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Document 62021CJ0163

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 10. November 2022.
AD u. a. gegen PACCAR Inc u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado Mercantil de Barcelona.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Ersatz des durch eine nach Art. 101 Abs. 1 AEUV verbotene Verhaltensweise verursachten Schadens – Absprachen über Preise und Bruttolistenpreiserhöhungen für Lastkraftwagen im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) – Richtlinie 2014/104/EU – Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union – Art. 22 Abs. 2 – Zeitliche Geltung – Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 – Begriff der relevanten Beweismittel, die sich in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befinden – Art. 5 Abs. 2 – Offenlegung von bestimmten einzelnen Beweismitteln oder relevanten Kategorien von Beweismitteln auf der Grundlage der mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen – Art. 5 Abs. 3 – Prüfung der Verhältnismäßigkeit der beantragten Offenlegung von Beweismitteln – Abwägung der berechtigten Interessen der Parteien und Dritten – Umfang der sich aus diesen Vorschriften ergebenden Verpflichtungen.
Rechtssache C-163/21.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:863

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

10. November 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Ersatz des durch eine nach Art. 101 Abs. 1 AEUV verbotene Verhaltensweise verursachten Schadens – Absprachen über Preise und Bruttolistenpreiserhöhungen für Lastkraftwagen im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) – Richtlinie 2014/104/EU – Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union – Art. 22 Abs. 2 – Zeitliche Geltung – Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 – Begriff der relevanten Beweismittel, die sich in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befinden – Art. 5 Abs. 2 – Offenlegung von bestimmten einzelnen Beweismitteln oder relevanten Kategorien von Beweismitteln auf der Grundlage der mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen – Art. 5 Abs. 3 – Prüfung der Verhältnismäßigkeit der beantragten Offenlegung von Beweismitteln – Abwägung der berechtigten Interessen der Parteien und Dritten – Umfang der sich aus diesen Vorschriften ergebenden Verpflichtungen“

In der Rechtssache C‑163/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Mercantil no 7 de Barcelona (Handelsgericht Nr. 7 Barcelona, Spanien) mit Entscheidung vom 21. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 11. März 2021, in dem Verfahren

AD u. a.

gegen

PACCAR Inc,

DAF TRUCKS NV,

DAF Trucks Deutschland GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von AD u. a., vertreten durch J. A. Roger Gámir, Abogado, und F. Bertrán Santamaría, Procurador,

der PACCAR Inc, DAF TRUCKS NV und DAF Trucks Deutschland GmbH, vertreten durch C. Gual Grau, Abogado, M. de Monchy und J. K. de Pree, Advocaten, D. Sarmiento Ramírez-Escudero sowie P. Vidal Martínez, Abogados,

der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz und J. Rodríguez de la Rúa Puig als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Baches Opi, A. Carrillo Parra und F. Jimeno Fernández als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. April 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. 2014, L 349, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen AD und den 44 weiteren Klägern des Ausgangsverfahrens auf der einen sowie der PACCAR Inc, der DAF Trucks NV und der DAF Trucks Deutschland GmbH auf der anderen Seite über den Ersatz eines Schadens, der durch die von der Europäischen Kommission festgestellte und mit einer Sanktion belegte Beteiligung dieser Gesellschaften an einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV entstanden sein soll.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 heißt es:

„Zur Sicherstellung wirksamer privater zivilrechtlicher Durchsetzungsmaßnahmen und einer wirksamen öffentlichen Rechtsdurchsetzung durch die Wettbewerbsbehörden müssen beide Instrumente zusammenwirken, damit die Wettbewerbsvorschriften höchstmögliche Wirkung entfalten. Es ist erforderlich, die Koordinierung zwischen den beiden Formen der Durchsetzung kohärent zu regeln, zum Beispiel in Bezug auf den Zugang zu Unterlagen, die sich im Besitz von Wettbewerbsbehörden befinden. …“

4

Der 14. Erwägungsgrund dieser Richtlinie lautet:

„Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen nationales Wettbewerbsrecht oder das Wettbewerbsrecht der [Europäischen] Union erfordern in der Regel eine komplexe Analyse der zugrunde liegenden Tatsachen und wirtschaftlichen Zusammenhänge. Die für die Begründung eines Schadensersatzanspruchs erforderlichen Beweismittel befinden sich häufig ausschließlich im Besitz der gegnerischen Partei oder Dritter und sind dem Kläger nicht hinreichend bekannt und zugänglich. Das strenge rechtliche Erfordernis, dass der Kläger zu Beginn des Verfahrens im Detail alle für seinen Fall relevanten Tatsachen behaupten und dafür genau bezeichnete einzelne Beweismittel anbieten muss, kann daher die wirksame Geltendmachung des durch den AEUV garantierten Schadensersatzanspruchs übermäßig erschweren.“

5

Der 15. Erwägungsgrund der Richtlinie sieht vor:

„Den Beweismitteln kommt bei der Erhebung von Schadensersatzklagen wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union oder nationales Wettbewerbsrecht große Bedeutung zu. Da wettbewerbsrechtliche Streitigkeiten jedoch durch eine Informationsasymmetrie gekennzeichnet sind, ist es angebracht zu gewährleisten, dass die Kläger das Recht erhalten, die Offenlegung der für ihren Anspruch relevanten Beweismittel zu erwirken, ohne konkrete einzelne Beweismittel benennen zu müssen. Um den Grundsatz der Waffengleichheit zu wahren, sollten diese Mittel auch den Beklagten in Verfahren über Schadensersatzklagen zur Verfügung stehen, damit diese die Offenlegung von Beweismitteln durch die Kläger beantragen können. Die nationalen Gerichte sollten auch die Offenlegung von Beweismitteln durch Dritte, einschließlich Behörden, anordnen können. Wenn ein nationales Gericht die Offenlegung von Beweismitteln durch die Kommission anordnen will, finden der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten (Artikel 4 Absatz 3 EUV) und – hinsichtlich Auskunftsersuchen – Artikel 15 Absatz 1 der Verordnung … Nr. 1/2003 Anwendung. …“

6

Der 16. Erwägungsgrund der Richtlinie lautet:

„Die nationalen Gerichte sollten die Möglichkeit haben, unter ihrer strengen Kontrolle – insbesondere hinsichtlich der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen – die Offenlegung von genau bezeichneten einzelnen Beweismitteln oder Kategorien von Beweismitteln auf Antrag einer Partei anzuordnen. Aus dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit ergibt sich, dass die Offenlegung erst angeordnet werden kann, wenn der Kläger auf der Grundlage von ihm mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen, plausibel gemacht hat, dass der Kläger einen vom Beklagten verursachten Schaden erlitten hat. Wenn ein Antrag auf Offenlegung im Hinblick auf eine Kategorie von Beweismitteln gestellt wird, sollte diese Kategorie durch Bezugnahme auf gemeinsame Merkmale ihrer wesentlichen Elemente wie Art, Gegenstand oder Inhalt der Unterlagen, deren Offenlegung beantragt wird, Zeit, in der sie erstellt wurden, oder andere Kriterien bestimmt werden, sofern die in diese Kategorie fallenden Beweismittel im Sinne dieser Richtlinie relevant sind. Diese Kategorien sollten so genau bezeichnet werden, wie es auf der Grundlage der mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen möglich ist.“

7

Der 28. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 lautet:

„Die nationalen Gerichte sollten im Zusammenhang mit Schadensersatzklagen jederzeit die Offenlegung von Beweismitteln anordnen können, die unabhängig von einem wettbewerbsbehördlichen Verfahren vorliegen (im Folgenden ‚bereits vorhandene Informationen‘).“

8

Der 39. Erwägungsgrund dieser Richtlinie sieht vor:

„… Es ist angebracht vorzusehen, dass der Rechtsverletzer, soweit er die Einwendung der Schadensabwälzung geltend macht, das Vorliegen und den Umfang der Schadensabwälzung beweisen muss. Diese Beweislast sollte nicht die Möglichkeit berühren, dass der Rechtsverletzer andere als die in seinem Besitz befindlichen Beweismittel verwendet, wie beispielsweise bereits im Zuge des Verfahrens erworbene Beweismittel oder Beweismittel, die sich im Besitz von anderen Parteien oder Dritten befinden.“

9

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

13.

‚Beweismittel‘ alle vor dem befassten nationalen Gericht zulässigen Arten von Beweismitteln, insbesondere Urkunden und alle sonstigen Gegenstände, die Informationen enthalten, unabhängig von dem Medium, auf dem die Informationen gespeichert sind;

17.

‚bereits vorhandene Informationen‘ Beweismittel, die unabhängig von einem wettbewerbsbehördlichen Verfahren vorliegen, unabhängig davon, ob diese Informationen in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind oder nicht;

…“

10

Art. 5 („Offenlegung von Beweismitteln“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass in Verfahren über Schadensersatzklagen in der Union auf Antrag eines Klägers, der eine substantiierte Begründung vorgelegt hat, die mit zumutbarem Aufwand zugängliche Tatsachen und Beweismittel enthält, die die Plausibilität seines Schadensersatzanspruchs ausreichend stützen, die nationalen Gerichte unter den Voraussetzungen dieses Kapitels die Offenlegung von relevanten Beweismitteln durch den Beklagten oder einen Dritten, die sich in deren Verfügungsgewalt befinden, anordnen können. Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Gerichte auf Antrag des Beklagten die Offenlegung von relevanten Beweismitteln durch den Kläger oder einen Dritten anordnen können.

Dieser Absatz lässt die Rechte und Pflichten der nationalen Gerichte nach der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 [des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen (ABl. 2001, L 174, S. 1)] unberührt.

(2)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Gerichte die Offenlegung von bestimmten einzelnen Beweismitteln oder relevanten Kategorien von Beweismitteln anordnen können, die so genau und so präzise wie möglich abgegrenzt sind, wie dies auf der Grundlage der mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen in der substantiierten Begründung möglich ist.

(3)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die von den nationalen Gerichten angeordnete Offenlegung von Beweismitteln verhältnismäßig ist. Bei der Prüfung, ob die von einer Partei beantragte Offenlegung verhältnismäßig ist, berücksichtigen die nationalen Gerichte die berechtigten Interessen aller Parteien und betroffenen Dritten. Insbesondere berücksichtigen sie

a)

inwieweit die Klage oder die Klageerwiderung durch zugängliche Tatsachen und Beweismittel gestützt wird, die den Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln rechtfertigen;

b)

den Umfang und die Kosten der Offenlegung, insbesondere für betroffene Dritte, einschließlich zur Verhinderung einer nicht gezielten Suche nach Informationen, die für die Verfahrensbeteiligten wahrscheinlich nicht relevant sind;

c)

ob die offenzulegenden Beweismittel vertrauliche Informationen – insbesondere Dritte betreffende Informationen – enthalten und welche Vorkehrungen zum Schutz dieser vertraulichen Informationen bestehen.

…“

11

Art. 21 („Umsetzung“) Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie spätestens bis zum 27. Dezember 2016 nachzukommen. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Rechtsvorschriften mit.

…“

12

Art. 22 („Zeitliche Geltung“) dieser Richtlinie lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Vorschriften, die nach Artikel 21 erlassen werden, um den materiell-rechtlichen Vorschriften dieser Richtlinie zu entsprechen, nicht rückwirkend gelten.

(2)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Vorschriften, die nach Artikel 21 erlassen werden und die nicht unter Absatz 1 fallen, nicht für Schadensersatzklagen gelten, die vor dem 26. Dezember 2014 bei einem nationalen Gericht erhoben wurden.“

Spanisches Recht

13

Die Richtlinie 2014/104 wurde durch das Real Decreto-ley 9/2017, por el que se transponen directivas de la Unión Europea en los ámbitos financiero, mercantil y sanitario, y sobre el desplazamiento de trabajadores (Königliches Gesetzesdekret 9/2017 zur Umsetzung der Richtlinien der Europäischen Union im Finanz‑, Handels- und Gesundheitsbereich sowie über die Entsendung von Arbeitnehmern), vom 26. Mai 2017 (BOE Nr. 126 vom 27. Mai 2017, S. 42820) in das spanische Recht umgesetzt.

14

Mit dem Königlichen Gesetzesdekret 9/2017 wurde in die Ley 1/2000 de Enjuiciamiento Civil (Gesetz Nr. 1/2000 über den Zivilprozess) vom 7. Januar 2000 (BOE Nr. 7 vom 8. Januar 2000, S. 575, im Folgenden: Zivilprozessgesetz) ein Art. 283bis a) eingefügt, über die Offenlegung von Beweismitteln im Rahmen von Gerichtsverfahren betreffend Schadensersatzklagen auf Ersatz des wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht erlittenen Schadens. Der Inhalt von Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Vorschrift ist mit dem von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 identisch.

15

Außerdem sieht Art. 328 des Zivilprozessgesetzes im Wesentlichen vor, dass jede Partei von den anderen Parteien die Offenlegung von Dokumenten verlangen kann, wobei diesem Antrag eine einfache Abschrift der Dokumente beizufügen ist oder, falls eine solche nicht existiert oder ihnen nicht zur Verfügung steht, der Inhalt dieser Dokumente so genau wie möglich zu beschreiben ist.

16

Schließlich besagt Art. 330 des Zivilprozessgesetzes, dass auf Antrag einer der Parteien von nicht am Verfahren beteiligten Dritten die Offenlegung ihnen gehörender Dokumente verlangt werden kann, wenn das angerufene Gericht feststellt, dass solche Dokumente für die Entscheidung des Rechtsstreits bedeutend sind.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

17

Am 19. Juli 2016 erließ die Kommission den Beschluss C(2016) 4673 final in einem Verfahren nach Artikel 101 [AEUV] und Artikel 53 des EWR-Abkommens (Sache AT.39824 – Lkw), von dem eine Zusammenfassung im Amtsblatt der Europäischen Union vom 6. April 2017 (ABl. 2017, C 108, S. 6) veröffentlicht wurde. Die Beklagten des Ausgangsverfahrens gehören zu den Adressaten dieses Beschlusses.

18

In diesem Beschluss stellte die Kommission fest, dass 15 Lkw-Hersteller, darunter die Beklagten des Ausgangsverfahrens, an einem Kartell in Form einer einzigen fortdauernden Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3) beteiligt waren, das Absprachen über Preise und Bruttolistenpreiserhöhungen für mittlere und schwere Lastkraftwagen im EWR betraf.

19

In Bezug auf die Beklagten des Ausgangsverfahrens wurde diese Zuwiderhandlung für den Zeitraum vom 17. Januar 1997 bis zum 18. Januar 2011 festgestellt.

20

Am 25. März 2019 beantragten die Kläger des Ausgangsverfahrens, die Lastkraftwagen gekauft hatten, die unter die Zuwiderhandlung fallen könnten, die Gegenstand des Beschlusses C(2016) 4673 final war, gemäß Art. 283bis a) des Zivilprozessgesetzes beim Juzgado de lo Mercantil no 7 de Barcelona (Handelsgericht Nr. 7 Barcelona, Spanien), dem vorlegenden Gericht, Zugang zu Beweismitteln, die sich in der Verfügungsgewalt der Beklagten des Ausgangsverfahrens befanden. Hierbei machten sie geltend, bestimmte Beweismittel zu benötigen, um die künstliche Preiserhöhung zu ermitteln, insbesondere um die empfohlenen Preise vor, während und nach dem Zeitraum des betroffenen Kartells zu vergleichen.

21

In der mündlichen Verhandlung vor dem vorlegenden Gericht vom 7. Oktober 2019 und im Rahmen ihrer Erklärungen zu einer möglichen Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV machten die Beklagten des Ausgangsverfahrens neben anderen Argumenten geltend, dass einige der verlangten Dokumente eigens zu diesem Zweck erstellt werden müssten und dass eine solche Verpflichtung für sie eine übermäßige Belastung mit sich bringe, die über eine bloße „Anordnung der Offenlegung“ von Beweismitteln hinausgehe, was insbesondere gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.

22

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich aus der Regelung sowohl der Richtlinie 2014/104 als auch des Zivilprozessgesetzes in der durch das Königliche Gesetzesdekret 9/2017 geänderten Fassung zur Offenlegung relevanter Beweismittel, dass es auf Antrag einer Partei anordnen könne, dass der Beklagte, der Kläger oder ein Dritter „relevante… Beweismittel …, die sich in deren Verfügungsgewalt befinden“, offenlege.

23

Im vorliegenden Fall beziehe sich der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln auf Dokumente, die, so wie sie beantragt worden seien, möglicherweise vor diesem Antrag noch nicht vorhanden seien und daher von den Beklagten des Ausgangsverfahrens erst erstellt werden müssten, durch die Zusammenstellung und Klassifizierung von Daten nach den von den Klägern des Ausgangsverfahrens definierten Parametern. Diese Aufgabe gehe über das einfache Auffinden und Auswählen bereits vorhandener Dokumente oder die einfache Bereitstellung sämtlicher betroffenen Daten mit der Maßgabe ihrer vertraulichen Behandlung an die Kläger des Ausgangsverfahrens hinaus, da es darum gehe, die Informationen, Kenntnisse oder Daten, die sich in der Verfügungsgewalt der Partei befänden, gegen die sich der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln richte, in einem neuen Dokument in digitaler oder sonstiger Form zu erfassen.

24

Dass das Dokument, dessen Offenlegung verlangt worden sei, bereits vor dem Antrag, der es zum Gegenstand habe, vorhanden sein müsse, scheine sich aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 und des 14. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2014/104 zu ergeben, in denen auf „relevante… Beweismittel …, die sich in deren Verfügungsgewalt befinden“ bzw. auf „Beweismittel … ausschließlich im Besitz der gegnerischen Partei“ Bezug genommen werde, was die Vorstellung bestätige, dass das angeforderte Dokument bereits vor dem Antrag, der es zum Gegenstand habe, existieren und nicht erst auf diesen Antrag hin erstellt werden müsse. Dieser Gedanke der Präexistenz ergebe sich auch aus dem Erfordernis, dass sich der betreffende Antrag gemäß Art. 5 Abs. 2 und dem 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie auf „relevante… Kategorien von Beweismitteln …, die so genau und so präzise wie möglich abgegrenzt sind, wie dies auf der Grundlage der mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen in der substantiierten Begründung möglich ist“, beziehen müsse. Der Ausschluss von neu erstellten Dokumenten von den Dokumenten, die nach Art. 5 der Richtlinie verlangt werden könnten, könne außerdem aus dem Umstand abgeleitet werden, dass die Richtlinie die Offenlegung von bzw. den Zugang zu Beweismitteln, im vorliegenden Fall Dokumente, erwähne, nicht aber auf die Offenlegung von oder den Zugang zu Informationen, Kenntnissen oder Daten verweise.

25

In diesem Zusammenhang äußert das vorlegende Gericht Zweifel, da einige der für eine weiter gehende Auslegung angeführten Argumente begründet sein könnten. So könnte davon ausgegangen werden, dass eine enge Auslegung im Bereich der Offenlegung von Beweismitteln das Recht auf vollständige Entschädigung des erlittenen Schadens beeinträchtige. Darüber hinaus führe die Richtlinie 2014/104 die Kosten und Aufwendungen für die Offenlegung von Beweismitteln als Element des bei der Anordnung dieser Offenlegung zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an, was darauf hindeuten könne, dass die Partei, die zur Offenlegung verpflichtet werde, Arbeit investieren müsse, die Kosten verursachen könne und daher über die einfache Suche und Übergabe von bereits vorhandenen Dokumenten hinausgehen könne.

26

Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Mercantil no 7 de Barcelona (Handelsgericht Nr. 7 Barcelona) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen, dass die Offenlegung von relevanten Beweismitteln sich ausschließlich auf Dokumente bezieht, die sich in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befinden und bereits existieren, oder umfasst Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie stattdessen auch die Möglichkeit, dass Dokumente offengelegt werden müssen, die derjenige, gegen den sich der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln richtet, neu erstellen muss, indem er Informationen, Kenntnisse oder Daten, die sich in seiner Verfügungsgewalt befinden, zusammenstellt oder klassifiziert?

Zur Vorlagefrage

Zur zeitlichen Geltung von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104

27

Vorab ist zur zeitlichen Anwendbarkeit der Richtlinie 2014/104 darauf hinzuweisen, dass diese eine Sonderbestimmung enthält, die die Voraussetzungen für die zeitliche Geltung ihrer materiell-rechtlichen und nicht materiell-rechtlichen Vorschriften ausdrücklich regelt (Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28

Zum einen nämlich müssen nach Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Vorschriften, die nach Art. 21 dieser Richtlinie erlassen werden, um deren materiell-rechtlichen Vorschriften zu entsprechen, nicht rückwirkend gelten.

29

Zum anderen müssen nach Art. 22 Abs. 2 der Richtlinie 2014/104 die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Vorschriften, die nicht unter Art. 22 Abs. 1 dieser Richtlinie fallen, nicht für Schadensersatzklagen gelten, die vor dem 26. Dezember 2014, dem Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie, bei einem nationalen Gericht erhoben wurden.

30

Um die Frage der zeitlichen Anwendbarkeit der Vorschriften der Richtlinie 2014/104 zu klären, ist daher als Erstes zu prüfen, ob die betreffende Vorschrift eine materiell-rechtliche Vorschrift darstellt oder nicht, wobei diese Frage, da es in Art. 22 der Richtlinie an einer Verweisung auf das nationale Recht fehlt, nach Unionsrecht und nicht nach dem anwendbaren nationalen Recht zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 38 und 39).

31

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie den nationalen Gerichten die Möglichkeit einräumen soll, unter bestimmten Voraussetzungen die Offenlegung von relevanten Beweismitteln durch den Beklagten oder einen Dritten, die sich in deren Verfügungsgewalt befinden, anzuordnen.

32

Indem die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, diese Gerichte im Rahmen der Prüfung von Rechtsstreitigkeiten über Schadensersatzklagen auf Ersatz des wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht erlittenen Schadens mit besonderen Befugnissen auszustatten, soll diese Vorschrift der Informationsasymmetrie abhelfen, die diese Rechtsstreitigkeiten grundsätzlich zum Nachteil des Geschädigten kennzeichnet, worauf im 47. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 hingewiesen wird, und die es für den Geschädigten schwieriger macht, die für die Erhebung einer Schadensersatzklage unerlässlichen Informationen zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 55 und 83).

33

Zweitens führt Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104, da er gerade bezweckt, es dem Kläger in solchen Rechtsstreitigkeiten zu ermöglichen, sein Informationsdefizit auszugleichen, zwar dazu, dass dem Kläger, wenn er sich hierzu an das nationale Gericht wendet, ein Trumpf bereitgestellt wird, über den er nicht verfügt hat. Gleichwohl bezieht sich der Gegenstand von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1, wie der Generalanwalt in Nr. 57 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, nur auf die vor den nationalen Gerichten geltenden prozessualen Maßnahmen, mit denen diesen besondere Befugnisse eingeräumt werden, um die Tatsachen festzustellen, die die Parteien im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten über Schadensersatzklagen wegen solcher Zuwiderhandlungen geltend machen, und betrifft daher die Rechtsstellung dieser Beteiligten nicht unmittelbar, da sich diese Vorschrift nicht auf die Tatbestandsmerkmale der außervertraglichen Haftung bezieht.

34

Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 der einen oder der anderen Partei dieser Art von Rechtsstreitigkeiten neue materiell-rechtliche Verpflichtungen auferlegt, wodurch diese Vorschrift als materiell-rechtlich im Sinne von Art. 22 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen werden könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 83).

35

Daher ist festzustellen, dass Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 nicht zu deren materiell-rechtlichen Vorschriften im Sinne von Art. 22 Abs. 1 dieser Richtlinie zählt und folglich zu den anderen, in Art. 22 Abs. 2 der Richtlinie genannten, Vorschriften gehört. Es handelt sich insoweit um eine verfahrensrechtliche Vorschrift.

36

Als Zweites ist, da die Klage im Ausgangsverfahren im vorliegenden Fall am 25. März 2019, d. h. nach dem 26. Dezember 2014 und nach dem Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie 2014/104 in spanisches Recht, erhoben wurde, Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie nach deren Art. 22 Abs. 2 auf diese Klage zeitlich anwendbar, so dass dem vorlegenden Gericht auf seine Vorlagefrage zu antworten ist.

Zur Beantwortung der Vorlagefrage

37

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen ist, dass sich die dort angesprochene Offenlegung von relevanten Beweismitteln, die sich in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befinden, ausschließlich auf Dokumente bezieht, die sich in deren Verfügungsgewalt befinden und bereits existieren, oder auch auf solche, die derjenige, gegen den sich der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln richtet, neu erstellen muss, indem er Informationen, Kenntnisse oder Daten, die sich in seiner Verfügungsgewalt befinden, zusammenstellt oder klassifiziert.

38

Was die Bedeutung des Ausdrucks „in … Verfügungsgewalt“ in Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 betrifft, sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur der Wortlaut der auszulegenden Unionsvorschrift zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 28. April 2022, Nikopolis AD Istrum 2010 und Agro – eko 2013, C‑160/21 und C‑217/21, EU:C:2022:315, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Als Erstes führt der Wortlaut dieser Vorschrift zu der Annahme, dass sie, wie das vorlegende Gericht anführt und in Rn. 24 des vorliegenden Urteils dargelegt worden ist, in Bezug auf einen an das betreffende nationale Gericht gerichteten Antrag des Klägers auf Offenlegung von Beweismitteln nur bereits vorhandene Beweismittel betrifft.

40

Was als Zweites den Kontext von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 betrifft, ist erstens die Definition des Begriffs „Beweismittel“ in Art. 2 Nr. 13 dieser Richtlinie zu berücksichtigen. Was sich im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 „in der… Verfügungsgewalt“ des Beklagten oder eines Dritten befindet, hängt nämlich von der Tragweite dieses Begriffes ab.

41

Nach Art. 2 Nr. 13 der Richtlinie 2014/104 umfasst der Begriff „‚Beweismittel‘ alle vor dem befassten nationalen Gericht zulässigen Arten von Beweismitteln, insbesondere Urkunden und alle sonstigen Gegenstände, die Informationen enthalten, unabhängig von dem Medium, auf dem die Informationen gespeichert sind“. Abgesehen davon, dass das Wort „Beweismittel“ für sich genommen ein allgemeines Wort ist, bestätigt diese Definition hinsichtlich der Art der Beweismittel, deren Offenlegung dieses nationale Gericht anordnen kann, die weite Bedeutung des Begriffs „Beweismittel“, die sich aus Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie ergibt. Insoweit wird in dieser Definition nicht danach unterschieden, ob die Beweismittel, deren Offenlegung beantragt wird, bereits vorhanden sind oder nicht. Daraus folgt, dass es sich bei den Beweismitteln im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 nicht notwendigerweise um bereits vorhandene „Dokumente“ handelt, wie das vorlegende Gericht in seiner Vorlagefrage vermuten lässt.

42

Diese Schlussfolgerung wird durch die Erwägungsgründe 28 und 39 der Richtlinie 2014/104 untermauert, in denen von „Beweismitteln …, die unabhängig von einem wettbewerbsbehördlichen Verfahren vorliegen“ bzw. „andere[n] als die [im] Besitz [des Rechtsverletzers] befindlichen Beweismittel[n]“ die Rede ist, „wie beispielsweise bereits im Zuge des Verfahrens erworbene Beweismittel oder Beweismittel, die sich im Besitz von anderen Parteien oder Dritten befinden“, und die so auf die Vielfalt der betreffenden Beweismittel, insbesondere in Bezug auf die Personen, in deren Besitz sie sich befinden, hinweisen.

43

Zweitens besteht Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 aus zwei Sätzen. Nach Satz 1 kann ein Kläger, der die Plausibilität seines Schadensersatzanspruchs ausreichend gestützt hat, indem er „mit zumutbarem Aufwand zugängliche Tatsachen und Beweismittel“ vorgelegt hat, bei dem von ihm angerufenen nationalen Gericht erwirken, dass es unter den Voraussetzungen des Kapitels II („Offenlegung von Beweismitteln“) dieser Richtlinie die Offenlegung von „relevanten Beweismitteln durch den Beklagten oder einen Dritten, die sich in deren Verfügungsgewalt befinden“, anordnet. Nach Satz 2 muss es dem Beklagten möglich sein, bei diesem Gericht zu beantragen, die Offenlegung von „relevanten Beweismitteln“ durch den Kläger oder einen Dritten anzuordnen. Somit ist auf einen Unterschied im Wortlaut des ersten und des zweiten Satzes von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 hinzuweisen, da nur Satz 1 die Formulierung „die sich in deren Verfügungsgewalt befinden“ enthält.

44

Der 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 ist hinsichtlich des Normzwecks dieser beiden Sätze besonders aufschlussreich, denn er bestimmt, dass „[d]ie für die Begründung eines Schadensersatzanspruchs erforderlichen Beweismittel sich häufig ausschließlich im Besitz der gegnerischen Partei oder Dritter [befinden] und dem Kläger nicht hinreichend bekannt und zugänglich [sind]“. Aus diesem Grund kann „[d]as strenge rechtliche Erfordernis, dass der Kläger zu Beginn des Verfahrens im Detail alle für seinen Fall relevanten Tatsachen behaupten und dafür genau bezeichnete einzelne Beweismittel anbieten muss“, nicht auferlegt werden, ohne die wirksame Geltendmachung des durch den AEU-Vertrag garantierten Schadensersatzanspruchs übermäßig zu erschweren.

45

Folglich trifft der Unionsgesetzgeber durch die Bezugnahme auf Beweismittel, die sich „in der… Verfügungsgewalt“ des Beklagten oder eines Dritten befinden, vor allem eine tatsächliche Feststellung, die die Informationsasymmetrie veranschaulicht, der er abhelfen will, wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, und diese Feststellung erklärt auch die fehlende Wiederholung der Formulierung „die sich in deren Verfügungsgewalt befinden“ in Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2014/104. Da sich dessen zweiter Satz nämlich auf einen diesmal vom Beklagten gestellten Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln bezieht und „[d]ie … erforderlichen Beweismittel … häufig … dem Kläger nicht hinreichend bekannt … [sind]“, wäre es widersprüchlich gewesen, zu verlangen, dass sich diese Beweismittel „in der… Verfügungsgewalt“ des Klägers befinden. Dies ist im Übrigen der Grund, weshalb sich diese Vorschrift angesichts der wenigen Angaben, über die der Kläger bei der Erhebung einer Schadensersatzklage im Allgemeinen verfügt, darauf beschränkt, von ihm „mit zumutbarem Aufwand zugängliche … Beweismittel“ zu verlangen.

46

Hierzu heißt es im 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 unter erneutem Hinweis darauf, dass Sinn und Zweck von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie darin begründet ist, dass wettbewerbsrechtliche Streitigkeiten durch eine Informationsasymmetrie zwischen den betroffenen Parteien gekennzeichnet sind, zum einen, dass es zur Auflösung einer solchen Schwierigkeit „angebracht [ist] zu gewährleisten, dass die Kläger das Recht erhalten, die Offenlegung der für ihren Anspruch relevanten Beweismittel zu erwirken, ohne konkrete einzelne Beweismittel benennen zu müssen“, und zum anderen, dass „diese Mittel auch den Beklagten in Verfahren über Schadensersatzklagen zur Verfügung stehen [sollten], damit diese die Offenlegung von Beweismitteln durch die Kläger beantragen können“.

47

Aus diesem Erwägungsgrund geht somit hervor, dass der Unionsgesetzgeber, wie der Generalanwalt in Nr. 76 und Fn. 27 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, den „Zusammenhang… zwischen dem verlangten Beweismittel und dem Schadensersatzanspruch“ bekräftigt hat, was für das betreffende nationale Gericht wesentlich ist, damit es unter Wahrung des Grundsatzes der Waffengleichheit zwischen den Parteien des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachgerecht über den bei ihm gestellten Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln entscheiden kann.

48

Im gleichen Sinne, aber noch deutlicher, bringt der 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 die Notwendigkeit für das befasste nationale Gericht zum Ausdruck, „die Offenlegung von genau bezeichneten einzelnen Beweismitteln“ oder „Kategorien von Beweismitteln“ anzuordnen, die durch Bezugnahme auf gemeinsame Merkmale ihrer wesentlichen Elemente, wie z. B. bei Dokumenten die „Zeit, in der sie erstellt wurden“, bestimmt werden sollten.

49

Diese Erwägungsgründe klären somit den Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 auf und machen deutlich, dass die in dieser Vorschrift enthaltene Bezugnahme auf relevante Beweismittel, die sich in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befinden, lediglich die Feststellung widerspiegelt, wie in Rn. 44 des vorliegenden Urteils ausgeführt wird, dass diese tatsächlich „häufig“ über solche Beweismittel verfügen, wobei diese allgemein verstandenen Beweismittel, wie in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils ausgeführt wird, in „Kategorien von Beweismitteln“ zusammengefasst werden oder lediglich „einzelne Beweismittel“ betreffen können. Mit anderen Worten soll mit der Verwendung des Ausdrucks „die sich in deren Verfügungsgewalt befinden“ eine tatsächliche Situation beschrieben werden, der der Unionsgesetzgeber abhelfen will.

50

Drittens wird diese Analyse durch die Lektüre von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 im Licht seiner Abs. 2 und 3 untermauert, wobei Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie das Erfordernis der Spezifizität des Antrags auf Offenlegung von Beweismitteln festlegt, während ihr Art. 5 Abs. 3 auf die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in diesem Bereich hinweist.

51

So verlangt Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2014/104 von den nationalen Gerichten, die Offenlegung von Beweismitteln auf „bestimmte… einzelne… Beweismittel… oder relevante… Kategorien von Beweismitteln …, die so genau und so präzise wie möglich abgegrenzt sind, wie dies auf der Grundlage der mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen in der substantiierten Begründung möglich ist“ zu beschränken.

52

Art. 5 Abs. 3 Buchst. b dieser Richtlinie bestimmt seinerseits, dass die befassten nationalen Gerichte, damit die „angeordnete Offenlegung von Beweismitteln verhältnismäßig ist“, insbesondere „den Umfang und die Kosten der Offenlegung, insbesondere für betroffene Dritte, einschließlich zur Verhinderung einer nicht gezielten Suche nach Informationen, die für die Verfahrensbeteiligten wahrscheinlich nicht relevant sind“ zu berücksichtigen haben.

53

Eine solche Vorschrift setzt implizit, aber notwendigerweise voraus, dass die Kosten der Offenlegung von Beweismitteln gegebenenfalls erheblich höher sein können als die Kosten der bloßen Übermittlung physischer Medien, insbesondere von Dokumenten, die sich in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befinden.

54

Als Drittes ist zu prüfen, ob diese Analyse mit der Zielsetzung von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 vereinbar ist.

55

Der Unionsgesetzgeber ist beim Erlass der Richtlinie 2014/104 von der Feststellung ausgegangen, dass die öffentliche Bekämpfung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen, d. h. durch die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden, nicht ausreiche, um die vollständige Wahrung der Art. 101 und 102 AEUV zu gewährleisten, und dass es wichtig sei, die Möglichkeit einer privaten Mitwirkung zur Erreichung dieses Ziels zu erleichtern, wie der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie veranschaulicht.

56

Diese private Beteiligung an der finanziellen Sanktionierung und damit auch an der Verhinderung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen ist umso wünschenswerter, als sie nicht nur geeignet ist, den unmittelbaren Schaden zu beseitigen, der der betreffenden Person angeblich entstanden ist, sondern auch die mittelbaren Schäden an der Struktur und dem Funktionieren des Marktes, der nicht seine volle wirtschaftliche Effizienz insbesondere zugunsten der betroffenen Verbraucher entfalten konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 36).

57

Um dies zu ermöglichen und gleichzeitig eine missbräuchliche Inanspruchnahme solcher Verfahren zu verhindern, legt die Richtlinie 2014/104 eine Abwägung „d[er] berechtigten Interessen aller Parteien und betroffenen Dritten“ gemäß Art. 5 Abs. 3 dieser Richtlinie fest.

58

Insoweit hat der Unionsgesetzgeber u. a. in Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie die Befugnisse der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden gewahrt, indem er dafür gesorgt hat, dass die Verpflichtung zur Offenlegung von Beweismitteln durch sie oder durch die Unternehmen, gegen die eine ihrer Untersuchungen gerichtet ist, diese Befugnisse nicht beeinträchtigt.

59

Die Erreichung des in Rn. 55 des vorliegenden Urteils angeführten Ziels setzte die Einsetzung von Instrumenten voraus, die geeignet sind, die Informationsasymmetrie zwischen den Parteien des Rechtsstreits zu beheben, da der Rechtsverletzer definitionsgemäß weiß, was er getan hat und was ihm gegebenenfalls vorgeworfen wurde, und er die Beweismittel kennt, die in einem solchen Fall der Kommission oder der betreffenden nationalen Wettbewerbsbehörde als Nachweis seiner Beteiligung an einer gegen die Art. 101 und 102 AEUV verstoßenden wettbewerbswidrigen Verhaltensweise gedient haben können, während das Opfer des durch diese Verhaltensweise verursachten Schadens nicht über diese Beweismittel verfügt.

60

Diese Erwägungen zur Zielsetzung von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 sind bei der Auslegung dieser Vorschrift zu berücksichtigen.

61

Zunächst ist aus praktischer Sicht darauf hinzuweisen, dass die Übermittlung einer – möglicherweise sehr großen – Zahl vorhandener, nicht bearbeiteter Dokumente an den Kläger dessen Antrag nur unzureichend entspräche, obwohl es doch vielmehr erforderlich ist, diese Vorschrift effizient anzuwenden, um den Geschädigten Instrumente an die Hand zu geben, die die Informationsasymmetrie zwischen den Parteien des Rechtsstreits ausgleichen können.

62

Zudem würde ein von vorneherein bestehender Ausschluss der Möglichkeit, die Offenlegung von Dokumenten oder anderen Beweismitteln zu verlangen, die derjenige, gegen den sich der Antrag richtet, neu erstellen müsste, in bestimmten Fällen zur Schaffung von Hindernissen führen, die die private Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften der Union erschwerten, während, wie aus Rn. 55 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die Erleichterung dieser Durchsetzung das Hauptziel der Richtlinie 2014/104 darstellt, das der sechste Erwägungsgrund dieser Richtlinie veranschaulicht.

63

Eine solche Auslegung kann nicht mit der Begründung in Frage gestellt werden, dass sie das Gleichgewicht zwischen dem Interesse des Antragstellers, die für seinen Fall relevanten Informationen zu erhalten, und dem Interesse der Person, der die Offenlegung dieser Informationen aufgegeben wird, am Schutz vor „Informationsfischerei“, wie sie im 23. Erwägungsgrund dieser Richtlinie beschrieben wird, und einer insoweit übermäßigen Belastung, störe.

64

Insbesondere aus Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/104 ergibt sich nämlich, dass der Unionsgesetzgeber einen Mechanismus der Abwägung der widerstreitenden Interessen unter der strengen Kontrolle der befassten nationalen Gerichte eingeführt hat, die, wie aus den Rn. 51 und 52 des vorliegenden Urteils hervorgeht, eine anspruchsvolle Prüfung des bei ihnen gestellten Antrags im Hinblick auf die Relevanz der angeforderten Beweismittel, den Zusammenhang zwischen diesen Beweismitteln und dem geltend gemachten Schadensersatzanspruch, die ausreichend genaue Bezeichnung der Beweismittel und deren Verhältnismäßigkeit vornehmen müssen. Es ist daher Sache dieser Gerichte zu beurteilen, ob der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln, die auf der Grundlage bereits vorhandener, in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befindlicher einzelner Beweismittel neu zu erstellen sind, z. B. angesichts seiner ausschweifenden oder zu allgemeinen Art, den Beklagten oder den betroffenen Dritten unverhältnismäßig belasten kann, sei es durch die Kosten oder die Arbeitsbelastung, die dieser Antrag verursachen würde.

65

Angesichts der Befugnisse, über die die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden im Bereich der Nachprüfung und Übermittlung von Dokumenten verfügen, kommt es insoweit nicht in Frage, die Grundsätze, die für die öffentliche Bekämpfung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen gelten, auf die private Bekämpfung dieser Verhaltensweisen zu übertragen.

66

In Anbetracht der in den Rn. 51 und 52 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien, deren Wahrung die befassten nationalen Gerichte zu gewährleisten haben, kann die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 jedoch nicht dazu führen, dass die Beklagten des Ausgangsverfahrens in Bezug auf die den Klägern des Ausgangsverfahrens obliegenden Aufgabe, das Vorliegen und den Umfang des erlittenen Schadens nachzuweisen, an deren Stelle treten. Dies gilt erst recht für Verfahren, in denen zuvor weder von der Kommission noch von einer nationalen Wettbewerbsbehörde eine Zuwiderhandlung mit einer Sanktion belegte wurde.

67

Außerdem müssen die Vorschriften der Richtlinie 2014/104, wie in deren 53. Erwägungsgrund ausgeführt wird, im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden, durchgeführt werden.

68

In diesem Rahmen müssen die Gerichte daher in Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit berücksichtigen, ob die Arbeitsbelastung und die Kosten, die durch die neue Erstellung physischer Medien, insbesondere von Dokumenten, verursacht werden, angemessen sind oder nicht, und sämtliche Umstände der betreffenden Rechtssache berücksichtigen, insbesondere im Hinblick auf die in Art. 5 Abs. 3 Buchst. a bis c der Richtlinie genannten Kriterien, wie etwa den Zeitraum, für den die Offenlegung von Beweismitteln beantragt wird.

69

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen ist, dass sich die dort angesprochenen relevanten Beweismittel, die sich in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befinden, auch auf solche beziehen, die derjenige, gegen den sich der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln richtet, neu erstellen muss, indem er Informationen, Kenntnisse oder Daten, die sich in seiner Verfügungsgewalt befinden, zusammenstellt oder klassifiziert, vorbehaltlich der strikten Wahrung von Art. 5 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie, der die befassten nationalen Gerichte dazu verpflichtet, dass die von ihnen angeordnete Offenlegung von Beweismitteln relevant, verhältnismäßig und erforderlich ist, wobei sie die berechtigten Interessen und Grundrechte des Antragsgegners berücksichtigen.

Kosten

70

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union

 

ist dahin auszulegen, dass

 

sich die dort angesprochenen relevanten Beweismittel, die sich in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befinden, auch auf solche beziehen, die derjenige, gegen den sich der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln richtet, neu erstellen muss, indem er Informationen, Kenntnisse oder Daten, die sich in seiner Verfügungsgewalt befinden, zusammenstellt oder klassifiziert, vorbehaltlich der strikten Wahrung von Art. 5 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie, der die befassten nationalen Gerichte dazu verpflichtet, dass die von ihnen angeordnete Offenlegung von Beweismitteln relevant, verhältnismäßig und erforderlich ist, wobei sie die berechtigten Interessen und Grundrechte des Antragsgegners berücksichtigen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Spanisch.

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