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Document 62021CJ0769

Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 8. Dezember 2022.
AAS „BTA Baltic Insurance Company” gegen Iepirkumu uzraudzības birojs und Tieslietu ministrija.
Vorabentscheidungsersuchen des Administratīvā rajona tiesa.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Richtlinie 2014/24/EU – Art. 18 Abs. 1 – Grundsätze der Gleichbehandlung, der Transparenz und der Verhältnismäßigkeit – Entscheidung über den Widerruf einer Ausschreibung – Angebote, die getrennt voneinander durch zwei Bieter desselben Wirtschaftsteilnehmers abgegeben werden und die beiden wirtschaftlichsten Angebote sind – Ablehnung des Auftrags durch den erfolgreichen Bieter – Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, das Angebot des nachfolgenden Bieters abzulehnen, das Vergabeverfahren zu beenden und eine neue Ausschreibung durchzuführen.
Rechtssache C-769/21.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:973

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

8. Dezember 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Richtlinie 2014/24/EU – Art. 18 Abs. 1 – Grundsätze der Gleichbehandlung, der Transparenz und der Verhältnismäßigkeit – Entscheidung über den Widerruf einer Ausschreibung – Angebote, die getrennt voneinander durch zwei Bieter desselben Wirtschaftsteilnehmers abgegeben werden und die beiden wirtschaftlichsten Angebote sind – Ablehnung des Auftrags durch den erfolgreichen Bieter – Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, das Angebot des nachfolgenden Bieters abzulehnen, das Vergabeverfahren zu beenden und eine neue Ausschreibung durchzuführen“

In der Rechtssache C‑769/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administratīvā rajona tiesa (Bezirksverwaltungsgericht, Lettland) mit Entscheidung vom 13. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Dezember 2021, in dem Verfahren

AAS „BTA Baltic Insurance Company“

gegen

Iepirkumu uzraudzības birojs,

Tieslietu ministrija

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Fünften Kammer E. Regan (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zehnten Kammer sowie der Richter I. Jarukaitis und Z. Csehi,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der AAS „BTA Baltic Insurance Company“, vertreten durch M. Brizgo, Advokāts,

der lettischen Regierung, vertreten durch J. Davidoviča und K. Pommere als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Ondrůšek, A. Sauka und G. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der AAS BTA Baltic Insurance Company (im Folgenden: Baltic) einerseits und dem Tieslietu ministrija (Justizministerium, Lettland) sowie der Iepirkumu uzraudzības birojs (Aufsichtsbehörde für das öffentliche Auftragswesen, Lettland) andererseits wegen einer Entscheidung über die Beendigung eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags über Krankenversicherungsleistungen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 18 („Grundsätze der Auftragsvergabe“) der Richtlinie 2014/24 bestimmt in seinem Abs. 1:

„Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer in gleicher und nichtdiskriminierender Weise und handeln transparent und verhältnismäßig.

…“

4

Art. 55 („Unterrichtung der Bewerber und Bieter“) der Richtlinie 2014/24 sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Die öffentlichen Auftraggeber teilen jedem Bewerber und jedem Bieter schnellstmöglich ihre Entscheidungen über den Abschluss einer Rahmenvereinbarung, die Zuschlagserteilung oder die Zulassung zur Teilnahme an einem dynamischen Beschaffungssystem mit, einschließlich der Gründe, aus denen beschlossen wurde, auf den Abschluss einer Rahmenvereinbarung oder die Vergabe eines Auftrags, für den ein Aufruf zum Wettbewerb stattgefunden hat, zu verzichten und das Verfahren erneut einzuleiten beziehungsweise kein dynamisches Beschaffungssystem einzurichten.“

Lettisches Recht

5

Art. 2 des Publisko iepirkumu likums (Gesetz über öffentliche Aufträge) vom 15. Dezember 2016 (Latvijas Vēstnesis, 2016, Nr. 254) lautet:

„Ziel des vorliegenden Gesetzes ist die Gewährleistung

1)

der Transparenz der Auftragsvergabe;

2)

des freien Wettbewerbs zwischen den Unternehmen sowie der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung der Unternehmen;

3)

des effizienten Einsatzes der Mittel des öffentlichen Auftraggebers bei gleichzeitiger Minimierung der Risiken für ihn.“

6

Im Ministru kabineta noteikumi Nr. 107 „Iepirkuma procedūru un metu konkursu norises kārtība“ (Dekret Nr. 107 des Ministerrats über die Durchführung der Vergabeverfahren und Wettbewerbe) vom 28. Februar 2017 (Latvijas Vēstnesis, 2017, Nr. 45) (im Folgenden: Dekret Nr. 107 vom 28. Februar 2017) heißt es in den Nrn. 23 und 24:

„23.

Lehnt der Bieter, der den Zuschlag erhalten hat, den Auftrag des öffentlichen Auftraggebers ab, so kann der Vergabeausschuss die Entscheidung treffen, den öffentlichen Auftrag an den nachfolgenden Bieter zu vergeben, der das wirtschaftlich günstigste Angebot abgegeben hat, oder das Vergabeverfahren ohne Zuschlagserteilung beenden. Wurde die Entscheidung getroffen, den öffentlichen Auftrag an den nachfolgenden Bieter zu vergeben, der das wirtschaftlich günstigste Angebot abgegeben hat, und lehnt dieser den betreffenden Auftrag ab, so trifft der Vergabeausschuss die Entscheidung, das Vergabeverfahren zu beenden, ohne ein Angebot auszuwählen.

24.

Bevor der Vergabeausschuss die Entscheidung trifft, den öffentlichen Auftrag an den nachfolgenden Bieter zu vergeben, der das wirtschaftlich günstigste Angebot abgegeben hat, prüft er, ob dieser Bieter als derselbe Wirtschaftsteilnehmer wie der ursprünglich ausgewählte Bieter anzusehen ist, der die Annahme des Auftrags des öffentlichen Auftraggebers abgelehnt hat. Erforderlichenfalls kann der Vergabeausschuss vom nachfolgenden Bieter eine Bestätigung und gegebenenfalls Nachweise dafür verlangen, dass dieser nicht als derselbe Wirtschaftsteilnehmer wie der ursprünglich ausgewählte Bieter anzusehen ist. Ist der nachfolgende Bieter als derselbe Wirtschaftsteilnehmer wie der ursprünglich ausgewählte Bieter anzusehen, so entscheidet der Vergabeausschuss, das Vergabeverfahren zu beenden, ohne ein Angebot auszuwählen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

7

Das Justizministerium als öffentlicher Auftraggeber führte eine öffentliche Ausschreibung durch zur Vergabe von Krankenversicherungsverträgen für seine eigenen Beamten und Bediensteten sowie die der Valsts zemes dienests (staatliche Bodenbehörde, Lettland), der Datu valsts inspekcija (staatliche Datenschutzbehörde, Lettland), der Maksātnespējas kontroles dienests (Insolvenzkontrollbehörde, Lettland) und des Patentu valde (Patentamt, Lettland).

8

Mehrere Bieter einschließlich Baltic und der Compensa Life Vienna Insurance Group SE Latvijas filiāle (im Folgenden: Compensa) reichten Angebote ein, um den Zuschlag zu erhalten.

9

Mit Entscheidung vom 19. November 2020 wählte der Vergabeausschuss des Justizministeriums das Angebot von Compensa als das wirtschaftlich günstigste aus. Das Unternehmen lehnte den Auftrag jedoch ab.

10

Mit Entscheidung vom 1. Dezember 2020 stellte der Vergabeausschuss fest, dass Baltic als nachfolgende Bieterin berechtigt sei, den Zuschlag zu erhalten, verlangte von dieser jedoch gemäß Nr. 24 des Dekrets Nr. 107 vom 28. Februar 2017 die Bestätigung und den Nachweis, dass sie und Compensa nicht als dieselbe Wirtschaftsteilnehmerin anzusehen seien.

11

Auf diese Aufforderung hin gab Baltic an, dass sie und Compensa als dieselbe Wirtschaftsteilnehmerin anzusehen seien, erklärte jedoch, dass sie ihr Angebot unabhängig erstellt und nicht mit Compensa abgestimmt habe.

12

Unter diesen Umständen beendete der Vergabeausschuss des Justizministeriums das Vergabeverfahren mit Entscheidung vom 9. Dezember 2020 gemäß Nr. 23 des Dekrets Nr. 107 vom 28. Februar 2017.

13

Am 16. Dezember 2020 leitete das Justizministerium ein neues Vergabeverfahren ein.

14

Auf den bei ihr von Baltic eingelegten Widerspruch hin bestätigte die Aufsichtsbehörde für das öffentliche Auftragswesen die Entscheidung vom 9. Dezember 2020 durch ihre Entscheidung vom 21. Januar 2021. Darin weist sie darauf hin, dass der öffentliche Auftraggeber, um ein abgestimmtes Vorgehen zwischen den Unternehmen desselben Konzerns nach Abgabe der Angebote zu verhindern, nach Nr. 24 des Dekrets Nr. 107 vom 28. Februar 2017 verpflichtet sei, das Vergabeverfahren zu beenden, wenn er feststelle, dass der ursprünglich ausgewählte, den öffentlichen Auftrag ablehnende Bieter und der nachfolgende Bieter als derselbe Wirtschaftsteilnehmer anzusehen seien. Zudem hat nach Auffassung der Aufsichtsbehörde der öffentliche Auftraggeber nach Nr. 23 des Dekrets Nr. 107 vom 28. Februar 2017 jedenfalls das Recht, das Vergabeverfahren zu beenden, wenn der erfolgreiche Bieter den vom öffentlichen Auftraggeber vergebenen Auftrag ablehnt, da kein anderer Bieter ein subjektives Recht auf die Erteilung des Zuschlags habe.

15

Daraufhin erhob Baltic beim Administratīvā rajona tiesa (Bezirksverwaltungsgericht, Lettland), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung.

16

Baltic ist der Ansicht, der öffentliche Auftraggeber sei verpflichtet gewesen, ihre Erklärung zur Art des Verhältnisses zwischen den beiden Gesellschaften und zur Vorbereitung der Angebote zu prüfen, um so alle in Art. 2 des Publisko iepirkumu likums (Gesetz über öffentliche Aufträge) verankerten Grundsätze zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen.

17

Die in Nr. 24 des Dekrets Nr. 107 vom 28. Februar 2017 enthaltene Vermutung, dass Unternehmen desselben Konzerns ihre Angebote absprächen, um den Wettbewerb unangemessen zu beeinflussen, sei unverhältnismäßig und laufe sowohl den Grundsätzen der Richtlinie 2014/24 als auch denen des Urteils vom 19. Mai 2009, Assitur (C‑538/07, EU:C:2009:317), zuwider.

18

Die Tatsache, dass das Angebot der ursprünglich erfolgreichen Bieterin höher als ihr eigenes gewesen sei, beweise gerade, dass die Angebote nicht miteinander abgestimmt worden seien, so dass die Rücknahme des ersten Angebots den Gesellschaften des Konzerns keinerlei Vorteil habe verschaffen können.

19

Die Aufsichtsbehörde geht davon aus, dass das Urteil vom 19. Mai 2009, Assitur (C‑538/07, EU:C:2009:317), nur das Recht verbundener Unternehmen auf Teilnahme an einem Vergabeverfahren und auf die Abgabe eines Angebots betreffe; im vorliegenden Fall sei das Teilnahmerecht nicht eingeschränkt worden.

20

Dieser Fall sei von dem zu unterscheiden, in dem der öffentliche Auftraggeber das Vergabeverfahren beenden müsse, weil der erfolgreiche Bieter den betreffenden Auftrag ablehne. Im ersten Fall, dem des Urteils vom 19. Mai 2009, Assitur (C‑538/07, EU:C:2009:317), wähle nämlich der öffentliche Auftraggeber nach der Ablehnung der von den miteinander verbundenen Unternehmen abgegebenen Angebote ein anderes Angebot aus und ende die Ausschreibung mit der Vergabe eines Auftrags. Im zweiten Fall hingegen beende der öffentliche Auftraggeber das Vergabeverfahren, ohne ein Angebot auszuwählen, was zur Wiederherstellung des Wettbewerbs führe und zugleich allen Bietern die Möglichkeit gebe, an einem neuen Vergabeverfahren teilzunehmen.

21

Das Justizministerium macht im Übrigen geltend, dass Nr. 23 des Dekrets Nr. 107 vom 28. Februar 2017 dem öffentlichen Auftraggeber jedenfalls einen Ermessensspielraum bei der Entscheidung über die Fortsetzung des Vergabeverfahrens einräume, wenn der erfolgreiche Bieter den Auftrag des öffentlichen Auftraggebers ablehne.

22

Nach Auffassung des Administratīvā rajona tiesa (Bezirksverwaltungsgericht) hängt der Ausgang des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Frage ab, ob allein der – im vorliegenden Fall unstreitige – Umstand, dass Baltic und Compensa als dieselbe Wirtschaftsteilnehmerin anzusehen sind, Auswirkungen auf das Recht des öffentlichen Auftraggebers hat, sich für die Beendigung des Vergabeverfahrens zu entscheiden.

23

Das vorlegende Gericht stellt nicht in Frage, dass ein Mitgliedstaat über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, um die Möglichkeit vorzusehen, eine Entscheidung über den Widerruf einer Ausschreibung zu erlassen. Gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie sie sich aus dem Urteil vom 11. Dezember 2014, Croce Amica One Italia (C‑440/13, EU:C:2014:2435, Rn. 33 bis 35), ergebe, könnten der Begründung einer solchen Widerrufsentscheidung nämlich Erwägungen zugrunde liegen, die etwa mit der Beurteilung zusammenhingen, ob der Abschluss eines Vergabeverfahrens im Hinblick auf das öffentliche Interesse, unter Berücksichtigung u. a. einer eventuellen Veränderung des wirtschaftlichen Hintergrundes oder der tatsächlichen Umstände oder auch der Bedürfnisse des betroffenen öffentlichen Auftraggebers, zweckmäßig sei.

24

Im vorliegenden Fall ergebe sich jedoch aus der Sachverhaltsdarstellung, dass der öffentliche Auftraggeber, obwohl der Bieter den Auftrag abgelehnt habe, das Vergabeverfahren fortsetzen und den Auftrag an den nachfolgenden Bieter, der das zweitwirtschaftlichste Angebot abgegeben habe, habe vergeben wollen. Denn die Bedürfnisse des öffentlichen Auftraggebers hätten sich nicht geändert, wie durch die Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens bestätigt werde. Auch habe das nachfolgende Angebot sowohl den Bedürfnissen als auch den Anforderungen des öffentlichen Auftraggebers entsprochen. Dieser habe aber nach Nr. 24 des Dekrets Nr. 107 vom 28. Februar 2017 das öffentliche Vergabeverfahren beendet, weil die beiden betroffenen Bieter als derselbe Wirtschaftsteilnehmer anzusehen seien.

25

Das vorlegende Gericht hegt Zweifel an der Vereinbarkeit einer solchen nationalen Regelung mit den auf öffentliche Vergabeverfahren anwendbaren Grundsätzen des Unionsrechts.

26

Zwar werde miteinander verbundenen Unternehmen oder Unternehmen, zwischen denen ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, durch diese Regelung nicht verboten, an ein und derselben Ausschreibung teilzunehmen. Also sei sie mit der Rechtsprechung vereinbar, die sich u. a. aus den Urteilen vom 19. Mai 2009, Assitur (C‑538/07, EU:C:2009:317, Rn. 29 und 30), sowie vom 8. Februar 2018, Lloyd’s of London (C‑144/17, EU:C:2018:78, Rn. 34 bis 36), ergebe und wonach eine nationale Rechtsvorschrift, die für Unternehmen, zwischen denen ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe oder die miteinander verbunden seien, ein absolutes Verbot aufstelle, sich gleichzeitig in Wettbewerb zueinander an ein und demselben Vergabeverfahren zu beteiligen, ohne ihnen dabei die Möglichkeit zu geben, die Unabhängigkeit ihrer Angebote nachzuweisen, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei, weil sie dem unionsrechtlichen Interesse zuwiderliefe, die Beteiligung möglichst vieler Bieter an einer Ausschreibung sicherzustellen.

27

Aus derselben Rechtsprechung gehe jedoch auch hervor, dass Unternehmen, zwischen denen ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe oder die miteinander verbunden seien, bei erfolgreicher Teilnahme an einer Ausschreibung auch ein Recht auf Erteilung des Zuschlags hätten. Nr. 24 des Dekrets Nr. 107 vom 28. Februar 2017 verbiete dem öffentlichen Auftraggeber jedoch, den öffentlichen Auftrag an den nachfolgenden Bieter zu vergeben, wenn dieser und der ursprünglich erfolgreiche Bieter, der sein Angebot zurückgezogen habe, derselbe Wirtschaftsteilnehmer seien. Eine solche Regelung beruhe im Wesentlichen auf der unwiderlegbaren Vermutung, dass die beiden Bieter ihr Vorgehen abgesprochen hätten und dass der erfolgreiche Bieter sein Angebot aus diesem Grund zurückgezogen habe.

28

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung daher trotz des weiten Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Fälle, in denen das öffentliche Vergabeverfahren beendet werden muss, wenn die Bedürfnisse des öffentlichen Auftraggebers sich nicht geändert haben und das nachfolgende Angebot den Bedürfnissen sowie den Anforderungen des öffentlichen Auftraggebers entspricht, unvereinbar mit den in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 festgelegten Grundsätzen der Auftragsvergabe und insbesondere mit der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Wirtschaftsteilnehmer in gleicher und nicht diskriminierender Weise zu behandeln, sowie mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. In welcher Phase sich das in Rede stehende öffentliche Vergabeverfahren befinde, sei für die Anwendung der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung unerheblich, da sie auch auf eine Entscheidung über die Beendigung dieses Verfahrens Anwendung finde. Nach dieser Regelung müsse daher der betroffene Bieter die Möglichkeit haben, die Unabhängigkeit seines Angebots nachzuweisen.

29

Unter diesen Umständen hat das Administratīvā rajona tiesa (Bezirksverwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist eine nationale Regelung, die den öffentlichen Auftraggeber zwingt, das Vergabeverfahren zu beenden, wenn sich erweist, dass der ursprünglich ausgewählte Bieter, der den Auftrag des öffentlichen Auftraggebers abgelehnt hat, als derselbe Wirtschaftsteilnehmer anzusehen ist wie der nachfolgende Bieter, der ein Angebot abgegeben hat, das den Bedürfnissen und Anforderungen des öffentlichen Auftraggebers entspricht, vereinbar mit den in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 festgelegten Grundsätzen der Auftragsvergabe, insbesondere mit der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Wirtschaftsteilnehmer in gleicher und nicht diskriminierender Weise zu behandeln, sowie mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?

Zur Vorlagefrage

30

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, wie insbesondere die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit, im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, im Fall eines Rücktritts des ursprünglich wegen des wirtschaftlich günstigsten Angebots ausgewählten Bieters ein öffentliches Vergabeverfahren zu beenden, wenn es sich bei dem das zweitwirtschaftlichste Angebot einreichenden nachfolgenden Bieter um denselben Wirtschaftsteilnehmer wie beim ersten Bieter handelt.

31

Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, in ihren Rechtsvorschriften die in Art. 55 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 genannte Möglichkeit vorzusehen, eine Entscheidung über den Widerruf einer Ausschreibung zu erlassen, etwa aus Erwägungen, die mit der Beurteilung zusammenhängen, ob der Abschluss eines Vergabeverfahrens im Hinblick auf das öffentliche Interesse unter Berücksichtigung u. a. einer eventuellen Veränderung des wirtschaftlichen Hintergrundes oder der tatsächlichen Umstände, der Bedürfnisse des betroffenen öffentlichen Auftraggebers zweckmäßig ist, oder eines unzureichenden Wettbewerbs, wenn am Ende des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags nur ein einziger Bieter verblieben war, der zur Durchführung dieses Auftrags in der Lage war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Dezember 2014, Croce Amica One Italia, C‑440/13, EU:C:2014:2435, Rn. 35).

32

Eine solche Entscheidung über den Widerruf einer Ausschreibung hat jedoch unter Einhaltung des Unionsrechts, insbesondere der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, etwa der Grundsätze der Gleichbehandlung, der Transparenz und der Verhältnismäßigkeit, zu erfolgen, die auch in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 genannt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juni 2002, HI, C‑92/00, EU:C:2002:379, Rn. 42 und 45 bis 47, sowie vom 11. Dezember 2014, Croce Amica One Italia, C‑440/13, EU:C:2014:2435, Rn. 33, 34 und 36).

33

Vorliegend ist offensichtlich, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, dadurch, dass sie den öffentlichen Auftraggeber unter den in Rn. 30 des vorliegenden Urteils beschriebenen Umständen zur Beendigung des Vergabeverfahrens verpflichtet, jede potenzielle Kollusion unter den Teilnehmern an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags nach Abgabe ihrer Angebote ausschließen und auf diese Weise hinreichenden Wettbewerb sicherstellen soll, um die Gleichbehandlung der Bewerber sowie die Transparenz des Verfahrens zu wahren (vgl. entsprechend Urteil vom 8. Februar 2018, Lloyd’s of London, C‑144/17, EU:C:2018:78, Rn. 31).

34

Eine solche Regelung darf jedoch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zufolge nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Februar 2018, Lloyd’s of London, C‑144/17, EU:C:2018:78, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Unionsvorschriften auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge im Rahmen der Verwirklichung eines einheitlichen Marktes erlassen wurden, in dem der freie Verkehr gewährleistet sein soll und Wettbewerbsbeschränkungen unterbunden werden sollen (Urteil vom 8. Februar 2018, Lloyd’s of London, C‑144/17, EU:C:2018:78, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

In diesem Zusammenhang besteht unionsrechtlich ein Interesse daran, dass die Beteiligung möglichst vieler Bieter an einer Ausschreibung sichergestellt wird (Urteil vom 8. Februar 2018, Lloyd’s of London, C‑144/17, EU:C:2018:78, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Nach ständiger Rechtsprechung folgt daraus, dass der automatische Ausschluss von Bewerbern oder Bietern, die von anderen Wettbewerbern kontrolliert werden oder mit ihnen verbunden sind, über das hinausgeht, was zur Verhinderung kollusiver Verhaltensweisen und damit zur Sicherstellung der Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der Einhaltung des Transparenzgebots erforderlich ist. Ein solcher automatischer Ausschluss stellt nämlich bei Angeboten von in einem Kontrollverhältnis zueinander stehenden oder miteinander verbundenen Unternehmen für denselben Auftrag eine unwiderlegliche Vermutung gegenseitiger Einflussnahme dar und schließt damit für diese Bewerber oder Bieter die Möglichkeit aus, die Unabhängigkeit ihrer Angebote nachzuweisen. Daher läuft er dem Unionsinteresse daran zuwider, dass die Beteiligung möglichst vieler Bieter an einer Ausschreibung sichergestellt wird (Urteil vom 8. Februar 2018, Lloyd’s of London, C‑144/17, EU:C:2018:78, Rn. 35 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass Unternehmensgruppen unterschiedliche Formen und Zielsetzungen haben können und dass es bei ihnen nicht zwangsläufig ausgeschlossen ist, dass die abhängigen Unternehmen bei der Gestaltung ihrer Geschäftspolitik und ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit, insbesondere auf dem Gebiet der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen, über eine gewisse Eigenständigkeit verfügen. Die Beziehungen zwischen den Unternehmen derselben Gruppe können nämlich besonderen Regelungen unterliegen, die geeignet sind, bei der Ausarbeitung von Angeboten, die diese Unternehmen im Rahmen ein und derselben Ausschreibung gleichzeitig abgeben, sowohl die Unabhängigkeit als auch die Vertraulichkeit zu gewährleisten (Urteil vom 8. Februar 2018, Lloyd’s of London, C‑144/17, EU:C:2018:78, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist es daher geboten, dass der öffentliche Auftraggeber verpflichtet ist, eine Prüfung und Würdigung der Tatsachen vorzunehmen, um festzustellen, ob das Verhältnis zwischen zwei Einheiten den Inhalt der einzelnen im Rahmen eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens abgegebenen Angebote konkret beeinflusst hat, wobei die Feststellung eines solchen wie auch immer gearteten Einflusses ausreicht, damit die betreffenden Unternehmen vom Verfahren ausgeschlossen werden können (Urteil vom 8. Februar 2018, Lloyd’s of London, C‑144/17, EU:C:2018:78, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Diese Rechtsprechung zu nationalen Rechtsvorschriften, die einen automatischen Ausschluss von der Teilnahme an einem öffentlichen Vergabeverfahren vorsehen, gilt gleichermaßen für eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, ein solches Verfahren in der letzten Phase der Vergabe zu beenden.

41

Zwar schließt eine solche Rechtsvorschrift Bieter, die zu derselben wirtschaftlichen Einheit gehören, nicht automatisch von der Teilnahme am gleichen öffentlichen Vergabeverfahren aus, doch entfaltet sie einem solchen Ausschluss entsprechende Wirkungen.

42

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Rechtsvorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, wonach ein öffentliches Vergabeverfahren automatisch zu beenden ist, falls der ursprünglich wegen der Einreichung des wirtschaftlichsten Angebots ausgewählte Bieter zurücktritt und es sich beim zweitplatzierten Bieter, der das zweitwirtschaftlichste Angebot abgegeben hat, um denselben Wirtschaftsteilnehmer handelt, allein deshalb eine unwiderlegbare Vermutung dahin begründet, dass diese Bieter sich bei der Vorbereitung ihrer Angebote oder nach deren Abgabe abgesprochen haben, weil sie eine wirtschaftliche Einheit bilden, ohne dass diese Bieter die Unabhängigkeit ihrer Angebote nachweisen können.

43

Eine solche nationale Regelung, die eine Verfahrensphase betrifft, während der die Einstufung der Angebote und ihr Inhalt bereits offengelegt wurden, ist aber erst recht mit dem Interesse der Union, die Beteiligung möglichst vieler Bieter an einer Ausschreibung sicherzustellen, und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar.

44

Diese Regelung ist nämlich nicht nur geeignet, Gesellschaften eines Konzerns von der Einreichung konkurrierender Angebote in einem öffentlichen Vergabeverfahren abzuhalten, weil deren Einstufung auf den ersten beiden Plätzen bei einer Rücknahme des erstplatzierten Angebots automatisch zur Beendigung sowohl dieses Verfahrens als auch der folgenden Verfahren führen würde, so dass ihnen de facto jede Möglichkeit genommen würde, im Rahmen einer solchen Ausschreibung miteinander in Wettbewerb zu treten. Vielmehr dürfte durch sie auch die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen wachsen, zumal die Offenlegung der Einstufung der Angebote und ihres Inhalts nach dem Ende des ersten Verfahrens eine etwaige Abstimmung zwischen den Bietern im Rahmen des folgenden Verfahrens erleichtert.

45

Zwar könnte der Rücktritt des ursprünglich wegen der Einreichung des wirtschaftlichsten Angebots ausgewählten Bieters auf eine wettbewerbswidrige Abstimmung hinweisen, wenn es sich beim Bieter des zweitwirtschaftlichsten Angebots um denselben Wirtschaftsteilnehmer wie beim ersten Bieter handelt, da ein solcher Rücktritt mit dem Ziel erfolgt sein könnte, dass das höchste Angebot, das vom Konzern insgesamt abgegeben wurde, den Zuschlag erhält, doch darf eine entsprechende unwiderlegbare Vermutung nicht eingeführt werden, weil sonst diesen Bietern die Möglichkeit genommen würde, die Unabhängigkeit ihrer Angebote nachzuweisen.

46

Unter diesen Umständen ist die Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 einer nationalen Regelung entgegensteht, die den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, im Fall eines Rücktritts des ursprünglich wegen des wirtschaftlich günstigsten Angebots ausgewählten Bieters ein öffentliches Vergabeverfahren zu beenden, wenn es sich bei dem das zweitwirtschaftlichste Angebot einreichenden nachfolgenden Bieter um denselben Wirtschaftsteilnehmer wie beim ersten Bieter handelt.

Kosten

47

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG

 

ist dahin auszulegen, dass

 

er einer nationalen Regelung entgegensteht, die den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, im Fall eines Rücktritts des ursprünglich wegen des wirtschaftlich günstigsten Angebots ausgewählten Bieters ein öffentliches Vergabeverfahren zu beenden, wenn es sich bei dem das zweitwirtschaftlichste Angebot einreichenden nachfolgenden Bieter um denselben Wirtschaftsteilnehmer wie beim ersten Bieter handelt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Lettisch.

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