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Document 62022CC0271

Schlussanträge der Generalanwältin T. Ćapeta vom 23. März 2023.
XT u. a. gegen Keolis Agen SARL.
Vorabentscheidungsersuchen des Conseil de prud’hommes d’Agen.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Arbeitszeitgestaltung – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub bei Langzeiterkrankung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 31 Abs. 2.
Verbundene Rechtssachen C-271/22 bis C-275/22.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:243

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 23. März 2023(1)

Verbundene Rechtssachen C271/22 bis C275/22

XT (C271/22)

KH (C272/22)

BX (C273/22)

FH (C274/22)

NW (C275/22)

gegen

Keolis Agen SARL,

Beteiligte:

Syndicat national des transports urbains SNTU-CFDT

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil de Prud’hommes d’Agen [Arbeitsgericht Agen, Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Arbeitszeitgestaltung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 31 Abs. 2 – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 – Möglichkeit der Geltendmachung in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Übertragung bezahlten Jahresurlaubs aufgrund langfristiger Krankschreibung – Nationale Rechtsprechung, die die Übertragung von Urlaub ohne zeitliche Begrenzung zulässt“






I.      Einleitung

1.        Kann ein Arbeitnehmer Tage nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs zeitlich unbegrenzt ansammeln, oder verpflichtet Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie(2) die Mitgliedstaaten dazu, begrenzte Übertragungsfristen vorzusehen? Falls ja, was ist eine angemessene Dauer für eine solche Frist?

2.        Dies sind die Hauptfragen, die das vorlegende Gericht, der Conseil de Prud’hommes d’Agen (Arbeitsgericht Agen, Frankreich), aufwirft. Darüber hinaus bittet das vorlegende Gericht um Klärung der unmittelbaren Wirkung der Arbeitszeitrichtlinie in horizontalen Situationen, da es sich bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens um die private Betreiberin eines öffentlichen Verkehrsnetzes handelt.

3.        Die vorliegende Rechtssache geht auf mehrere Vorabentscheidungsersuchen zurück, die im Rahmen von fünf Rechtsstreitigkeiten vor dem vorlegenden Gericht eingereicht wurden. Sämtliche dieser Rechtsstreitigkeiten betreffen Arbeitnehmer, die gegenwärtig oder früher bei der Keolis Agen SARL beschäftigt waren, dem Unternehmen, das das Busnetz für die Stadt Agen (Frankreich) und ihr Umland betreibt. Diese Arbeitnehmer forderten ihren Arbeitgeber auf, ihre Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzuerkennen, die sie für das Bezugsjahr, in dem diese Ansprüche entstanden sind, nicht geltend machen konnten, und riefen das vorlegende Gericht an, als der Arbeitgeber diese Ersuchen ablehnte. Eine Gewerkschaft, das Syndicat national des transports urbains SNTU-CFDT, ist dem Verfahren vor dem vorlegenden Gericht zur Unterstützung der Arbeitnehmer beigetreten.

II.    Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

4.        Keolis Agen ist ein privatrechtliches Unternehmen, das einen öffentlichen Personennahverkehr mit Bussen anbietet. Die fünf Kläger, die dieses Unternehmen vor dem vorlegenden Gericht verklagen, sind oder waren dessen Arbeitnehmer.

5.        Im Verlauf ihrer jeweiligen Arbeitsverhältnisse waren alle Kläger über längere Zeiten krankgeschrieben(3). Nachdem sie ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten bzw. ihre Arbeitsverhältnisse wegen Arbeitsunfähigkeit beendet worden waren, forderten die Kläger Keolis Agen auf, ihnen entweder die Tage des Jahresurlaubs, die ihnen während ihrer Krankheitszeiten verlustig gegangen seien, zu gewähren, oder ihnen – im Falle der Beendigung der Arbeitsverhältnisse – ersatzweise eine finanzielle Vergütung zu zahlen.

6.        Keolis Agen lehnte diese Ersuchen ab. Unter Berufung auf den französischen Code du travail (Arbeitsgesetzbuch)(4) vertrat sie die Auffassung, dass die Kläger keinen Anspruch auf Jahresurlaub hätten, wenn sie wegen einer Krankheit, die nicht in Zusammenhang mit ihrer Arbeit stehe, mehr als ein Jahr nicht zur Arbeit erschienen seien. Dieses nationale Recht könne auch dann nicht unberücksichtigt gelassen werden, wenn es gegen Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie verstoße, da diese Richtlinie keine Verpflichtungen für Private begründe.

7.        Keolis Agen macht geltend, dass ihr die Arbeitszeitrichtlinie aufgrund der Liberalisierung der Verkehrsdienste in Frankreich(5) nicht entgegengehalten werden könne. Zwar sei sie im Bereich der Erbringung öffentlicher Verkehrsdienste tätig, gleichwohl würde die Möglichkeit einer unmittelbaren Berufung auf die Arbeitszeitrichtlinie durch Arbeitnehmer ihre Wettbewerbsposition gegenüber anderen privatrechtlichen Unternehmen verschlechtern, die weiterhin dem französischen Recht und nicht der Richtlinie unterlägen.

8.        Die Kläger sind der Ansicht, dass sie sich gegenüber ihrem Arbeitgeber auf Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) berufen könnten und dass diese unionsrechtlichen Bestimmungen Ansprüche auf Jahresurlaub auch während der Zeiten längerer Krankheit für sie begründeten. Französisches Recht, das dem entgegenstehe, sei daher unberücksichtigt zu lassen.

9.        Der Streit um die unmittelbare Wirkung der Arbeitszeitrichtlinie im vorliegenden Fall führte zur ersten Frage des vorlegenden Gerichts.

10.      Die zweite und die dritte Frage werden relevant, wenn die Kläger Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für die Bezugsjahre haben, in denen sie krankgeschrieben waren. Diese Fragen stellten sich, weil das französische Recht, so das vorlegende Gericht, keine Regelungen zu Übertragungsfristen für nicht genommenen Jahresurlaub treffe; es lege nicht fest, ob ein solcher Anspruch bestehe oder nicht. Aus den Vorlageentscheidungen und den Erklärungen der Parteien geht hervor, dass die beiden höchsten französischen Gerichte in dieser Frage widersprüchliche Standpunkte entwickelt haben. Einerseits legt die Rechtsprechung der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich)(6) nahe, dass es im französischen Recht keine Begrenzung für die Übertragung nicht wahrgenommener Ansprüche auf Jahresurlaub gibt. Andererseits scheint der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) davon auszugehen, dass der Anspruch auf nicht genommenen Jahresurlaub 15 Monate nach Ende des Bezugsjahrs erlischt, in dem der Anspruch auf diesen bezahlten Jahresurlaub entstanden ist(7). Die zuletzt genannte Argumentation scheint sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu ergeben, wonach eine 15-monatige Frist nicht als Verstoß gegen die Arbeitszeitrichtlinie anzusehen ist(8).

11.      Im Ausgangsverfahren möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht eine solche Verpflichtung zur Gewährung einer Übertragungsfrist enthält. Wenn dem so ist, möchte es zudem wissen, was eine „angemessene Frist“ darstellt, nach deren Ablauf der Anspruch auf Jahresurlaub verfallen kann. In diesem Zusammenhang führt es aus, dass die Ansprüche auf nicht genommenen Jahresurlaub im vorliegenden Fall alle innerhalb von 15 Monaten nach Ende des Bezugszeitraums, in dem diese Ansprüche entstanden sind, geltend gemacht wurden.

12.      Keolis Agen ersuchte beim vorlegenden Gericht darum, dem Gerichtshof die streitigen Fragen vorzulegen. Die Kläger hielten diese Vorlage für unnötig und widersprachen diesem Ersuchen.

13.      Unter diesen Umständen hat der Conseil de Prud’hommes d’Agen (Arbeitsgericht Agen, Frankreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen (die Fragen sind in allen fünf verbundenen Rechtssachen identisch):

1.      Ist Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie dahin auszulegen, dass er auf die Beziehungen zwischen einem privaten Verkehrsbetreiber, der lediglich mit der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen betraut wurde, und seinen Arbeitnehmern unmittelbar anwendbar ist, und zwar insbesondere unter Berücksichtigung der Liberalisierung des Sektors des Schienenpersonenverkehrs?

2.      Welche Übertragungsfrist ist für die im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie erworbenen vier Wochen bezahlten Urlaubs angemessen, wenn der Bezugszeitraum für Ansprüche auf bezahlten Urlaub ein Jahr beträgt?

3.      Verstößt es nicht gegen Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie, wenn in Ermangelung einer nationalen gesetzlichen oder vertraglichen Bestimmung eine unbegrenzte Übertragungsfrist angewandt wird?

14.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens sowie das Syndicat national des transports urbains SNTU-CFDT (im Folgenden zusammen: Kläger), Keolis Agen, die französische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. Eine mündliche Verhandlung hat nicht stattgefunden.

III. Würdigung

15.      In den letzten Jahren hat die Zahl der beim Gerichtshof anhängig gemachten Rechtssachen im Zusammenhang mit bezahltem Jahresurlaub zugenommen(9).

16.      Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bietet dem Gerichtshof eine weitere Gelegenheit, zu einem besseren Verständnis der Arbeitszeitrichtlinie beizutragen und auf seiner bisherigen Rechtsprechung zu diesem Thema aufzubauen.

17.      Die Vorlagefragen lassen sich zweiteilen: in die erste Frage bezüglich des gefestigten Begriffs der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien (A) und in die Fragen zwei und drei, die ich gemeinsam beantworten werde, bezüglich der Übertragungsfristen für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub (B).

A.      Zur unmittelbaren Wirkung der Arbeitszeitrichtlinie in horizontalen Situationen

18.      Aus den Vorlageentscheidungen geht hervor, dass das französische Arbeitsgesetzbuch der Begründung eines Anspruchs auf Jahresurlaub durch Arbeitnehmer entgegensteht, die länger als ein Jahr krankgeschrieben sind und deren Krankheitszeit nicht in Zusammenhang mit ihrer Arbeit steht(10).

19.      Dieses nationale Recht stünde im Widerspruch zu Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie in der Auslegung des Gerichtshofs. Dies folgt eindeutig aus dem Urteil in der Rechtssache Dominguez(11).

20.      In dieser Rechtssache, die sich aus der Anwendung derselben französischen Bestimmungen ergab, stützte sich der Gerichtshof auf seine frühere Rechtsprechung(12) und entschied, dass die Arbeitszeitrichtlinie es nicht gestattet, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von der Bedingung abhängig zu machen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat. Keinem Arbeitnehmer darf der Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen verwehrt werden, gleich, ob er während des Bezugszeitraums infolge eines Unfalls am Arbeitsplatz oder anderswo oder aber infolge einer Krankheit, welcher Art oder welchen Ursprungs auch immer, krankgeschrieben ist(13).

21.      Kurzum, der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ergibt sich aus dem Arbeitsverhältnis und darf nicht an Bedingungen geknüpft werden. Die Mitgliedstaaten dürfen Bedingungen für die Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festlegen, dürfen jedoch nicht bereits dessen Entstehung an Bedingungen knüpfen, auch nicht, indem sie verlangen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet haben muss(14).

22.      Aus der bisherigen Rechtsprechung geht somit klar hervor, dass die Kläger in den Jahren, in denen sie krankgeschrieben waren, unmittelbar auf der Grundlage von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub in den Jahren erworben haben.

23.      Die Beklagte bestreitet diese Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie nicht und versucht auch nicht, sie zu ändern. Sie ist jedoch der Ansicht, dass diese Richtlinie nicht auf den vorliegenden Fall angewandt werden könne, um eine Verpflichtung ihrerseits zu begründen, da die Beklagte ein privatrechtliches Unternehmen sei.

24.      In den Erklärungen der Parteien wurde viel Tinte über die Frage vergossen, ob die Beklagte eine „staatliche Behörde“(15) im Sinne der Rechtsprechung zur vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien ist oder nicht(16) und ob die Situation im Ausgangsverfahren dementsprechend als horizontal (so die Ansicht der Beklagten) oder vertikal (so die Ansicht der Kläger) einzuordnen ist.

25.      Unter den Umständen des vorliegenden Falles ist diese Einordnung jedoch unerheblich. Dies ergibt sich aus den folgenden Gründen.

26.      Im Urteil Dominguez hat der Gerichtshof in der Tat seinen Standpunkt bekräftigt, wonach Richtlinien nicht selbst Verpflichtungen für Einzelne begründen können(17). Allerdings gilt nach einer anderen Rechtsprechungslinie, dass allgemeine, nunmehr in der Charta kodifizierte Rechtsgrundsätze selbst unmittelbare Wirkung entfalten können, und zwar auch in horizontalen Situationen. Wenn ein allgemeiner Grundsatz mit unmittelbarer Wirkung in der Richtlinie lediglich zum Ausdruck kommt, nicht aber darin aufgestellt wird, leiten die Parteien ihre Rechte unmittelbar aus diesem Grundsatz ab(18).

27.      Der Gerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub „als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf“(19). Dieses Recht ist nunmehr auch in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankert.

28.      Im Urteil Max-Planck-Gesellschaft hat der Gerichtshof anerkannt, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta schon für sich allein den Arbeitnehmern unmittelbar ein Recht auf bezahlten Jahresurlaub verleiht, das sie in Rechtsstreitigkeiten gegen ihre Arbeitgeber geltend machen können, seien diese private oder öffentliche Einrichtungen(20). Mit anderen Worten, der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta selbst unmittelbare Wirkung entfaltet, auch in horizontalen Situationen.

29.      Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wird also durch Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie nicht geschaffen, sondern nur zum Ausdruck gebracht. Es ist dementsprechend unerheblich, dass Richtlinien keine horizontale unmittelbare Wirkung zukommt, da die Kläger sich unmittelbar auf Art. 31 Abs. 2 der Charta berufen können(21). Nationale Gerichte sind mithin verpflichtet, jede entgegenstehende Vorschrift des nationalen Rechts unberücksichtigt zu lassen, wenn sie über eine Rechtssache entscheiden, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

30.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die erste Frage des vorlegenden Gerichts dahingehend zu beantworten, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta, wie er in Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie konkretisiert wird, das Recht eines jeden Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub gewährleistet, dass dieser im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten mit derzeitigen oder früheren Arbeitgebern geltend machen kann, unabhängig davon, ob es sich bei diesen um private oder öffentliche Einrichtungen handelt.

B.      Zu Übertragungsfristen

31.      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass das französische Recht die Dauer des Zeitraums für die Übertragung bezahlten Jahresurlaubs unter Berücksichtigung des Urteils der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof)(22) nicht festlege. Tage nicht genommenen Jahresurlaubs könnten mithin unbegrenzt angesammelt werden. Die französische Regierung wendet sich gegen ein solches Verständnis der Folgen der Rechtsprechung der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof). Die allgemeine Bestimmung, die eine dreijährige Verjährungsfrist für die Geltendmachung arbeitsrechtlicher Ansprüche vorsehe(23), führe auch zu einer Begrenzung von Übertragungsfristen. Zugleich vertritt der Conseil d’État (Staatsrat) im Anschluss an das Urteil KHS des Gerichtshofs die Auffassung, dass die Grenze für Übertragungsfristen auf 15 Monate festgesetzt werden könne(24).

32.      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung nationalen Rechts zu schlichten oder zu entscheiden, ob die von den nationalen Gerichten vorgenommene Auslegung dieser Bestimmungen richtig ist. Unter Beachtung der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten hat der Gerichtshof in Bezug auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die Vorlagefragen einfügen, von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung auszugehen(25).

33.      Das vorlegende Gericht hat beschlossen, ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem Hintergrund einer Situation einzuleiten, in der das französische Recht keine zeitliche Begrenzung festlegt, die zum Erlöschen der Ansprüche auf Jahresurlaub führt. Das vorlegende Gericht ist sich nicht sicher, ob dieses nationale Recht den Anforderungen der Arbeitszeitrichtlinie genügt.

34.      Keolis Agen ist der Ansicht, dass die Möglichkeit, Jahresurlaub anzusammeln und später zu nehmen, nicht dem Zweck des Jahresurlaubs entspreche. Sie erinnert daran, dass der Jahresurlaub nach Auffassung des Gerichthofs einen doppelten Zweck erfüllt: Er ermöglicht es, sich von der Arbeit zu erholen, und stellt zugleich einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zur Verfügung(26). Sie verweist in diesem Zusammenhang auf das Urteil KHS, in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass der Jahresurlaub über eine gewisse zeitliche Grenze hinaus seine positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit verfehlt und ihm dann lediglich seine Eigenschaft als Zeitraum für Entspannung und Freizeit erhalten bleibt(27).

35.      Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht mit seiner zweiten und seiner dritten Frage im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine unbegrenzte Übertragungsfrist für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zulässt. Sofern das nationale Recht kraft Unionsrecht eine Übertragungsfrist vorzusehen hat, fragt sich das vorlegende Gericht, nach welchem Zeitraum es angemessen ist, den Anspruch auf Jahresurlaub verfallen zu lassen.

1.      Der Unionsgesetzgeber hatte nicht die Absicht, Übertragungsfristen zu regeln

36.      Um die Frage zu beantworten, ob das Unionsrecht die Verjährung von Ansprüchen auf Jahresurlaub durch die Einführung angemessener Übertragungsfristen verlangt, werde ich zunächst eine Verortung der Arbeitszeitrichtlinie im System der Verträge vornehmen.

37.      Diese Richtlinie wurde auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 2 AEUV (zum Zeitpunkt ihres Erlasses Art. 137 Abs. 2 EG) erlassen, der sich in dem der Sozialpolitik gewidmeten Titel des Vertrags befindet. Diese Bestimmung ermächtigt das Europäische Parlament und den Rat, Maßnahmen zu erlassen, die mitgliedstaatliche Tätigkeiten im Bereich der Sozialpolitik unterstützen und ergänzen. Zu den verschiedenen in Art. 153 Abs. 1 AEUV (früher Art. 137 Abs. 1 EG) aufgeführten Bereichen gehört der Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer. Die Arbeitszeitrichtlinie verweist in ihrer Präambel in der Tat auf derartige Anliegen(28).

38.      Nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b AEUV gehört die Sozialpolitik zu einem der Bereiche der geteilten Zuständigkeiten. Auch wenn Art. 153 AEUV es der Europäischen Union gestattet, tätig zu werden, um die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten zu „unterstütz[en] und ergänz[en]“, schließt er meines Erachtens doch nicht aus, bestimmte Regelungen auf Unionsebene zu treffen und die nationalen Rechtsvorschriften somit zu harmonisieren(29). Die Gesetzgebung auf Unionsebene muss jedoch im Lichte des Subsidiaritätsgrundsatzes gerechtfertigt sein.

39.      Aus dem Wortlaut der Arbeitszeitrichtlinie geht nicht hervor, dass der Unionsgesetzgeber die Absicht hatte, Übertragungsfristen zu regeln. Der Gerichtshof hat diesen Standpunkt kürzlich im Urteil vom 22. September 2022, LB (Verjährung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub)(30).

40.      Angesichts der Tatsache, dass die Sozialpolitik ein Bereich der geteilten Zuständigkeit ist und dass es an Unionsrechtsvorschriften zur Frage begrenzter Übertragungsfristen mangelt, verbleibt die Befugnis, begrenzte Übertragungsfristen einzuführen oder von deren Einführung abzusehen, in den Händen der Mitgliedstaaten(31).

2.      Bedingungen für die Begründung versus Bedingungen für die Ausübung eines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub

41.      Die vorstehende Schlussfolgerung steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach es den Mitgliedstaaten freisteht, die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Jahresurlaub zu regeln. Die Mitgliedstaaten sind aufgrund der Arbeitszeitrichtlinie zwar daran gehindert, die Entstehung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub an Bedingungen jeglicher Art zu knüpfen(32), sie dürfen jedoch Bedingungen für die Ausübung dieses Anspruchs festlegen(33).

42.      Wie Generalanwältin Trstenjak(34) hervorgehoben hat, sieht der Gerichtshof die Frage der Übertragbarkeit von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub als eine Durchführungsmodalität an. Die Arbeitszeitrichtlinie überlässt es daher den Mitgliedstaaten, diese Modalitäten festzulegen.

43.      Die Mitgliedstaaten können daher frei entscheiden, ob sie Grenzen festlegen, nach deren Ablauf der erworbene Anspruch auf Jahresurlaub verfällt, oder ob sie die Ansammlung nicht genutzter Ansprüche bis zum Ende der beruflichen Laufbahn eines bestimmten Arbeitnehmers zulassen.

44.      Beschließt ein Mitgliedstaat, Übertragungsfristen zu begrenzen, schreibt die Arbeitszeitrichtlinie nur vor, dass die gewählte Begrenzung den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, wie er sich aus der Charta ergibt und in dieser Richtlinie zum Ausdruck kommt, in seinem Bestand unberührt lässt(35). Die Zuständigkeit des Gerichtshofs beschränkt sich darauf festzustellen, ob die Frist mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Der Gerichtshof kann daher keine angemessene Frist festsetzen.

45.      Wenn die nationalen Rechtsvorschriften keine Begrenzung der Übertragungsfrist für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub vorsehen, können sie nicht mit der Arbeitszeitrichtlinie in Konflikt geraten, da diese Richtlinie keine Begrenzung der Übertragungsfrist vorschreibt.

3.      Was ist mit dem Zweck des bezahlten Jahresurlaubs?

46.      Meines Erachtens wird die Erwägung, dass die Arbeitszeitrichtlinie keine Begrenzung der Übertragungsfrist vorschreibt, nicht durch eine andere, auf ein Obiter Dictum im Urteil KHS zurückgehende Erwägung in Frage gestellt, wonach ein unbegrenztes Ansammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub entsprechen würde(36).

47.      Wie ich bereits dargelegt habe, war dies das Hauptargument der Beklagten(37), mittels dessen sie das vorlegende Gericht davon zu überzeugen versuchte, dass es – mangels einer gesetzlich angeordneten zeitlichen Begrenzung der Übertragungsfristen – einer entsprechenden richterrechtlichen Festlegung bedürfe.

48.      Die französische Regierung spricht sich in ihren Erklärungen für eine Übertragungsfrist mit angemessene Dauer aus(38).

49.      Meines Erachtens lässt sich dem Obiter Dictum im Urteil KHS(39) keine Regelung entnehmen. Es erläutert nur, weshalb es nachvollziehbar und akzeptabel ist, dass ein Mitgliedstaat sich dazu entschließen könnte, eine Grenze festzulegen.

50.      Daher wäre es meines Erachtens falsch, aus diesem Obiter Dictum des Gerichtshofs eine Regelungspflicht der Mitgliedstaaten dahingehend abzuleiten, eine Höchstdauer für die Inanspruchnahme der Tage nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs festzulegen.

51.      Das geltende Unionsrecht schreibt den Mitgliedstaaten weder vor, eine zeitliche Begrenzung für Übertragungsfristen festzulegen, noch verbietet es ihnen eine solche Festlegung. Es überlässt diese Erwägung dem politischen Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten.

52.      Mit Blick auf die Aufforderung von Keolis Agen an die nationalen Richter, eine solche Regelung zu erlassen, gilt, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, in die durch die Verfassungsordnung eines bestimmten Mitgliedstaats geschaffene Gewaltenteilung einzugreifen(40).

53.      Dennoch ist erneut darauf hinzuweisen, dass sich dem geltenden Unionsrecht keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten – sei es auf Seiten der Gesetzgebungsorgane oder der Gerichte – entnehmen lässt, eine zeitliche Begrenzung der Übertragungsfristen für nicht genommenen Jahresurlaub festzulegen.

4.      Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Dauer der Übertragungszeiträume

54.      Abschließend ist zu den hauptsächlich von der Beklagten vorgebrachten Ausführungen Stellung zu nehmen, wonach die angemessene Übertragungsfrist 15 oder 18 Monate nach Ende des Bezugszeitraums, in dem der Anspruch auf Jahresurlaub entstanden sei, betrage.

55.      Diese Zahlen ergeben sich aus der Gesamtschau des Urteils vom 3. Mai 2012, Neidel, wo eine Frist von neun Monaten als zu kurz erachtet wurde(41), und des Urteils KHS, wo eine 15-monatige Frist als zulässig angenommen wurde(42).  Eine Frist von 18 Monaten wird in Art. 9 des Übereinkommens Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) vom 24. Juni 1970 über den bezahlten Jahresurlaub (Neufassung vom Jahre 1970) genannt, auf das wiederum im sechsten Erwägungsgrund der Arbeitszeitrichtlinie in Bezug genommen wird.

56.      Bei der Beurteilung der Angemessenheit der in den nationalen Rechtsvorschriften festgelegten Fristen hat der Gerichtshof seine Zuständigkeit wahrgenommen, um zu prüfen, ob die durch das nationale Recht auferlegten Bedingungen den Bestand des Anspruchs auf Jahresurlaub beeinträchtigten(43). Der Gerichtshof hat keine angemessene Frist festgelegt und kann dies auch gar nicht. Als der Gerichtshof im Urteil KHS festgestellt hat, dass 15 Monate ein angemessener Zeitraum zu sein scheint, hat er mithin keine unionsrechtliche 15-Monats-Regel aufgestellt. Er hat lediglich bestätigt, dass eine solche nationale Regelung, bei der es sich um eine Folge einer Entscheidung auf nationaler Ebene handelt, dem Bestand des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub als solchem nicht zuwiderläuft.

57.      Was das Übereinkommen Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) vom 24. Juni 1970 über den bezahlten Jahresurlaub (Neufassung vom Jahre 1970) betrifft, gilt, dass der Gerichtshof zwar gelegentlich auf IAO‑Instrumente verwiesen hat(44). Es ist jedoch wichtig, solche Übereinkommen, die etwa in der Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit(45) genannt sind und denen alle EU-Mitgliedstaaten beigetreten sind, von anderen Instrumenten wie dem IAO-Übereinkommen über den bezahlten Jahresurlaub, das nur von 14 EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wurde, zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung ist im Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall von besonderer Bedeutung, da Frankreich dieses Übereinkommen nicht ratifiziert hat. Selbst wenn dies der Fall wäre, gilt, dass die in diesem Übereinkommen festgelegte Grenze von 18 Monaten für dessen Mitglieder allenfalls nach Maßgabe des Völkerrechts oder innerstaatlichem Verfassungsrecht verbindlich ist, nicht aber nach dem Unionsrecht(46).

58.      Nach derzeit geltendem Unionsrecht gibt es mithin, wie die Kommission zutreffend dargelegt hat, keine zeitliche Begrenzung etwaiger Übertragungsfristen für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub. Dies ist nur logisch, da die Arbeitszeitrichtlinie die Mitgliedstaaten nicht daran hindert(47), die unbegrenzte Ansammlung nicht genommenen Jahresurlaubs zuzulassen.

59.      Folglich kann der Gerichtshof die Frage nach einer etwaigen angemessenen Frist nicht beantworten, da die Entscheidung über eine solche den Mitgliedstaaten überlassen ist. Der Gerichtshof kann nur prüfen, ob die getroffene Entscheidung den Bestand des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub beeinträchtigt.

60.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, in Beantwortung der zweiten und der dritten Frage des vorlegenden Gerichts festzustellen, dass Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die die Ansammlung nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs dadurch zulässt, dass sie keine Begrenzung der Übertragungsfrist für diesen Urlaub setzt, und dass er auch nicht festlegt, wie lange eine angemessene Übertragungsfrist ist.

IV.    Ergebnis

61.      Ich schlage nach alledem dem Gerichtshof vor, die vom Conseil de Prud’hommes d’Agen (Arbeitsgericht Agen, Frankreich) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

(1)      Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, wie er in Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung konkretisiert wird,

gewährleistet das Recht eines jeden Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, das dieser im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten mit derzeitigen oder früheren Arbeitgebern geltend machen kann, unabhängig davon, ob es sich bei diesen um private oder öffentliche Einrichtungen handelt.

(2)      Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88

steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die die Ansammlung nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs dadurch zulässt, dass sie keine Begrenzung der Übertragungsfrist für diesen Urlaub setzt, und legt auch nicht fest, wie lange eine angemessene Übertragungsfrist ist.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9, im Folgenden: Arbeitszeitrichtlinie).


3      Aus den Vorlageentscheidungen gehen folgende Krankheitszeiten hervor: vom 9.1.2017 bis zum 31.10.2018 in der Rechtssache C‑271/22; 60 Tage im Jahr 2016, das gesamte Jahr 2017 und 236 Tage im Jahr 2018 in der Rechtssache C‑272/22; vom 9.1.2017 bis zum 31.10.2018 in der Rechtssache C‑273/22; 105 Tage im Jahr 2017 und 308 Tage im Jahr 2018 in der Rechtssache C‑274/22; und 84 Tage im Jahr 2017, 355 Tage im Jahr 2018 und 308 Tage im Jahr 2019 in der Rechtssache C‑275/22.


4      Die Beklagte beruft sich insoweit auf Art. L. 3141-5 des Arbeitsgesetzbuchs, der besagt:


      „Für die Bestimmung der Urlaubsdauer wird als effektive Arbeitszeit angesehen:


      …


      5. die – auf eine ununterbrochene Dauer von einem Jahr beschränkte – Zeit, während der die Erfüllung des Arbeitsvertrags aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit unterbrochen ist.“


5      Aus allen dem Gerichtshof vorliegenden Informationen geht hervor, dass Keolis Agen Mitglied der Keolis-Gruppe ist, die wiederum dem Unternehmensverbund der SNCF angehört, dem etablierten Betreiber des Eisenbahnsektors in Frankreich. Zwar scheint Keolis auch in diesem letztgenannten Bereich tätig zu sein, dennoch ist unstreitig, dass Keolis Agen im Hinblick auf das Ausgangsverfahren ausschließlich Busse betreibt und einen Fahrradservice anbietet.


6      Cour de Cassation (chambre sociale), 21. September 2017, n° 16-24.022, ECLI:FR:CCASS:2017:SO02067.


7      Conseil d’État, Avis (4-5 ch. réunies), 26. April 2017, n° 406009, ECLI:FR:CECHR:2017:406009.20170426.


8      Urteil vom 22. November 2011, KHS (C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 44, im Folgenden: Urteil KHS).


9      Urteile vom 4. Oktober 2018, Dicu (C‑12/17, EU:C:2018:799, im Folgenden: Urteil Dicu), vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth (C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871), vom 6. November 2018, Kreuziger (C‑619/16, EU:C:2018:872), vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, im Folgenden: Urteil Max-Planck-Gesellschaft), vom 19. November 2019, TSN und AKT (C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981), und vom 8. September 2020, Kommission und Rat/Sequeros u. a. (C‑119/19 P und C‑126/19 P, EU:C:2020:676).


10      Siehe Fn. 4 der vorliegenden Schlussanträge.


11      Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, im Folgenden: Urteil Dominguez).


12      Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, im Folgenden: Urteil Schultz-Hoff, Rn. 41).


13      Urteil Dominguez (Rn. 20, 30, 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil Dicu (Rn. 29).


14      Urteil vom 26. Juni 2001, BECTU (C‑173/99, EU:C:2001:356, im Folgenden: Urteil BECTU, Rn. 55), und Urteil Schultz-Hoff u. a. (Rn. 47).


15      Dieser Ausdruck, der Einrichtungen bezeichnet, denen gegenüber Richtlinien geltend gemacht werden können, wurde nur im Urteil vom 26. Februar 1986, Marshall (152/84, EU:C:1986:84, Rn. 12), verwendet. Vgl. auch Urteil vom 12. Juli 1990, Foster u. a. (C‑188/89, EU:C:1990:313, Rn. 20 und 22).


16      Die Erläuterung zu den Einrichtungen, denen gegenüber Richtlinien geltend gemacht werden können, findet sich in den Urteilen vom 10. Oktober 2017, Farrell (C‑413/15, EU:C:2017:745), und vom 7. August 2018, Smith (C‑122/17, EU:C:2018:631).


17      Rn. 37 des Urteils.


18      Diese Rechtsprechung begann mit dem Urteil vom 22. November 2005, Mangold (C‑144/04, EU:C:2005:709), und wurde später in weiteren Urteilen bestätigt, u. a. den Urteilen vom 19. Januar 2010, Kücükdeveci (C‑555/07, EU:C:2010:21), vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale (C‑176/12, EU:C:2014:2), sowie vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257).


19      Urteil BECTU (Rn. 43), Urteile vom 18. März 2004, Merino Gómez (C‑342/01, EU:C:2004:160, Rn. 29), vom 16. März 2006, Robinson-Steele u. a. (C‑131/04 und C‑257/04, EU:C:2006:177, Rn. 48), Schultz-Hoff u. a. (Rn. 22), KHS (Rn. 23), und Dominguez (Rn. 16).


20      Vgl. in diesem Sinne Urteil Max-Planck-Gesellschaft (Rn. 74 und 76).


21      Damit ist die Frage im vorliegenden Fall sowohl im Hinblick auf die unmittelbare Wirkung als auch unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsgleichheit geklärt. Die Ablehnung horizontaler unmittelbarer Wirkungen von Richtlinien könnte jedoch in anderen Fällen tatsächlich zur Diskriminierung von öffentlichen Unternehmen gegenüber privaten Unternehmen führen. Diese Diskriminierung sowie andere von Generalanwalt Lenz in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Faccini Dori (C‑91/92, EU:C:1994:45) vorgebrachte Argumente sind nach wie vor stichhaltige Gründe dafür, jene Lehre, die Richtlinien eine unmittelbare Wirkung in horizontalen Situationen abspricht, zu überdenken.


22      Siehe Fn. 6 der vorliegenden Schlussanträge.


23      Art. L. 3245-1 und Art. D. 3141-7 des französischen Arbeitsgesetzbuchs.


24      Siehe Nr. 10 der vorliegenden Schlussanträge.


25      Vgl. z. B. Urteile vom 23. April 2009, Angelidaki u. a. (C‑378/07 bis C‑380/07, EU:C:2009:250, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 26. Oktober 2017, Argenta Spaarbank (C‑39/16, EU:C:2017:813, Rn. 38).


26      Urteile Schultz-Hoff u. a. (Rn. 25), und KHS (Rn. 31).


27      Urteil KHS (Rn. 33).


28      Erwägungsgründe 1 bis 4 der Arbeitszeitrichtlinie. Vgl. in diesem Sinne auch zur Richtlinie 93/104, die durch die derzeitige Arbeitszeitrichtlinie kodifiziert wurde, Urteil BECTU (Rn. 37 und 38).


29      Die Europäische Union kann nur zur Erreichung der in Art. 151 AEUV aufgeführten Ziele – darunter die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen – regelnd tätig werden. Auch wenn diese Bestimmung einst als programmatisch umschrieben wurde, hat sie für die Auslegung unionsrechtlicher Gesetzgebung auf dem Gebiet des Arbeitsrechts erhebliche Bedeutung erlangt. Siehe hierzu Lecomte, F., „Embedding Employment Rights in Europe“, Columbia Journal of European Law, Bd. 17(1), 2011, S. 1, S. 12 ff. (untersucht den schrittweisen Aufbau der Rechtsprechung zu dieser Bestimmung sowie die mit ihr einhergehenden Narrative und zeichnet ihre Entwicklung von einer rein programmatischen Bestimmung hin zu einem Instrument, das wesentliche Auslegungshilfen liefert, nach).


30      C‑120/21, EU:C:2022:718, im Folgenden: Urteil LB, Rn. 31.


31      Ich lege Wert auf die Klarstellung, dass ich nicht der Meinung bin, dass die Europäische Union den Mitgliedstaaten nicht die Verpflichtung auferlegen könnte, begrenzte Übertragungsfristen einzuführen, wenn sie einen solchen Regelungsbedarf im Hinblick auf die Subsidiarität rechtfertigen kann. Ich behaupte nur, dass die Europäische Union diese Frage in der aktuellen Fassung der Arbeitszeitrichtlinie nicht geregelt hat.


32      Urteil Dominguez (Rn. 18).


33      Urteil Schultz-Hoff u. a. (Rn. 28).


34      Hervorhebung im Original der Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache KHS (C‑214/10, EU:C:2011:465, Nr. 43).


35      Urteil Schultz-Hoff u. a. (Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


      Wenn die Begrenzung der Übertragungsfrist geeignet wäre, den Bestand des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub an sich einzuschränken, müsste sie gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgeschrieben sein. Da das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Grundrecht durch das Unionsrecht gewährt wird, könnte eine solche Begrenzung nur durch das Unionsrecht und nicht durch das nationale Recht eingeführt werden. In jedem Fall ist fraglich, ob eine solche Begrenzung richterrechtlich eingeführt werden könnte, wie seitens der Beklagten von den französischen Gerichten erbeten. Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. September 2012, Parlament/Rat (C‑355/10, EU:C:2012:516, Rn. 77), vom 10. September 2015, Parlament/Rat (C‑363/14, EU:C:2015:579, Rn. 53), und vom 26. Juli 2017, Tschechische Republik/Kommission (C‑696/15 P, EU:C:2017:595, Rn. 78).


36      Urteil KHS (Rn. 30) und Urteile vom 29. November 2017, King (C‑214/16, EU:C:2017:914, Rn. 54), sowie vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus (C‑518/20 und C‑727/20, EU:C:2022:707, Rn. 34).


37      Siehe Nr. 34 der vorliegenden Schlussanträge.


38      Die französische Regierung weist in ihren Erklärungen darauf hin, dass das französische Recht für arbeitsrechtliche Streitigkeiten eine allgemeine Verjährungsfrist von drei Jahren vorsieht. Der Gerichtshof hat sich nicht grundsätzlich dagegen ausgesprochen, dass Verjährungsfristen zum gleichen Ergebnis führen können wie die Festlegung begrenzter Übertragungsfristen. Vgl. diesbezüglich Urteil LB (Rn. 40).


39      Siehe die Verweise in Fn. 36 der vorliegenden Schlussanträge.


40      Ich möchte lediglich anmerken, dass der Conseil d'État (Staatsrat) anscheinend der Ansicht ist, dass eine Regelung zur Dauer der Übertragungsfrist in Frankreich von der Judikative getroffen werden könnte. Die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) ist dagegen der Auffassung, dass eine solche Regelungsentscheidung dem Gesetzgeber obliege, und hat den nationalen Gesetzgeber zum Handeln aufgefordert, bislang ohne Ergebnis. Vgl. insoweit Cour de cassation (Kassationsgerichtshof), „Note explicative, Arrêt du 21 septembre 2017, n°2067“, S. 3. Zu einer ähnlichen Auffassung siehe Véricel, M., „Le droit à congés payés du salarié malade face à la Cour de justice européenne et à la Cour de cassation“, Revue de droit du travail, Nr. 6, 2012, S. 371.


41      C‑337/10, EU:C:2012:263, Rn. 43, im Folgenden: Urteil Neidel. In den Urteilen KHS (Rn. 38) und Neidel (Rn. 41) brachte der Gerichtshof zudem die Auffassung zum Ausdruck, dass die Übertragungsfrist wesentlich länger sein muss als der Bezugszeitraum, für den sie gewährt wird (ohne zu erläutern, wie „wesentlich“ zu verstehen ist). Auf diesem Weg soll ermöglicht werden, den besonderen Umständen Rechnung zu tragen, in denen sich ein Arbeitnehmer befindet, der während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig war. Eine längere Übertragungsfrist gewährleistet, dass der Arbeitnehmer planen kann, wie er die erworbenen Urlaubstage angemessen verteilen kann.


42      Urteil KHS (Rn. 44).


43      Siehe Nr. 44 der vorliegenden Schlussanträge.


44      Vgl. etwa Gutachten 2/15 (Freihandelsabkommen EU-Singapur) vom 16. Mai 2017 (EU:C:2017:376, Rn. 149).


45      Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und ihre Folgemaßnahmen, angenommen am 18. Juni 1998 in Genf (Anhang geändert am 15. Juni 2010).


46      Zudem kann das IAO-Übereinkommen über den bezahlten Jahresurlaub, wie von Generalanwältin Trstenjak ausgeführt, kein wirksames Instrument zur mittelbaren und teilweisen Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten darstellen. Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache KHS (C‑214/10, EU:C:2011:465, Nrn. 83 bis 90).


47      Wie in Nr. 41 bis 43 der vorliegenden Schlussanträge erläutert.

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