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Document 62021CJ0710

    Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 16. Februar 2023.
    IEF Service GmbH gegen HB.
    Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers – Richtlinie 2008/94/EG – Art. 9 Abs. 1 – Unternehmen, das seinen Sitz in einem Mitgliedstaat hat und seine Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat anbietet – Arbeitnehmer mit Wohnsitz in diesem anderen Mitgliedstaat – Im Sitzmitgliedstaat des Arbeitgebers und jede zweite Woche im Wohnmitgliedstaat des Arbeitnehmers verrichtete Arbeit – Bestimmung des Mitgliedstaats, dessen Garantieeinrichtung für die Befriedigung nicht erfüllter Ansprüche auf Arbeitsentgelt zuständig ist.
    Rechtssache C-710/21.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:109

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

    16. Februar 2023 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers – Richtlinie 2008/94/EG – Art. 9 Abs. 1 – Unternehmen, das seinen Sitz in einem Mitgliedstaat hat und seine Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat anbietet – Arbeitnehmer mit Wohnsitz in diesem anderen Mitgliedstaat – Im Sitzmitgliedstaat des Arbeitgebers und jede zweite Woche im Wohnmitgliedstaat des Arbeitnehmers verrichtete Arbeit – Bestimmung des Mitgliedstaats, dessen Garantieeinrichtung für die Befriedigung nicht erfüllter Ansprüche auf Arbeitsentgelt zuständig ist“

    In der Rechtssache C‑710/21

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Beschluss vom 14. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. November 2021, in dem Verfahren

    IEF Service GmbH

    gegen

    HB

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin) sowie der Richter N. Wahl und J. Passer,

    Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von HB, vertreten durch Rechtsanwalt C. Orgler,

    der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und F. Werni als Bevollmächtigte,

    der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

    der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und D. Recchia als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. 2008, L 283, S. 36).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der IEF Service GmbH und HB über die Gewährung von Insolvenz-Entgelt an HB.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    Richtlinie 2008/94

    3

    Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 lautet:

    „Diese Richtlinie gilt für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 sind.“

    4

    Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

    „Im Sinne dieser Richtlinie gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig, wenn die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgeschriebenen Gesamtverfahrens beantragt worden ist, das die Insolvenz des Arbeitgebers voraussetzt und den teilweisen oder vollständigen Vermögensbeschlag gegen diesen Arbeitgeber sowie die Bestellung eines Verwalters oder einer Person, die eine ähnliche Funktion ausübt, zur Folge hat, und wenn die aufgrund der genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften zuständige Behörde

    a)

    die Eröffnung des Verfahrens beschlossen hat; oder

    b)

    festgestellt hat, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Arbeitgebers endgültig stillgelegt worden ist und die Vermögensmasse nicht ausreicht, um die Eröffnung des Verfahrens zu rechtfertigen.“

    5

    Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

    „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vorbehaltlich des Artikels 4 Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen sicherstellen, einschließlich, sofern dies nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehen ist, einer Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses.“

    6

    Art. 9 der Richtlinie 2008/94, der zu deren Kapitel IV („Vorschriften für grenzübergreifende Fälle“) gehört, bestimmt in Abs. 1:

    „Ist ein Unternehmen, das im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, zahlungsunfähig im Sinne von Artikel 2 Absatz 1, so ist für die Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche die Einrichtung desjenigen Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet die betreffenden Arbeitnehmer ihre Arbeit gewöhnlich verrichten oder verrichtet haben.“

    Verordnung (EG) Nr. 883/2004

    7

    Art. 3 („Sachlicher Geltungsbereich“) Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) lautet:

    „Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:

    a)

    Leistungen bei Krankheit;

    b)

    Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft;

    c)

    Leistungen bei Invalidität;

    d)

    Leistungen bei Alter;

    e)

    Leistungen an Hinterbliebene;

    f)

    Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten;

    g)

    Sterbegeld;

    h)

    Leistungen bei Arbeitslosigkeit;

    i)

    Vorruhestandsleistungen;

    j)

    Familienleistungen.“

    8

    Art. 12 („Sonderregelung“) Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

    „Eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere entsandte Person ablöst.“

    9

    Art. 13 („Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

    „Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, unterliegt:

    a)

    den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, oder

    b)

    wenn sie im Wohnmitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt,

    i)

    den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie bei einem Unternehmen bzw. einem Arbeitgeber beschäftigt ist, oder

    ii)

    den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem die Unternehmen oder Arbeitgeber ihren Sitz oder Wohnsitz haben, wenn sie bei zwei oder mehr Unternehmen oder Arbeitgebern beschäftigt ist, die ihren Sitz oder Wohnsitz in nur einem Mitgliedstaat haben, oder

    iii)

    den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber außerhalb des Wohnmitgliedstaats seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie bei zwei oder mehr Unternehmen oder Arbeitgebern beschäftigt ist, die ihre Sitze oder Wohnsitze in zwei Mitgliedstaaten haben, von denen einer der Wohnmitgliedstaat ist, oder

    iv)

    den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, sofern sie bei zwei oder mehr Unternehmen oder Arbeitgebern beschäftigt ist, von denen mindestens zwei ihren Sitz oder Wohnsitz in verschiedenen Mitgliedstaaten außerhalb des Wohnmitgliedstaats haben.“

    Verordnung (EG) Nr. 987/2009

    10

    Art. 5 („Rechtswirkung der in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Dokumente und Belege“) Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1) lautet:

    „Vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der [Verordnung Nr. 883/2004] und der [vorliegenden Verordnung] bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, sind für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden.“

    11

    Art. 19 („Unterrichtung der betreffenden Personen und der Arbeitgeber“) Abs. 2 dieser Verordnung bestimmt:

    „Auf Antrag der betreffenden Person oder ihres Arbeitgebers bescheinigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der [Verordnung Nr. 883/2004] anzuwenden sind, dass und gegebenenfalls wie lange und unter welchen Umständen diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind.“

    Österreichisches Recht

    12

    § 1 Abs. 1 des Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetzes (BGBl. 324/1977), zuletzt geändert durch BGBl. I 218/2021 (im Folgenden: IESG), sieht vor:

    „Anspruch auf Insolvenz-Entgelt haben Arbeitnehmer, freie Dienstnehmer im Sinne des § 4 Abs. 4 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, Heimarbeiter und ihre Hinterbliebenen sowie ihre Rechtsnachfolger von Todes wegen (Anspruchsberechtigte) für die nach Abs. 2 gesicherten Ansprüche, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis (freien Dienstverhältnis, Auftragsverhältnis) stehen oder gestanden sind und gemäß § 3 Abs. 1 oder Abs. 2 lit. a bis d ASVG als im Inland beschäftigt gelten (galten) und über das Vermögen des Arbeitgebers (Auftraggebers) im Inland ein Verfahren nach der Insolvenzordnung … eröffnet wird.“

    13

    In § 12 Abs. 1 IESG heißt es:

    „Die Ausgaben des Insolvenz-Entgelt-Fonds werden bestritten aus:

    4.

    einem vom Arbeitgeber zu tragenden Zuschlag zu dem vom Dienstgeber zu leistenden Anteil des Arbeitslosenversicherungsbeitrages …“

    14

    § 3 ASVG bestimmt:

    „(1)   Als im Inland beschäftigt gelten unselbständig Erwerbstätige, deren Beschäftigungsort … im Inland gelegen ist, selbständig Erwerbstätige, wenn der Sitz ihres Betriebes im Inland gelegen ist.

    (2)   Als im Inland beschäftigt gelten auch

    a)

    Dienstnehmer, die dem fahrenden Personal einer dem internationalen Verkehr auf Flüssen oder Seen dienenden Schiffahrtsunternehmung angehören …;

    d)

    Dienstnehmer, deren Dienstgeber den Sitz in Österreich haben und die ins Ausland entsendet werden, sofern ihre Beschäftigung im Ausland die Dauer von fünf Jahren nicht übersteigt; …“

    15

    In Art. 4 Abs. 1 ASVG heißt es:

    „In der Kranken‑, Unfall- und Pensionsversicherung sind auf Grund dieses Bundesgesetzes versichert (vollversichert), wenn die betreffende Beschäftigung weder gemäß den §§ 5 und 6 von der Vollversicherung ausgenommen ist, noch nach § 7 nur eine Teilversicherung begründet:

    1.

    die bei einem oder mehreren Dienstgebern beschäftigten Dienstnehmer; …“

    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

    16

    HB war seit dem 1. Juli 2017 bei der S GmbH mit Sitz in Graz (Österreich) als Leiter der strategischen Geschäftsentwicklung beschäftigt. S bot ihre Leistungen auch in Deutschland an, wo ein freiberuflicher Vertriebsingenieur für sie arbeitete, sie aber keine weiteren Mitarbeiter hatte.

    17

    Der Dienstvertrag von HB sah Österreich als Arbeitsschwerpunkt und gewöhnlichen Arbeitsort vor. HB leitete zwei Abteilungen und trug die Verantwortung für die Mitarbeiter im Büro in Graz. Tatsächlich arbeitete HB abwechselnd jeweils eine Woche im Büro in Graz und eine Woche in seinem Homeoffice in Deutschland, wo sich sein Hauptwohnsitz befand.

    18

    HB verfügt über eine Bescheinigung eines deutschen Versicherungsträgers gemäß Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009, wonach er dem deutschen Sozialversicherungsrecht unterliegt.

    19

    Am 4. Juni 2019 wurde über das Vermögen von S ein Sanierungsverfahren ohne Eigenverwaltung eröffnet.

    20

    IEF Service handelt für den Insolvenz-Entgelt-Fonds, d. h. die österreichische Garantieeinrichtung im Sinne der Richtlinie 2008/94.

    21

    HB beantragte Insolvenzgeld für seine für bis zur Eröffnung des Sanierungsverfahrens rückständigen Ansprüche auf Arbeitsentgelt. Einen entsprechenden Antrag stellte er sowohl bei IEF Service als auch bei der deutschen Garantieeinrichtung. Nach dem Vorlagebeschluss ist der Ausgang des Verfahrens in Deutschland noch offen.

    22

    Mit Urteil vom 14. Oktober 2019 gab das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz (Österreich) dem Klagebegehren von HB statt.

    23

    IEF Service erhob gegen das Urteil Berufung an das Oberlandesgericht Graz (Österreich). Dieses bestätigte das Urteil mit Urteil vom 18. Juni 2020.

    24

    Daraufhin erhob IEF Service Revision gegen das letztgenannte Urteil an den Obersten Gerichtshof (Österreich), das vorlegende Gericht.

    25

    Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass eine von der zuständigen Einrichtung eines Mitgliedstaats gemäß Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 ausgestellte gültige A1-Bescheinigung, wie sich aus dem Urteil vom 6. September 2018, Alpenrind u. a. (C‑527/16, EU:C:2018:669), ergebe, nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.

    26

    Daher erfülle HB trotz seines in Österreich geschlossenen Arbeitsvertrags und seiner zur Hälfte der Arbeitszeit am Unternehmenssitz von S in Österreich ausgeübten Beschäftigung die Voraussetzungen für die Pflichtversicherung in seinem Wohnsitzstaat, also Deutschland, und die deutschen Rechtsvorschriften seien im vorliegenden Fall anwendbar. Außerdem habe er nach diesen Rechtsvorschriften wohl – zumindest fiktiv – einen Arbeitsort in Deutschland.

    27

    Der österreichische Gesetzgeber habe die Vorgaben der Richtlinie 2008/94 in § 1 Abs. 1 IESG dahin umgesetzt, dass eine Beschäftigung im Inland vorliege, wenn ein „Arbeitsverhältnis“ im Sinne des § 3 Abs. 1 oder Abs. 2 lit. a bis d ASVG gegeben sei. In diesem Zusammenhang bestehe eine Versicherungspflicht in Österreich.

    28

    Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sei nach § 1 Abs. 1 IESG kein Anspruch auf Insolvenz-Entgelt gegeben, wenn ein im Ausland beschäftigter Arbeitnehmer aufgrund seiner Tätigkeit keiner Versicherungspflicht in Österreich unterliege.

    29

    Da vorliegend HB im gleichen zeitlichen Ausmaß sowohl in Österreich als auch in Deutschland arbeite, aber der deutschen Sozialversicherung unterliege, stelle sich die Frage, ob Art. 9 der Richtlinie 2008/94, der grenzübergreifende Fälle betreffe, anzuwenden sei. Die Antwort auf diese Frage hänge davon ab, ob das Anbieten der Leistungen von S in Deutschland, die festgestellte Zusammenarbeit mit einem freiberuflichen Vertriebsingenieur in Deutschland und die regelmäßige Arbeit von HB im Homeoffice in Deutschland als Anknüpfungspunkte ausreichten, um eine „feste wirtschaftliche Präsenz“ des Arbeitgebers in Deutschland im Sinne der Urteile vom 16. Oktober 2008, Holmqvist (C‑310/07, EU:C:2008:573), und vom 10. März 2011, Defossez (C‑477/09, EU:C:2011:134), zu bejahen.

    30

    Sollte dies der Fall sein, sei angesichts der gleichen Verteilung der Arbeitszeit bei gleichem Inhalt der Tätigkeit in Anwendung der Kriterien des Wohnsitzes und der Versicherungspflicht von HB zu klären, in welchem Staat er seine Arbeit „gewöhnlich“ im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 verrichtet habe, um danach die Zuständigkeit der nationalen Garantieeinrichtung ermitteln zu können.

    31

    Im Übrigen entspreche es, auch wenn man davon ausgehe, dass kein zwingender Zusammenhang zwischen Beitragspflicht und Sicherungsanspruch bestehe (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2016, Stroumpoulis u. a.,C‑292/14, EU:C:2016:116, Rn. 68), wohl der Zielrichtung der Grundfreiheiten, eine Doppelbelastung von Arbeitgebern, deren Arbeitnehmer in zwei Mitgliedstaaten arbeiteten und aufgrund dessen eine beitragsfinanzierte Insolvenzentgeltsicherung hätten, zu vermeiden.

    32

    Vor diesem Hintergrund hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 dahin auszulegen, dass ein Unternehmen im Sinne dieser Bestimmung bereits dann im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, wenn es in einem anderen Mitgliedstaat seine Leistungen anbietet, zu diesem Zweck dort einen freiberuflichen Vertriebsingenieur beschäftigt und ein am Unternehmenssitz angestellter Arbeitnehmer regelmäßig jede zweite Woche im anderen Mitgliedstaat im Homeoffice arbeitet?

    Falls die Frage 1 bejaht wird:

    2.

    Ist Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 dahin auszulegen, dass ein Arbeitnehmer eines solchen Unternehmens, der im zweiten Mitgliedstaat seinen Wohnsitz hat und dort der Sozialversicherungspflicht unterliegt, aber abwechselnd je eine Woche seine Arbeit in dem Mitgliedstaat verrichtet, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, und dann in dem Mitgliedstaat verrichtet, in dem er seinen Wohnsitz hat und der Sozialversicherung unterliegt, diese im Sinne dieses Artikels „gewöhnlich“ in beiden Mitgliedstaaten verrichtet?

    Falls die Frage 2 bejaht wird:

    3.

    Ist Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 dahin auszulegen, dass für die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche eines Arbeitnehmers, der seine Arbeit gewöhnlich in zwei Mitgliedstaaten verrichtet oder verrichtet hat,

    a)

    die Garantieeinrichtung des Mitgliedstaats zuständig ist, dessen Rechtsvorschriften er im Rahmen der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Sozialversicherung) unterliegt, wenn die Garantieeinrichtungen gemäß Art. 3 der Richtlinie 2008/94 in beiden Staaten so gestaltet sind, dass die Arbeitgeberbeiträge zur Finanzierung der Sicherungseinrichtung als Teil der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung zu entrichten sind,

    b)

    oder die Garantieeinrichtung des anderen Mitgliedstaats, in dem das zahlungsunfähige Unternehmen seinen Sitz hat, oder

    c)

    die Garantieeinrichtungen beider Mitgliedstaaten, so dass der Arbeitnehmer bei der Antragstellung wählen kann, welche er in Anspruch nehmen will?

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten Frage

    33

    Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 dahin auszulegen ist, dass bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, dessen Garantieeinrichtung für die Befriedigung nicht erfüllter Arbeitnehmeransprüche zuständig ist, davon auszugehen ist, dass der Arbeitgeber, der zahlungsunfähig ist, im Sinne dieser Bestimmung im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, wenn nach dem Arbeitsvertrag des betreffenden Arbeitnehmers dessen Arbeitsschwerpunkt und gewöhnlicher Arbeitsort im Sitzmitgliedstaat des Arbeitgebers liegen, der Arbeitnehmer aber seine Aufgaben zu einem ebenso großen Teil seiner Arbeitszeit aus der Ferne von einem anderen Mitgliedstaat aus verrichtet, in dem sich sein Hauptwohnsitz befindet.

    34

    Zur Beantwortung dieser Frage ist vorweg darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit vorbehaltlich des Art. 4 dieser Richtlinie Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen sicherstellen, einschließlich, sofern dies nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehen ist, einer Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

    35

    Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94, der „grenzübergreifende Fälle“ betrifft, sieht vor, dass, wenn ein Unternehmen, das im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, im Sinne von Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie zahlungsunfähig ist, für die Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche die Einrichtung desjenigen Mitgliedstaats zuständig ist, in dessen Hoheitsgebiet die betreffenden Arbeitnehmer ihre Arbeit gewöhnlich verrichten oder verrichtet haben.

    36

    Um zu beurteilen, ob in einem Fall wie dem oben in Rn. 33 beschriebenen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 Anwendung findet, ist zu prüfen, ob der Arbeitgeber im Sinne dieser Bestimmung „im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist“.

    37

    In der Rechtssache, in der das Urteil vom 16. Oktober 2008, Holmqvist (C‑310/07, EU:C:2008:573), ergangen ist, war der Gerichtshof aufgerufen, den mit Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 inhaltsgleichen Art. 8a Abs. 1 der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. 1980, L 283, S. 23) in der durch die Richtlinie 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 (ABl. 2002, L 270, S. 10) geänderten Fassung auszulegen.

    38

    Der Gerichtshof hat entschieden, dass, obwohl Art. 8a Abs. 1 der Richtlinie 80/987 in der durch die Richtlinie 2002/74 geänderten Fassung keine strengen Anknüpfungsvoraussetzungen aufstellt, sondern auf eine schwächere Verbindung als die Präsenz des Unternehmens über eine Zweigniederlassung oder eine feste Niederlassung abzielt, dennoch kein Anlass besteht, dem Vorbringen zu folgen, wonach ein Unternehmen schon dann als im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats tätig angesehen werden könne, wenn ein Arbeitnehmer in diesem anderen Mitgliedstaat für Rechnung seines Arbeitgebers irgendeine Form von Arbeit verrichte und diese auf einen Bedarf und eine Weisung des Arbeitgebers zurückgehe (Urteil vom 16. Oktober 2008, Holmqvist, C‑310/07, EU:C:2008:573, Rn. 29).

    39

    Der Tätigkeitsbegriff dieser Bestimmung muss nämlich so verstanden werden, dass er auf Gegebenheiten mit einer gewissen Dauerhaftigkeit im Gebiet eines Mitgliedstaats verweist. Diese Dauerhaftigkeit findet darin ihren Ausdruck, dass ein oder mehrere Arbeitnehmer in diesem Gebiet dauerhaft beschäftigt werden (Urteil vom 16. Oktober 2008, Holmqvist, C‑310/07, EU:C:2008:573, Rn. 30).

    40

    Zwar lässt sich in Anbetracht der unterschiedlichen Formen, die grenzübergreifende Arbeit annehmen kann, und unter Berücksichtigung der Veränderungen der Arbeitsbedingungen und des Fortschritts auf dem Gebiet der Telekommunikation nicht vertreten, dass ein Unternehmen zwangsläufig über eine physische Infrastruktur verfügen muss, um eine feste wirtschaftliche Präsenz in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem es seinen Sitz hat, sicherzustellen. Denn die verschiedenen Aspekte eines Arbeitsverhältnisses, insbesondere die Übermittlung der Weisungen an den Arbeitnehmer und die Übermittlung von dessen Berichten an den Arbeitgeber sowie die Überweisung der Vergütung, können nunmehr auch aus der Ferne abgewickelt werden (Urteil vom 16. Oktober 2008, Holmqvist, C‑310/07, EU:C:2008:573, Rn. 32).

    41

    Damit jedoch ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen als im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats tätig angesehen werden kann, muss es im letztgenannten Staat über eine feste wirtschaftliche Präsenz verfügen, die durch das Vorhandensein von Personal gekennzeichnet ist, das es ihm ermöglicht, dort Tätigkeiten zu entfalten (Urteil vom 16. Oktober 2008, Holmqvist, C‑310/07, EU:C:2008:573, Rn. 34).

    42

    Wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, lag im vorliegenden Fall, obwohl HB de facto seine Arbeit in zeitlicher Hinsicht zur Hälfte von seinem Wohnsitz in Deutschland aus verrichtete, der Schwerpunkt dieser Arbeit, nämlich zwei Abteilungen zu leiten und die Verantwortung für die Arbeitnehmer im Büro des Arbeitgebers in Österreich zu tragen, nach dem Dienstvertrag und in der Praxis im letztgenannten Mitgliedstaat.

    43

    Darüber hinaus bekräftigt der Umstand, dass der Arbeitgeber von HB in Deutschland mit Ausnahme eines freiberuflichen Vertriebsingenieurs, der dort für ihn arbeitete, sonst niemanden beschäftigte, dass mit der Tätigkeit von HB keine irgendwie geartete dauerhafte Präsenz des Arbeitgebers in Deutschland einhergehen konnte.

    44

    Im Licht der oben in den Rn. 38 bis 41 angeführten Rechtsprechung ist festzustellen, dass unter diesen Umständen ein Arbeitgeber wie der von HB nicht im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist.

    45

    Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass HB über eine nach Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 ausgestellte Bescheinigung verfügt, wonach er den deutschen Rechtsvorschriften unterliegt. Denn wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, hat diese Bescheinigung zwar, wie sich aus Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 ergibt, Bindungswirkung in Bezug auf die Verpflichtungen, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit – auf die sich die mit der Verordnung Nr. 883/2004 eingeführte Koordinierung bezieht – ergeben, doch hat eine solche Bescheinigung keinen Einfluss auf die Bestimmung des Mitgliedstaats, in dem HB seine nicht erfüllten Ansprüche auf Arbeitsentgelt gemäß der Richtlinie 2008/94 geltend machen muss.

    46

    Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 dahin auszulegen ist, dass bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, dessen Garantieeinrichtung für die Befriedigung nicht erfüllter Arbeitnehmeransprüche zuständig ist, davon auszugehen ist, dass der Arbeitgeber, der zahlungsunfähig ist, nicht im Sinne dieser Bestimmung im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, wenn nach dem Arbeitsvertrag des betreffenden Arbeitnehmers dessen Arbeitsschwerpunkt und gewöhnlicher Arbeitsort im Sitzmitgliedstaat des Arbeitgebers liegen, der Arbeitnehmer aber seine Aufgaben zu einem ebenso großen Teil seiner Arbeitszeit aus der Ferne von einem anderen Mitgliedstaat aus verrichtet, in dem sich sein Hauptwohnsitz befindet.

    Zur zweiten und zur dritten Frage

    47

    In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die dritte Frage nicht zu beantworten.

    Kosten

    48

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers

     

    ist dahin auszulegen, dass

     

    bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, dessen Garantieeinrichtung für die Befriedigung nicht erfüllter Arbeitnehmeransprüche zuständig ist, davon auszugehen ist, dass der Arbeitgeber, der zahlungsunfähig ist, nicht im Sinne dieser Bestimmung im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, wenn nach dem Arbeitsvertrag des betreffenden Arbeitnehmers dessen Arbeitsschwerpunkt und gewöhnlicher Arbeitsort im Sitzmitgliedstaat des Arbeitgebers liegen, der Arbeitnehmer aber seine Aufgaben zu einem ebenso großen Teil seiner Arbeitszeit aus der Ferne von einem anderen Mitgliedstaat aus verrichtet, in dem sich sein Hauptwohnsitz befindet.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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