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Document 62021CJ0330

Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 22. September 2022.
The Escape Center BVBA gegen Belgische Staat.
Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen Afdeling Gent.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 98 – Befugnis der Mitgliedstaaten, auf bestimmte Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden – Anhang III Nr. 14 – Begriff ‚Überlassung von Sportanlagen‘ – Sportstudios – Einzel- oder Gruppenanleitung.
Rechtssache C-330/21.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:719

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

22. September 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 98 – Befugnis der Mitgliedstaaten, auf bestimmte Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden – Anhang III Nr. 14 – Begriff ‚Überlassung von Sportanlagen‘ – Sportstudios – Einzel- oder Gruppenanleitung“

In der Rechtssache C‑330/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen Afdeling Gent (Gericht erster Instanz Ostflandern, Abteilung Gent, Belgien) mit Entscheidung vom 20. Mai 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Mai 2021, in dem Verfahren

The Escape Center BVBA

gegen

Belgische Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen sowie der Richter M. Safjan und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der The Escape Center BVBA, vertreten durch H. Vandebergh, Advocaat,

der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, J.‑C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und A. Hanje als Bevollmächtigte,

der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Carlin und W. Roels als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 98 Abs. 2 in Verbindung mit Anhang III Nr. 14 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der The Escape Center BVBA, Betreiberin eines Sportstudios, und dem Belgische Staat (Belgischer Staat), über die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Tätigkeiten dieser Gesellschaft.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Nach Art. 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie setzt jeder Mitgliedstaat einen Mehrwertsteuernormalsatz fest, der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist, und wendet ihn an.

4

Art. 97 dieser Richtlinie bestimmt, dass der Normalsatz nicht weniger als 15 % betragen darf.

5

Art. 98 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.

(2)   Die ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien anwendbar.

…“

6

Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält das Verzeichnis der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, auf die ermäßigte Mehrwertsteuersätze gemäß Art. 98 der Richtlinie angewandt werden können, und in seiner Nr. 14 heißt es:

„Überlassung von Sportanlagen“.

Belgisches Recht

7

Nach Art. 37 § 1 der Wet van 3 juli 1969 tot invoering van het Wetboek van de belasting over de toegevoegde waarde (Gesetz vom 3. Juli 1969 zur Einführung des Mehrwertsteuergesetzbuchs) legt der König die Steuersätze sowie die Einteilung der Gegenstände und der Dienstleistungen nach diesen Steuersätzen unter Berücksichtigung der diesbezüglichen Regelungen der Europäischen Union fest.

8

Art. 1 des Koninklijk besluit nr. 20 van 20 juli 1970 tot vaststelling van de tarieven van de belasting over de toegevoegde waarde en tot indeling van de goederen en diensten bij die tarieven (Königliche Verordnung Nr. 20 vom 20. Juli 1970 zur Festlegung der Mehrwertsteuersätze und zur Einteilung der Gegenstände und Dienstleistungen nach diesen Sätzen) bestimmt, dass der Mehrwertsteuernormalsatz für die im Mehrwertsteuergesetzbuch genannten Gegenstände und Dienstleistungen 21 % beträgt und abweichend hiervon die Steuer zum ermäßigten Steuersatz von 6 % für die in Tabelle A des Anhangs dieser Königlichen Verordnung aufgeführten Gegenstände und Dienstleistungen erhoben wird. Dieser ermäßigte Steuersatz darf jedoch gemäß diesem Artikel nicht angewandt werden, wenn die in Tabelle A genannten Dienstleistungen eine Nebenleistung im Rahmen einer komplexen Vereinbarung sind, die hauptsächlich andere Dienstleistungen zum Gegenstand hat.

9

Nach Tabelle A Rubrik XXVIII des Anhangs zu besagter Königlicher Verordnung unterliegt dem Steuersatz von 6 % „[die] Bewilligung des Rechts auf Zugang zu Kultur‑, Sport- und Freizeitanlagen und Bewilligung des Rechts, diese Anlagen zu benutzen“.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

10

The Escape Center, eine mehrwertsteuerpflichtige Gesellschaft mit Gewinnerzielungsabsicht für die Tätigkeit „Sportstudios“, gewährt Personen das Recht, ihre Räumlichkeiten zu betreten und die dort vorhandenen Geräte zur Verbesserung ihrer Kondition und zum Muskelaufbau zu nutzen. Die Benutzung der Sportgeräte erfolgt einzeln oder in Gruppen, mit oder ohne eine begrenzte Anleitung. Das Angebot umfasst zudem sowohl persönliche Trainingspläne als auch Gruppenkurse.

11

Im Rahmen ihrer Tätigkeit hat die Gesellschaft stets einen Mehrwertsteuersatz von 21 % ausgewiesen. Im Hinblick auf die nationale Rechtsprechung zur Mehrwertsteuer in einer Rechtssache, an der sie nicht beteiligt war, vertrat sie jedoch die Auffassung, dass auf ihre gesamte Tätigkeit der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 6 % anstelle des normalen Satzes von 21 % Mehrwertsteuer anzuwenden sei.

12

Daher forderte The Escape Center für den Zeitraum von 2015 bis zum ersten Quartal 2018 die Erstattung der Mehrwertsteuer in Höhe der Differenz von 15 %, d. h. 48622,64 Euro. Da die Finanzverwaltung diese Sichtweise nicht teilte, erließ sie am 25. März 2019 einen bestätigenden Steuerbescheid, den die Gesellschaft beim vorlegenden Gericht, der Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen Afdeling Gent (Gericht erster Instanz Ostflandern, Abteilung Gent, Belgien) anfocht.

13

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es in Bezug auf den Steuersatz, der auf die Tätigkeit der Betreiber von Sportstudios anzuwenden sei, keine einheitliche Praxis der belgischen Finanzverwaltung gebe. Tatsächlich seien manche Prüfer der Auffassung, dass auf alle diese Tätigkeiten der normale Satz von 21 % anzuwenden sei, während andere Prüfer die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes von 6 % oder einen gewichteten Mehrwertsteuersatz akzeptierten, bei dem sie auf eine Einteilung der jeweils einem der beiden Sätze unterliegenden Tätigkeiten abstellten.

14

Außerdem lasse die niederländische Finanzverwaltung zu, dass die Dienstleistungen, etwa das Anbieten von Kursen, Einweisungen oder einer Anleitung unter den Begriff „Ermöglichung der Sportausübung“ falle, für die ein ermäßigter Steuersatz gelte. Weiter weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es angesichts der Rechtsprechung des Gerichtshofs aus dem Urteil vom 10. November 2016, Baštová (C‑432/15, EU:C:2016:855), zu der Ansicht neige, dass die Überlassung von Sportanlagen selbst dann dem ermäßigten Steuersatz unterliege, wenn die Leistung durch das Angebot einer Einzel- oder Gruppenanleitung ergänzt werde.

15

Unter diesen Umständen hat die Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen Afdeling Gent (Gericht erster Instanz Ostflandern, Abteilung Gent), die der Auffassung ist, dass für die Entscheidung des bei ihr anhängigen Rechtsstreits die Auslegung der Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie erforderlich sei, dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 98 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Anhang III Nr. 14 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass die Überlassung von Sportanlagen nur dann in den Anwendungsbereich des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes fällt, wenn dabei keine Einzel- oder Gruppenanleitung gegeben wird?

Zur Vorlagefrage

16

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 98 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren Anhang III Nr. 14 dahin auszulegen ist, dass eine Dienstleistung, die in der Überlassung von Sportgeräten eines Sportstudios und in einer Einzel- oder Gruppenanleitung besteht, einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen kann.

17

Nach Art. 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie wendet jeder Mitgliedstaat einen Mehrwertsteuernormalsatz an, der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.

18

Abweichend von diesem Grundsatz erkennt Art. 98 Abs. 1 dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu, einen oder zwei ermäßigte Mehrwertsteuersätze anzuwenden. Gemäß Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie sind die ermäßigten Mehrwertsteuersätze nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III dieser Richtlinie genannten Kategorien anwendbar.

19

Anhang III Nr. 14 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten, auf die „Überlassung von Sportanlagen“ einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden.

20

Die Mehrwertsteuerrichtlinie enthält keine Definition des Begriffs „Überlassung von Sportanlagen“ und auch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15. März 2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112 (ABl. 2011, L 77, S. 1) sieht keine Definition dieses Begriffs vor. Außerdem enthalten weder die Mehrwertsteuerrichtlinie noch die Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 insoweit einen Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten, so dass dieser Begriff autonom und einheitlich auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Oktober 2015, Saudaçor, C‑174/14, EU:C:2015:733, Rn. 53 und 54).

21

Der Gerichtshof hat den Begriff „Überlassung von Sportanlagen“ im Sinne von Anhang III Nr. 14 der Mehrwertsteuerrichtlinie jedoch bereits ausgelegt. Demnach ist er dahin zu verstehen, dass er das Recht zur Nutzung von Anlagen betrifft, die dem Sport und der Körperertüchtigung dienen, sowie ihre Überlassung zu diesem Zweck (Urteil vom 10. November 2016, Baštová, C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 65).

22

Somit können die Leistungen im Zusammenhang mit der Überlassung der für die Sportausübung und den Sportunterricht nötigen Anlagen unter Anhang III Nr. 14 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Baštová, C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 66).

23

Wie die Kommission betont, steht diese Feststellung im Einklang mit der Entscheidung des Unionsgesetzgebers, eher Anreize für die tatsächliche Sportausübung und die Körperertüchtigung zu schaffen als auf die Ausübung eines Rechts auf Zugang zu den Sportanlagen abzustellen. Der Zweck dieses Anhangs III besteht darin, die Kosten für bestimmte, als unentbehrlich erachtete Leistungen zu senken und somit dem Endverbraucher, der die Mehrwertsteuer letztlich entrichten muss, den Zugang zu ihnen zu erleichtern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2021, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Katowicach, C‑703/19, EU:C:2021:314, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). In diesem Zusammenhang dient Nr. 14 dieses Anhangs dazu, die Sportausübung zu fördern und für natürliche Personen besser zugänglich zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Baštová, C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 64).

24

Zwar fallen der Zugang zu einem Sportstudio und die Überlassung der dort vorhandenen Sportanlagen ebenso wie die Anleitung neuer Kunden im Hinblick auf eine verantwortungsbewusste Nutzung der vorhandenen Sportgeräte zweifellos unter Anhang III Nr. 14 der Mehrwertsteuerrichtlinie, doch ist darauf hinzuweisen, dass The Escape Center über den Zugang zu und die Überlassung von Sportanlagen hinaus eine individuelle Anleitung und Gruppenkurse anbietet. Daher ist zu prüfen, ob die von dieser Gesellschaft angebotenen Leistungen in ihrer Gesamtheit unter Anhang III Nr. 14 der Richtlinie fallen können, falls sie eine einheitliche Leistung bilden.

25

Eine „einheitliche Leistung“ liegt vor, wenn der Steuerpflichtige für den Verbraucher – wobei auf einen Durchschnittsverbraucher abzustellen ist – zwei oder mehr Elemente oder Handlungen erbringt, die so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre (Urteile vom 27. Oktober 2005, Levob Verzekeringen und OV Bank, C‑41/04, EU:C:2005:649, Rn. 22, sowie vom 17. Dezember 2020, Franck, C‑801/19, EU:C:2020:1049, Rn. 25).

26

Dies ist auch dann der Fall, wenn eine oder mehrere Einzelleistungen eine Hauptleistung bilden und die andere Einzelleistung oder die anderen Einzelleistungen eine oder mehrere Nebenleistungen bilden, die steuerlich wie die Hauptleistung behandelt werden. Eine Leistung ist insbesondere dann als Nebenleistung anzusehen, wenn sie für die Kundschaft keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Leistungserbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen (Urteile vom 21. Februar 2008, Part Service, C‑425/06, EU:C:2008:108, Rn. 52, und vom 19. Dezember 2018, Mailat, C‑17/18, EU:C:2018:1038, Rn. 34).

27

Insoweit ist die Tatsache ohne Belang, dass unter anderen Umständen die Bestandteile eines solchen Umsatzes isoliert erbracht werden können und nach Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie als voneinander getrennt und unabhängig angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 19. Januar 2012, Purple Parking und Airparks Services, C‑117/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:29, Rn. 31).

28

Bei der Beurteilung der Frage, ob es sich bei der Einzelanleitung und den Gruppenkursen, zu denen der Zugang zum Sportstudio ebenfalls berechtigt, um Nebenleistungen der Gewährung des Zugangs zu einer Sportanlage oder der Überlassung der dort vorhandenen Sportgeräte handelt, hat das vorlegende Gericht die charakteristischen Merkmale des betreffenden Umsatzes zu ermitteln und dabei alle Umstände zu berücksichtigen, unter denen dieser bewirkt wird (Beschluss vom 19. Januar 2012, Purple Parking und Airparks Services, C‑117/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:29, Rn. 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Zwar ist die Vornahme solcher Beurteilungen Sache des vorlegenden Gerichts, doch der Gerichtshof kann ihm alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die von Nutzen sein können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 2013, Žamberk, C‑18/12, EU:C:2013:95, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 8. Dezember 2016, Stock ’94, C‑208/15, EU:C:2016:936, Rn. 30).

30

Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass Dienstleistungen, die mit der Sportausübung und der Körperertüchtigung zusammenhängen, möglichst als Gesamtheit zu würdigen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Januar 2015, Régie communale autonome du stade Luc Varenne, C‑55/14, EU:C:2015:29, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Insoweit ist mit der niederländischen Regierung festzustellen, dass bestimmte körperliche Aktivitäten, die in Sportstudios ausgeübt werden, zwangsläufig eine diese Ausübung ermöglichende Einweisung erfordern oder nur in einem Gruppenkurs ausgeübt werden können. Somit stellen der Zugang zu einem Sportstudio, das die Ausübung dieser körperlichen Aktivitäten anbietet, die individuelle Einweisung und die Gruppenkurse, an denen die zugangsberechtigten Personen teilnehmen dürfen, miteinander verbundene Elemente dar, die grundsätzlich eine einzige Leistung bilden. Dies ist jedoch, worauf die finnische Regierung hinweist, nicht der Fall, wenn es bei der Einzelanleitung oder dem Gruppenkurs in einem Sportstudio nicht um die übliche Einweisung oder Anleitung für bestimmte körperliche Aktivitäten geht, sondern im Wesentlichen um das Unterrichten oder Trainieren einer Sportart.

32

Im Übrigen stellt es ein wichtiges Indiz für das Vorliegen einer einheitlichen Leistung dar, wenn die den Kunden angebotenen Varianten sowohl Zugang zu den Räumlichkeiten des Sportstudios, in denen die Sportausübung und die Körperertüchtigung stattfinden, als auch zu den Gruppenkursen gewähren, ohne in Bezug auf die tatsächlich genutzten Geräte und eine etwaige Teilnahme an den Gruppenkursen zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang wäre es mit den vom Mehrwertsteuersystem verfolgten Zielen, nämlich der Gewährleistung von Rechtssicherheit sowie der korrekten und einfachen Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes in Bezug auf die Nutzung der Sportanlagen, unvereinbar, wenn die Absicht jedes einzelnen Besuchers in Bezug auf die Benutzung der ihm zur Verfügung gestellten Infrastruktur oder auf die Teilnahme an den vom Betreiber angebotenen Gruppenkursen berücksichtigt würde. Um die mit der Anwendung der Mehrwertsteuer verbundenen Maßnahmen zu erleichtern, ist von Ausnahmefällen abgesehen auf die objektive Natur des betreffenden Umsatzes abzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Februar 2013, Žamberk, C‑18/12, EU:C:2013:95, Rn. 32 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Vorbehaltlich der letztlich vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Würdigung ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Angaben, wie sie im Vorabentscheidungsersuchen dargestellt sind, dass es sich bei der Einzelanleitung und den Gruppenkursen, an denen teilnehmen darf, wer Zugang zu dem von The Escape Center betriebenen Sportstudio hat, um Nebenleistungen zur Überlassung der dort vorhandenen Sportgeräte oder deren tatsächlichen Nutzung handelt.

34

Dem ist noch hinzuzufügen, dass ein Mitgliedstaat, wenn er von der ihm in Art. 98 Abs. 1 und 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie eröffneten Möglichkeit Gebrauch macht, auf eine Kategorie von Dienstleistungen im Sinne von Anhang III dieser Richtlinie einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, unter der Voraussetzung, dass der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird, die Anwendung dieses ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf konkrete und spezifische Aspekte dieser Kategorie beschränken kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich, C‑94/09, EU:C:2010:253, Rn. 28, sowie vom 9. September 2021, Phantasialand, C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Die belgische Regierung weist darauf hin, dass der belgische Gesetzgeber durch Art. 1 der Königlichen Verordnung Nr. 20 vom 20. Juli 1970 und Tabelle A Rubrik XXVIII des Anhangs zu dieser Königlichen Verordnung eine solche Beschränkung eingeführt hat, um die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nur für die Gewährung des Zugangs zu den Sportanlagen und für ihre Nutzung vorzusehen, jedoch weder für eine etwaige Einzel- oder Gruppenanleitung noch für eine Einweisung in Form von Kursen. Folglich gilt – wie aus dem besonderen Anwendungserlass für den Betrieb eines „Fitnesscenters“ vom 24. Juli 1984 hervorgeht – dann, wenn der Betreiber eines Sportstudios den Personen, die dort die verschiedenen Tätigkeiten ausüben, Unterricht anbietet, für die Dienstleistungen dieses Betreibers der normale Mehrwertsteuersatz.

36

Nach Auffassung der belgischen Regierung erfüllt diese selektive Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes die in Rn. 34 des vorliegenden Urteils erwähnte und von der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelte doppelte Voraussetzung, wonach die nationale Regelung zum einen die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nur auf konkrete und spezifische Aspekte der in Rede stehenden Dienstleistungskategorie beschränken darf und zum anderen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten muss (Urteile vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich, C‑94/09, EU:C:2010:253, Rn. 30, sowie vom 27. Februar 2014, Pro Med Logistik und Pongratz, C‑454/12 und C‑455/12, EU:C:2014:111, Rn. 45).

37

Zwar hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob im konkreten Fall eine selektive Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes vorliegt, doch gemäß den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ist dies hier nicht der Fall.

38

Zum einen nämlich vermögen die von der belgischen Regierung angeführten Bestimmungen der Königlichen Verordnung unter den von der Kategorie in Anhang III Nr. 14 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallenden Dienstleistungen nicht diejenigen genauer zu bestimmen, auf die der ermäßigte Mehrwertsteuersatz Anwendung findet. Da diese Bestimmungen im Wesentlichen den Wortlaut dieses Anhangs III Nr. 14 wiedergeben, sind sie nicht geeignet, die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf konkrete und spezifische Aspekte der in Rede stehenden Dienstleistungskategorie zu beschränken.

39

Zum anderen ist in Bezug auf den besonderen Anwendungserlass für den Betrieb eines „Fitnesscenters“ vom 24. Juli 1984 darauf hinzuweisen, dass dieser wohl nur eine Verwaltungspraxis widerspiegelt, da die belgische Regierung nicht geltend macht, sie habe mit ihm eine selektive Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes umgesetzt. Überdies enthält das Vorabentscheidungsersuchen keine Ausführungen des vorlegenden Gerichts zu diesem Anwendungserlass und stellt in Bezug auf den die Tätigkeit der Betreiber von Sportstudios anzuwendenden ermäßigten Steuersatz eine andere Praxis der Finanzverwaltung dar.

40

Letztlich ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die Art und die Tragweite der Königlichen Verordnung und des Anwendungserlasses im nationalen Recht zu prüfen.

41

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 98 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren Anhang III Nr. 14 dahin auszulegen ist, dass eine Dienstleistung, die in der Überlassung von Sportgeräten eines Sportstudios und in einer Einzel- oder Gruppenanleitung besteht, einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterworfen werden kann, wenn diese Anleitung mit der Nutzung dieser Anlagen verbunden und für die Sportausübung und die Körperertüchtigung erforderlich ist oder wenn es sich bei der Anleitung um eine Nebenleistung zur Überlassung dieser Sportanlagen oder ihrer tatsächlichen Nutzung handelt.

Kosten

42

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 98 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit deren Anhang III Nr. 14

 

ist dahin auszulegen, dass

 

eine Dienstleistung, die in der Überlassung von Sportgeräten eines Sportstudios und in einer Einzel- oder Gruppenanleitung besteht, einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterworfen werden kann, wenn diese Anleitung mit der Nutzung dieser Anlagen verbunden und für die Sportausübung und die Körperertüchtigung erforderlich ist oder wenn es sich bei der Anleitung um eine Nebenleistung zur Überlassung dieser Sportanlagen oder ihrer tatsächlichen Nutzung handelt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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