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Document 62022CC0147

    Schlussanträge des Generalanwalts N. Emiliou vom 6. Juli 2023.
    Strafverfahren gegen Terhelt5.
    Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Zulässigkeit der Strafverfolgung eines wegen Bestechung Angeklagten in einem Mitgliedstaat nach Einstellung des Strafverfahrens gegen ihn wegen derselben Tat durch die Staatsanwaltschaft eines anderen Mitgliedstaats – Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit der Angeklagte als rechtskräftig abgeurteilt angesehen werden kann – Voraussetzung der Prüfung in der Sache – Erfordernis eingehender Ermittlungen – Fehlende Vernehmung des Beschuldigten.
    Rechtssache C-147/22.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:549

     SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    NICHOLAS EMILIOU

    vom 6. Juli 2023 ( 1 )

    Rechtssache C‑147/22

    Központi Nyomozó Főügyészség,

    Beteiligter:

    Terhelt5

    (Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék [Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 – Grundsatz ne bis in idem – Einstellung des Verfahrens – Entscheidung einer Staatsanwaltschaft – Prüfung in der Sache – Eingehende Ermittlungen – Prüfung der Beweise“

    I. Einleitung

    1.

    Der Grundsatz ne bis in idem – nach dem, kurz gesagt, eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gegenüber derselben Person wegen derselben Tat untersagt ist – ist u. a. in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (im Folgenden: SDÜ) ( 2 ) verankert.

    2.

    In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof klargestellt, dass Einstellungsbeschlüsse, die von Staatsanwaltschaften im Ermittlungsverfahren erlassen werden, auch zur Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem führen können, dass das aber nur dann der Fall ist, wenn sie nach eingehenden Ermittlungen und einer Entscheidung in der Sache erlassen wurden ( 3 ). Im vorliegenden Fall ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof insbesondere um Klarstellung der Kriterien, anhand derer Ermittlungen für die Zwecke des Grundsatzes ne bis in idem als „eingehend“ eingestuft werden können.

    II. Rechtlicher Rahmen

    A.   Unionsrecht

    3.

    Art. 54 SDÜ ist in dessen Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“) enthalten und sieht vor:

    „Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

    B.   Ungarisches Recht

    4.

    Art. XXVIII Abs. 6 des Magyarország Alaptörvénye (ungarisches Grundgesetz) regelt, dass außer in den gesetzlich vorgesehenen Fällen von außerordentlichen Rechtsbehelfen niemand wegen einer Straftat strafrechtlich verfolgt oder verurteilt werden darf, derentwegen er durch eine rechtskräftige Entscheidung nach ungarischem Recht oder – im Fall der Anwendbarkeit eines internationalen Abkommens oder eines Rechtsakts der Europäischen Union – nach den Rechtsvorschriften eines anderen Staates freigesprochen oder verurteilt worden ist.

    5.

    Gemäß § 4 Abs. 3 des büntetőeljárásról szóló 2017. évi XC. törvény (Gesetz Nr. XC von 2017 über das Strafverfahren, im Folgenden: Strafprozessordnung) darf kein Strafverfahren eingeleitet werden bzw. muss ein bereits eingeleitetes Strafverfahren eingestellt werden, wenn über die vom Straftäter begangene Tat bereits ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, unbeschadet Verfahren über außerordentliche Rechtsbehelfe und bestimmte spezielle Verfahren. Nach Abs. 7 derselben Vorschrift darf kein Strafverfahren eingeleitet werden bzw. muss ein eingeleitetes Strafverfahren eingestellt werden, wenn hinsichtlich der vom Täter begangenen Tat in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist oder wenn in einem Mitgliedstaat hinsichtlich derselben Tat eine Entscheidung in der Sache ergangen ist, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats sowohl die Einleitung eines neuen Strafverfahrens als auch die Fortführung des Strafverfahrens, sei es von Amts wegen oder infolge eines ordentlichen Rechtsbehelfs, verhindert.

    C.   Österreichisches Recht

    6.

    § 190 („Einstellung des Ermittlungsverfahrens“) der Strafprozessordnung (im Folgenden: StPO) sieht vor:

    „Die Staatsanwaltschaft hat von der Verfolgung einer Straftat abzusehen und das Ermittlungsverfahren insoweit einzustellen, als

    1.

    die dem Ermittlungsverfahren zu Grunde liegende Tat nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist oder sonst die weitere Verfolgung des Beschuldigten aus rechtlichen Gründen unzulässig wäre oder

    2.

    kein tatsächlicher Grund zur weiteren Verfolgung des Beschuldigten besteht.“

    7.

    § 193 („Fortführung des Verfahrens“) StPO bestimmt:

    „(1)   Nach der Einstellung des Verfahrens sind weitere Ermittlungen gegen den Beschuldigten zu unterlassen; erforderlichenfalls hat die Staatsanwaltschaft seine Freilassung anzuordnen. Sofern jedoch für eine Entscheidung über die Fortführung des Verfahrens bestimmte Ermittlungen oder Beweisaufnahmen erforderlich sind, kann die Staatsanwaltschaft solche im Einzelnen anordnen oder durchführen.

    (2)   Die Fortführung eines nach den §§ 190 oder 191 beendeten Ermittlungsverfahrens kann die Staatsanwaltschaft anordnen, solange die Strafbarkeit der Tat nicht verjährt ist und wenn

    1.

    der Beschuldigte wegen dieser Tat nicht vernommen … und kein Zwang gegen ihn ausgeübt wurde oder

    2.

    neue Tatsachen oder Beweismittel entstehen oder bekannt werden, die für sich allein oder im Zusammenhalt mit übrigen Verfahrensergebnissen geeignet erscheinen, die Bestrafung des Beschuldigten … zu begründen.

    …“

    III. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

    8.

    Am 22. August 2012 leitete die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (Österreich, im Folgenden: WKStA) gegen einen ungarischen Staatsangehörigen (im Folgenden: Beschuldigter zu 5) wegen des Verdachts der Bestechung und gegen zwei Mitbeschuldigte wegen des Verdachts der Geldwäsche, der Untreue und der Bestechung strafrechtliche Ermittlungsverfahren ein.

    9.

    Die Ermittlungen betrafen Ereignisse, die sich zwischen 2005 und 2010 zugetragen hatten, und bezogen sich auf mutmaßliche Schmiergelder an öffentliche Bedienstete seitens mehrerer Unternehmen mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten, die zum Ziel hatten, die Entscheidung zu beeinflussen, die in einem öffentlichen Vergabeverfahren über die Lieferung neuer Züge für zwei U-Bahn-Linien in Budapest, Ungarn, erlassen werden sollte. Damit verbunden waren Zahlungen von insgesamt mehreren Millionen Euro als Gegenleistung für Beratungsleistungen, die mutmaßlich zu keiner Zeit erbracht wurden.

    10.

    Es bestand der Verdacht, dass sich der Beschuldigte zu 5 – der sich der tatsächlichen Ziele und der fiktiven Natur der Beratungsverträge bewusst gewesen sein soll –, um in dieser öffentlichen Ausschreibung erfolgreich zu sein, bereiterklärt hatte, der Person oder den Personen, die in der Lage waren, die Entscheidungsträger in diesem Vergabeverfahren zu beeinflussen, einen unrechtmäßigen Vorteil zu verschaffen. Konkret soll der Beschuldigte zu 5 zwischen dem 5. April 2007 und dem 8. Februar 2010 über ein Unternehmen mehrere Zahlungen in Höhe von insgesamt mehr als 7000000 Euro an öffentliche Bedienstete geleistet haben, die sich der Bestechlichkeit schuldig machten und unerkannt blieben.

    11.

    Die Verdachtsgründe betreffend den Beschuldigten zu 5 beruhten auf Ermittlungsergebnissen, die auf ein Ersuchen des Serious Fraud Office (Amt zur Bekämpfung schweren Betrugs), Vereinigtes Königreich, um justizielle Zusammenarbeit hin übermittelt wurden, sowie auf Angaben über Bankkonten und Vernehmungen der zwei österreichischen Beschuldigten.

    12.

    Der Beschuldigte zu 5 war im Zuge der Ermittlungen der WKStA nicht als Tatverdächtiger vernommen worden, da die Ermittlungsmaßnahme der WKStA vom 26. Mai 2014, seinen Aufenthalt festzustellen – eine Maßnahme, die als Ausübung von Zwang im Sinne von § 193 Abs. 2 StPO eingestuft werden konnte –, erfolglos blieb.

    13.

    Mit Beschluss vom 3. November 2014 stellte die WKStA das vorgerichtliche Ermittlungsverfahren aus Mangel an Beweisen ein. Die WKStA unterzog danach den Sachverhalt mehrmals einer erneuten Prüfung, kam aber jedes Mal zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für eine Fortsetzung des Ermittlungsverfahrens und die Erhebung einer Anklage nach nationalem Recht nicht vorlägen. Insbesondere vertrat sie die Auffassung, dass die Bestechungshandlungen, die der Beschuldigte zu 5 begangen haben soll, in Österreich spätestens seit 2015 verjährt seien.

    14.

    Am 10. April und am 29. August 2019 erhob das Központi Nyomozó Főügyészség (Zentrales Ermittlungsbüro der Staatsanwaltschaft, Ungarn, im Folgenden: KNF) in Ungarn beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) gegen den Beschuldigten zu 5 Anklage wegen Bestechung im Sinne von § 254 Abs. 1 und 2 des ungarischen Strafgesetzbuchs.

    15.

    Mit Beschluss vom 8. Dezember 2020 stellte das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) das Strafverfahren gegen den Beschuldigten zu 5 in Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem mit der Begründung ein, dass der gegen ihn erhobene Tatvorwurf demjenigen entspreche, der bereits Gegenstand der Ermittlungen der WKStA gewesen sei.

    16.

    Der Beschluss des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) wurde nachfolgend auf ein Rechtsmittel mit Beschluss des Fővárosi Ítélőtábla (Hauptstädtisches Tafelgericht, Ungarn) vom 15. Juni 2021 aufgehoben. Dieses Gericht entschied, dass der Beschluss der WKStA vom 3. November 2014 über die Einstellung der Ermittlungen nicht als eine rechtskräftige Entscheidung im Sinne von Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ angesehen werden könne. Insoweit vertrat dieses Gericht die Ansicht, dass sich aus den ihm vorliegenden Akten nicht klar entnehmen lasse, ob der Einstellungsbeschluss der WKStA auf einer hinreichend sorgfältigen und vollständigen Prüfung der Beweise beruhe. Es sei nicht erwiesen, dass die WKStA neben der Vernehmung der zwei österreichischen Mitbeschuldigten des Beschuldigten zu 5 weitere Beweiserhebungen durchgeführt habe oder dass sie irgendeine der fast 90 Personen, die von der KNF in ihrer Anklageschrift genannt worden seien, zum Zweck einer Vernehmung oder einer Beweiserhebung angehört habe. Ferner sei der Beschuldigte zu 5 nicht als Tatverdächtiger vernommen worden. Das Fővárosi Ítélőtábla (Hauptstädtisches Tafelgericht) verwies die Sache deshalb an das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) zu erneuter Prüfung zurück.

    17.

    Vor diesem Hintergrund hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht), da es Zweifel hinsichtlich der zutreffenden Auslegung der maßgeblichen unionsrechtlichen Vorschriften hat, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Steht der in Art. 50 der Charta und in Art. 54 SDÜ verankerte Grundsatz ne bis in idem der Durchführung eines Strafverfahrens entgegen, das in einem Mitgliedstaat gegen dieselbe Person und wegen derselben Tat eingeleitet worden ist, derentwegen bereits in einem anderen Mitgliedstaat ein Strafverfahren stattgefunden hat, das durch eine staatsanwaltliche Entscheidung zur Einstellung der Ermittlungen endgültig beendet worden ist?

    2.

    Ist der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft eine Fortführung des Verfahrens von Amts wegen nicht für gerechtfertigt gehalten hat, obwohl bei einer staatsanwaltschaftlichen Entscheidung, mit der die Einstellung des Strafverfahrens (im Ermittlungsverfahren) in einem Mitgliedstaat angeordnet wird, die Möglichkeit besteht, das Verfahren bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Straftat verjährt, fortzuführen, mit dem in Art. 50 der Charta und in Art. 54 SDÜ verankerten Grundsatz ne bis in idem vereinbar, und verhindert dieser Umstand endgültig die Einleitung eines neuen Strafverfahrens gegen dieselbe Person in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat?

    3.

    Ist die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens mit dem in Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ verankerten Grundsatz ne bis in idem vereinbar und können die Ermittlungen als hinreichend sorgfältig und erschöpfend angesehen werden, wenn sie einen Beschuldigten betreffen, der zu einer seine Mitbeschuldigten betreffenden Straftat nicht als Beschuldigter vernommen wurde, auch wenn gegen ihn als Beschuldigten Ermittlungsmaßnahmen stattgefunden haben und wenn die Verfahrenseinstellung auf Ermittlungsergebnissen, die infolge eines Ersuchens um justizielle Zusammenarbeit eingeholt wurden, sowie auf Angaben über Bankkonten und auf der Beschuldigtenvernehmung von Mitbeschuldigten beruht?

    18.

    Schriftliche Erklärungen sind im vorliegenden Verfahren von der KNF, vom Beschuldigten zu 5, der ungarischen, der österreichischen und der Schweizer Regierung und der Europäischen Kommission abgegeben worden. Diese Parteien haben auch die vom Gerichtshof im Rahmen einer prozessleitenden Maßnahme mit dem Ersuchen um schriftliche Beantwortung gestellte Frage beantwortet, welche Kriterien ein nationales Gericht ihrer Ansicht nach bei der Prüfung, ob das Erfordernis „eingehender Ermittlungen“ im Sinne des Urteils vom 29. Juni 2016, Kossowski ( 4 ), erfüllt ist, zugrunde legen soll.

    19.

    Gemäß dem Ersuchen des Gerichtshofs wird im Rahmen der vorliegenden Schlussanträge nur die dritte Vorlagefrage behandelt.

    IV. Würdigung

    20.

    Mit seiner dritten Frage ersucht das vorlegende Gericht um mehrere Klarstellungen zum Bestandteil „bis“ des Grundsatzes ne bis in idem, nämlich die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen.

    21.

    Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob davon ausgegangen werden kann, dass eine Entscheidung einer Staatsanwaltschaft, das Verfahren gegen einen Beschuldigten einzustellen, der im Ermittlungsverfahren nicht vernommen wurde, gegen den aber Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt wurden und über den auf der Grundlage der justiziellen Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten, der Prüfung eines Bankkontos und der Vernehmung von zwei Mitbeschuldigten Ermittlungsergebnisse gewonnen wurden, auf eingehenden Ermittlungen beruhte und auf den Beschuldigten daher der Grundsatz ne bis in idem im Sinne von Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ angewandt werden kann.

    22.

    Ich bin mir nicht sicher, ob der Gerichtshof eine auf diese Weise formulierte Frage beantworten kann und sollte. Denn das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof, eine rechtliche Prüfung vorzunehmen, die tatsächlich auf eine Anwendung der maßgeblichen unionsrechtlichen Vorschriften auf die spezifischen Umstände des Falls hinausläuft. Das ist im Kontext eines Verfahrens gemäß Art. 267 AEUV aber nicht die Aufgabe des Gerichtshofs.

    23.

    In einem Vorabentscheidungsverfahren ist es Sache des Gerichtshofs, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm eine Entscheidung über das bei ihm anhängige Verfahren ermöglichen ( 5 ). Das bedeutet, dass der Gerichtshof in einem Fall wie dem vorliegenden die Voraussetzungen klären muss, unter denen der in Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ verankerte Grundsatz ne bis in idem anwendbar ist, um damit dem vorlegenden Gericht eine eigene Prüfung der Frage zu ermöglichen, ob die Entscheidung einer Staatsanwaltschaft über die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens ohne Einleitung weiterer Maßnahmen die Anwendung dieses Grundsatzes auslöst ( 6 ).

    24.

    Demgegenüber ist es Aufgabe des vorlegenden Gerichts, u. a. das nationale Recht auszulegen, die Verfahrenshandlungen, die in den Verfahrensakten aufgeführt sind, zu prüfen, gegebenenfalls die Parteien (die Staatsanwaltschaft und/oder den Beschuldigten) in Bezug auf Gewicht und Bedeutung der jeweiligen Ermittlungsmaßnahmen zu befragen und auf dieser Grundlage die maßgeblichen (unionsrechtlichen und nationalen) Vorschriften in dem bei ihm anhängigen Fall anzuwenden.

    25.

    Im Licht dieser Erwägungen ist die dritte Frage meines Erachtens dahin umzuformulieren, dass die Voraussetzungen ermittelt werden sollen, unter denen eine Entscheidung einer Staatsanwaltschaft, das Verfahren im Hinblick auf einen Beschuldigten einzustellen, auf „eingehenden Ermittlungen“ – im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs – beruht und sich dieser folglich auf den Schutz des Grundsatzes ne bis in idem im Sinne von Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ berufen kann.

    26.

    Diese Frage betrifft ein Problem, mit dem ich mich jüngst in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Parchetul de pe lângă Curtea de Apel Craiova ( 7 ) befasst habe. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich daher auf die relevanten Passagen meiner Schlussanträge in der Rechtssache Parchetul Bezug nehmen, wobei ich aber auch die Besonderheiten des beim vorlegenden Gericht gegenwärtig anhängigen Falls sowie das Vorbringen der Parteien berücksichtigen werde, die im vorliegenden Verfahren Erklärungen abgegeben haben.

    A.   Die „bis“-Voraussetzung als Erfordernis, den Fall in der Sache zu prüfen ( 8 )

    27.

    Art. 50 der Charta untersagt die doppelte Strafverfolgung und Bestrafung, wenn die Person „bereits … rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist“. Art. 54 SDÜ wiederum gewährleistet den Schutz des Grundsatzes ne bis in idem jeder Person, die „rechtskräftig abgeurteilt worden ist“. Insoweit hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung klargestellt, dass es für die Annahme, dass eine strafrechtliche Entscheidung als endgültige Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt anzusehen ist, „nicht nur erforderlich [ist], dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist“ ( 9 ).

    28.

    Es gibt daher zwei Aspekte der in Rede stehenden Entscheidung, die zu prüfen sind, um zu bestimmen, ob ein weiteres Verfahren zu einer nach dem Grundsatz ne bis in idem unzulässigen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen führt: Der eine betrifft den endgültigen Charakter der Entscheidung (die Frage, ob sie „rechtskräftig“ ist), der andere ihren Inhalt (die Frage, ob sie nach einer Prüfung „in der Sache“ ergangen ist). Die dritte Vorlagefrage im vorliegenden Verfahren bezieht sich auf den zweiten Aspekt.

    29.

    Damit es zur Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem kommen kann, muss eine gerichtliche Entscheidung nach einer Prüfung in der Sache erfolgt sein; das ergibt sich – wie der Gerichtshof hervorgehoben hat – unmittelbar aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, da die in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe „Verurteilung“ und „Freispruch“ notwendigerweise implizieren, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit der betreffenden Person geprüft wurde und eine Entscheidung darüber ergangen ist ( 10 ).

    30.

    Der Gerichtshof hatte auch bereits Gelegenheit klarzustellen, dass eine Entscheidung der Justiz eines Mitgliedstaats, mit der ein Angeklagter aufgrund unzureichender Beweise oder aus Mangel an Beweisen rechtskräftig freigesprochen wird, grundsätzlich als aufgrund einer Prüfung in der Sache ergangen anzusehen ist ( 11 ).

    31.

    Auf derselben Linie dürfte eine Prüfung in der Sache meines Erachtens auch vorliegen, wenn das Verfahren eingestellt und die Vorwürfe fallen gelassen werden – obwohl das Vorliegen der objektiven Tatbestandsmerkmale nachgewiesen worden ist –, weil zugunsten des mutmaßlichen Täters Rechtfertigungsgründe (z. B. Notwehr, Notstand oder höhere Gewalt) oder Entschuldigungsgründe (z. B. Strafunmündigkeit oder eine schwere Geistesstörung) vorliegen ( 12 ).

    32.

    Dagegen hat der Gerichtshof ebenfalls deutlich gemacht, dass Entscheidungen, durch die aus rein verfahrensrechtlichen Gründen eine Person freigesprochen wird, die Vorwürfe fallen gelassen werden oder das Verfahren eingestellt wird, oder die jedenfalls keine Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Person umfassen, im Sinne des Verbots der Doppelbestrafung nicht als „rechtskräftig“ angesehen werden können ( 13 ). Das ist meines Erachtens typischerweise der Fall, wenn Verfahren z. B. aufgrund einer Amnestie, Immunität, abolitio criminis oder wegen Verjährung eingestellt werden ( 14 ).

    33.

    In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass nach der Rechtsprechung das Vorliegen der Voraussetzung, dass die Entscheidung eine Prüfung in der Sache umfasst – die bewirken soll, dass eine Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Person, gegen die sich das Ermittlungsverfahren richtet, stattfindet –, nicht auf einer rein formellen Grundlage geprüft werden kann.

    34.

    Natürlich bedarf es, wenn ein Einstellungsbeschluss ausdrücklich auf verfahrensrechtliche Gründe gestützt wird, keiner zusätzlichen Überprüfung: Eine solche Entscheidung kann schon ihrem Wesen nach nicht zur Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem führen. Dagegen ist, wenn die Entscheidung auf fehlende oder ungenügende Beweise gestützt wird, ein weiterer Prüfungsschritt erforderlich. Der Gerichtshof hat nämlich im Urteil Kossowski ( 15 ), dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) im Urteil Mihalache ( 16 ) gefolgt ist, festgestellt, dass eine echte Prüfung in der Sache zwangsläufig eingehende Ermittlungen voraussetzt. Daher muss geprüft werden, ob solche eingehenden Ermittlungen stattgefunden haben.

    35.

    Diese Feststellung – der ich voll und ganz zustimme – bedarf einiger Erläuterungen.

    1. Zur Notwendigkeit der Prüfung, ob eingehende Ermittlungen stattgefunden haben

    36.

    In ihrer Rechtsprechung haben sowohl der Gerichtshof als auch der EGMR die Tragweite des Schutzes des Grundsatzes ne bis in idem über den Bereich der gerichtlichen Entscheidungen im engeren Sinne hinaus ausgedehnt. Beide Gerichtshöfe haben entschieden, dass auch Entscheidungen anderer öffentlicher Stellen, die auf nationaler Ebene an der Strafrechtspflege beteiligt sind und die nach nationalem Recht befugt sind, rechtswidriges Verhalten festzustellen und zu ahnden – wie z. B. Staatsanwaltschaften –, als „rechtskräftig“ im Sinne des Verbots der Doppelbestrafung angesehen werden können. Dies gilt, obwohl an der Entscheidung kein Gericht mitwirkt und sie nicht in der Form einer gerichtlichen Entscheidung ergeht ( 17 ).

    37.

    Diese Ausweitung stellt eine erhebliche Verbesserung des Schutzes der Rechte des Einzelnen im Strafrecht und im Strafverfahren dar. Gleichwohl muss ich wohl kaum darauf hinweisen, dass ein Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht ipso facto mit dem Freispruch einer Person nach Durchführung des Hauptverfahrens gleichzusetzen ist, in dem Beweise dem Richter (oder den Geschworenen) vorgelegt, von den Parteien erörtert und schließlich vom Richter (oder den Geschworenen) gewürdigt werden.

    38.

    Wie allgemein bekannt ist, umfassen die Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten eine Reihe unterschiedlicher Regelungen einerseits über die Voraussetzungen, unter denen die Staatsanwaltschaften wegen mutmaßlicher Straftaten ermitteln und gegebenenfalls ein Strafverfahren gegen die Tatverdächtigen einleiten können oder müssen, und andererseits über die Gründe, aus denen Strafverfahren eingestellt werden können. So können in einigen Mitgliedstaaten mangelndes öffentliches Interesse, die geringe Schwere der Tat, die unzureichende Ernsthaftigkeit der Anzeige des Geschädigten, früheres Verhalten des Angeklagten oder sogar Budgetknappheit zulässige Gründe für die Einstellung der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft sein ( 18 ).

    39.

    Darüber hinaus ist es unabhängig von der Frage, ob in der Strafrechtsordnung eines Mitgliedstaats die Strafverfolgung grundsätzlich obligatorisch oder nach Ermessen erfolgt, unvermeidlich, dass Erwägungen der gerichtlichen Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit oder Justizpolitik (wie z. B. die aktuelle Arbeitsbelastung, die Prioritäten bei der Strafverfolgung, der finanzielle oder der Arbeitsaufwand für die Ermittlungen) die Entscheidungen von Staatsanwaltschaften beeinflussen können, eine mutmaßliche Straftat mehr oder weniger proaktiv zu untersuchen oder hingegen das Verfahren einzustellen. Es wäre reines Wunschdenken, anzunehmen, dass alle Staatsanwaltschaften in der Europäischen Union ihre Entscheidungen über das Schicksal der von ihnen geleiteten Ermittlungs- und Strafverfahren allein auf der Grundlage ihrer persönlichen Überzeugung von der Schuld des mutmaßlichen Täters und ihrer Aussichten, eine solche Schuld vor Gericht zu beweisen, treffen.

    40.

    Meines Erachtens können solche Erwägungen ein noch größeres Gewicht haben, wenn Staatsanwaltschaften mit grenzüberschreitenden Verbrechen konfrontiert sind, die in zwei oder mehr Mitgliedstaaten von Tätern begangen wurden, die ihr durch Unionsrecht begründetes Recht ausnutzen, sich frei über nationale Grenzen hinweg zu bewegen. In solchen Fällen liegt auf der Hand, dass einige Staatsanwaltschaften besser dazu in der Lage sein könnten, die Ermittlungen erfolgreich abzuschließen und gegebenenfalls Anklage gegen die möglichen Täter zu erheben, als andere. Ebenso ist offensichtlich, dass eine tatsächliche Koordinierung mehrerer Staatsanwaltschaften aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten, die vielleicht tausende Kilometer voneinander entfernt sind und die alle in ihrer eigenen Sprache arbeiten und womöglich gar keine Kenntnis davon haben, dass parallel weitere Verfahren laufen, nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden kann – auch wenn es besondere Rechtsinstrumente für solche Fälle gibt ( 19 ).

    41.

    In einem grenzübergreifenden System, das auf gegenseitigem Vertrauen beruht, ist es daher nach meiner Auffassung absolut entscheidend, dass der Grundsatz ne bis in idem nur Anwendung findet, wenn der Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft auf einer Prüfung in der Sache beruht, die das Ergebnis eingehender Ermittlungen ist, was sich in einer gründlichen Würdigung des hinreichend vollständigen Beweismaterials zeigt.

    42.

    Wenn nämlich die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Person, gegen die ermittelt wurde, wegen des unzureichenden und fragmentarischen Beweismaterials ausgeschlossen wurde, kann man davon ausgehen, dass sich die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in einem wesentlichen Umfang auf Gründe der gerichtlichen Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit oder Justizpolitik gestützt hat.

    43.

    Der Umstand, dass eine Staatsanwaltschaft eine gründliche Würdigung des hinreichend vollständigen Beweismaterials vorgenommen hat, bedeutet natürlich nicht zwangsläufig, dass zum Zeitpunkt des Einstellungsbeschlusses alle Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Person, gegen die sich die Ermittlungen richten, ausgeräumt worden sein müssen. Eine Staatsanwaltschaft könnte sich nämlich gezwungen sehen, die notwendigen Konsequenzen aus dem Umstand zu ziehen, dass – unabhängig von ihrer persönlichen Meinung zur Schuld der betroffenen Person – die eingehenden Ermittlungen kein Beweismaterial zutage gefördert haben, das eine Verurteilung wahrscheinlich macht.

    44.

    Solange jedoch die Ermittlungen in angemessenem Maße erschöpfend und sorgfältig waren, kann der Einstellungsbeschluss de facto einem Freispruch gleichgestellt werden. Wie oben in Nr. 30 ausgeführt, hat der Gerichtshof bestätigt, dass bei Entscheidungen wegen unzureichender Beweise oder aus Mangel an Beweisen grundsätzlich davon auszugehen ist, dass sie auf einer Prüfung in der Sache beruhen. Meines Erachtens ist das eine logische Konsequenz u. a. der Unschuldsvermutung ( 20 ).

    45.

    Die vorstehenden Erwägungen führen zu folgender Frage: Wie ist zu beurteilen, ob sich eine Entscheidung wie die im vorliegenden Fall auf eingehende Ermittlungen stützt?

    2. Prüfung des Einstellungsbeschlusses

    46.

    Ob sich der Einstellungsbeschluss einer Staatsanwaltschaft auf eingehende Ermittlungen stützt, ist im Wesentlichen anhand der im Beschlusstext selbst ( 21 )(erforderlichenfalls in Verbindung mit Dokumenten, auf die in dem Beschluss verwiesen wird oder die ihm angefügt sind ( 22 )) enthaltenen Begründung zu beurteilen. Das ist nämlich das Dokument, in dem die Gründe für die Einstellung und das insoweit herangezogene Beweismaterial angegeben sind.

    47.

    Wie der Gerichtshof z. B. in seinem Urteil Kossowski festgestellt hat, kann – im konkreten Einzelfall – die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen ein Indiz dafür sein, dass im Ausgangsverfahren keine eingehenden Ermittlungen durchgeführt worden sind ( 23 ). Wenn dagegen, wie der EGMR im Urteil Mihalache ausgeführt hat, strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden, nachdem gegen die fragliche Person Anzeige erstattet wurde, der Geschädigte befragt wurde, die Beweise von der zuständigen Behörde zusammengetragen und geprüft wurden und eine begründete Entscheidung auf der Grundlage dieser Beweise ergangen ist, führen solche Faktoren wahrscheinlich zur Feststellung, dass eine Entscheidung in der Sache erfolgt ist ( 24 ).

    48.

    Daher handelt es sich um eine Einzelfallbewertung, die im Wesentlichen auf der Grundlage des tatsächlichen Inhalts der Entscheidung über die Verfahrenseinstellung zu treffen ist ( 25 ). Sollten Unklarheiten in der Entscheidung bestehen, hindert die Behörden im zweiten Mitgliedstaat nichts daran, sich der Instrumente der Zusammenarbeit zu bedienen, die im Unionsrecht geschaffen wurden ( 26 ), um die erforderlichen Klarstellungen von den Behörden des ersten Mitgliedstaats einzuholen ( 27 ).

    49.

    Allerdings ist es aus Gründen der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit entscheidend, dass die wesentlichen Elemente, die es ermöglichen, zu verstehen, weshalb der Einstellungsbeschluss erfolgte, sich aus dem Beschluss selbst ergeben (gegebenenfalls ergänzt durch Dokumente, auf die in dem Beschluss verwiesen wird oder die ihm angefügt sind). Der mutmaßliche Täter muss nämlich prüfen können, ob es wahrscheinlich ist, dass die betreffende Entscheidung im Licht des einschlägigen Unionsrechts und nationalen Rechts zur Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem führen wird ( 28 ). Dementsprechend kann ein nachträglicher Informationsaustausch sinnvoll sein, um die Tragweite und Bedeutung dieser Entscheidung klarzustellen oder deren Begründung zu vervollständigen, er darf deren Inhalt aber nicht grundlegend ändern.

    50.

    An dieser Stelle mag es nützlich sein, einen wichtigen Punkt hervorzuheben. Die vorstehende Beurteilung kann nicht dahin ausgelegt werden, dass sie es den im Rahmen eines zweiten Verfahrens handelnden Strafverfolgungsbehörden erlaubt, im Wesentlichen die Rechtmäßigkeit der im Rahmen eines ersten Verfahrens erlassenen Entscheidungen zu überprüfen. Das stünde in Widerspruch zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, einem Grundsatz, der den Kern der Regelungen des Unionsrechts über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bildet, und würde den Grundsatz ne bis in idem weitgehend leer laufen lassen ( 29 ).

    51.

    Die im zweiten Verfahren handelnden Behörden sind nur befugt, die (materiell-rechtliche und/oder verfahrensrechtliche) Natur der Gründe zu prüfen, aus denen die erste Staatsanwaltschaft beschlossen hat, das Verfahren einzustellen. Dazu sollte es diesen Behörden erlaubt sein, sich zu vergewissern, dass die Staatsanwaltschaft die Einstellung nach Prüfung des vollständigen Beweismaterials beschlossen hat und dass sie es nicht versäumt hat, weitere Beweise zu erheben – weil dies für unmöglich, zu schwierig oder schlicht überflüssig gehalten wurde –, die für die Beurteilung besonders relevant sein könnten.

    52.

    Die weiter gehenden Feststellungen im Einstellungsbeschluss der ersten Staatsanwaltschaft (z. B. der Beweiswert der gewürdigten Beweise) sollten nicht angezweifelt werden. Den Behörden, die im zweiten Verfahren handeln, ist es verwehrt, eine erneute Würdigung der bereits von der ersten Staatsanwaltschaft geprüften Beweise vorzunehmen ( 30 ). Das gegenseitige Vertrauen in die Strafrechtsordnungen der jeweiligen Mitgliedstaaten erfordert, dass die nationalen Behörden die Feststellungen anderer nationaler Behörden respektieren, ganz gleich, zu welchem Urteil diese gelangen ( 31 ).

    53.

    In diesem Zusammenhang kann möglicherweise eine weitere Klarstellung hilfreich sein. Die Notwendigkeit, zu überprüfen, dass ein Einstellungsbeschluss eine Prüfung in der Sache auf der Grundlage eingehender Ermittlungen umfasste, ist ein Erfordernis, das ganz offensichtlich „einfache“ Einstellungsbeschlüsse betrifft, nämlich Entscheidungen, mit denen das Verfahren eingestellt wird und bei denen die Person, gegen die ermittelt wurde – bildlich gesprochen – „ungeschoren davonkommt“.

    54.

    Das Recht aller Mitgliedstaaten sieht nämlich eine Reihe unterschiedlicher Streitbeilegungsmechanismen vor, die zur Einstellung des Strafverfahrens führen, wenn der mutmaßliche Täter im Gegenzug eine milde (oder mildere) Geldbuße oder eine andere repressive Maßnahme akzeptiert. Es liegt auf der Hand, dass diese Art von Einstellungsbeschlüssen, soweit es um das Verbot der Doppelbestrafung geht, normalerweise mit einer Verurteilung gleichzusetzen sind. Dies gilt unabhängig davon, ob sie eine förmliche Feststellung der Verantwortlichkeit des mutmaßlichen Täters beinhalten. Da die Rechtsprechung zu diesem Punkt recht eindeutig ist, sehe ich keinen Grund, auf diesen Aspekt noch näher einzugehen ( 32 ).

    B.   Grundgedanke und Zweck des Grundsatzes ne bis in idem ( 33 )

    55.

    Diese oben wiedergegebene Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem scheint mir am weitesten mit seinem Grundsatz und seinem Zweck in Einklang zu stehen. Insoweit sollte daran erinnert werden, dass es sich bei diesem Grundsatz um ein sehr altes Rechtsgebilde handelt; Hinweise darauf sind u. a. im Kodex Hammurabi, in den Werken von Demosthenes und in den Digesten des Justinian sowie in zahlreichen mittelalterlichen Kirchenrechten zu finden ( 34 ). In der (jetzigen) Europäischen Union wurde dieser Grundsatz – sogar ohne dass es irgendeine Vorschrift hierzu gab – bereits in den 1960er Jahren angeführt und mit dem Billigkeitsgedanken in Verbindung gebracht ( 35 ).

    56.

    Es scheint, dass sich die genaue Bedeutung und Tragweite des Grundsatzes ne bis in idem zwar über die Jahrhunderte etwas gewandelt haben, das Verständnis der beiden dahinterstehenden Grundgedanken aber recht konstant geblieben ist: Billigkeit und Rechtssicherheit ( 36 ).

    57.

    Zum einen wird es allgemein als ungerecht und willkürlich empfunden, dass der Staat „mit allen seinen Mitteln und Befugnissen … wiederholt [versucht], wegen einer mutmaßlichen Straftat eine Verurteilung gegen eine Person zu erwirken, und sie dabei Scham, Kosten und Mühen aussetzt und sie dazu zwingt, in einem fortdauernden Zustand der Angst und Unsicherheit zu leben“ ( 37 ). Der Grundsatz ne bis in idem dient daher in erster Linie dazu, Situationen zu vermeiden, in denen eine Person mehr als einmal „in Gefahr“ gebracht wird ( 38 ).

    58.

    Zum anderen ist das Verbot der Doppelbestrafung untrennbar mit dem Grundsatz der Rechtskraft verbunden: dem Gedanken, dass zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden sollten ( 39 ).

    59.

    In der Rechtsordnung der Europäischen Union dient das Verbot der Doppelbestrafung einem dritten Zweck: die Freizügigkeit der Personen innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu gewährleisten. Der Gerichtshof hat in Bezug auf Art. 54 SDÜ betont, dass eine Person, die bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen können muss, ohne eine neuerliche Strafverfolgung wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat befürchten zu müssen ( 40 ).

    60.

    Diese Zwecke sprechen daher gegen eine übermäßig restriktive Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem. Zugleich würde jedoch eine übermäßig weite Anwendung des Grundsatzes in Widerspruch zu anderen schützenswerten öffentlichen Interessen stehen.

    61.

    Insoweit sind u. a. zu nennen das allgemeine Interesse der Gesellschaft daran, dass Straftäter wirksam verfolgt werden ( 41 ), und das besondere Interesse der Opfer von Straftaten, nicht nur eine Entschädigung von den Tätern zu erhalten, sondern auch zu erleben, dass „der Gerechtigkeit Genüge getan wird“ ( 42 ). Schließlich legt schon der Name „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ nahe, dass Freiheit nicht auf Kosten von Sicherheit und Gerechtigkeit gehen kann. Der zuletzt genannte Begriff muss zweifellos auf Gerechtigkeit für jeden abzielen: für mutmaßliche Täter ebenso wie für mutmaßliche Opfer. Aus diesem Grund muss nach Art. 3 Abs. 2 EUV innerhalb dieses Raums der freie Personenverkehr in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf u. a. die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität gewährleistet sein ( 43 ).

    62.

    In diesem Zusammenhang lässt sich nicht darüber hinwegsehen, dass ein oberflächlicher Ansatz bei der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zu Missbrauch und Manipulation durch Straftäter führen könnte, die – wie die ungarische Regierung zutreffend ausführt – auf „Forum Shopping“ zurückgreifen könnten, um sich Straffreiheit für ihre Handlungen zu sichern. Wenn nämlich Verbrechen durch mehrere Staatsanwaltschaften gleichzeitig untersucht werden, besteht ein reales Risiko, dass die am schlechtesten aufgestellte (oder die am stärksten unterbesetzte oder überarbeitete) Staatsanwaltschaft de facto die Durchführung ernsthafter Ermittlungen im Hinblick auf dieses Verbrechen verhindern könnte, da ein Einstellungsbeschluss dieser Behörde dem Tätigwerden einer anderen Staatsanwaltschaft zuvorkommen könnte.

    63.

    Hinzu kommt auf dieser Seite der Waagschale ein Interesse der Union, das auch gebührend zu berücksichtigen ist: gegenseitiges Vertrauen. Aus gefestigter Rechtsprechung ergibt sich, dass das gegenseitige Vertrauen nur erhalten und gestärkt werden kann, wenn die Behörden eines Mitgliedstaats sich vergewissern können, dass in dem anderen Mitgliedstaat eine ordnungsgemäße Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines mutmaßlichen Täters erfolgt ist ( 44 ). Fehlt es an einer solchen Prüfung, gibt es schlicht keine Grundlage für ein funktionierendes gegenseitiges Vertrauen. Wie könnte sich ein nationales Gericht auf eine Beurteilung der Schuld einer Person durch ein anderes Gericht stützen oder auf diese Beurteilung verlassen, die tatsächlich nicht sorgfältig vorgenommen wurde?

    64.

    Daher ist es im Rahmen der Auslegung von Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ von höchster Bedeutung, zwischen diesen Interessen eine gerechte Abwägung vorzunehmen. Insbesondere sollte ein wirksamer Schutz der Rechte des Einzelnen mit dem berechtigten Interesse der Mitgliedstaaten an der Vermeidung der Straflosigkeit von Straftätern in Einklang gebracht werden ( 45 ). Das ist der zentrale Gedanke, von dem ich mich in den vorliegenden (und meinen früheren) Schlussanträgen habe leiten lassen, und nachdem ich die Rechtsprechung durchgesehen und darüber nachgedacht hatte, habe ich versucht, dem Gerichtshof einen meiner Ansicht nach „ausgewogenen“ Ansatz zur Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem vorzuschlagen.

    65.

    Insbesondere vermag ich nicht zu erkennen, wie sich eine Person, deren Verantwortlichkeit für eine mutmaßliche Straftat im ersten Verfahren nur im Stadium des Ermittlungsverfahrens und auf der Grundlage eines unzureichenden und fragmentarischen Beweismaterials geprüft wurde, zu Recht darauf berufen könnte, dass ein späteres Verfahren, in dem ihre Beteiligung auf der Grundlage eines soliden und vollständigen Beweismaterials untersucht wird, sie ein zweites Mal „in Gefahr“ brächte und/oder in Widerspruch zum Grundsatz der Rechtskraft stünde.

    C.   Die vorliegende Rechtssache

    66.

    Wie ich oben in den Nrn. 23 und 24 ausgeführt habe, ist die Prüfung, ob die oben erörterten Voraussetzungen in dem bei ihm anhängigen Fall erfüllt sind, grundsätzlich Sache des vorlegenden Gerichts. Um dieses Gericht aber bestmöglich zu unterstützen, will ich dennoch einige kurzgefasste Überlegungen hinsichtlich einer möglichen Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im Ausgangsverfahren anstellen.

    67.

    Konkret ist der wesentliche Aspekt der dritten Vorlagefrage in der Frage zu sehen, ob die Ermittlungsmaßnahmen, die, wie dargestellt, stattgefunden (Einholung von Ermittlungsergebnissen im Rahmen der Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten, Prüfung eines Bankkontos und Befragung von zwei Mitbeschuldigten) beziehungsweise nicht stattgefunden haben (Vernehmung der in Rede stehenden Person), darauf hindeuten, dass die Staatsanwaltschaft in Österreich tatsächlich hinreichend eingehende Ermittlungen vorgenommen hat.

    68.

    Ich bezweifle sehr, dass der Gerichtshof eine solche Frage mit ja oder nein beantworten kann. Denn eine bloße Auflistung von vorgenommenen oder unterlassenen Ermittlungsmaßnahmen sagt, wenn überhaupt, wenig darüber aus, ob die Ermittlungen von der in Rede stehenden Staatsanwaltschaft erschöpfend und sorgfältig vorgenommen wurden. Der Gerichtshof hat insbesondere keine Kenntnis i) von der Komplexität der relevanten Fakten, ii) davon, was die gesammelten Beweise ans Tageslicht gebracht haben und iii) welche zusätzlichen Beweise möglicherweise noch hätten erhoben werden können.

    69.

    Die Beurteilung, ob es sich um eingehende Ermittlungen handelte, muss, wie oben in Nr. 48 ausgeführt, zwingend im Rahmen einer sich auf alle relevanten Umstände stützenden Einzelfallbeurteilung erfolgen. Dabei gibt es keine Prüfliste möglicher Ermittlungsmaßnahmen, die, wenn entsprechende Kästchen angekreuzt oder nicht angekreuzt werden, den Behörden den Hinweis liefern könnte, ob bestimmte Ermittlungen angemessen waren oder nicht. Wie oben dargestellt, haben die Mitgliedstaaten diesen Bereich unterschiedlich geregelt. Hinzukommt auch, dass – was noch wichtiger ist – jeder Fall unterschiedlich gelagert ist.

    70.

    In einigen Fällen sind möglicherweise zahlreiche, in anderen weitaus weniger Ermittlungsmaßnahmen erforderlich. In manchen Fällen mag die Beweiserhebung nicht zu schlüssigen Ergebnissen geführt haben, obwohl sie sich auf mehrere Beweise stützte, während in einem anderen Fall die Sammlung von wenigen Beweisen ausreichen kann, um hinreichende Klarheit über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschuldigten zu erlangen.

    71.

    Ferner hängt die Frage, ob es sich um eingehende Ermittlungen handelt, nicht nur davon ab, wie viele Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt wurden, sondern sie ist auch davon abhängig – wie die ungarische Regierung hervorgehoben hat –, wie sorgfältig die Ergebnisse dieser Ermittlung geprüft wurden.

    72.

    Deshalb möchte ich den Gerichtshof nachdrücklich darum ersuchen, die endgültige Beurteilung dieser Punkte dem vorlegenden Gericht zu überlassen. Dem möchte ich nur noch zwei abschließende Bemerkungen hinzufügen.

    73.

    Erstens ist es durchaus möglich, dass die Vielzahl und die Art der von der österreichischen Staatsanwaltschaft vorgenommenen Ermittlungsmaßnahmen als Hinweis darauf angesehen werden könnte, dass – wie von der österreichischen Regierung vorgebracht wird – diese Staatsanwaltschaft tatsächlich eingehende Ermittlungen vorgenommen hat. Andererseits kann ich der Auffassung dieser Regierung in keiner Weise zustimmen, dass Ermittlungen nur unter ganz extremen und besonderen Umständen als unzureichend anzusehen sind und nicht zur Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem führen können. Meines Erachtens kann hierfür keine Vermutung bestehen. Öffentlich zugängliche Daten legen nahe, dass eine bedeutende Anzahl von strafrechtlichen Ermittlungen in den Mitgliedstaaten, die aufgrund unzureichender Beweise oder aus Mangel an Beweisen eingestellt werden, auch aus Gründen der gerichtlichen Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit oder Justizpolitik beendet werden.

    74.

    Daneben kann ich aber auch nachvollziehen, dass sich die österreichische Staatsanwaltschaft u. a. deshalb dazu entschloss, die Ermittlungen nicht fortzuführen und von einer Anklageerhebung abzusehen, weil eine Strafverfolgung von Straftaten, derer der Beschuldigte zu 5 verdächtigt wurde, in Österreich wegen Verjährung nicht mehr möglich war. Entscheidungen über die Einstellung eines Verfahrens aufgrund einer Verjährungsvorschrift treffen, wie ich oben in Nr. 32 der vorliegenden Schlussanträge erläutert habe, im Allgemeinen keine Aussage über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Person und sind als solche so anzusehen, dass sie schon ihrem Wesen nach nicht zu einer Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem führen können. Es handelt sich dabei um einen Gesichtspunkt, den das vorlegende Gericht meines Erachtens berücksichtigen sollte.

    75.

    Zweitens stimme ich mit der Schweizer Regierung darin überein, dass der bloße Umstand, dass der Beschuldigte nicht vernommen werden konnte, als solcher nicht darauf hinweist, dass die Ermittlungen nicht auf hinreichend eingehende Weise erfolgten. Es gibt für mich keinen Grund, der es rechtfertigen könnte, die Vernehmung des Beschuldigten als eine conditio sine qua non dafür anzusehen, dass Ermittlungen ausreichend erschöpfend und sorgfältig durchgeführt wurden.

    76.

    Wenn den Behörden in Ungarn keine besonderen Anhaltspunkte für die Annahme vorliegen, dass sich aus einer solchen Vernehmung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Gesichtspunkte von erheblichem Gewicht ergeben könnten, die für eine Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschuldigten sprechen – damit meine ich Gründe, die, wenn sie berücksichtigt würden, möglicherweise das Gleichgewicht zugunsten der Strafverfolgung dieser Person verschieben könnten –, so ist der Umstand, dass eine solche Vernehmung nicht vorgenommen werden konnte, für sich genommen kein hinreichender Grund für die Annahme, dass die Ermittlungen unangemessen waren. Ich möchte in diesem Zusammenhang hervorheben, dass, da man sich im in Rede stehenden Strafverfahren im Stadium des Ermittlungsverfahrens befand, bei der Prüfung des „was wäre wenn“-Szenarios nicht nach Gewissheit oder Beinahegewissheit zu fragen ist, sondern zwingend die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten gegeneinander abzuwägen sind.

    77.

    Zum anderen ist eine Staatsanwaltschaft indes sicherlich nicht daran gehindert, Schlussfolgerungen aus dem Umstand zu ziehen, dass sich ein Beschuldigter möglicherweise bewusst der Möglichkeit einer Vernehmung entzogen hat, z. B. indem er für die Polizeibehörden nicht erreichbar war.

    78.

    Nach alledem bin ich der Meinung, dass unter dem Begriff „eingehende Ermittlungen“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Grundsatz ne bis in idem Ermittlungen zu verstehen sind, in denen die Staatsanwaltschaft nach einer gründlichen Würdigung des hinreichend vollständigen Beweismaterials einen Einstellungsbeschluss erlassen hat. Bei der Prüfung, ob das der Fall war, sollten die Behörden im zweiten Mitgliedstaat insbesondere berücksichtigen, ob i) der Einstellungsbeschluss in einem wesentlichen Umfang auf Erwägungen der gerichtlichen Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit oder Justizpolitik beruhte und ii) die Staatsanwaltschaft im ersten Mitgliedstaat – weil das für unmöglich, zu schwierig oder schlicht überflüssig gehalten wurde – keine weiteren Beweise erhoben hat, die für die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschuldigten besonders relevant hätten sein können.

    V. Ergebnis

    79.

    Im Ergebnis schlage ich dem Gerichtshof vor, die dritte Vorlagefrage des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) wie folgt zu beantworten:

    Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen sind dahin auszulegen, dass ein Beschluss einer Staatsanwaltschaft, das Verfahren gegen einen Beschuldigten einzustellen, auf „eingehenden Ermittlungen“ beruht und sich der Beschuldigte daher auf den Schutz des Grundsatzes ne bis in idem berufen kann, wenn die Staatsanwaltschaft diesen Beschluss nach einer gründlichen Würdigung des hinreichend vollständigen Beweismaterials erlassen hat. Bei der Prüfung, ob das der Fall war, sollten die Behörden im zweiten Mitgliedstaat insbesondere berücksichtigen, ob i) der Einstellungsbeschluss in einem wesentlichen Umfang auf Erwägungen der gerichtlichen Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit oder Justizpolitik beruhte und ii) die Staatsanwaltschaft im ersten Mitgliedstaat – weil das für unmöglich, zu schwierig oder schlicht überflüssig gehalten wurde – keine weiteren Beweise erhoben hat, die für die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschuldigten besonders relevant hätten sein können.


    ( 1 ) Originalsprache: Englisch.

    ( 2 ) ABl. 2000, L 239, S. 19.

    ( 3 ) Siehe unten, Nr. 34 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 4 ) C‑486/14, EU:C:2016:483 (im Folgenden: Urteil Kossowski).

    ( 5 ) Vgl. insoweit Urteil vom 14. Juli 2022, Volkswagen (C‑134/20, EU:C:2022:571, Rn. 33).

    ( 6 ) Vgl. entsprechend Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Gözütok und Brügge (C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2002:516, Nrn. 36 und 37).

    ( 7 ) C‑58/22, EU:C:2023:464 (im Folgenden: meine Schlussanträge in der Rechtssache Parchetul).

    ( 8 ) Der vorliegende Abschnitt (A) der Schlussanträge gibt im Wesentlichen die Nrn. 48, 49 und 59 bis 84 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Parchetul wieder.

    ( 9 ) Vgl. z. B. Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod (C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 10 ) Vgl. insoweit Urteil vom 16. Dezember 2021, AB u. a. (Rücknahme einer Amnestie) (C‑203/20, EU:C:2021:1016, Rn. 56 und 57 und die dort angeführte Rechtsprechung; im Folgenden: Urteil AB u. a.). Beachte auch, dass Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf den rechtskräftigen Freispruch oder die rechtskräftige Verurteilung Bezug nimmt.

    ( 11 ) Vgl. insoweit Urteil vom 5. Juni 2014, M (C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 28 und 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 12 ) Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache van Straaten (C‑150/05, EU:C:2006:381, Nr. 65).

    ( 13 ) Vgl. u. a. Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission (C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 54 bis 69), vom 10. März 2005, Miraglia (C‑469/03, EU:C:2005:156, Rn. 31 bis 34), vom 22. Dezember 2008, Turanský (C‑491/07, EU:C:2008:768, Rn. 40 bis 45), und Urteil AB u. a., Rn. 61. Vgl. auch EGMR, Urteil vom 15. März 2005, Horciag/Rumänien (CE:ECHR:2005:0315DEC007098201).

    ( 14 ) Im Hinblick auf die Verjährung muss ich einräumen, dass der Gerichtshof im Urteil vom 28. September 2006, Gasparini u. a. (C-467/04, EU:C:2006:610, Rn. 22 bis 33), zu einem anderen Ergebnis zu kommen scheint. Allerdings bin ich der Ansicht, dass das Urteil Gasparini u. a. in diesem Punkt nicht mit der späteren Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Freisprüchen aus verfahrensrechtlichen Gründen in Einklang gebracht werden kann. Denn Verfahren, die wegen eingetretener Verjährung eingestellt werden, beinhalten im Allgemeinen keine Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Person. Darüber hinaus wurde diese Passage im Urteil Gasparini u. a. meines Erachtens jedenfalls implizit im Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555), verworfen, in dem der Gerichtshof innerstaatliche Regelungen über die Verjährung als verfahrensrechtliche Regelungen angesehen hat. Diese Auffassung deckt sich im Übrigen mit der Rechtsprechung des EGMR, vgl. z. B. Urteil vom 5. Dezember 2019, Smoković/Kroatien (CE:ECHR:2019:1112DEC005784912, §§ 43 bis 45).

    ( 15 ) Vgl. Urteil Kossowski (Rn. 48, 53 und 54).

    ( 16 ) EGMR, Urteil vom 8. Juli 2019, Mihalache/Rumänien (CE:ECHR:2019:0708JUD005401210, §§ 97 und 98; im Folgenden: Urteil Mihalache).

    ( 17 ) Vgl. u. a. Urteile vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge (C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87, Rn. 27, 28 und 31), und vom 12. Mai 2021, Bundesrepublik Deutschland (Red Notice, Interpol) (C‑505/19, EU:C:2021:376, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ähnlich EGMR, Urteil Mihalache (§§ 94 und 95).

    ( 18 ) Vgl. z. B. das zustimmende Sondervotum des Richters Pinto de Albuquerque im Urteil Mihalache (§§ 10 ff.).

    ( 19 ) Vgl. insbesondere Art. 57 SDÜ, der u. a. vorsieht, dass, wenn „eine Person im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wegen einer Straftat angeschuldigt [ist] und … die zuständigen Behörden dieser Vertragspartei Grund zu der Annahme [haben], dass die Anschuldigung dieselbe Tat betrifft, derentwegen der Betreffende im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei bereits rechtskräftig abgeurteilt wurde, …[diese], sofern sie es für erforderlich halten, die zuständigen Behörden der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet die Entscheidung ergangen ist, um sachdienliche Auskünfte [ersuchen]“. Vgl. auch Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates vom 30. November 2009 zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren (ABl. 2009, L 328, S. 42).

    ( 20 ) Dieser Grundsatz ist u. a. in Art. 48 Abs. 1 der Charta verankert.

    ( 21 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil Kossowski (Rn. 52).

    ( 22 ) Vgl. – ausführlicher – meine Schlussanträge in der Rechtssache GR u. a. (C‑726/21, EU:C:2023:240, Nrn. 35 bis 53).

    ( 23 ) Urteil Kossowski (Rn. 53).

    ( 24 ) Urteil Mihalache (§ 98).

    ( 25 ) Ebd. (§ 97).

    ( 26 ) Zum Beispiel Art. 57 SDÜ und Rahmenbeschluss 2009/948 (siehe oben, Fn. 18).

    ( 27 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 16. November 2010, Mantello (C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 48).

    ( 28 ) Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache bpost (C‑117/20, EU:C:2021:680, Nr. 119).

    ( 29 ) Vgl. entsprechend Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Kossowski (C‑486/14, EU:C:2015:812, Nrn. 75 und 76).

    ( 30 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2014, M (C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 30).

    ( 31 ) Vgl. u. a. Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München (Auslieferung und ne bis in idem) (C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 92 und 93 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache van Straaten (C‑150/05, EU:C:2006:381, Nrn. 52 und 63).

    ( 32 ) Vgl. insbesondere Urteil vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge (C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87). Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Gözütok und Brügge (EU:C:2002:516, Nrn. 83, 88, 89, 97 und 106), und das zustimmende Sondervotum des Richters Bošnjak, dem sich Richter Serghides angeschlossen hat, im Urteil Mihalache.

    ( 33 ) Der vorliegende Abschnitt (B) der Schlussanträge gibt im Wesentlichen die Nrn. 108 bis 118 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Parchetul wieder.

    ( 34 ) Coffey, G., „A History of the Common Law Double Jeopardy Principle: From Classical Antiquity to Modern Era“, Athens Journal of Law, Bd. 8, Ausgabe 3, Juli 2022, S. 253 bis 278.

    ( 35 ) Vgl. Urteil vom 5. Mai 1966, Gutmann/Kommission (18/65 und 35/65, EU:C:1966:24), und, mit weiteren Verweisen auf frühere Rechtsprechung, Stellungnahme des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:739, Nr. 43).

    ( 36 ) Vgl. Coffey, G., angeführt oben in Fn. 34. Ähnlich Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Gözütok und Brügge (C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2002:516, Nr. 49).

    ( 37 ) So der U.S. Supreme Court in der Sache Green/United States (1957) 355 US 184, S. 187. Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Kossowski (C‑486/14, EU:C:2015:812, Nr. 36).

    ( 38 ) Vgl. hierzu Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache M (C‑398/12, EU:C:2014:65, Nr. 48).

    ( 39 ) Zum Begriff der Rechtskraft vgl. unter vielen Urteil vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 38). Zum Verhältnis zwischen diesen beiden Begriffen vgl. Urteil vom 22. März 2022, Nordzucker u. a. (C‑151/20, EU:C:2022:203, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 40 ) Vgl. Urteil vom 12. Mai 2021, Bundesrepublik Deutschland (Red Notice, Interpol) (C‑505/19, EU:C:2021:376, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 41 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, X (Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem) (C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 97), und Urteil AB u. a. (Rn. 58).

    ( 42 ) Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Kossowski (C‑486/14, EU:C:2015:812, Nr. 80) und Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache BV (C‑129/19, EU:C:2020:375, Nr. 113).

    ( 43 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2005, Miraglia (C‑469/03, EU:C:2005:156, Rn. 34).

    ( 44 ) Vgl. Urteil vom 12. Mai 2021, Bundesrepublik Deutschland (Red Notice, Interpol) (C‑505/19, EU:C:2021:376, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 45 ) Ähnlich Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in den Rechtssachen Bundesrepublik Deutschland (Red Notice, Interpol) (C‑505/19, EU:C:2020:939, Nr. 93) und bpost (C‑117/20, EU:C:2021:680, Nr. 121).

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