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Document 62021CJ0289

    Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 24. November 2022.
    IG gegen Varhoven administrativen sad.
    Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Nationale Verfahrensvorschrift, wonach eine Klage zur Anfechtung der Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung mit dem Unionsrecht gegenstandslos wird, wenn die Bestimmung im Laufe des Verfahrens aufgehoben wird.
    Rechtssache C-289/21.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:920

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

    24. November 2022 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Nationale Verfahrensvorschrift, wonach eine Klage zur Anfechtung der Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung mit dem Unionsrecht gegenstandslos wird, wenn die Bestimmung im Laufe des Verfahrens aufgehoben wird“

    In der Rechtssache C‑289/21

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 5. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Mai 2021, in dem Verfahren

    IG

    gegen

    Varhoven administrativen sad

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, der Richter D. Gratsias (Berichterstatter), M. Ilešič, I. Jarukaitis und Z. Csehi,

    Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

    Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. April 2022,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von IG, vertreten durch G. Chernicherska und A. Slavchev, Advokati,

    des Varhoven administrativen sad, vertreten durch A. Adamova-Petkova, T. Kutsarova-Hristova und M. Semov,

    der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Erlbacher und G. Koleva als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juni 2022

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen IG und dem Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) wegen des Ersatzes des Schadens, den IG angeblich aufgrund einer Entscheidung dieses nationalen Gerichts erlitten hat, mit der festgestellt wurde, dass die von IG gegen eine nationale Verordnungsvorschrift erhobene Klage infolge der Änderung der angefochtenen Bestimmung gegenstandslos geworden ist.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Art. 9 („Verbrauchserfassung“) der Richtlinie 2012/27/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur Energieeffizienz, zur Änderung der Richtlinien 2009/125/EG und 2010/30/EU und zur Aufhebung der Richtlinien 2004/8/EG und 2006/32/EG (ABl. 2012, L 315, S. 1) sieht vor:

    „(1)   Soweit es technisch machbar, finanziell vertretbar und im Vergleich zu den potenziellen Energieeinsparungen verhältnismäßig ist, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass alle Endkunden in den Bereichen Strom, Erdgas, Fernwärme, Fernkälte und Warmbrauchwasser individuelle Zähler zu wettbewerbsfähigen Preisen erhalten, die den tatsächlichen Energieverbrauch des Endkunden genau widerspiegeln und Informationen über die tatsächliche Nutzungszeit bereitstellen.

    Ein solcher individueller Zähler zu einem wettbewerbsfähigen Preis ist stets bereitzustellen, wenn:

    a)

    ein bestehender Zähler ersetzt wird, außer in Fällen, in denen dies technisch nicht machbar oder im Vergleich zu den langfristig geschätzten potenziellen Einsparungen nicht kostenwirksam ist;

    b)

    neue Gebäude mit neuen Anschlüssen ausgestattet oder Gebäude größeren Renovierungen im Sinne der Richtlinie 2010/31/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden (ABl. 2010, L 153, S. 13)] unterzogen werden.

    (3)   …

    Werden Gebäude mit mehreren Wohnungen über ein Fernwärme- oder Fernkältenetz versorgt oder sind eigene gemeinsame Wärme- oder Kälteerzeugungsanlagen für diese Gebäude vorhanden, so können die Mitgliedstaaten transparente Regeln für die Verteilung der Kosten des thermischen Verbrauchs oder des Warmwasserverbrauchs in diesen Gebäuden einführen, um die Transparenz und die Genauigkeit der Abrechnung des individuellen Verbrauchs zu gewährleisten. Solche Regeln enthalten gegebenenfalls Leitlinien für die Art und Weise der Zurechnung der Kosten für den Wärme- und/oder Warmwasserverbrauch in folgenden Fällen:

    a)

    Warmwasser für den Haushaltsbedarf;

    b)

    von den Verteilungseinrichtungen des Gebäudes abgestrahlte Wärme und für die Beheizung von Gemeinschaftsflächen verwendete Wärme (sofern Treppenhäuser und Flure mit Heizkörpern ausgestattet sind);

    c)

    zum Zwecke der Beheizung von Wohnungen.“

    4

    Ausweislich seiner Überschrift betrifft Art. 10 der Richtlinie 2012/27 „Abrechnungsinformationen“.

    Bulgarisches Recht

    Energiegesetz

    5

    Art. 155 des Zakon za energetikata (Energiegesetz, DV Nr. 107 vom 9. Dezember 2003) bestimmt in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung:

    „(1)   … Kunden, die Wärmeenergie in einem in gemeinschaftlichem Wohneigentum stehenden Gebäude verbrauchen, zahlen die verbrauchte Wärmeenergie nach ihrer Wahl auf eine der nachfolgend genannten Arten:

    1.

    … in elf pauschalen Monatsraten und einer berichtigenden Monatsrate;

    2.

    in Monatsraten, die auf der Grundlage des für das Gebäude erwarteten Verbrauchs berechnet werden, und einer berichtigenden Monatsrate;

    3.

    auf der Grundlage des tatsächlichen Verbrauchs.

    (2)   … Das Wärmeversorgungsunternehmen oder der Lieferant von Wärmeenergie stellt die Menge der verbrauchten Wärmeenergie auf der Grundlage des tatsächlichen Verbrauchs mindestens einmal pro Jahr in Rechnung.

    (3)   … Die Regeln für die Bestimmung des vorgesehenen Verbrauchs und die Verrechnung der gezahlten Beträge im Verhältnis zu der für jeden Kunden tatsächlich verbrauchten Wärmeenergie werden durch [Verordnung] festgelegt …“

    Verordnung über die Fernwärmeversorgung

    6

    Art. 61 Abs. 1 der Naredba Nr. 16-334 za toplosnabdyavaneto (Verordnung Nr. 16-334 über die Fernwärmeversorgung) vom 6. April 2007 (DV Nr. 34 vom 24. April 2007) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Verordnung über die Fernwärmeversorgung) bestimmte:

    „… Die Aufteilung des Wärmeenergieverbrauchs in einem in gemeinschaftlichem Wohneigentum stehenden Gebäude erfolgt … gemäß den Anforderungen dieser Verordnung und ihres Anhangs.“

    7

    Der Anhang der Verordnung über die Fernwärmeversorgung legte die Berechnungsmethode für die Aufteilung des Wärmeenergieverbrauchs in Gebäuden, die in gemeinschaftlichem Wohneigentum stehen, fest.

    Verwaltungsprozessordnung

    8

    Art. 156 des Administrativnoprotsesualen kodeks (Verwaltungsprozessordnung) (DV Nr. 30 vom 11. April 2006) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Verwaltungsprozessordnung) bestimmt:

    „(1)   … Mit Zustimmung der weiteren Beklagten und der betroffenen Parteien, die durch den angefochtenen Rechtsakt begünstigt werden, kann die Verwaltungsbehörde den angefochtenen Rechtsakt ganz oder teilweise zurücknehmen bzw. den Rechtsakt erlassen, dessen Erlass sie zuvor abgelehnt hat.

    (2)   Die Zustimmung des Klägers ist auch dann erforderlich, wenn der Rechtsakt nach der ersten mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden soll.

    (3)   Ein zurückgenommener Rechtsakt kann nur dann erneut erlassen werden, wenn neue Umstände vorliegen.

    (4)   Ist mit einem Rechtsbehelf gegen einen Rechtsakt eine Schadensersatzklage verbunden, wird das Verfahren in Bezug auf diese Klage weitergeführt.“

    9

    Art. 187 der Verwaltungsprozessordnung bestimmt:

    „(1)   Rechtsbehelfe gegen untergesetzliche normative Rechtsakte unterliegen keinen Fristen.

    (2)   Wurde gegen einen untergesetzlichen normativen Rechtsakt aus denselben Gründen bereits ein Rechtsbehelf eingelegt, ist ein weiterer Rechtsbehelf unzulässig.“

    10

    Art. 195 der Verwaltungsprozessordnung lautet:

    „(1)   Ein untergesetzlicher normativer Rechtsakt gilt ab dem Tag als aufgehoben, an dem die entsprechende Gerichtsentscheidung rechtskräftig wird.

    (2)   Wird ein untergesetzlicher normativer Rechtsakt für nichtig erklärt oder auf Anfechtung aufgehoben, legt die zuständige Behörde von Amts wegen innerhalb einer Frist von höchstens drei Monaten ab Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung die entsprechenden Rechtsfolgen fest.“

    11

    Nach Art. 204 Abs. 3 der Verwaltungsprozessordnung ist die Rechtswidrigkeit eines zurückgenommenen Verwaltungsrechtsakts, durch den ein Schaden verursacht wurde, von dem Gericht festzustellen, bei dem die Schadensersatzklage erhoben wurde.

    12

    Art. 221 Abs. 4 der Verwaltungsprozessordnung lautet:

    „Nimmt die Verwaltungsbehörde mit Zustimmung der weiteren Beklagten den Verwaltungsrechtsakt zurück oder erlässt sie den Rechtsakt, dessen Erlass sie abgelehnt hatte, hebt der [Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht)] die aufgrund dieses Rechtsakts oder dieser Ablehnung ergangene gerichtliche Entscheidung wegen Verfahrensfehlers auf und beendet das Verfahren.“

    Gesetz über die Haftung des Staates und der Gemeinden für Schäden

    13

    Art. 1 des Zakon za otgovornostta na darzhavata i obshtinite za vredi (Gesetz über die Haftung des Staates und der Gemeinden für Schäden, DV Nr. 60 vom 5. August 1988) sieht vor:

    „(1)   … Der Staat und die Gemeinden haften für Schäden, die natürlichen und juristischen Personen infolge von rechtswidrigen Rechtsakten, Handlungen oder Unterlassungen ihrer Organe oder Bediensteten bei oder anlässlich der Ausübung von deren Verwaltungstätigkeit entstanden sind …

    (2)   … Klagen nach Abs. 1 werden in dem Verfahren nach der Verwaltungsprozessordnung behandelt …“

    Ausgangsrechtsstreit und Vorabentscheidungsfragen

    14

    IG erhob beim Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) Klage gegen Nr. 6.1.1 des Anhangs der Verordnung über die Fernwärmeversorgung (im Folgenden: in Rede stehende nationale Bestimmung).

    15

    Der mit drei Richtern besetzte Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) gab mit Entscheidung vom 13. April 2018 der Klage statt und erklärte die in Rede stehende nationale Bestimmung mit der Begründung für nichtig, dass mit ihr das Ziel der Art. 9 und 10 der Richtlinie 2012/27, die Fernwärmeenergie auf der Grundlage des tatsächlichen Verbrauchs abzurechnen, die durch Art. 155 Abs. 2 des Energiegesetzes in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung in bulgarisches Recht umgesetzt worden seien, nicht erreicht werden könne.

    16

    Der Ministar na energetikata (Minister für Energie, Bulgarien) legte gegen die in der vorstehenden Randnummer genannte Entscheidung bei dem mit fünf Richtern besetzten Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) Kassationsbeschwerde ein.

    17

    Mit einer im Darzhaven vestnik vom 20. September 2019 veröffentlichten Verordnung änderte der bulgarische Gesetzgeber die in Rede stehende nationale Bestimmung.

    18

    Mit Entscheidung vom 11. Februar 2020 stellte der mit fünf Richtern besetzte Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) fest, dass die in Rede stehende nationale Bestimmung durch eine spätere Bestimmung, die dieselben Beziehungen regele, geändert worden sei. Aus diesem Grund hob dieses Gericht seine Entscheidung vom 13. April 2018 auf und stellte fest, dass der bei ihm anhängige Rechtsstreit gegenstandslos geworden sei. Nach bulgarischem Recht sei die Möglichkeit, gegen untergesetzliche normative Rechtsakte vorzugehen, keiner Frist unterworfen, betreffe allerdings nur geltende, jedoch nicht aufgehobene oder geänderte Rechtsakte, die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über die Begründetheit nicht mehr in Kraft seien. Diese Entscheidung vom 11. Februar 2020 ist rechtskräftig.

    19

    IG erhob daraufhin beim vorlegenden Gericht, dem Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien), Klage gegen den Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) auf Ersatz des materiellen und des immateriellen Schadens, den er aufgrund der Entscheidung des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) vom 11. Februar 2020 erlitten habe. Zur Begründung seiner Klage bringt er vor, der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) habe mit dieser Entscheidung festgestellt, dass die in Rede stehende nationale Bestimmung in Kraft gewesen sei und ihre Wirkungen für den Zeitraum zwischen der Erhebung seiner Klage und der Aufhebung dieser Bestimmung entfalten müsse. IG macht geltend, er sei dadurch des ihm durch Art. 47 der Charta garantierten Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz sowie des Rechts auf Anwendung der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz beraubt worden. Er bestreitet zudem, dass die Rechtsprechung des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht), wonach die Änderung eines normativen Rechtsakts mit dessen Rücknahme gleichzusetzen sei, zutreffend sei.

    20

    Der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) macht geltend, dass eine Entscheidung wie seine Entscheidung vom 11. Februar 2020, mit der festgestellt werde, dass der bei ihm anhängige Rechtsstreit gegenstandslos geworden sei, nicht ausschließe, dass der in Rede stehende Rechtsakt einer Rechtmäßigkeitskontrolle unterzogen werden könne. Es sei nämlich möglich, Art. 204 Abs. 3 der Verwaltungsprozessordnung anzuwenden, wonach im Fall von durch einen zurückgenommenen Verwaltungsakt verursachten Schäden das Gericht, bei dem die Schadensersatzklage erhoben worden sei, zuständig sei, die Rechtswidrigkeit dieses Verwaltungsakts festzustellen. Folglich sei das Recht von IG auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet, da er stets den Ersatz des Schadens verlangen könne, den er durch den Erlass der in Rede stehenden nationalen Bestimmung erlitten habe.

    21

    Das vorlegende Gericht führt aus, dass es für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits eine Auslegung von Art. 47 der Charta benötige. Insbesondere fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Änderung einer Bestimmung eines nationalen normativen Rechtsakts, die vor ihrer Änderung Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung gewesen sei, mit der ihre Unionsrechtswidrigkeit festgestellt worden sei, das mit der Überprüfung dieser Entscheidung befasste Gericht von seiner Verpflichtung entbinde, die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Unionsrecht in ihrer vor ihrer Änderung geltenden Form zu beurteilen. Es sei auch zu klären, ob die Tatsache, dass die in Rede stehende nationale Bestimmung unter solchen Umständen als zurückgenommen anzusehen sei, den Schluss zulasse, dass dem Einzelnen dadurch, dass er die Rechtmäßigkeit vor der Rücknahme bestritten habe, ein wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe, und ob die im nationalen Recht vorgesehene Möglichkeit, die Vereinbarkeit dieser nationalen Bestimmung mit dem Unionsrecht nur im Rahmen einer Klage auf Ersatz der Schäden zu beurteilen, die dem Einzelnen durch den Erlass dieser nationalen Bestimmung entstanden seien, einen solchen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf darstelle. Das vorlegende Gericht führt aus, dass es insoweit Zweifel habe, da dieselbe nationale Bestimmung in der Fassung vor ihrer Änderung weiterhin für Rechtsverhältnisse gelte, die während des Zeitraums entstanden seien, in dem sie in Kraft gewesen sei, während ein zurückgenommener Verwaltungsakt keine Rechtswirkung entfalte.

    22

    Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Wird das Kassationsgericht durch die Änderung einer Vorschrift eines nationalen normativen Rechtsakts, die zuvor vom Berufungsgericht für mit einer geltenden Bestimmung des Unionsrechts unvereinbar erklärt wurde, von der Verpflichtung befreit, die vor der Änderung geltende Vorschrift zu prüfen bzw. zu beurteilen, ob sie mit dem Unionsrecht vereinbar ist?

    2.

    Stellt die Annahme, dass die fragliche Vorschrift zurückgenommen worden sei, einen wirksamen Rechtsbehelf für durch das Unionsrecht garantierte Rechte und Freiheiten (hier die Art. 9 und 10 der Richtlinie 2012/27) dar, bzw. stellt es einen solchen Rechtsbehelf dar, wenn die im nationalen Recht vorgesehene Möglichkeit, zu prüfen, ob die betreffende nationale Vorschrift vor ihrer Änderung mit dem Unionsrecht vereinbar war, nur dann besteht, wenn das Gericht mit einer konkreten Schadensersatzklage wegen dieser Vorschrift angerufen wird, und nur in Bezug auf die Person, die die Klage erhoben hat?

    3.

    Falls die zweite Frage bejaht wird: Ist es zulässig, dass die fragliche Vorschrift in dem Zeitraum vom Erlass bis zur Änderung weiterhin die Rechtsverhältnisse für einen unbegrenzten Kreis von Personen regelt, die keine Schadensersatzklagen wegen der Vorschrift erhoben haben, bzw. dass die Beurteilung der Vereinbarkeit der nationalen Norm mit der unionsrechtlichen Norm für die Zeit vor der Änderung nicht in Bezug auf diese Personen vorgenommen wurde?

    Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

    23

    In seinen schriftlichen Erklärungen macht der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) erstens geltend, dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei, weil es entgegen den Vorgaben von Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs weder eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts habe, noch den Zusammenhang enthalte, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstelle; ein solcher Zusammenhang fehle jedenfalls.

    24

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung in dem Verfahren nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist. Ebenso hat nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 17. Mai 2022, SPV Project 1503 u. a., C‑693/19 und C‑831/19, EU:C:2022:395, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    25

    Ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts kann demnach nur dann zurückgewiesen werden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits in keinem Zusammenhang steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 17. Mai 2022, SPV Project 1503 u. a., C‑693/19 und C‑831/19, EU:C:2022:395, Rn. 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    26

    Im vorliegenden Fall geht aus den in den Rn. 14 bis 21 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass dieses Gericht mit einer Schadensersatzklage befasst ist, die von IG erhoben wurde und auf den Ersatz des Schadens gerichtet ist, den er angeblich dadurch erlitten hat, dass der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) es unterlassen hat, über die von IG erhobene Klage auf Nichtigerklärung der in Rede stehenden nationalen Bestimmung in letzter Instanz zu entscheiden.

    27

    Nach diesen Angaben hatte IG zur Stützung dieser Nichtigkeitsklage geltend gemacht, dass die in Rede stehende nationale Bestimmung nicht mit den Bestimmungen der Richtlinie 2012/27 im Einklang stehe, was im Übrigen der mit drei Richtern besetzte Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) in seiner dieser Klage stattgebenden Entscheidung vom 13. April 2018 festgestellt habe. Das vorlegende Gericht führt weiter aus, IG mache zur Stützung seiner Schadensersatzklage geltend, dass der mit fünf Richtern besetzte Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) dadurch, dass er gemäß den Bestimmungen des bulgarischen Verfahrensrechts entschieden habe, dass seine Nichtigkeitsklage infolge der Aufhebung der in Rede stehenden nationalen Bestimmung gegenstandslos geworden sei, gegen das Unionsrecht verstoßen habe, da er das in Art. 47 der Charta verankerte Recht von IG auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verletzt habe. Dieser Verstoß gegen das Unionsrecht liege dem Schaden zugrunde, den IG behauptet, erlitten zu haben, und dessen Ersatz er vor dem vorlegenden Gericht begehrt.

    28

    Diese Angaben ermöglichen es, sowohl die Gründe, warum das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung des Unionsrechts hat, als auch den Zusammenhang zu verstehen, den es zwischen dem Unionsrecht und insbesondere den Verfahrensvorschriften des bulgarischen Rechts herstellt, die den mit fünf Richtern besetzten Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) zu der Feststellung geführt haben, dass die Nichtigkeitsklage von IG gegenstandslos geworden sei, wodurch IG seiner Auffassung nach einen Schaden erlitten hat.

    29

    Daraus folgt, dass das Vorabentscheidungsersuchen den Vorgaben von Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung entspricht.

    30

    Was zweitens das Vorbringen des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) betrifft, wonach das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei, weil es darauf abziele, die Rechtskraft der Entscheidung dieses Gerichts vom 11. Februar 2020 in Frage zu stellen, genügt der Hinweis, dass der Ausgangsrechtsstreit den Ersatz des Schadens betrifft, den IG angeblich aufgrund dieser Entscheidung, die nach Ansicht von IG unionsrechtswidrig ist, erlitten hat. Die Anerkennung des Grundsatzes der Staatshaftung für Entscheidungen letztinstanzlicher Gerichte wegen der Verletzung von Unionsrecht stellt jedoch die Rechtskraft einer solchen Entscheidung nicht in Frage (Urteil vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 39).

    31

    Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten und zur zweiten Frage

    32

    Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 47 der Charta sowie die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Verfahrensvorschrift eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach der Rechtsstreit als gegenstandslos angesehen wird, wenn eine Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die mit einer Nichtigkeitsklage mit der Begründung, sie sei unionsrechtswidrig, angefochten wird, aufgehoben wird und daher keine Wirkungen mehr für die Zukunft entfaltet, so dass die Hauptsache erledigt ist.

    33

    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es mangels einschlägiger Unionsregeln nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der zum Schutz der Rechte der Bürger dienenden Rechtsbehelfe festzulegen, wobei diese jedoch nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände], C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    34

    Wie der Generalanwalt in Nr. 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch hervor, dass der durch Art. 47 der Charta gewährleistete Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes als solcher nicht verlangt, dass es einen eigenständigen Rechtsbehelf gibt, der mit dem Hauptantrag auf die Feststellung gerichtet ist, dass nationale Vorschriften gegen Bestimmungen des Unionsrechts verstoßen, sofern es einen oder mehrere Rechtsbehelfe gibt, mit denen inzident die Wahrung der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden kann (Urteile vom 13. März 2007, Unibet, C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 47, und vom 24. September 2020, YS [Betriebspensionen leitender Angestellter], C‑223/19, EU:C:2020:753, Rn. 96).

    35

    Insbesondere hat der Gerichtshof entschieden, dass die volle Wirksamkeit des Unionsrechts und der wirksame Schutz der dem Einzelnen nach dem Unionsrecht zustehenden Rechte gegebenenfalls durch den dem System der Verträge, auf denen die Union beruht, innewohnenden Grundsatz der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, gewährleistet werden können (Urteil vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe, C‑752/18, EU:C:2019:1114, Rn. 54).

    36

    Die erste und die zweite Frage des vorlegenden Gerichts betreffen jedoch den Fall eines Mitgliedstaats, der sich dafür entschieden hat, in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung einen selbständigen Rechtsbehelf vorzusehen, der es ermöglicht, die Nichtigerklärung einer nationalen Bestimmung u. a. wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu verlangen, wobei zugleich vorgesehen ist, dass im Fall der Aufhebung dieser Bestimmung davon auszugehen ist, dass die Nichtigkeitsklage gegenstandslos geworden ist, so dass die Hauptsache erledigt ist.

    37

    Zur Beantwortung dieser Fragen ist daher unter Berücksichtigung der in den Rn. 33 bis 35 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zu prüfen, ob eine solche nationale Verfahrensregelung mit den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität vereinbar ist.

    38

    Was erstens den Äquivalenzgrundsatz betrifft, steht eine nationale Verfahrensvorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende im Einklang mit diesem Grundsatz, sofern sie unterschiedslos für jede Klage auf Nichtigerklärung einer nationalen Bestimmung unabhängig von ihrer Grundlage und nicht nur für Klagen gilt, die darauf gestützt werden, dass die angefochtene Bestimmung unionsrechtswidrig sei.

    39

    Im vorliegenden Fall ergibt sich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 52 und 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass die Verfahrensvorschrift, die den Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) zu der Entscheidung veranlasst hat, dass die Nichtigkeitsklage von IG gegenstandslos geworden sei, nicht ausschließlich auf Klagen auf Nichtigerklärung einer nationalen Bestimmung anwendbar ist, die auf unionsrechtliche Gründe gestützt sind. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies tatsächlich der Fall ist.

    40

    Vorbehaltlich dieser Prüfung scheint eine solche nationale Verfahrensregel mit dem Äquivalenzprinzip in Einklang zu stehen.

    41

    Was zweitens die Vereinbarkeit einer nationalen Verfahrensvorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit dem Effektivitätsgrundsatz betrifft, ist zwar festzustellen, dass die Aufhebung einer Bestimmung des nationalen Rechts rechtlich nicht die gleiche Wirkung hat wie ihre Nichtigerklärung.

    42

    Denn während die Aufhebung einer solchen Bestimmung nur für die Zukunft (ex nunc) wirkt, so dass sie durch die aufgehobene Bestimmung erzeugte Rechtswirkungen für bestehende Sachverhalte nicht in Frage stellt, erfolgt die Nichtigerklärung einer nationalen Rechtsvorschrift rückwirkend (ex tunc) grundsätzlich ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses, so dass ihre Wirkungen für bestehende Sachverhalte ab diesem Zeitpunkt entfallen.

    43

    Dies vorausgeschickt, ist ferner darauf hinzuweisen, dass nicht ausgeschlossen ist, dass die im Laufe des Verfahrens erfolgende Aufhebung einer Bestimmung des nationalen Rechts, deren Nichtigerklärung ein Kläger begehrt, für diesen Kläger unter Berücksichtigung seiner besonderen Situation die gleichen Rechtswirkungen hat wie die von ihm begehrte Nichtigerklärung.

    44

    Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn dieser Kläger mit seiner Nichtigkeitsklage nur erreichen will, dass die angefochtene Bestimmung in Zukunft keine Rechtswirkungen entfaltet, die er als nachteilig ansieht, während ihn die möglichen bereits erzeugten Wirkungen dieser Bestimmung nicht betreffen.

    45

    Somit kann in dem in den beiden vorstehenden Randnummern angesprochenen Fall nicht davon ausgegangen werden, dass der Effektivitätsgrundsatz einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das mit der Nichtigkeitsklage gegen die aufgehobene Bestimmung befasste Gericht die Erledigung der Hauptsache feststellt, weil diese Klage gegenstandslos geworden ist. In einem solchen Fall wäre es nämlich übertrieben, vom zuständigen nationalen Gericht zu verlangen, über die Begründetheit des Rechtsstreits zu entscheiden, obwohl der Kläger durch die Aufhebung der angefochtenen Bestimmung bereits das Ergebnis erzielt hat, das er mit der Erhebung seiner Nichtigkeitsklage erreichen wollte.

    46

    Es ist jedoch auch möglich, dass ein Kläger mit dem Antrag auf Nichtigerklärung einer nationalen Bestimmung auch die Nichtigerklärung der Rechtswirkungen begehrt, die sich aus der Anwendung dieser Bestimmung ergeben und die ihn beschweren würden. In einem solchen Fall würde die bloße Aufhebung dieser Bestimmung nicht dazu führen, dass diese früheren Wirkungen entfallen; die Anwendung einer nationalen Verfahrensvorschrift, nach der der Rechtsstreit beendet wird, weil er gegenstandslos geworden ist, kann in einer solchen Situation den Kläger eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes berauben.

    47

    Diese Schlussfolgerung lässt nicht allein damit in Frage stellen, dass der betreffende Mitgliedstaat nach der in Rn. 34 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht verpflichtet war, in seinem innerstaatlichen Recht eine eigenständige Klage vorzusehen, mit der die Vereinbarkeit nationaler Bestimmungen mit dem Unionsrecht angefochten werden kann, oder damit, dass dieses innerstaatliche Recht eine Klage auf Ersatz des Schadens vorsieht, der durch die Anwendung einer unionsrechtswidrigen nationalen Bestimmung entstanden sein soll.

    48

    Hierzu ist festzustellen, dass die Rechtsunterworfenen zwischen den unterschiedlichen Rechtsbehelfen, die das innerstaatliche Recht gegebenenfalls vorsieht, denjenigen wählen müssen, der ihrer Ansicht nach ihren Zielen am besten entspricht und für den sie ihre Mittel aufwenden werden.

    49

    Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich ein Einzelner, der sich durch die Wirkungen, die sich aus der Anwendung einer angeblich nicht richtlinienkonformen nationalen Bestimmung ergeben, geschädigt fühlt, entschließt, zur Beseitigung dieser Wirkungen statt einer Schadensersatzklage gegen den betreffenden Mitgliedstaat eine Nichtigkeitsklage gegen die betreffende Bestimmung zu erheben, wenn ein solcher Rechtsbehelf im innerstaatlichen Recht vorgesehen ist.

    50

    Die Nichtigerklärung der nationalen Bestimmung, die gegen die fragliche Richtlinie verstößt, wird nämlich auch zur rückwirkenden Beseitigung der von dieser Bestimmung erzeugten Rechtswirkungen führen, was dieser Einzelne gegebenenfalls als Ersatz des durch diese Rechtswirkungen entstandenen Schadens einem durch den betreffenden Mitgliedstaat zu leistenden Schadensersatz vorziehen wird.

    51

    Aus den in den Rn. 48 und 49 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen ergibt sich somit, dass die Situation eines Klägers, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, dessen innerstaatliches Recht keinen eigenständigen Rechtsbehelf vorsieht, der mit dem Hauptantrag auf die Feststellung gerichtet ist, dass eine nationale Bestimmung gegen Unionsrecht verstößt, nicht mit der Situation von Rechtsunterworfenen in einem anderen Mitgliedstaat verglichen werden kann, dessen innerstaatliches Verfahrensrecht einen solchen Rechtsbehelf vorsieht, der jedoch im Fall der Aufhebung der angefochtenen Bestimmung als gegenstandslos angesehen werden kann.

    52

    Im letztgenannten Fall kann die Feststellung, dass die Klage gegenstandslos geworden und im Fall der Aufhebung der angefochtenen Bestimmung in der Hauptsache erledigt ist, ohne dass es dem Kläger möglich ist, darzutun, dass er trotz dieser Aufhebung weiterhin ein Interesse an der Nichtigerklärung dieser Bestimmung hat, die Ausübung der diesem Kläger durch das Unionsrecht verliehenen Rechte übermäßig erschweren.

    53

    Die Möglichkeit für diesen Kläger, in einem solchen Fall eine neue Schadensersatzklage gegen den betreffenden Mitgliedstaat zu erheben, die auf Wiedergutmachung des Schadens gerichtet ist, der durch die Wirkungen der Anwendung der angefochtenen Bestimmung entstanden sein soll, und die bezweckt, dass – diesmal inzident – festgestellt wird, dass diese Bestimmung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, wird nicht ausreichen, um das Recht dieses Klägers auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, da aus den in Rn. 48 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich daraus Verfahrensnachteile, insbesondere in Bezug auf Kosten, Dauer und Vertretungsregelungen, ergeben, die geeignet sind, die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte übermäßig zu erschweren (vgl. entsprechend Urteil vom 15. April 2008, Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 51).

    54

    Diese Gefahr besteht erst recht, wenn die Aufhebung der angefochtenen Bestimmung und die Feststellung, dass die auf ihre Nichtigerklärung gerichtete Klage gegenstandslos geworden ist, erst in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfahrens eintreten, wie es im vorliegenden Fall geschehen ist, in dem der Wegfall des Streitgegenstands in der Kassationsinstanz festgestellt wurde.

    55

    Daraus folgt, dass der im Unionsrecht anerkannte Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zwar nicht in allen Fällen der Annahme entgegensteht, dass eine Klage auf Nichtigerklärung einer angeblich unionsrechtswidrigen nationalen Bestimmung im Fall der Aufhebung der angefochtenen Bestimmung als gegenstandslos geworden anzusehen ist; er steht jedoch dem entgegen, dass das Verfahren aus einem solchen Grund beendet wird, ohne dass die Parteien zuvor ihr etwaiges Interesse an der Fortsetzung des Verfahrens geltend machen konnten und somit ohne dass diese Entscheidung ein solches Interesse berücksichtigt.

    56

    Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass der in Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz der Effektivität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Verfahrensvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach der Rechtsstreit als gegenstandslos angesehen wird, wenn eine Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die mit einer Nichtigkeitsklage mit der Begründung angefochten wird, sie sei unionsrechtswidrig, aufgehoben wird und daher keine Wirkungen mehr für die Zukunft entfaltet, so dass die Hauptsache erledigt ist, ohne dass die Parteien zuvor ihr etwaiges Interesse an der Fortsetzung des Verfahrens geltend machen konnten und ohne dass ein solches Interesse berücksichtigt wurde.

    Zur dritten Frage

    57

    Angesichts der Antwort auf die erste und die zweite Frage braucht die dritte Frage nicht beantwortet zu werden.

    Kosten

    58

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Der in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatz der Effektivität ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Verfahrensvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach der Rechtsstreit als gegenstandslos angesehen wird, wenn eine Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die mit einer Nichtigkeitsklage mit der Begründung angefochten wird, sie sei unionsrechtswidrig, aufgehoben wird und daher keine Wirkungen mehr für die Zukunft entfaltet, so dass die Hauptsache erledigt ist, ohne dass die Parteien zuvor ihr etwaiges Interesse an der Fortsetzung des Verfahrens geltend machen konnten und ohne dass ein solches Interesse berücksichtigt wurde.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.

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