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Document 62021CJ0688

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 7. Februar 2023.
Confédération paysanne u. a. gegen Premier ministre und Ministre de l'Agriculture et de l'Alimentation.
Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen – Richtlinie 2001/18/EG – Art. 3 Abs. 1 – Anhang I B Nr. 1 – Anwendungsbereich – Ausnahmen – Verfahren/Methoden der genetischen Veränderung, die herkömmlich angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten – In-vitro-Zufallsmutagenese.
Rechtssache C-688/21.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:75

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

7. Februar 2023 ( *1 ) ( i )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen – Richtlinie 2001/18/EG – Art. 3 Abs. 1 – Anhang I B Nr. 1 – Anwendungsbereich – Ausnahmen – Verfahren/Methoden der genetischen Veränderung, die herkömmlich angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten – In-vitro-Zufallsmutagenese“

In der Rechtssache C‑688/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 8. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 17. November 2021, in dem Verfahren

Confédération paysanne,

Réseau Semences Paysannes,

Les Amis de la Terre France,

Collectif Vigilance OGM et Pesticides 16,

Vigilance OG2M,

CSFV 49,

OGM: dangers,

Vigilance OGM 33,

Fédération Nature et Progrès

gegen

Premier ministre,

Ministre de l’Agriculture et de l’Alimentation,

Beteiligte:

Fédération française des producteurs d’oléagineux et de protéagineux,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Kammerpräsidenten E. Regan, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, der Richter M. Ilešič, S. Rodin, N. Piçarra, I. Jarukaitis und A. Kumin, der Richterin I. Ziemele, der Richter M. Gavalec und Z. Csehi sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juni 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Confédération paysanne, Réseau Semences Paysannes, Les Amis de la Terre France, Collectif Vigilance OGM et Pesticides 16, Vigilance OG2M, CSFV 49, OGM: dangers, Vigilance OGM 33 und Fédération Nature et Progrès, vertreten durch G. Tumerelle, Avocat,

der Fédération française des producteurs d’oléagineux et de protéagineux, vertreten durch M.‑A. de Chillaz und B. Le Bret, Avocats,

der französischen Regierung, vertreten durch G. Bain und J.‑L. Carré als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Castilla Contreras, B. Eggers, I. Galindo Martín und C. Valero als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Oktober 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und von Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates (ABl. 2001, L 106, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Confédération paysanne, Réseau Semences Paysannes, Les Amis de la Terre France, Collectif Vigilance OGM et Pesticides 16, Vigilance OG2M, CFSV 49, OGM: dangers, Vigilance OGM 33 und Fédération Nature et Progrès einerseits sowie dem Premier ministre (Premierminister) und dem Ministre de l’Agriculture et de l’Alimentation (Minister für Landwirtschaft und Ernährung, Frankreich) andererseits. Gegenstand dieses Rechtsstreits ist die Durchführung einer gerichtlichen Anordnung, Maßnahmen zu erlassen, um insbesondere die Liste der vom Anwendungsbereich der französischen Regelung, mit der die Richtlinie 2001/18 umgesetzt werden soll, auszunehmenden Verfahren/Methoden der Mutagenese festzulegen, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/18 lautet:

„Diese Richtlinie sollte nicht für Organismen gelten, die mit Techniken zur genetischen Veränderung gewonnen werden, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit langem als sicher gelten.“

4

Art. 1 der Richtlinie 2001/18 bestimmt:

„Entsprechend dem Vorsorgeprinzip ist das Ziel dieser Richtlinie die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten und der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt

bei der absichtlichen Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt zu anderen Zwecken als dem Inverkehrbringen in der [Europäischen Union,]

beim Inverkehrbringen genetisch veränderter Organismen als Produkt oder in Produkten in der [Union].“

5

Art. 2 der Richtlinie 2001/18 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

2.

‚genetisch veränderter Organismus (GVO)‘: ein Organismus mit Ausnahme des Menschen, dessen genetisches Material so verändert worden ist, wie es auf natürliche Weise durch Kreuzen und/oder natürliche Rekombination nicht möglich ist.

Im Sinne dieser Definition gilt Folgendes:

a)

Zu der genetischen Veränderung kommt es mindestens durch den Einsatz der in Anhang I A Teil 1 aufgeführten Verfahren;

b)

bei den in Anhang I A Teil 2 aufgeführten Verfahren ist nicht davon auszugehen, dass sie zu einer genetischen Veränderung führen;

…“

6

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 bestimmt:

„Diese Richtlinie gilt nicht für Organismen, bei denen eine genetische Veränderung durch den Einsatz der in Anhang I B aufgeführten Verfahren herbeigeführt wurde.“

7

In Anhang I A („Verfahren im Sinne von Art. 2, Nr. 2) der Richtlinie 2001/18 heißt es:

„TEIL 1

Verfahren der genetischen Veränderung im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe a) sind unter anderem:

1.

DNS-Rekombinationstechniken, bei denen durch die Insertion von Nukleinsäuremolekülen … neue Kombinationen von genetischem Material gebildet werden …

2.

Verfahren, bei denen in einen Organismus direkt Erbgut eingeführt wird, das außerhalb des Organismus zubereitet wurde …

3.

Zellfusion (einschließlich Protoplastenfusion) oder Hybridisierungsverfahren …

TEIL 2

Verfahren im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b), bei denen nicht davon auszugehen ist, dass sie zu einer genetischen Veränderung führen, unter der Voraussetzung, dass sie nicht mit dem Einsatz von rekombinanten Nukleinsäuremolekülen oder genetisch veränderten Organismen verbunden sind, die aus anderen als den gemäß Anhang I B ausgeschlossenen Verfahren/Methoden hervorgegangen sind:

1.

In-vitro-Befruchtung,

2.

natürliche Prozesse wie Konjugation, Transduktion, Transformation,

3.

Polyploidie‑Induktion.“

8

Anhang I B („Verfahren im Sinne von Artikel 3“) der Richtlinie lautet:

„Verfahren/Methoden der genetischen Veränderung, aus denen Organismen hervorgehen, die von der Richtlinie auszuschließen sind, vorausgesetzt, es werden nur solche rekombinanten Nukleinsäuremoleküle oder genetisch veränderten Organismen verwendet, die in einem oder mehreren der folgenden Verfahren bzw. nach einer oder mehreren der folgenden Methoden hervorgegangen sind:

1.

Mutagenese,

2.

Zellfusion (einschließlich Protoplastenfusion) von Pflanzenzellen von Organismen, die mittels herkömmlicher Züchtungstechniken genetisches Material austauschen können.“

Französisches Recht

9

Art. L. 531-2 des Code de l’environnement (Umweltgesetzbuch) bestimmt:

„Nicht den Bestimmungen des vorliegenden Titels und den Art. L. 125‑3 und L. 515‑13 unterliegen genetisch veränderte Organismen, die durch Verfahren gewonnen wurden, bei denen wegen ihres natürlichen Charakters nicht davon auszugehen ist, dass sie zu einer genetischen Veränderung führen, oder durch herkömmlich verwendete Verfahren, die für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt erwiesenermaßen unbedenklich sind.

Das Verzeichnis dieser Verfahren wird durch Dekret nach Stellungnahme des Haut Conseil des biotechnologies [(Hoher Rat für Biotechnologien)] festgelegt.“

10

Art. D. 531-2 dieses Gesetzbuchs bestimmt:

„Bei den in Art. L. 531‑2 genannten Verfahren, bei denen nicht davon auszugehen ist, dass sie zu einer genetischen Veränderung führen, handelt es sich um folgende Verfahren:

2. Sofern sie nicht mit der Verwendung genetisch veränderter Organismen als Empfänger- oder Elternorganismen verbunden sind,

a)

die Mutagenese;

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11

Mit Klageschrift vom 12. März 2015 beantragten die Kläger des Ausgangsverfahrens, bei denen es sich um einen französischen Landwirtschaftsverband sowie um acht Vereinigungen handelt, deren Zweck der Umweltschutz und die Verbreitung von Informationen über die Gefahren von GVO ist, beim vorlegenden Gericht, dem Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich), zum einen, die stillschweigende Ablehnung ihres Antrags durch den Premierminister für nichtig zu erklären. Dieser Antrag war gerichtet auf erstens die Aufhebung des zur Umsetzung der Richtlinie 2001/18 erlassenen Art. D. 531-2 des Code de l’environnement (Umweltgesetzbuchs), wonach die Mutagenese von der Definition der Verfahren, die zu einer genetischen Veränderung im Sinne dieses Gesetzbuchs führen, ausgenommen wird, und zweitens auf das Verbot, durch Mutagenese gewonnene herbizidtolerante Rapssorten anzubauen und zu vermarkten. Zum anderen beantragten die Kläger, dem Premierminister unter Androhung eines Zwangsgelds aufzugeben, alle zur Einführung eines Moratoriums für herbizidtolerante Pflanzensorten, die durch Mutagenese gewonnen wurden, erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

12

Mit Entscheidung vom 3. Oktober 2016 richtete der Conseil d’État (Staatsrat) ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof, das zu dem Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a. (C‑528/16, EU:C:2018:583), führte.

13

Im Anschluss an dieses Urteil hob das vorlegende Gericht mit Entscheidung vom 7. Februar 2020 (im Folgenden: Entscheidung vom 7. Februar 2020) die in Rn. 11 des vorliegenden Urteils genannte stillschweigende Entscheidung auf. Zugleich gab es dem Premierminister u. a. auf, innerhalb von sechs Monaten nach Zustellung dieser Entscheidung eine abschließende Liste der Verfahren/Methoden der Mutagenese festzulegen, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten.

14

In der Entscheidung vom 7. Februar 2020 vertrat das vorlegende Gericht die Auffassung, aus dem Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a. (C‑528/16, EU:C:2018:583), ergebe sich, dass mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die nach dem Erlass der Richtlinie entstanden sind oder sich hauptsächlich entwickelt haben, gewonnene Organismen in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/18 einzubeziehen seien. Sowohl die Verfahren/Methoden der sogenannten „gezielten Mutagenese“ oder „Genom-Editierung“ als auch die Verfahren der „In-vitro-Zufallsmutagenese“ seien nach diesem Zeitpunkt entstanden oder hätten sich hauptsächlich nach diesem Zeitpunkt entwickelt. Daher sei davon auszugehen, dass diese Verfahren/Methoden den Verpflichtungen aus dieser Richtlinie unterlägen.

15

Um der Anordnung des vorlegenden Gerichts nachzukommen, erarbeitete die französische Regierung u. a. den Entwurf eines Dekrets zur Änderung des Verzeichnisses der Verfahren zur Erlangung von GVO, die im Sinne von Art. L. 531-2 des Code de l’environnement (Umweltgesetzbuch) herkömmlich verwendet werden sowie für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt unbedenklich sind. Nach diesem Dekretentwurf sollte davon auszugehen sein, dass die Zufallsmutagenese, mit Ausnahme der In-vitro-Zufallsmutagenese, eine solche Verwendung darstellt.

16

Nachdem dieser Dekretentwurf gemäß der Richtlinie (EU) 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (ABl. 2015, L 241, S. 1) notifiziert worden war, gab die Europäische Kommission eine ausführliche Stellungnahme ab. Darin wies sie insbesondere darauf hin, dass es mit Blick auf das Unionsrecht und auf wissenschaftliche Fortschritte nicht gerechtfertigt sei, zwischen der In-vivo-Zufallsmutagenese und der In-vitro-Zufallsmutagenese zu unterscheiden.

17

Da die französischen Behörden den Dekretentwurf nicht innerhalb der in der Entscheidung vom 7. Februar 2020 festgelegten Frist verabschiedeten, beantragten die Kläger des Ausgangsverfahrens mit Antragsschrift vom 12. Oktober 2020 beim Conseil d’État (Staatsrat), für eine Durchführung der Entscheidung zu sorgen.

18

Dieses Gericht weist darauf hin, dass nach einer Stellungnahme des Haut Conseil des biotechnologies (Hoher Rat für Biotechnologie) die Reparaturmechanismen der Desoxyribonukleinsäure (DNS), die durch die von einem Mutagen hervorgerufenen Veränderungen aktiviert würden, unabhängig davon, ob die Zellen in vitro oder in vivo kultiviert würden, identisch seien. Die In-vitro-Kultur führe jedoch zu genetischen und epigenetischen Variationen, die als „somaklonale Variationen“ bezeichnet würden und häufiger aufträten als spontane Mutationen.

19

In diesem Kontext führt das vorlegende Gericht aus, dass sich bei der Bestimmung, welche Mutagenese-Verfahren solche Verfahren/Methoden darstellten, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt worden seien und seit Langem als sicher gälten, so dass sie nicht unter die in der Richtlinie 2001/18 vorgesehene Kontrollregelung fielen, zwei Ansätze gegenüberstünden. Nach einem ersten Ansatz sei dabei nur der Prozess zu berücksichtigen, durch den das genetische Material verändert werde. Nach einem zweiten Ansatz seien alle Auswirkungen des verwendeten Verfahrens auf den Organismus zu berücksichtigen, da sie die menschliche Gesundheit oder die Umwelt beeinträchtigen könnten, einschließlich derjenigen, die somaklonale Variationen hervorrufen könnten.

20

Des Weiteren ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass, sollte dem zweiten Ansatz gefolgt werden, die Kriterien klargestellt werden müssten, die für die Beurteilung maßgeblich seien, ob ein Verfahren oder eine Methode seit Langem als sicher gelte. In Anbetracht der Verwendungen der In-vitro-Zufallsmutagenese vor dem Erlass der Richtlinie 2001/18 sei es nämlich erforderlich, zu bestimmen, ob insoweit ausreichende Daten vorliegen müssten, die sich auf den Freilandanbau der mit diesem Verfahren oder dieser Methode gewonnenen Organismen bezögen, oder ob diese Sicherheit vielmehr auch auf der Grundlage von Forschungsarbeiten und Publikationen festgestellt werden könne, die sich nicht auf diesen Anbau bezögen.

21

Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 im Licht ihres 17. Erwägungsgrundes dahin auszulegen, dass zur Bestimmung derjenigen Verfahren/Methoden der Mutagenese, die im Sinne des Urteils vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a. (C‑528/16, EU:C:2018:583), herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten, nur die Art und Weise zu berücksichtigen ist, in der das Mutagen das genetische Material des Organismus verändert, oder sind alle durch das angewandte Verfahren hervorgerufenen Änderungen des Organismus zu berücksichtigen, einschließlich somaklonaler Variationen, die die menschliche Gesundheit und die Umwelt beeinträchtigen könnten?

2.

Ist Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 im Licht ihres 17. Erwägungsgrundes dahin auszulegen, dass bei der Feststellung, ob ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese im Sinne des Urteils vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a. (C‑528/16, EU:C:2018:583), herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt, nur der Freilandanbau der mit diesem Verfahren oder dieser Methode gewonnenen Organismen zu berücksichtigen ist, oder können auch Forschungsarbeiten und Publikationen berücksichtigt werden, die sich nicht auf diesen Anbau beziehen, und sind bei diesen Arbeiten und Publikationen nur diejenigen zu berücksichtigen, die sich auf die Risiken für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt beziehen?

Zum Verfahren vor dem Gerichtshof

22

Das vorlegende Gericht beantragt, die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung dem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 seiner Verfahrensordnung zu unterwerfen.

23

Zur Stützung dieses Antrags macht es geltend, dass die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nach den französischen Verfahrensvorschriften eilbedürftig sei, diese Rechtssache besondere Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt zum Gegenstand habe und eine Meinungsverschiedenheit aufwerfe, an der die Europäische Kommission sowie eine erhebliche Anzahl von Mitgliedstaaten beteiligt seien.

24

Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

25

Vorliegend hat der Präsident des Gerichtshofs am 10. Dezember 2021 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, dem in Rn. 22 des vorliegenden Urteils genannten Antrag nicht stattzugeben.

26

Erstens ist nämlich festzustellen, dass sich das Erfordernis der raschen Erledigung eines beim Gerichtshof anhängigen Rechtsstreits nicht allein daraus ergeben kann, dass das Vorabentscheidungsersuchen im Rahmen eines Verfahrens eingereicht wurde, das im nationalen System eilbedürftig ist, und dass das vorlegende Gericht verpflichtet ist, eine zügige Beilegung des Rechtsstreits sicherzustellen (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 7. Oktober 2013, Rabal Cañas, C‑392/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:877, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Zweitens kann die Anwendung des beschleunigten Verfahrens zwar gerechtfertigt sein, wenn eine große Gefahr besteht, dass bis zur Entscheidung des Gerichtshofs unumkehrbare Folgen für die Umwelt eintreten (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 13. April 2016, Pesce u. a., C‑78/16 und C‑79/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:251, Rn. 10). Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch nicht hervor, dass eine solche Gefahr im Ausgangsverfahren besteht, das seit 2015 anhängig ist und in dem das vorlegende Gericht über eine mögliche Änderung einer nationalen Regelung zu entscheiden hat, die seit mehreren Jahren in Kraft ist.

28

Drittens ist, was den Umstand betrifft, dass diese Rechtssache eine Meinungsverschiedenheit aufgeworfen hat, an der die Kommission sowie eine erhebliche Anzahl von Mitgliedstaaten beteiligt sind, darauf hinzuweisen, dass die Schwierigkeit einer Rechtssache zwar grundsätzlich nicht mit der Eilbedürftigkeit ihrer Entscheidung korreliert, doch die Tatsache, dass eine Rechtssache wie im vorliegenden Fall sensible und komplexe Rechtsfragen aufwirft, der Anwendung des beschleunigten Verfahrens entgegenstehen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

29

Die Fédération française des producteurs d’oléagineux et de protéagineux (Vereinigung französischer Öl- und Eiweißpflanzenproduzenten) bringt vor, dass eine Antwort des Gerichtshofs auf das Vorabentscheidungsersuchen nicht erforderlich sei, um den Ausgangsrechtsstreit zu entscheiden, so dass dieses Ersuchen unzulässig sei.

30

Zum einen verfüge das vorlegende Gericht bereits auf der Grundlage des Urteils vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a. (C‑528/16, EU:C:2018:583), und der nationalen Akte über ausreichende Anhaltspunkte für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits, da es entschieden habe, dass die In-vitro-Zufallsmutagenese, weil dieses Verfahren/diese Methode herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt werde und seit Langem als sicher gelte, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/18 falle.

31

Zum anderen könne das vorlegende Gericht vernünftigerweise keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Beurteilung hegen, da aus der in Rn. 16 des vorliegenden Urteils genannten ausführlichen Stellungnahme der Kommission hervorgehe, dass die Entscheidung vom 7. Februar 2020, um deren Durchführung es im Ausgangsverfahren gehe, dadurch gegen Unionsrecht verstoße, dass sie zwischen den Regelungen für die In-vivo-Zufallsmutagenese und denen für die In-vitro-Zufallsmutagenese unterscheide.

32

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich verpflichtet, über ihm vorgelegte Fragen zu entscheiden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die Auslegung des Unionsrechts, um die er ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Vorliegend zielen die Vorlagefragen darauf ab, vom Gerichtshof Klarstellungen zu erhalten, aufgrund derer der Conseil d’État (Staatsrat) bestimmen kann, ob mit Blick auf die von ihm festgestellten Gesichtspunkte betreffend die Merkmale und die Verwendungen der In-vitro-Zufallsmutagenese sowie unter Berücksichtigung der Gesichtspunkte, die sich aus der in Rn. 16 des vorliegenden Urteils genannten ausführlichen Stellungnahme der Kommission ergeben, davon auszugehen ist, dass dieses Verfahren/diese Methode unter die Richtlinie 2001/18 fällt. Folglich hängt die Begründetheit des Arguments der Fédération française des producteurs d’oléagineux et de protéagineux, wonach diese Gesichtspunkte ausreichen, um zu entscheiden, dass dies nicht der Fall sei, von der Antwort auf diese Fragen ab. Dieses Argument erlaubt es jedenfalls nicht, diese Fragen als unzulässig anzusehen.

35

Selbst wenn man im Übrigen annähme, dass, wie die Fédération française des producteurs d’oléagineux et de protéagineux (Vereinigung französischer Öl- und Eiweißpflanzenproduzenten) vorträgt, die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits aus dem Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a. (C‑528/16, EU:C:2018:583), abgeleitet werden kann und vernünftigen Zweifeln keinen Raum lässt, wären diese Umstände nicht geeignet, die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens darzutun. Diese Umstände können das vorlegende Gericht allenfalls von seiner Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV entbinden.

36

Zum einen behalten nämlich die innerstaatlichen Gerichte selbst bei Vorliegen einer Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der betreffenden Rechtsfrage das unbeschränkte Recht zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie sie für angebracht halten, ohne dass der Umstand, dass die Bestimmungen, um deren Auslegung ersucht wird, vom Gerichtshof bereits ausgelegt worden sind, einer neuerlichen Entscheidung des Gerichtshofs entgegenstünde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. März 1963, Da Costa u. a.,28/62 bis 30/62, EU:C:1963:6, S. 80 und 81, vom 6. Oktober 1982, Cilfit u. a., 283/81, EU:C:1982:335, Rn. 13 und 15, sowie vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 36 und 37). Zum anderen ist es einem nationalen Gericht keineswegs untersagt, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, deren Beantwortung nach Auffassung einer der Parteien des Ausgangsverfahrens keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Dezember 2011, Painer, C‑145/10, EU:C:2011:798, Rn. 64 und 65, sowie vom 24. Februar 2022, Viva Telecom Bulgaria, C‑257/20, EU:C:2022:125, Rn. 42).

37

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist das Vorabentscheidungsersuchen für zulässig zu erklären.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

38

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 im Licht ihres 17. Erwägungsgrundes dahin auszulegen ist, dass Organismen, die durch die Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen werden, das bzw. die auf den gleichen Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials des betreffenden Organismus durch ein Mutagen beruht wie ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gilt, sich jedoch von dem zweiten Verfahren oder von der zweiten Methode der Mutagenese durch andere Merkmale, einschließlich durch Verwendung von In-vitro-Kulturen, unterscheidet, von der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahme ausgeschlossen sind.

39

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 nicht nur sein Wortlaut, sondern auch sein Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a., C‑528/16, EU:C:2018:583, Rn. 42).

40

Während aus Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2001/18 hervorgeht, dass mit Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnene Organismen GVO im Sinne dieser Richtlinie darstellen und den in ihr vorgesehenen Verpflichtungen unterliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a., C‑528/16, EU:C:2018:583, Rn. 38), ergibt sich aus Art. 3 („Ausnahmeregelung“) Abs. 1 der Richtlinie, dass diese Richtlinie nicht für Organismen gilt, bei denen eine genetische Veränderung mit den in ihrem Anhang I B aufgeführten Verfahren herbeigeführt wurde.

41

In diesem Anhang I B sind die Verfahren/Methoden der genetischen Veränderung aufgeführt, aus denen Organismen hervorgehen, die von der Richtlinie auszuschließen sind, vorbehaltlich dessen, dass nur solche rekombinanten Nukleinsäuremoleküle oder genetisch veränderten Organismen verwendet werden, die in einem oder mehreren der Verfahren bzw. nach einer oder mehreren der Methoden, die in diesem Anhang angeführt sind, hervorgegangen sind. Zu diesen Verfahren/Methoden gehört nach Nr. 1 des Anhangs die Mutagenese.

42

Unter diesen Umständen liefert der Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 für sich allein keinen entscheidenden Hinweis auf die Organismen, die der Unionsgesetzgeber vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließen wollte.

43

Allerdings werden im 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/18 die maßgeblichen Kriterien dafür, dass ein Organismus nicht den in dieser Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen unterliegt, klargestellt, indem es dort heißt, dass die Richtlinie nicht für Organismen gelten sollte, die mit Techniken zur genetischen Veränderung gewonnen werden, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a., C‑528/16, EU:C:2018:583, Rn. 44 bis 46).

44

Des Weiteren ist bei der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 auch das Ziel der Richtlinie zu berücksichtigen, wie es sich aus ihrem Art. 1 ergibt, nämlich entsprechend dem Vorsorgeprinzip bei der absichtlichen Freisetzung von GVO in die Umwelt zu anderen Zwecken als dem Inverkehrbringen in der Union sowie bei ihrem Inverkehrbringen als Produkt oder in Produkten in der Union die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a., C‑528/16, EU:C:2018:583, Rn. 52).

45

Jedoch würde eine Auslegung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18, wonach die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnenen Organismen unterschiedslos vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen wären, den mit ihr verfolgten Zweck des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Umwelt beeinträchtigen und dem Vorsorgeprinzip, zu dessen Umsetzung die Richtlinie dient, zuwiderlaufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a., C‑528/16, EU:C:2018:583, Rn. 53).

46

In Anbetracht u. a. der vorstehenden Gesichtspunkte hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 im Licht ihres 17. Erwägungsgrundes dahin auszulegen ist, dass nur die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten, gewonnenen Organismen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a., C‑528/16, EU:C:2018:583, Rn. 54).

47

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Beschränkung des Umfangs der Ausnahme gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 durch die Bezugnahme auf die beiden Kriterien, nämlich herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt worden zu sein und seit Langem als sicher zu gelten, eng mit dem in Rn. 44 des vorliegenden Urteils dargelegten Ziel der Richtlinie zusammenhängt.

48

Die Anwendung dieser beiden Kriterien ermöglicht somit, aufgrund des Alters sowie der Vielfalt der Anwendungen eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese und der verfügbaren Informationen über seine bzw. ihre Sicherheit sicherzustellen, dass die mit diesem Verfahren oder mit dieser Methode gewonnenen Organismen in die Umwelt freigesetzt oder innerhalb der Union in Verkehr gebracht werden können, ohne dass es zur Vermeidung schädlicher Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt unabdingbar erscheint, diese Organismen den Risikobewertungsverfahren gemäß Teil B bzw. Teil C der Richtlinie 2001/18 zu unterziehen.

49

Diese Anwendung entspricht auch dem Erfordernis einer engen Auslegung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18, das sich daraus ergibt, dass es sich bei dieser Bestimmung um eine Ausnahme von dem Erfordernis handelt, GVO den in der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen zu unterwerfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a., C‑528/16, EU:C:2018:583, Rn. 41).

50

Vorliegend möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es für die Feststellung, ob ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese einem Verfahren oder einer Methode der Mutagenese gleichzustellen ist, das bzw. die die beiden Kriterien erfüllt, nämlich herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt worden zu sein und seit Langem als sicher zu gelten, ausreicht, die Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials des betreffenden Organismus durch das Mutagen zu prüfen.

51

Hierzu ist festzustellen, dass eine allgemeine Ausweitung der Ausnahme gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 auf Organismen, die durch die Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen werden, das bzw. die auf den gleichen Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials des betreffenden Organismus durch ein Mutagen beruht wie ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt, jedoch diese Modalitäten mit anderen Merkmalen verknüpft, die sich von diesem zweitem Verfahren oder dieser zweiten Methode der Mutagenese unterscheiden, nicht dem in Rn. 48 des vorliegenden Urteils dargelegten Willen des Unionsgesetzgebers entsprechen würde.

52

Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass die Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode, die solche Merkmale aufweist, zu genetischen Veränderungen des betreffenden Organismus führt, die sich in ihrer Art oder in dem Tempo, in dem sie auftreten, von denjenigen unterscheiden, die durch die Anwendung des genannten zweiten Verfahrens oder der genannten zweiten Methode der Mutagenese gewonnen werden.

53

Daraus folgt, dass die Beschränkung der Prüfung, die für die Zwecke der Anwendung der Ausnahme nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 vorgenommen wird, nur auf die Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials des betreffenden Organismus durch das Mutagen die Gefahr bergen würde, dass unter dem Deckmantel der Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt, letztlich Organismen erlangt würden, deren genetisches Material sich von demjenigen unterscheidet, das durch die Anwendung dieses Verfahrens oder dieser Methode der Mutagenese gewonnen wurde, obwohl es gerade die Erfahrung mit den letztgenannten Organismen ist, die die Feststellung ermöglicht, dass die beiden sich aus dieser Bestimmung ergebenden Kriterien erfüllt sind.

54

Infolgedessen kann die ohne Durchführung eines Risikobewertungsverfahrens erfolgte Freisetzung in die Umwelt oder das Inverkehrbringen von Organismen, die durch ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese gewonnen wurden, das bzw. die sich in seinen bzw. ihren Merkmalen von einem Verfahren oder einer Methode der Mutagenese unterscheidet, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gilt, in bestimmten Fällen schädliche, gegebenenfalls unumkehrbare Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt mit sich bringen, die mehrere Mitgliedstaaten betreffen, selbst wenn diese Merkmale nicht auf die Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials des betreffenden Organismus durch das Mutagen zurückzuführen sind.

55

Dennoch würde die Ansicht, wonach Organismen, die durch die Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen werden, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt, notwendigerweise in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/18 fallen, wenn dieses Verfahren oder diese Methode in irgendeiner Weise eine Veränderung erfahren hat, der Ausnahme gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie weitgehend ihre praktische Wirksamkeit nehmen, da eine solche Auslegung jede Form der Anpassung des Verfahrens oder der Methode der Mutagenese übermäßig erschweren könnte, obschon diese Auslegung nicht erforderlich ist, um das mit dieser Richtlinie verfolgte Ziel des Schutzes der Umwelt und der menschlichen Gesundheit gemäß dem Vorsorgeprinzip zu erreichen.

56

Daher rechtfertigt der Umstand, dass sich ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese in einem Merkmal oder in mehreren Merkmalen von einem Verfahren oder einer Methode der Mutagenese unterscheidet, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt, es nur dann, die Ausnahme gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 auszuschließen, wenn feststeht, dass diese Merkmale geeignet sind, zu Veränderungen des genetischen Materials des betreffenden Organismus zu führen, die sich in ihrer Art oder in dem Tempo, in dem sie auftreten, von denjenigen unterscheiden, die durch die Anwendung dieses zweiten Verfahrens oder dieser zweiten Methode der Mutagenese gewonnen werden.

57

Im Ausgangsverfahren hat das vorlegende Gericht jedoch speziell zu bestimmen, ob die In-vitro-Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese, das bzw. die ursprünglich in vivo verwendet wurde, unter diese Ausnahme fallen kann. Daher ist zu prüfen, ob der Unionsgesetzgeber die Tatsache, dass ein Verfahren oder eine Methode In-vitro-Kulturen betrifft, als entscheidend für die Frage angesehen hat, ob eine solche Anwendung unter die Richtlinie 2001/18 fällt.

58

Insoweit war der Unionsgesetzgeber nicht der Ansicht, dass die genetischen Veränderungen, die mit In-vitro-Kulturen einhergehen und auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, es rechtfertigen, dass die von solchen Veränderungen betroffenen Organismen notwendigerweise „GVO“ darstellen, die den Risikobewertungsverfahren gemäß Teil B bzw. Teil C der Richtlinie 2001/18 unterliegen.

59

Erstens ist nämlich die In-vitro-Kultur nicht in der beispielhaften Aufzählung der Verfahren enthalten, bei denen nach Art. 2 Nr. 2 Buchst. a in Verbindung mit Anhang I A Teil 1 der Richtlinie 2001/18 davon auszugehen ist, dass sie zu einer genetischen Veränderung führen, so dass ein Organismus als „GVO“ im Sinne dieser Richtlinie betrachtet werden kann.

60

Zweitens geht aus Art. 2 Nr. 2 Buchst. b in Verbindung mit Anhang I A Teil 2 der Richtlinie 2001/18 hervor, dass für die Zwecke der Anwendung dieser Richtlinie bei der In-vitro-Befruchtung nicht davon auszugehen ist, dass sie zu einer genetischen Veränderung führt, es sei denn, sie ist mit dem Einsatz von rekombinanten Nukleinsäuremolekülen oder von GVO verbunden, die aus anderen Verfahren/Methoden hervorgegangen sind. Der Unionsgesetzgeber ist somit nicht davon ausgegangen, dass die Tatsache als solche, dass die Anwendung dieses Verfahrens eine In-vitro-Kultur voraussetzt, dem entgegensteht, dass es vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgeschlossen ist.

61

Auch ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 2 der Richtlinie 2001/18, dass die Zellfusion von Pflanzenzellen von Organismen, die mittels herkömmlicher Züchtungstechniken genetisches Material austauschen können, nicht unter die Richtlinie fällt, obwohl, wie die französische Regierung und die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen unwidersprochen ausgeführt haben, diese Zellfusion notwendigerweise in vitro auf einzelne Zellen angewendet wird.

62

Drittens ergibt sich aus Art. 2 Nr. 2 Buchst. b in Verbindung mit Anhang I A Teil 2 Nr. 3 der Richtlinie 2001/18, dass sich der Unionsgesetzgeber dafür entschieden hat, die für Polyploidie‑Induktion geltende Regelung nicht davon abhängig zu machen, ob diese in vitro angewendet wird. Die Kommission hat hierzu in ihren schriftlichen Erklärungen unwidersprochen vorgetragen, dass die In-vitro-Anwendung dieses Verfahrens zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Richtlinie bereits seit Langem bekannt gewesen sei.

63

In diesem Kontext würde, wie die französische Regierung und die Kommission im Wesentlichen geltend machen, die Auffassung, dass ein Organismus, der durch die In-Vitro-Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen wurde, das bzw. die ursprünglich in vivo verwendet wurde, wegen der mit In-vitro-Kulturen einhergehenden Wirkungen von der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 vorgesehenen Ausnahme ausgenommen sei, verkennen, dass der Unionsgesetzgeber die damit einhergehenden Wirkungen für die Definition des Anwendungsbereichs der Richtlinie nicht für maßgeblich gehalten hat.

64

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 im Licht ihres 17. Erwägungsgrundes dahin auszulegen ist, dass Organismen, die durch die Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen werden, das bzw. die auf den gleichen Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials des betreffenden Organismus durch ein Mutagen beruht wie ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt, sich jedoch von dem zweiten Verfahren oder von der zweiten Methode der Mutagenese durch andere Merkmale, einschließlich der Verwendung von In-vitro-Kulturen, unterscheidet, von der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahme grundsätzlich ausgeschlossen sind, sofern feststeht, dass diese Merkmale geeignet sind, zu Veränderungen des genetischen Materials dieses Organismus zu führen, die sich in ihrer Art oder in dem Tempo, in dem sie auftreten, von denjenigen unterscheiden, die durch die Anwendung dieses zweiten Verfahrens oder dieser zweiten Methode der Mutagenese gewonnen werden. Jedoch rechtfertigen es die mit In-vitro-Kulturen einhergehenden Wirkungen als solche nicht, dass Organismen von dieser Ausnahme ausgenommen werden, die durch die In-vitro-Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen werden, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen in vivo angewandt wurde und in Bezug auf diese Anwendungen seit Langem als sicher gilt.

Zur zweiten Frage

65

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass eine Antwort auf die zweite Frage für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nur dann erforderlich ist, wenn sich aus der Antwort auf die erste Frage ergäbe, dass bei der Beurteilung, ob ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese unter die in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18 vorgesehene Ausnahme fällt, die Wirkungen zu berücksichtigen sind, die mit den Verfahren/Methoden einhergehen, die eine In-vitro-Kultur betreffen.

66

Angesichts der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage daher nicht beantwortet zu werden.

Kosten

67

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates im Licht ihres 17. Erwägungsgrundes

 

ist wie folgt auszulegen:

 

Organismen, die durch die Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen werden, das bzw. die auf den gleichen Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials des betreffenden Organismus durch ein Mutagen beruht wie ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt, sich jedoch von dem zweiten Verfahren oder von der zweiten Methode der Mutagenese durch andere Merkmale, einschließlich der Verwendung von In-vitro-Kulturen, unterscheidet, sind von der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahme grundsätzlich ausgeschlossen, sofern feststeht, dass diese Merkmale geeignet sind, zu Veränderungen des genetischen Materials dieses Organismus zu führen, die sich in ihrer Art oder in dem Tempo, in dem sie auftreten, von denjenigen unterscheiden, die durch die Anwendung dieses zweiten Verfahrens oder dieser zweiten Methode der Mutagenese gewonnen werden. Jedoch rechtfertigen es die mit In-vitro-Kulturen einhergehenden Wirkungen als solche nicht, dass Organismen von dieser Ausnahme ausgenommen werden, die durch die In-vitro-Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen werden, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen in vivo angewandt wurde und in Bezug auf diese Anwendungen seit Langem als sicher gilt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

( i ) Die vorliegende Sprachfassung ist in Rn. 24 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.

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