihrer Art und ihrem Umfang mit der im Rahmen der Richtlinie 2011/95 festgelegten vergleichbar sei.

65.

Eine analoge Anwendung erfordert, wenn nicht eine Identität, so doch zumindest eine Ähnlichkeit zwischen der Situation, hinsichtlich der eine Regelungslücke besteht, und der vom Unionsgesetzgeber geregelten Situation. Allerdings unterscheidet sich die Dublin‑III‑Verordnung zwar hinsichtlich ihres Gegenstands und ihrer Zielsetzung von den Richtlinien 2011/95 und 2013/32 ( 44 ), doch die in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Verordnung genannte Situation, die sich auf die Schaffung der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Fall der Überstellung des Antragstellers in den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat bezieht, und die in Art. 4 der Richtlinie 2011/95 genannte Situation, die sich auf die Feststellung einer echten Gefahr eines ernsthaften Schadens im Fall der Rückkehr des Antragstellers in sein Herkunftsland bezieht, ähneln sich hinsichtlich des Daseinszwecks dieser Bestimmungen. Zwar hat die Risikobewertung im Rahmen des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats einen geringeren Umfang. Sie verfolgt jedoch denselben Zweck wie diejenige, die bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz durchgeführt wird, nämlich die Achtung der Grundrechte des Antragstellers zu gewährleisten, und bezieht die gleichen Akteure mit ein.

66.

Ich bin jedoch nicht der Ansicht, dass eine analoge Anwendung notwendig ist. Denn der Gerichtshof hat in den Urteilen N. S. u. a., vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. ( 45 ), und Jawo, implizit eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit zwischen dem Antragsteller und der zuständigen Behörde im Rahmen der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung begründet, deren Modalitäten den in Art. 4 der Richtlinie 2011/95 festgelegten Modalitäten ähneln.

67.

In beiden Fallkonstellationen stellen die Erklärungen des Antragstellers im persönlichen Gespräch und gegebenenfalls die von ihm vorgelegten schriftlichen Nachweise oder Indizien lediglich den Ausgangspunkt für das Verfahren der Bewertung der Fakten und Umstände durch die zuständigen Behörden dar ( 46 ). Wie in den Bestimmungen von Art. 4 Abs. 3 und 5 der Richtlinie 2011/95 ( 47 ) verlangt der Gerichtshof, dass die zuständige Behörde die echte Gefahr für den Antragsteller, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden, nicht nur anhand objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben über das Funktionieren des Systems des internationalen Schutzes in dem normalerweise zuständigen Mitgliedstaat, sondern auch anhand der besonderen Situation des Antragstellers beurteilt, wobei die Behörde eine Einzelfallprüfung vorzunehmen hat ( 48 ).

68.

Ich räume ein, dass sich der Umfang dieser Zusammenarbeit zwischen dem Antragsteller und der zuständigen Behörde im Rahmen der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung in einer Fallkonstellation von der in Art. 4 der Richtlinie 2011/95 festgelegten Zusammenarbeit unterscheidet, nämlich in der Konstellation, dass diese Beurteilung ergibt, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Antragsteller aufgrund seiner Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird. Denn in diesem Fall verlangen die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der Verwaltungszusammenarbeit, auf denen die Dublin‑III‑Verordnung beruht, meiner Meinung nach, dass die zuständige Behörde je nach Fall den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat auffordert, zusätzliche Informationen zu übermitteln oder individuelle und angemessene Garantien hinsichtlich der Bedingungen für die Aufnahme des Antragstellers abzugeben, um die Überstellungsentscheidung unter Beachtung von Art. 4 der Charta zu vollstrecken. Erweisen sich diese Garantien als unzureichend, beinhaltet dieser Artikel nämlich die Verpflichtung, diese Entscheidung nicht zu vollstrecken, da Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung von der zuständigen Behörde verlangt, dass sie die Prüfung der in Kapitel III dieser Verordnung festgelegten Kriterien fortsetzt, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann (Unterabs. 2), oder den Antrag auf internationalen Schutz selbst prüft (Unterabs. 3).

3. Zu den Auswirkungen einer etwaigen Ineffektivität oder Unzulänglichkeit der Rechtsbehelfe im zuständigen Mitgliedstaat auf die Beweisregelung oder die Modalitäten der Zusammenarbeit, die im Rahmen der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung festgelegt sind

69.

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht schließlich wissen, inwieweit die Ineffektivität oder Unzulänglichkeit der Rechtsbehelfe, die zum Fehlen eines effektiven Rechtsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat führen, die Beweisregelung oder die Modalitäten der Zusammenarbeit beeinflussen, die im Rahmen der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung gelten.

70.

Wie die niederländische Regierung bin ich der Ansicht, dass das etwaige Vorhandensein von Defiziten in dem normalerweise zuständigen Mitgliedstaat als solches keine Auswirkungen auf diese Beweisregelung oder diese Modalitäten der Zusammenarbeit zwischen dem Antragsteller und der zuständigen Behörde hat. Für sich genommen stellt dieser Umstand keinen Verstoß gegen Art. 4 der Charta dar. In Verbindung mit dem Vorhandensein von Schwachstellen im System des internationalen Schutzes hat dies hingegen Auswirkungen auf den Umfang der Risikoprüfung, die die zuständige Behörde vornehmen muss, und gegebenenfalls auf die zusätzlichen Informationen oder individuellen Garantien, die sie verlangen kann.

71.

Nach alledem bin ich der Ansicht, dass es Aufgabe der zuständigen Behörde ist, in Zusammenarbeit mit dem Antragsteller zu bewerten, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Antragsteller aufgrund der Überstellung in den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat der echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird. Während der Antragsteller verpflichtet ist, einschlägige Erklärungen abzugeben und gegebenenfalls alle in seinem Besitz befindlichen Belege vorzulegen, die das Bestehen eines solchen Risikos beweisen können, ist die zuständige Behörde ihrerseits verpflichtet, diese Belege zu bewerten und ihre Risikobewertung nicht nur auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben über das Funktionieren des Systems des internationalen Schutzes in diesem Mitgliedstaat, sondern auch auf der Grundlage der besonderen Situation des Antragstellers vorzunehmen, indem sie von diesem Mitgliedstaat gegebenenfalls individuelle und angemessene Garantien hinsichtlich der Aufnahmebedingungen für den Antragsteller einfordert.

V. Ergebnis

72.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande) wie folgt zu beantworten:

Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, gelesen im Licht von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union,

ist dahin auszulegen, dass

er der Vollstreckung einer Entscheidung zur Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt und geltend macht, dass sie an der Außengrenze des Mitgliedstaats, der nach dieser Verordnung normalerweise für die Prüfung ihres Antrags zuständig ist, pauschal zurückgeschoben worden und angeblich rechtswidrig an der Grenzübergangsstelle dieses Mitgliedstaats in Gewahrsam genommen worden sei, nicht entgegensteht, sofern der zuständigen Behörde keine Anhaltspunkte vorliegen, die belegen können, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass sie während der Prüfung ihres Antrags und nach deren Abschluss aufgrund ihrer Überstellung in den genannten Mitgliedstaat einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden. In Ermangelung solcher Anhaltspunkte ist die zuständige Behörde verpflichtet, die Überstellungsentscheidung gemäß Art. 29 der genannten Verordnung zu vollstrecken, ohne zuvor Überprüfungen vorzunehmen oder von dem Mitgliedstaat, der normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, die Mitteilung zusätzlicher Informationen oder die Gewährung individueller Garantien hinsichtlich der Behandlung der betroffenen Person während des Verfahrens der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz und nach dessen Abschluss zu verlangen;

es Aufgabe der zuständigen Behörde ist, in Zusammenarbeit mit dem Antragsteller auf internationalen Schutz zu bewerten, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Antragsteller aufgrund seiner Überstellung in den Mitgliedstaat, der normalerweise für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, der echten Gefahr ausgesetzt sein wird, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden. Während der Antragsteller verpflichtet ist, einschlägige Erklärungen abzugeben und gegebenenfalls alle in seinem Besitz befindlichen Belege vorzulegen, die das Bestehen einer solchen Gefahr beweisen können, ist die zuständige Behörde ihrerseits verpflichtet, diese Belege zu bewerten und ihre Risikobewertung nicht nur auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben über das Funktionieren des Systems des internationalen Schutzes in diesem Mitgliedstaat, sondern auch der besonderen Situation des Antragstellers vorzunehmen, indem sie gegebenenfalls von diesem Mitgliedstaat individuelle und angemessene Garantien hinsichtlich der Aufnahmebedingungen für den Antragsteller anfordert.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III‑Verordnung).

( 3 ) Im Folgenden: Charta.

( 4 ) C‑411/10 und C‑493/10, im Folgenden: Urteil N. S. u. a., EU:C:2011:865.

( 5 ) C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127.

( 6 ) C‑163/17, im Folgenden: Urteil Jawo, EU:C:2019:218.

( 7 ) X zitiert das Urteil des EGMR vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609).

( 8 ) C‑208/22, nicht veröffentlicht, EU:C:2022:441.

( 9 ) C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127.

( 10 ) Urteil Jawo (Rn. 89).

( 11 ) Vgl. Urteil Jawo (Rn. 87).

( 12 ) Vgl. Urteil Jawo (Rn. 89, in der der Gerichtshof auch festgestellt hat, dass „es widersprüchlich [wäre], wenn das Vorliegen eines solchen Risikos im Stadium des Asylverfahrens eine Überstellung verhindern würde, während dasselbe Risiko dann geduldet würde, wenn dieses Verfahren durch die Zuerkennung von internationalem Schutz zum Abschluss kommt“).

( 13 ) Das Urteil N. S. u. a. ist ein Beispiel hierfür, da in dem Fall, der diesem Urteil zugrunde lag, eine systemische Schwachstelle in dem Mitgliedstaat vorlag, in dem die Inhaftnahme im Fall der Abschiebung des Antragstellers erfolgen sollte – eine Schwachstelle, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgrund von Individualbeschwerden, die bei ihm eingereicht worden sind, festgestellt worden ist.

( 14 ) Vgl. Urteile Jawo (Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie N. S. u. a. (Rn. 91).

( 15 ) Urteil des EGMR vom 21. November 2019, Ilias und Ahmed/Ungarn (CE:ECHR:2019:1121JUD004728715, § 141).

( 16 ) Der Gerichtshof hat sich im Urteil Jawo (Rn. 91) auf das Urteil des EGMR vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, § 254) bezogen.

( 17 ) Der Gerichtshof hat sich im Urteil Jawo (Rn. 92) auf das Urteil des EGMR vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, §§ 252 bis 263) bezogen.

( 18 ) Vgl. Urteil Jawo (Rn. 93).

( 19 ) Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950, im Folgenden: EMRK.

( 20 ) Laut dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte bezieht sich dieser Begriff auf „verschiedene Maßnahmen von Staaten, manchmal unter Beteiligung von Drittländern oder nichtstaatlichen Akteuren, die dazu führen, dass Migranten, einschließlich Asylsuchende, pauschal gezwungen werden, ohne Prüfung ihrer individuellen Bedürfnisse in Bezug auf den Schutz der Menschenrechte, in das Land oder Gebiet oder in Seegebiete, seien es Hoheitsgewässer oder internationale Gewässer, von denen aus sie versucht haben, eine internationale Grenze zu überqueren, oder von denen aus sie diese Grenze tatsächlich überquert haben, zurückzukehren“ (vgl. Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migranten, Rapport sur les moyens de répondre aux conséquences pour les droits de l’homme des mesures de renvoi de migrants sur terre et en mer (Bericht über die Bewältigung der menschenrechtlichen Folgen von Pushbacks von Migranten zu Land und auf See), 12. Mai 2021, Nr. 34).

( 21 ) Unterzeichnet in Straßburg am 16. September 1963.

( 22 ) Vgl. Urteil des EGMR vom 13. Februar 2020, N.D. und N.T./Spanien (CE:ECHR:2020:0213JUD000867515, § 185). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte sich zu der Frage zu äußern, ob Art. 4 des in Nr. 31 der vorliegenden Schlussanträge zitierten Protokolls über das „Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern“ auf die sofortige und zwangsweise Rückführung von Drittstaatsangehörigen von einer Landgrenze aus anwendbar ist, nachdem eine große Anzahl von Migranten versucht hatte, diese Grenze rechtswidrig und in großer Zahl zu überschreiten. Der EGMR stellte in diesem Urteil fest, dass der spezielle Kontext der Migration und die erheblichen Schwierigkeiten, die die Staaten derzeit bei der Bewältigung eines wachsenden Stroms von Migranten und Asylbewerbern hätten, kein rechtsfreies Gebiet rechtfertigten, in dem Personen von keinem Rechtssystem erfasst seien, das geeignet sei, ihnen den Genuss der durch die Konvention geschützten Rechte und Garantien zu bieten, zu deren Sicherstellung gegenüber jeder ihrer Hoheitsgewalt unterliegenden Person sich die Staaten verpflichtet hätten (§§ 106 und 110 sowie die im Urteil angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch die Anwendung dieser Rechtsprechung im Urteil des EGMR vom 8. Juli 2021, Shahzad/Ungarn (CE:ECHR:2021:0708JUD001262517).

( 23 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1).

( 24 ) Wie die tschechische Regierung in ihren Erklärungen ausführt, bedeuten die Schwierigkeiten, auf die ein Mitgliedstaat möglicherweise im Zusammenhang mit der rechtzeitigen Registrierung von Anträgen auf internationalen Schutz an seinen Grenzübergangsstellen stößt, nicht, dass dieser Mitgliedstaat nicht in der Lage ist, den Antragsteller zum Zweck der Prüfung seines Antrags aufzunehmen, wenn es keine Anzeichen dafür gibt, dass er in dieser Hinsicht Personen, die internationalen Schutz beantragen, grundrechtsverletzend behandelt.

( 25 ) Während der Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz und in seiner Eigenschaft als Antragsteller genießt dieser die Rechte und Garantien, die ihm durch die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96), verliehen werden. Nach der Prüfung ihres Antrags genießt die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die mit ihrem Status als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter verbundenen Rechte, die in der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) festgelegt sind. Ein Drittstaatsangehöriger, dessen Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt worden ist, kann nur unter den in der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) festgelegten Bedingungen abgeschoben werden.

( 26 ) Die von den Mitgliedstaaten zu ergreifenden Maßnahmen sorgen für einen angemessenen Lebensstandard, der den Lebensunterhalt sichert und die physische und psychische Gesundheit von Antragstellern gewährleistet. Vgl. Art. 17 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2013/33 sowie Urteil vom 12. November 2019, Haqbin (C‑233/18, EU:C:2019:956, Rn. 33 und 46).

( 27 ) Unterzeichnet in Genf am 28. Juli 1951 (Recueil des traités des Nations unies, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) und in Kraft getreten am 22. April 1954.

( 28 ) Abgeschlossen in New York am 31. Januar 1967 und in Kraft getreten am 4. Oktober 1967.

( 29 ) Vgl. Urteil vom 23. Januar 2019, M. A. u. a. (C‑661/17, EU:C:2019:53, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 30 ) Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin‑III‑Verordnung sowie Urteil Jawo (Rn. 82).

( 31 ) So listet die Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 222, S. 3), die durch die Dublin‑III‑Verordnung neu gefasst wurde, in Anhang II die relevanten förmlichen Beweismittel und Anhaltspunkte (oder Indizien) auf, die zur Bestimmung des zuständigen Staates herangezogen werden können, darunter insbesondere Aufenthaltstitel des Familienangehörigen des Antragstellers, Dokumente zum Nachweis des Verwandtschaftsverhältnisses, Fahrausweise, mit deren Hilfe die Einreise über die Außengrenze förmlich festgestellt werden kann, oder Auszüge aus den Registern von Gewahrsamseinrichtungen etc.

( 32 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil N. S. u. a. (Rn. 85).

( 33 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 47 bis 51), und vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 58).

( 34 ) C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219.

( 35 ) C‑517/17, EU:C:2020:579.

( 36 ) C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219.

( 37 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60). Gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat.

( 38 ) Vgl. Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 101).

( 39 ) Vgl. Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 88).

( 40 ) Vgl. Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 90).

( 41 ) C‑517/17, EU:C:2020:579.

( 42 ) Vgl. Urteil vom 16. Juli 2020, Addis (C‑517/17, EU:C:2020:579, Rn. 53).

( 43 ) Urteil vom 16. Juli 2020, Addis (C‑517/17, EU:C:2020:579, Rn. 54).

( 44 ) Diese Richtlinien bestimmen die materiellen und formellen Regeln für die Gewährung internationalen Schutzes, während die Verordnung eine Methode und Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats festlegt.

( 45 ) C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127.

( 46 ) Vgl. im Rahmen der Richtlinie 2011/95 Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 52).

( 47 ) Gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 ist die zuständige Behörde verpflichtet, eine individuelle Bewertung des Antrags vorzunehmen und dabei u. a. alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte, die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers oder die Tatsache, dass er bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat, zu berücksichtigen. Gemäß Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 gilt in dem Fall, dass für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, dass diese Aussagen insbesondere dann keines Nachweises bedürfen, wenn festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, und seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.

( 48 ) Vgl. Urteil Jawo (Rn. 94 bis 97).

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