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Document 62021CJ0352

    Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 27. April 2023.
    A1 und A2 gegen I.
    Vorabentscheidungsersuchen des Østre Landsret.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Vorschriften über die Zuständigkeit in Versicherungssachen – Art. 15 Nr. 5 – Möglichkeit, von diesen Zuständigkeitsvorschriften im Wege der Vereinbarung abzuweichen – Art. 16 Nr. 5 – Richtlinie 2009/138/EG – Art. 13 Nr. 27 – Begriff ‚Großrisiken‘ – Schiffskaskoversicherungsvertrag – Gerichtsstandsvereinbarung zwischen dem Versicherer und dem Versicherten – Wirksamkeit dieser Vereinbarung gegenüber dem Versicherten – Sportboot, das nicht zu gewerblichen Zwecken verwendet wird.
    Rechtssache C-352/21.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:344

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

    27. April 2023 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Vorschriften über die Zuständigkeit in Versicherungssachen – Art. 15 Nr. 5 – Möglichkeit, von diesen Zuständigkeitsvorschriften im Wege der Vereinbarung abzuweichen – Art. 16 Nr. 5 – Richtlinie 2009/138/EG – Art. 13 Nr. 27 – Begriff ‚Großrisiken‘ – Schiffskaskoversicherungsvertrag – Gerichtsstandsvereinbarung zwischen dem Versicherer und dem Versicherten – Wirksamkeit dieser Vereinbarung gegenüber dem Versicherten – Sportboot, das nicht zu gewerblichen Zwecken verwendet wird“

    In der Rechtssache C‑352/21

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark, Dänemark) mit Entscheidung vom 27. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Mai 2021, in dem Verfahren

    A1,

    A2

    gegen

    I

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

    unter Mitwirkung des Richters T. von Danwitz in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer, des Richters A. Kumin (Berichterstatter) und der Richterin I. Ziemele,

    Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Noë, H. Tserepa-Lacombe und C. Vang als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Nr. 5 und Art. 16 Nr. 5 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A1 und A2, zwei natürlichen Personen mit Wohnsitz in Dänemark, auf der einen und I, einer Versicherungsgesellschaft mit Sitz in den Niederlanden (im Folgenden: Versicherungsgesellschaft I), auf der anderen Seite über die Gültigkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung in einem Schiffskaskoversicherungsvertrag über ein Segelboot.

    Rechtlicher Rahmen

    Verordnung Nr. 1215/2012

    3

    In den Erwägungsgründen 15 und 18 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:

    „(15)

    Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. …

    (18)

    Bei Versicherungs‑, Verbraucher- und Arbeitsverträgen sollte die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden, die für sie günstiger sind als die allgemeine Regelung.“

    4

    Die Zuständigkeit für Versicherungssachen ist in den Art. 10 bis 16 in Kapitel II Abschnitt 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 geregelt.

    5

    Art. 10 dieser Verordnung lautet:

    „Für Klagen in Versicherungssachen bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 6 und des Artikels 7 Nummer 5 nach diesem Abschnitt.“

    6

    Art. 11 Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

    „Ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden:

    a)

    vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat,

    b)

    in einem anderen Mitgliedstaat bei Klagen des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten vor dem Gericht des Ortes, an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat, …

    …“

    7

    Art. 15 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

    „Von den Vorschriften dieses Abschnitts kann im Wege der Vereinbarung nur abgewichen werden:

    5.

    wenn sie einen Versicherungsvertrag betrifft, soweit dieser eines oder mehrere der in Artikel 16 aufgeführten Risiken deckt.“

    8

    In Art. 16 dieser Verordnung heißt es:

    „Die in Artikel 15 Nummer 5 erwähnten Risiken sind die folgenden:

    1.

    sämtliche Schäden

    a)

    an Seeschiffen, Anlagen vor der Küste und auf hoher See oder Luftfahrzeugen aus Gefahren, die mit ihrer Verwendung zu gewerblichen Zwecken verbunden sind,

    b)

    an Transportgütern, ausgenommen Reisegepäck der Passagiere, wenn diese Güter ausschließlich oder zum Teil mit diesen Schiffen oder Luftfahrzeugen befördert werden;

    2.

    Haftpflicht aller Art mit Ausnahme der Haftung für Personenschäden an Passagieren oder Schäden an deren Reisegepäck,

    a)

    aus der Verwendung oder dem Betrieb von Seeschiffen, Anlagen oder Luftfahrzeugen gemäß Nummer 1 Buchstabe a, es sei denn, dass – was die letztgenannten betrifft – nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Luftfahrzeug eingetragen ist, Gerichtsstandsvereinbarungen für die Versicherung solcher Risiken untersagt sind,

    b)

    für Schäden, die durch Transportgüter während einer Beförderung im Sinne von Nummer 1 Buchstabe b verursacht werden;

    3.

    finanzielle Verluste im Zusammenhang mit der Verwendung oder dem Betrieb von Seeschiffen, Anlagen oder Luftfahrzeugen gemäß Nummer 1 Buchstabe a, insbesondere Fracht- oder Charterverlust;

    4.

    irgendein zusätzliches Risiko, das mit einem der unter den Nummern 1 bis 3 genannten Risiken in Zusammenhang steht;

    5.

    unbeschadet der Nummern 1 bis 4 alle ‚Großrisiken‘ entsprechend der Begriffsbestimmung in der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) [(ABl. 2009, L 335, S. 1)].“

    9

    Wie aus dem 41. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 hervorgeht, beteiligte sich das Königreich Dänemark gemäß den Art. 1 und 2 des dem EU‑Vertrag und dem AEU‑Vertrag beigefügten Protokolls (Nr. 22) über die Position Dänemarks nicht an der Annahme dieser Verordnung und war weder durch diese Verordnung gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet. Gemäß Art. 3 Abs. 2 des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2005, L 299, S. 62) hat dieser Mitgliedstaat der Europäischen Kommission jedoch mit Schreiben vom 20. Dezember 2012 mitgeteilt, dass er diese Verordnung umsetzen wird, was zur Folge hat, dass die Bestimmungen der Verordnung auf die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Dänemark anwendbar sind. Nach Art. 3 Abs. 6 des Abkommens schafft die Mitteilung Dänemarks gegenseitige Verpflichtungen zwischen Dänemark und der Union (ABl. 2013, L 79, S. 4).

    Richtlinie 2009/138

    10

    Art. 13 der Richtlinie 2009/138 bestimmt:

    „Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

    27.

    ‚Großrisiken‘:

    a)

    die unter den Zweigen 4, 5, 6, 7, 11 und 12 von Anhang I Teil A eingestuften Risiken;

    b)

    die unter den Zweigen 14 und 15 von Anhang I Teil A eingestuften Risiken, wenn der Versicherungsnehmer eine Erwerbstätigkeit im industriellen oder gewerblichen Sektor oder eine freiberufliche Tätigkeit ausübt und das Risiko damit im Zusammenhang steht;

    c)

    die unter den Zweigen 3, 8, 9, 10, 13 und 16 von Anhang I Teil A eingestuften Risiken, sofern der Versicherungsnehmer bei mindestens zwei der folgenden Kriterien die Obergrenzen überschreitet:

    i)

    eine Bilanzsumme von 6,2 Mio. [Euro];

    ii)

    ein Nettoumsatz … von 12,8 Mio. [Euro];

    iii)

    eine durchschnittliche Beschäftigtenzahl von 250 Beschäftigten im Verlauf des Geschäftsjahres.

    …“

    11

    Anhang I Teil A Zweig 6 („See‑, Binnensee- und Flussschifffahrts-Kasko“) dieser Richtlinie lautet:

    Sämtliche Schäden an

    Flussschiffen;

    Binnenseeschiffen;

    Seeschiffen.“

    Beschluss 2014/887/EU

    12

    Der siebte Erwägungsgrund des Beschlusses 2014/887/EU des Rates vom 4. Dezember 2014 über die Genehmigung – im Namen der Europäischen Union – des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen vom 30. Juni 2005 (ABl. 2014, L 353, S. 5) lautet:

    „Die Union sollte bei Genehmigung des Übereinkommens [über Gerichtsstandsvereinbarungen, das am 30. Juni 2005 unter der Schirmherrschaft der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht geschlossen wurde] zudem eine Erklärung nach Artikel 21 abgeben, mit der – vorbehaltlich bestimmter klar definierter Ausnahmen – Versicherungsverträge prinzipiell vom Anwendungsbereich des Übereinkommens ausgeschlossen werden. Die Erklärung zielt darauf ab, die Zuständigkeitsvorschriften zum Schutz der Versicherungsnehmer, Versicherten oder Begünstigten, wie sie für Versicherungssachen in der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 [des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)] festgelegt sind, zu bewahren. Der Ausschluss sollte auf das zum Schutz der Interessen der schwächeren Vertragsparteien von Versicherungsverträgen erforderliche Maß beschränkt sein. Er sollte daher weder für Rückversicherungsverträge noch für Verträge in Bezug auf Großrisiken gelten. Die Union sollte zum selben Zeitpunkt eine einseitige Erklärung dahingehend abgeben, dass sie gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt unter Berücksichtigung der bei der Anwendung des Übereinkommens gewonnenen Erfahrungen erneut bewerten wird, ob es notwendig ist, ihre Erklärung nach Artikel 21 aufrechtzuerhalten.“

    13

    In der „Erklärung der Europäischen Union anlässlich der Genehmigung des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen … vom 30. Juni 2005 nach Artikel 21 [dieses] Übereinkommens“ in Anhang I des Beschlusses 2014/887 heißt es:

    „Ziel dieser Erklärung, mit der bestimmte Arten von Versicherungsverträgen vom Geltungsbereich des Übereinkommens ausgenommen werden, ist es, bestimmte Versicherungsnehmer, Versicherte und Begünstigte zu schützen, die nach internem Unionsrecht besonderen Schutz genießen.

    (1)   Die Europäische Union erklärt nach Artikel 21 des Übereinkommens, dass sie mit Ausnahme der in Absatz 2 vorgesehenen Fälle das Übereinkommen nicht auf Versicherungsverträge anwenden wird.

    (2)   Die Europäische Union wird das Übereinkommen in den folgenden Fällen auf Versicherungsverträge anwenden:

    d)

    die Gerichtsstandsvereinbarung betrifft einen Versicherungsvertrag, der eines oder mehrere der folgenden als Großrisiken geltenden Risiken deckt:

    i)

    Schäden aus Gefahren, die mit ihrer Verwendung zu gewerblichen Zwecken verbunden sind,

    a)

    an Seeschiffen, an Anlagen vor der Küste und auf hoher See oder an Fluss‑, Kanal- und Binnenseeschiffen,

    …“

    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

    14

    Am 15. Oktober 2013 schlossen A1 und A2 mit einem Händler in Ijmuiden (Niederlande) einen Kaufvertrag über den Erwerb eines gebrauchten Segelboots zum Preis von 315000 Euro.

    15

    Sie schlossen außerdem mit der Versicherungsgesellschaft I einen Haftpflicht- und Kaskoversicherungsvertrag über dieses Segelboot. Bei Abschluss des Vertrags, der zum 1. November 2013 wirksam wurde, gaben sie auf dem von dieser Gesellschaft bereitgestellten Antragsformular „Application form yacht insurance“ (Antragsformular Jacht-Versicherung) zum einen an, dass das Segelboot seinen Heimathafen in Dänemark haben werde, und zum anderen, dass es nur zu privaten und Freizeitzwecken verwendet und weder vermietet noch verchartert werde.

    16

    Nach einer Bestimmung der in diesem Vertrag vorgesehenen Versicherungsbedingungen konnte der Versicherungsnehmer einen etwaigen Rechtsstreit einem zuständigen Gericht in den Niederlanden vorlegen.

    17

    Im Mai 2018 sollen A1 und A2 in Finnland auf Grund gelaufen sein. Im Frühjahr 2019 entdeckten sie Schäden am Kiel und am Rumpf des Segelboots. Daher meldeten sie im Mai 2019 der Versicherungsgesellschaft I das Auflaufen des Bootes. Diese verweigerte nach einer Begutachtung unter Verweis auf die Art des Schadens dessen Regulierung.

    18

    A1 und A2 erhoben daraufhin beim Ret i Helsingør (Gericht Helsingör, Dänemark) Klage gegen die Versicherungsgesellschaft I und beantragten, sie zur Deckung der Kosten der Reparatur des Schadens zu verurteilen, der mit 300000 dänischen Kronen (DKK) (etwa 40300 Euro) beziffert wurde. Die Versicherungsgesellschaft I beantragte, die Klage als unzulässig abzuweisen, da sie gemäß der im Versicherungsvertrag enthaltenen Gerichtsstandsvereinbarung bei einem niederländischen Gericht hätte erhoben werden müssen.

    19

    Mit Urteil vom 19. Mai 2020 gab das Ret i Helsingør (Gericht Helsingör) dieser Unzulässigkeitseinrede statt.

    20

    A1 und A2 haben gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht, dem Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark), eingelegt und beantragt, die Rechtssache an das Ret i Helsingør (Gericht Helsingör) zurückzuverweisen, hilfsweise, in der Sache zu entscheiden, da das fragliche Segelboot als Sportboot nicht unter Art. 16 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 falle und die Klage daher zu Recht bei einem dänischen Gericht erhoben worden sei.

    21

    Im Einzelnen machen A1 und A2 geltend, dass als „Großrisiken“ im Sinne dieser Bestimmung nur Schäden zu qualifizieren seien, die an einem versicherten, zu gewerblichen Zwecken verwendeten Schiff im Zuge einer solchen Verwendung aufträten. Eine Auslegung dieser Bestimmung, wonach „Großrisiken“ sämtliche Schäden an jedem Schiff unabhängig von seiner Größe und Verwendung, also auch an zu privaten Zwecken verwendeten Sportbooten, erfassten, liefe den mit der Verordnung Nr. 1215/2012 verfolgten Zielen und insbesondere dem Ziel des Schutzes der schwächeren Partei im Vertragsverhältnis zuwider.

    22

    Die Versicherungsgesellschaft I tritt dem Vorbringen von A1 und A2 entgegen. Diese seien zwar Verbraucher, hätten aber einen Versicherungsvertrag geschlossen, der eine bindende Gerichtsstandsvereinbarung, wonach der Gerichtsstand in den Niederlanden liege, enthalte. Eine solche Vereinbarung sei nach Art. 15 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 zulässig, da eine Schiffskaskoversicherung wie die im Ausgangsverfahren fragliche unter den Begriff „Großrisiken“ im Sinne von Art. 16 Nr. 5 dieser Verordnung in Verbindung mit Art. 13 Nr. 27 der Richtlinie 2009/138 falle.

    23

    Unter diesen Umständen hat das Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    Ist Art. 15 Nr. 5 in Verbindung mit Art. 16 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass Kaskoversicherungen für Sportboote, die nicht zu gewerblichen Zwecken verwendet werden, von der Ausnahmeregelung des Art. 16 Nr. 5 erfasst sind, und ist ein Versicherungsvertrag, der eine Gerichtsstandsvereinbarung enthält, die vom Grundsatz des Art. 11 abweicht, daher nach Art. 15 Nr. 5 dieser Verordnung wirksam?

    Zur Vorlagefrage

    24

    Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Nr. 5 in Verbindung mit Art. 16 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass ein Schiffskaskoversicherungsvertrag über ein Sportboot, das nicht zu gewerblichen Zwecken verwendet wird, unter diesen Art. 15 Nr. 5 fällt.

    25

    Zur Beantwortung der Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Kapitel II Abschnitt 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 besondere Vorschriften über die Zuständigkeit in Versicherungssachen enthält.

    26

    So sieht Art. 11 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1215/2012 vor, dass ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, bei Klagen des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten in einem anderen Mitgliedstaat vor dem Gericht des Ortes, an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat, verklagt werden kann.

    27

    In bestimmten Fällen besteht nach der Verordnung Nr. 1215/2012 allerdings die Möglichkeit, von den besonderen Vorschiften über die Zuständigkeit für Versicherungssachen abzuweichen, und zwar u. a. gemäß Art. 15 Nr. 5 der Verordnung im Wege der Vereinbarung, wenn sie einen Versicherungsvertrag betrifft, soweit dieser eines oder mehrere der in Art. 16 der Verordnung aufgeführten Risiken deckt.

    28

    Im vorliegenden Fall steht fest, dass in Anbetracht des im Ausgangsverfahren fraglichen Versicherungsvertrags und der von ihm gedeckten Risiken nur Art. 16 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012, der sich auf „Großrisiken“ im Sinne der Richtlinie 2009/138 bezieht, erheblich sein könnte.

    29

    Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Die Entstehungsgeschichte einer Bestimmung des Unionsrechts kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für ihre Auslegung liefern (Urteil vom 25. Juni 2020, A u. a. [Windkraftanlagen in Aalter und Nevele], C‑24/19, EU:C:2020:503, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    30

    Daher ist für die Frage, ob bei einem Schiffskaskoversicherungsvertrag über ein Sportboot, das nicht zu gewerblichen Zwecken verwendet wird, von den in der Verordnung Nr. 1215/2012 vorgesehenen Vorschriften über die Zuständigkeit für Versicherungssachen abgewichen werden kann, auf den Wortlaut von Art. 15 Nr. 5 bzw. Art. 16 Nr. 5 der Verordnung und der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2009/138, auf die Art. 16 Nr. 5 der Verordnung verweist, sowie auf die Systematik dieser Vorschriften, ihre Entstehungsgeschichte und die ihnen zugrunde liegenden Ziele abzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Balta, C‑803/18, EU:C:2020:123, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    31

    Was die am Wortlaut orientierte Auslegung der fraglichen Bestimmungen betrifft, ergibt sich aus Art. 15 Nr. 5 in Verbindung mit Art. 16 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012, dass zu den in diesem Art. 15 Nr. 5 genannten Risiken „alle ‚Großrisiken‘ entsprechend der Begriffsbestimmung in der Richtlinie 2009/138“ gehören.

    32

    Der Begriff „Großrisiken“ ist in Art. 13 Nr. 27 dieser Richtlinie definiert.

    33

    So sind erstens nach Art. 13 Nr. 27 Buchst. a der Richtlinie „Großrisiken“ die unter den Zweigen 4 bis 7, 11 und 12 von Anhang I Teil A der Richtlinie eingestuften Risiken.

    34

    Zweitens gehören nach Art. 13 Nr. 27 Buchst. b der Richtlinie zu den „Großrisiken“ die unter den Zweigen 14 und 15 von Anhang I Teil A der Richtlinie eingestuften Risiken, wenn der Versicherungsnehmer eine Erwerbstätigkeit im industriellen oder gewerblichen Sektor oder eine freiberufliche Tätigkeit ausübt und das Risiko damit im Zusammenhang steht.

    35

    Drittens erfasst Art. 13 Nr. 27 Buchst. c der Richtlinie die unter den Zweigen 3, 8 bis 10, 13 und 16 von Anhang I Teil A der Richtlinie eingestuften Risiken, sofern der Versicherungsnehmer bei mindestens zwei der in dieser Nr. 27 Buchst. c genannten Kriterien die Obergrenzen überschreitet.

    36

    Im vorliegenden Fall steht fest, dass von den Zweigen von Anhang I Teil A der Richtlinie 2009/138, auf die in Art. 13 Nr. 27 Buchst. a bis c der Richtlinie Bezug genommen wird, nur der in Art. 13 Nr. 27 Buchst. a der Richtlinie genannte Zweig 6 einschlägig sein könnte. Dieser Zweig betrifft sämtliche Schäden an Flussschiffen, Binnenseeschiffen und Seeschiffen.

    37

    Weder dieser sechste Zweig noch Art. 13 Nr. 27 Buchst. a der Richtlinie 2009/138 enthalten jedoch weitere Angaben, insbesondere zur Verwendung dieser Schiffe, und zwar im Unterschied zu Art. 13 Nr. 27 Buchst. b und c der Richtlinie, der Angaben zu der vom Versicherungsnehmer ausgeübten Tätigkeit oder der Bilanzsumme, dem Umsatz oder der Zahl der Beschäftigten seines Unternehmens enthält.

    38

    Aus der am Wortlaut orientierten Auslegung von Art. 13 Nr. 27 der Richtlinie 2009/138 und Art. 16 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 ergibt sich somit, dass diese Bestimmungen dahin ausgelegt werden können, dass unter die dort genannten „Großrisiken“ sämtliche Schäden an Flussschiffen, Binnenseeschiffen und Seeschiffen fallen, und zwar unabhängig davon, ob diese Schiffe zu gewerblichen Zwecken verwendet werden oder nicht.

    39

    Zum Zusammenhang, in dem Art. 16 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 steht, ist zum einen festzustellen, dass diese Bestimmung mit den Worten „unbeschadet der Nummern 1 bis 4“ eingeführt wird, was den Schluss zulässt, dass die Nrn. 1 bis 4 dieses Art. 16 eine lex specialis gegenüber Art. 16 Nr. 5 der Verordnung darstellen und daher in den Fällen, die die Nrn. 1 bis 4 speziell regeln sollen, Vorrang vor Nr. 5 haben.

    40

    Zum anderen erfasst Art. 16 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 u. a. sämtliche Schäden an Seeschiffen, die mit ihrer Verwendung zu gewerblichen Zwecken verbunden sind.

    41

    Allerdings würde, wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, Art. 16 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 in Bezug auf Seeschiffe ausgehöhlt, wenn sämtliche Schäden an Seeschiffen unabhängig von deren Verwendung als „Großrisiken“ im Sinne von Art. 16 Nr. 5 der Verordnung anzusehen wären. Gleiches gälte für Art. 16 Nrn. 2 bis 4 der Verordnung, da diese Nummern die Risiken aus der Verwendung oder dem Betrieb von Schiffen gemäß Art. 16 Nr. 1 Buchst. a und die zusätzlichen Risiken, die mit einem der unter Art. 16 Nrn. 1 bis 3 genannten Risiken in Zusammenhang stehen, betreffen.

    42

    Ein solches Ergebnis liefe der Absicht des Unionsgesetzgebers zuwider, den Nrn. 1 bis 4 von Art. 16 der Verordnung Nr. 1215/2012 jeweils einen eigenen Inhalt beizumessen.

    43

    Art. 16 der Verordnung Nr. 1215/2012 übernimmt nämlich im Wesentlichen den Wortlaut von Art. 14 der Verordnung Nr. 44/2001. Die Nrn. 1 bis 4 von Art. 14 der Verordnung Nr. 44/2001, die zu den Nrn. 1 bis 4 von Art. 16 der Verordnung Nr. 1215/2012 wurden, waren aber in dem von der Kommission vorgelegten Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (KOM[1999] 348 endg.), der der Verordnung Nr. 44/2001 zugrunde liegt, nicht enthalten und wurden erst im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens in die Verordnung Nr. 44/2001 eingeführt; damit wurde der Begriff „Risiken“ präzisiert, auf den Art. 15 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 Bezug nimmt.

    44

    Die Erwägungen in den Rn. 39 bis 43 des vorliegenden Urteils sprechen daher für eine enge Auslegung von Art. 16 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012, wonach Schäden an Schiffen, die nicht zu gewerblichen Zwecken verwendet werden, nicht von dieser Bestimmung erfasst sind, so dass ein Schiffskaskoversicherungsvertrag über ein Sportboot, das nicht zu gewerblichen Zwecken verwendet wird, nicht unter Art. 15 Nr. 5 der Verordnung fällt.

    45

    Weitere kontextuelle Erwägungen bestätigen diese Auslegung. Denn zum einen sind Abweichungen von den Zuständigkeitsregeln in Versicherungssachen wie die nach Art. 15 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 zulässige eng auszulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Mai 2005, Société financière et industrielle du Peloux, C‑112/03, EU:C:2005:280, Rn. 31).

    46

    Zum anderen lässt sich mit der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils dargelegten Auslegung die Kohärenz mit der Anwendung des am 30. Juni 2005 geschlossenen Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen durch die Union gewährleisten.

    47

    Gemäß Abs. 2 Buchst. d Ziff. i Buchst. a der in Rn. 13 des vorliegenden Urteils angeführten Erklärung wendet die Union dieses Übereinkommen nämlich auf Versicherungsverträge an, wenn die Gerichtsstandsvereinbarung einen Versicherungsvertrag betrifft, der eines oder mehrere der als Großrisiken geltenden Risiken deckt, und zwar insbesondere Schäden an Seeschiffen aus Gefahren, die mit ihrer Verwendung zu gewerblichen Zwecken verbunden sind. Daraus folgt andererseits, dass die Union dieses Übereinkommen nicht auf Versicherungsverträge zur Deckung von Risiken anwendet, die mit der Verwendung von Seeschiffen zu nicht gewerblichen Zwecken verbunden sind.

    48

    Schließlich ist zu den mit der Verordnung Nr. 1215/2012 verfolgten Zielen festzustellen, dass aus dem 18. Erwägungsgrund der Verordnung hervorgeht, dass Klagen in Versicherungssachen durch ein gewisses Ungleichgewicht zwischen den Parteien gekennzeichnet sind, das durch die Bestimmungen von Kapitel II Abschnitt 3 dieser Verordnung ausgeglichen werden soll, indem sie Zuständigkeitsvorschriften vorsehen, die für die schwächere Partei günstiger sind als die allgemeinen Regeln (Urteil vom 9. Dezember 2021, BT [Inanspruchnahme der versicherten Person], C‑708/20, EU:C:2021:986, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    49

    So soll durch die in diesem Abschnitt 3 enthaltenen Vorschriften gewährleistet werden, dass die schwächere Partei, die die stärkere verklagen möchte, dies vor dem Gericht eines für sie leicht erreichbaren Mitgliedstaats tun kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Juni 2022, Allianz Elementar Versicherung, C‑652/20, EU:C:2022:514, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    50

    Zwar können die Parteien eines Versicherungsvertrags über „Großrisiken“ nach Art. 15 Nr. 5 in Verbindung mit Art. 16 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 durch den Abschluss von Vereinbarungen von den Zuständigkeitsvorschriften dieses Abschnitts 3 abweichen, doch ist diese Möglichkeit geschaffen worden, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass es sich bei den Parteien eines solchen Versicherungsvertrags um gleichwertige Partner handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Balta, C‑803/18, EU:C:2020:123, Rn. 39).

    51

    Denn ein besonderer Schutz ist insbesondere in den Beziehungen zwischen gewerblich im Versicherungssektor Tätigen, von denen keiner als der gegenüber den anderen Schwächere angesehen werden kann, nicht gerechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Balta, C‑803/18, EU:C:2020:123, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    52

    Anders verhält es sich im vorliegenden Fall bei Versicherungsnehmern wie den Klägern des Ausgangsverfahrens, die nicht als Gewerbetreibende handeln und einen Schiffskaskoversicherungsvertrag über ein Sportboot geschlossen haben, das zu privaten und Freizeitzwecken, nicht aber zu gewerblichen Zwecken verwendet wird.

    53

    Insoweit ist nicht im Einzelfall zu prüfen, ob jemand als „schwächere Partei“ angesehen werden kann. Wie der Gerichtshof nämlich bereits entschieden hat, würde eine einzelfallbezogene Beurteilung die Gefahr von Rechtsunsicherheit mit sich bringen und dem im 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 angeführten Ziel einer hohen Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften zuwiderlaufen (Urteil vom 27. Februar 2020, Balta, C‑803/18, EU:C:2020:123, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    54

    Daher entspricht die in Rn. 44 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung, nach der ein Schiffskaskoversicherungsvertrag über ein Sportboot, das nicht zu gewerblichen Zwecken verwendet wird, nicht unter Art. 15 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 fällt, den mit dieser Verordnung verfolgten Zielen, da bei solchen Versicherungsverträgen ein besonderer Schutz des Versicherungsnehmers gerechtfertigt ist und die Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften gewährleistet ist.

    55

    Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 15 Nr. 5 in Verbindung mit Art. 16 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass ein Schiffskaskoversicherungsvertrag über ein Sportboot, das nicht zu gewerblichen Zwecken verwendet wird, nicht unter diesen Art. 15 Nr. 5 fällt.

    Kosten

    56

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 15 Nr. 5 in Verbindung mit Art. 16 Nr. 5 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

     

    ist dahin auszulegen, dass

     

    ein Schiffskaskoversicherungsvertrag über ein Sportboot, das nicht zu gewerblichen Zwecken verwendet wird, nicht unter diesen Art. 15 Nr. 5 fällt.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Dänisch.

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