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Document 62021CJ0122

    Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 2. Juni 2022.
    Get Fresh Cosmetics Limited gegen Valstybinė vartotojų teisių apsaugos tarnyba.
    Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 87/357/EWG – Art. 1 Abs. 2 – Geltungsbereich – Nichtlebensmittel, die mit Lebensmitteln verwechselt werden können – Begriff – Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals – Vermutung der Gefährlichkeit – Fehlen – Beweis.
    Rechtssache C-122/21.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:421

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

    2. Juni 2022 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 87/357/EWG – Art. 1 Abs. 2 – Geltungsbereich – Nichtlebensmittel, die mit Lebensmitteln verwechselt werden können – Begriff – Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals – Vermutung der Gefährlichkeit – Fehlen – Beweis“

    In der Rechtssache C‑122/21

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) mit Entscheidung vom 24. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Februar 2021, in dem Verfahren

    Get Fresh Cosmetics Limited

    gegen

    Valstybinė vartotojų teisių apsaugos tarnyba,

    Beteiligter:

    V. U.,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter J. Passer, F. Biltgen und N. Wahl (Berichterstatter) sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

    Generalanwalt: M. Szpunar,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der Get Fresh Cosmetics Limited, vertreten durch M. Inta, Advokatas,

    der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,

    der griechischen Regierung, vertreten durch V. Karra und O. Patsopoulou als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Goddin, E. Sanfrutos Cano und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 der Richtlinie 87/357/EWG des Rates vom 25. Juni 1987 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Erzeugnisse, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist und die die Gesundheit oder die Sicherheit der Verbraucher gefährden (ABl. 1987, L 192, S. 49).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Get Fresh Cosmetics Limited und dem Valstybinė vartotojų teisių apsaugos tarnyba (Nationales Amt für Verbraucherschutz, Litauen) (im Folgenden: Verbraucherschutzamt) wegen eines Get Fresh Cosmetics auferlegten Verbots, bestimmte kosmetische Mittel in Verkehr zu bringen.

    Rechtlicher Rahmen

    Europäisches Recht

    Richtlinie 87/357

    3

    In den Erwägungsgründen 1 bis 7 der Richtlinie 87/357 heißt es:

    „In mehreren Mitgliedstaaten bestehen Rechts- und Verwaltungsvorschriften für bestimmte Erzeugnisse, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist und die die Sicherheit oder die Gesundheit der Verbraucher gefährden. Sie sind jedoch von ihrem Inhalt, ihrer Tragweite und ihrem Anwendungsbereich her unterschiedlich. Insbesondere betreffen die genannten Vorschriften in einigen Mitgliedstaaten alle Erzeugnisse, die wie Lebensmittel aussehen, jedoch keine Lebensmittel sind, und in anderen Mitgliedstaaten betreffen sie nur die Erzeugnisse, die mit Lebensmitteln – insbesondere Süßigkeiten – verwechselt werden können.

    Diese Situation führt zu erheblichen Behinderungen des freien Warenverkehrs und zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Gemeinschaft, ohne dass ein wirksamer Schutz der Verbraucher, insbesondere von Kindern, gewährleistet wird.

    Diese Hindernisse beim Errichten und dem Funktionieren des Gemeinsamen Marktes sind zu beseitigen; gemäß den Entschließungen des Rates vom 14. April 1975 und vom 19. Mai 1981 über das erste [ABl. 1975, C 92, S. 1] und zweite [ABl. 1981, C 133, S. 1] Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher sowie gemäß der Entschließung des Rates vom 23. Juni 1986 über neue Impulse auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes [ABl. 1986, C 167, S. 1] ist ein angemessener Schutz des Verbrauchers zu gewährleisten.

    Die Gesundheit und die Sicherheit der Verbraucher müssen in den einzelnen Mitgliedstaaten gleichwertig geschützt werden.

    Hierzu sind die Einfuhr, die Vermarktung und entweder die Herstellung oder die Ausfuhr der Erzeugnisse, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist und die deshalb die Sicherheit oder die Gesundheit der Verbraucher gefährden, zu untersagen.

    Es müssen von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten durchzuführende Kontrollen vorgesehen werden.

    Gemäß den in den Entschließungen des Rates über den Verbraucherschutz genannten Grundsätzen müssen die gefährlichen Erzeugnisse vom Markt genommen werden.“

    4

    Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

    „(1)   Diese Richtlinie gilt für die in Absatz 2 definierten Erzeugnisse, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist und die die Sicherheit oder die Gesundheit der Verbraucher gefährden.

    (2)   Unter Absatz 1 fallen diejenigen Erzeugnisse, die zwar keine Lebensmittel sind, bei denen jedoch aufgrund ihrer Form, ihres Geruchs, ihrer Farbe, ihres Aussehens, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung, ihres Volumens oder ihrer Größe vorhersehbar ist, dass sie von den Verbrauchern, insbesondere von Kindern, mit Lebensmitteln verwechselt werden und deshalb zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden, was mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden ist.“

    5

    Art. 2 dieser Richtlinie sieht vor:

    „Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um die Vermarktung, die Einfuhr und entweder die Herstellung oder die Ausfuhr der unter diese Richtlinie fallenden Erzeugnisse zu untersagen.“

    6

    Art. 3 dieser Richtlinie lautet:

    „Die Mitgliedstaaten sorgen insbesondere für Kontrollen der auf dem Markt befindlichen Erzeugnisse, um sicherzustellen, dass die in dieser Richtlinie genannten Erzeugnisse nicht in den Verkehr gebracht werden, und treffen alle zweckdienlichen Maßnahmen, damit ihre zuständigen Behörden alle unter diese Richtlinie fallenden Erzeugnisse, die sich gegebenenfalls auf ihrem Markt befinden, aus dem Verkehr ziehen bzw. aus dem Verkehr ziehen lassen.“

    Verordnung (EG) Nr. 1223/2009

    7

    In den Erwägungsgründen 9 und 10 der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über kosmetische Mittel (ABl. 2009, L 342, S. 59) heißt es:

    „(9)

    Die kosmetischen Mittel sollten bei normalem oder vernünftigerweise voraussehbarem Gebrauch sicher sein. Insbesondere darf dabei eine Nutzen-Risiko-Abwägung kein Risiko für die menschliche Gesundheit rechtfertigen.

    (10)

    Die Aufmachung kosmetischer Mittel und insbesondere ihre Form, ihr Geruch, ihre Farbe, ihr Aussehen, ihre Verpackung, ihre Kennzeichnung, ihr Volumen und ihre Größe sollte die Gesundheit und die Sicherheit der Verbraucher nicht dadurch gefährden, dass sie mit Lebensmitteln verwechselt werden, im Einklang mit der Richtlinie [87/357].“

    8

    Art. 3 („Sicherheit“) Buchst. a dieser Verordnung bestimmt:

    „Die auf dem Markt bereitgestellten kosmetischen Mittel müssen bei normaler oder vernünftigerweise vorhersehbarer Verwendung für die menschliche Gesundheit sicher sein, insbesondere unter Berücksichtigung folgender Punkte:

    a)

    Aufmachung, einschließlich Übereinstimmung mit der Richtlinie [87/357];

    …“

    Litauisches Recht

    9

    Art. 6 des Lietuvos Respublikos maisto įstatymas (Lebensmittelgesetz der Republik Litauen) regelt die Beschränkungen für das Inverkehrbringen von Lebensmitteln und sonstigen Lebensmitteln ähnlichen Erzeugnissen. Abs. 2 dieses Artikels untersagt das Inverkehrbringen von Erzeugnissen, die Lebensmitteln in Form, Geruch, Farbe, Aussehen, Etikettierung, Aufmachung, Größe oder in anderer Weise so ähnlich sind, dass Verbraucher, insbesondere Kinder, diese Erzeugnisse irrtümlich als Lebensmittel verzehren könnten, obwohl dadurch ihre Gesundheit oder ihr Leben gefährdet sein könnte.

    10

    In Art. 9 des Lietuvos Respublikos produktų saugos įstatymas (Produktsicherheitsgesetz der Republik Litauen, im Folgenden: Produktsicherheitsgesetz) heißt es:

    „Der Verkäufer ist verpflichtet,

    nur sichere Erzeugnisse in Verkehr zu bringen.

    …“

    11

    Art. 3 Abs. 5 des Produktsicherheitsgesetzes sieht vor:

    „Der Begriff ‚sichere Erzeugnisse‘ bezeichnet Erzeugnisse, die bei üblichem, vom Hersteller beschriebenem oder vernünftigerweise voraussehbarem auch langfristigem Gebrauch kein Risiko oder nur ein Risiko für das Leben oder die Gesundheit der Verbraucher darstellen, das aufgrund von Rechtsvorschriften als akzeptabel und mit einem hohen Verbraucherschutzniveau vereinbar gilt, wobei Folgendes berücksichtigt wird:

    (1)

    die Merkmale der Erzeugnisse, einschließlich ihrer Zusammensetzung, Verpackung, Montageanleitung, ihres Gebrauchs und ihrer Instandhaltung;

    (2)

    die Auswirkungen auf andere Erzeugnisse, wenn vernünftigerweise voraussehbar ist, dass sie zusammen mit anderen Erzeugnissen verwendet werden;

    (3)

    die Präsentation der Erzeugnisse für den Verbraucher, Hinweise auf den Erzeugnissen oder ihrer Verpackung, Anweisungen für ihren Gebrauch und ihre Entsorgung und sonstige vom Hersteller zur Verfügung gestellte Angaben oder Informationen;

    (4)

    die Kategorie der Verbraucher, insbesondere Kinder, bei denen eine erhöhte Gefährdung beim Gebrauch der Erzeugnisse besteht.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    12

    Get Fresh Cosmetics ist eine Gesellschaft englischen Rechts, die kosmetische Mittel wie Badekugeln herstellt. Diese Erzeugnisse werden in Litauen u. a. über eine Website vertrieben.

    13

    Mit Schreiben vom 2. Mai 2018 wandte sich das Verbraucherschutzamt an den Händler der Get-Fresh-Cosmetics-Erzeugnisse in Litauen und wies darauf hin, dass es die auf der betreffenden Website verkauften kosmetischen Mittel kontrollieren werde. Es forderte diesen Händler auf, ihm für bestimmte nach dem Zufallsprinzip ausgewählte kosmetische Mittel – nämlich verschiedene Arten von Badekugeln (im Folgenden: in Rede stehende Erzeugnisse) – Namen und Anschrift des Herstellers, die Etiketten in der Originalsprache und auf Litauisch, andere Identifizierungsdaten, die Internationale Nomenklatur für kosmetische Inhaltsstoffe (INCI) (International Nomenclature of Cosmetic Ingredients) sowie weitere für diese Kontrolle erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen.

    14

    Mit E‑Mail vom 3. Mai 2018 teilte dieser Händler dem Verbraucherschutzamt mit, dass er mehrere Wochen zuvor, nachdem er über die Ähnlichkeit der in Rede stehenden Erzeugnisse mit Lebensmitteln informiert worden sei, diese von der Website entfernt habe. Er wies auch darauf hin, dass alle Erzeugnisse bei der Meldestelle für kosmetische Mittel (Cosmetic productification portal) angeführt seien, in der Union registriert seien und ein Etikett trügen, das darauf hinweise, dass sie weder zum Mund geführt noch geschluckt werden dürften. Schließlich legte er dem Verbraucherschutzamt die geforderten Dokumente vor.

    15

    Nach der Prüfung der Vereinbarkeit der in Rede stehenden Erzeugnisse mit den Anforderungen der Verordnung Nr. 1223/2009 sowie des Produktsicherheitsgesetzes und auf der Grundlage des Prüfberichts erließ das Verbraucherschutzamt am 29. August 2018 Entscheidungen, mit denen festgestellt wurde, dass diese Erzeugnisse nicht den Anforderungen von Art. 3 Buchst. a und Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1223/2009 genügten, weil sie in ihrem Aussehen, ihrem Geruch, ihrer Form und ihrer Größe Lebensmittel nachahmten und weil sie mangels Erkennbarkeit ihrer tatsächlichen Beschaffenheit die Gesundheit oder die Sicherheit der Verbraucher, insbesondere von Kindern und älteren Menschen, gefährdeten. Mit diesen Entscheidungen untersagte das Verbraucherschutzamt zum einen das Inverkehrbringen der in Rede stehenden Erzeugnisse auf dem Markt und verpflichtete zum anderen den betreffenden Händler, sie vom Markt zu nehmen, die Verbraucher auf das mit diesen Erzeugnissen verbundene Risiko hinzuweisen, die Verbraucher über die Möglichkeit der Rückgabe der Erzeugnisse an den Verkäufer zu informieren und Auskunft über das weitere Vorgehen zu geben.

    16

    Das Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionales Verwaltungsgericht Vilnius, Litauen) gab der Klage von Get Fresh Cosmetics teilweise statt, indem es diese Entscheidungen aufhob und das Verbraucherschutzamt verpflichtete, erneut zu prüfen, ob die in Rede stehenden Erzeugnisse den Anforderungen von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 1223/2009 entsprechen.

    17

    Auf die Berufung des Verbraucherschutzamts hob das vorlegende Gericht dieses Urteil auf und verwies die Sache an das Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionales Verwaltungsgericht Vilnius) zurück. Dieses wies die Klage von Get Fresh Cosmetics ab, die beim vorlegenden Gericht Berufung u. a. mit der Begründung einlegte, dass das Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionales Verwaltungsgericht Vilnius) Art. 1 der Richtlinie 87/357 rechtsfehlerhaft ausgelegt habe.

    18

    Get Fresh Cosmetics trägt vor, nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 87/357 müsse nachgewiesen werden, dass es sich bei den in Rede stehenden Erzeugnissen um Nicht-Lebensmittel handele, bei denen aufgrund ihrer Form, ihres Geruchs, ihrer Farbe, ihres Aussehens, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung, ihres Volumens oder ihrer Größe vorhersehbar sei, dass sie von den Verbrauchern, insbesondere von Kindern, mit Lebensmitteln verwechselt würden und deshalb zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt würden, was mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden sei.

    19

    In diesem Zusammenhang macht sie geltend, das Verbraucherschutzamt dürfe sich nicht mit dem Nachweis begnügen, dass die in Rede stehenden Erzeugnisse mit Lebensmitteln verwechselt werden könnten, sondern müsse auch nachweisen, dass eine solche Verwechslung gefährlich sei. Zu diesem Zweck müsse das Verbraucherschutzamt Laboranalysen und ‑tests durchführen, um festzustellen, ob die in Rede stehenden Erzeugnisse zerbrechen könnten und ob eine Gefahr der Vergiftung bestehe, wenn sie zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt würden.

    20

    Das Verbraucherschutzamt trägt vor, da kosmetische Mittel nicht zum Verzehr bestimmt seien, reiche es für die Annahme, dass ein Nicht-Lebensmittel ein Risiko für die Gesundheit der Verbraucher darstelle, aus, dass dieses Nicht-Lebensmittel einem Lebensmittel ähnlich sei und deshalb vorhersehbar sei, dass das kosmetische Mittel zum Mund geführt werde.

    21

    Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass sich aus der Auslegung der Verordnung Nr. 1223/2009 und der Richtlinie 87/357, die durch die Materialien, die zu ihrem Erlass geführt hätten, erläutert worden sei, ergebe, dass die Ähnlichkeit zwischen einem kosmetischen Mittel und einem Lebensmittel ein Faktor sei, der ipso facto ein zumindest potenzielles Risiko für die Gesundheit oder Sicherheit von Verbrauchern, insbesondere von Kindern, entstehen lasse.

    22

    Dazu führt es aus, dass Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 87/357 den Anwendungsbereich dieser Richtlinie so festlege, dass sie auch für potenzielle Risiken gelte. Es bezweifelt die Erforderlichkeit des Nachweises, dass die in dieser Bestimmung definierten Erzeugnisse tatsächlich gefährlich seien. Sollte diese Bestimmung jedoch dahin auszulegen sein, dass die Gefahr für die Gesundheit oder die Sicherheit durch objektive und belegte Daten nachgewiesen werden müsse, möchte das vorlegende Gericht wissen, wer die Beweislast trägt.

    23

    Insoweit hebt das vorlegende Gericht hervor, dass nach der Verordnung Nr. 1223/2009 die verantwortliche Person sicherstellen müsse, dass die kosmetischen Mittel mit der Richtlinie 87/357 konform seien, noch bevor sie in Verkehr gebracht würden, und dass sie u. a. über Daten verfügen müsse, um diese Konformität zu belegen.

    24

    Unter diesen Umständen hat das Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 87/357 dahin auszulegen, dass die unter Abs. 1 dieses Artikels fallenden Erzeugnisse als diejenigen definiert werden, die zwar keine Lebensmittel sind, bei denen jedoch aufgrund ihrer Form, ihres Geruchs, ihrer Farbe, ihres Aussehens, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung, ihres Volumens oder ihrer Größe vorhersehbar ist, dass sie von den Verbrauchern, insbesondere von Kindern, mit Lebensmitteln verwechselt werden und deshalb zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden, was mit Risiken verbunden ist, da durch objektive und belegte Daten nachgewiesen ist, dass z. B. die Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals besteht?

    2.

    Falls die erste Frage bejaht wird, hat die zuständige Aufsichtsbehörde des Mitgliedstaats dafür die Beweislast zu tragen?

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten Frage

    25

    Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 87/357 dahin auszulegen ist, dass durch objektive und belegte Daten nachgewiesen werden muss, dass es mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden sein kann, wenn Erzeugnisse zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden, die zwar keine Lebensmittel sind, bei denen jedoch aufgrund ihrer Form, ihres Geruchs, ihrer Farbe, ihres Aussehens, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung, ihres Volumens oder ihrer Größe vorhersehbar ist, dass sie von den Verbrauchern, insbesondere von Kindern, mit Lebensmitteln verwechselt werden und deshalb zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden.

    26

    Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht insbesondere wissen, ob Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 87/357 eine Vermutung der Gefährlichkeit von Erzeugnissen, die das Erscheinungsbild von Lebensmitteln haben, eingeführt hat oder ob die Gefährlichkeit solcher Erzeugnisse durch objektive und belegte Daten nachgewiesen werden muss.

    27

    Hierzu ist zum Ersten festzustellen, dass die Richtlinie 87/357 nach ihrem Art. 1 Abs. 1 für Erzeugnisse gilt, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist und die die Sicherheit oder die Gesundheit der Verbraucher gefährden.

    28

    Es ist auch darauf hinzuweisen, dass nach Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie die Erzeugnisse, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist und die die Sicherheit oder die Gesundheit der Verbraucher gefährden, diejenigen sind, die zwar keine Lebensmittel sind, bei denen jedoch aufgrund ihrer Form, ihres Geruchs, ihrer Farbe, ihres Aussehens, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung, ihres Volumens oder ihrer Größe vorhersehbar ist, dass sie von den Verbrauchern, insbesondere von Kindern, mit Lebensmitteln verwechselt werden und deshalb zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden, was mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden ist.

    29

    Es ist jedoch festzustellen, dass der Wortlaut dieser Bestimmungen in keiner Weise darauf hindeutet, dass sie eine Vermutung der Gefährlichkeit von Erzeugnissen, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist, oder eine Verpflichtung der zuständigen nationalen Behörden, durch objektive und belegte Daten nachzuweisen, dass es mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden sein kann, wenn solche Erzeugnisse zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden, einführen.

    30

    Art. 1 der Richtlinie 87/357 stellt nämlich keinen unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen dem Umstand, dass die tatsächliche Beschaffenheit eines Erzeugnisses nicht erkennbar ist, und dem Umstand, dass es die Sicherheit oder die Gesundheit der Verbraucher gefährdet, her, sondern sieht lediglich vor, dass ein Erzeugnis unter das durch die Richtlinie 87/357 eingeführte Verbot der Vermarktung, der Einfuhr, der Herstellung oder der Ausfuhr fällt, wenn vier kumulative Voraussetzungen erfüllt sind.

    31

    Erstens muss es sich bei dem Erzeugnis um ein Nicht-Lebensmittel handeln, das die Form, den Geruch, die Farbe, das Aussehen, die Aufmachung, die Etikettierung, das Volumen oder die Größe eines Lebensmittels hat.

    32

    Zweitens müssen die in der vorstehenden Randnummer genannten Merkmale so beschaffen sein, dass vorhersehbar ist, dass Verbraucher, insbesondere Kinder, das Erzeugnis mit einem Lebensmittel verwechseln.

    33

    Drittens muss vorhersehbar sein, dass Verbraucher das Erzeugnis deshalb zum Mund führen, lutschen oder schlucken.

    34

    Viertens muss es mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden sein können, wenn dieses Erzeugnis zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt wird.

    35

    Zum Zweiten ist festzustellen, dass die Richtlinie 87/357 keine Bestimmung enthält, die eine Vermutung der Gefährlichkeit von Erzeugnissen, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist, und insbesondere auch keine Vermutung darüber einführt, dass es mit solchen Risiken verbunden ist, wenn solche Erzeugnisse zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden, sondern dass der Unionsgesetzgeber in Bezug auf diese letzte Voraussetzung im Gegenteil verlangt, dass diese Risiken im Einzelfall beurteilt werden.

    36

    Außerdem liefe eine Auslegung von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 87/357 dahin, dass er eine solche Vermutung einführt, auf ein faktisches Verbot der Vermarktung solcher Erzeugnisse hinaus.

    37

    Die Richtlinie 87/357 bezweckt aber nicht, die Vermarktung aller Erzeugnisse, die keine Lebensmittel sind und mit Lebensmitteln verwechselt werden können, grundsätzlich zu verbieten.

    38

    Aus den Erwägungsgründen 2 bis 5 dieser Richtlinie ergibt sich nämlich, dass sie erlassen wurde, um die Behinderungen des freien Warenverkehrs zu beseitigen, die sich aus den nationalen Vorschriften über bestimmte Erzeugnisse ergeben, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist und die die Sicherheit oder die Gesundheit der Verbraucher gefährden, und gleichzeitig die Gesundheit und die Sicherheit der Verbraucher sicherzustellen und zu gewährleisten, dass für sie in den verschiedenen Mitgliedstaaten ein gleichwertiges Schutzniveau gilt.

    39

    Zum Dritten ergibt sich aus Art. 1 der Richtlinie 87/357 und insbesondere aus den vier in den Rn. 31 bis 34 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen, dass diese Richtlinie, wie die Europäische Kommission geltend gemacht hat, für eine unbestimmte Zahl von Erzeugnissen gilt, die bestimmte Merkmale aufweisen und für die in jedem Einzelfall und je nach Mitgliedstaat zu bestimmen ist, ob sie mit den in dieser Richtlinie angeführten Risiken verbunden sein können.

    40

    Die Richtlinie 87/357 setzt somit voraus, dass die zuständigen nationalen Behörden in jedem Einzelfall prüfen, ob die in Art. 1 dieser Richtlinie aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind, und den Erlass einer auf Art. 2 dieser Richtlinie gestützten Entscheidung über ein Verbot eines Erzeugnisses begründen, damit sie einer verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden kann.

    41

    Zu diesem Zweck müssen sie in dem Fall, dass das in Rede stehende Erzeugnis das Erscheinungsbild oder den Geruch eines Lebensmittels hat, nicht nur die Wahrscheinlichkeit, mit der es mit einem Lebensmittel verwechselt und deshalb zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt wird, sondern auch die Risiken einer solchen Handlung beurteilen.

    42

    Diese Beurteilung muss zum einen auf den objektiven Merkmalen der betreffenden Erzeugnisse beruhen. So wird ein Erzeugnis, das nur grob das Erscheinungsbild oder den Geruch eines Lebensmittels hat, wahrscheinlich nicht mit einem solchen Lebensmittel verwechselt werden. Solche Merkmale, insbesondere die Materialien und die Zusammensetzung eines Nicht-Lebensmittels, die derjenige, der das Erzeugnis in Verkehr bringt, gegebenenfalls mitzuteilen hat, müssen auch der Feststellung dienen, ob es mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden sein kann, wenn das Erzeugnis zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt wird.

    43

    Bei dieser Beurteilung ist zum anderen die Verletzlichkeit von Personen- und Verbrauchergruppen zu berücksichtigen, die mit Erzeugnissen, die das Erscheinungsbild von Lebensmitteln haben, konfrontiert sein können, darunter insbesondere von Kindern, wie sich aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 87/357 ergibt.

    44

    Viertens muss sich diese Beurteilung zwar auf die vier in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 87/357 aufgestellten Voraussetzungen beziehen, doch verlangt weder diese noch irgendeine andere Bestimmung dieser Richtlinie, dass die zuständigen nationalen Behörden durch objektive und belegte Daten nachweisen, dass die Verbraucher die Erzeugnisse mit Lebensmitteln verwechseln werden und dass die Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals erwiesen ist.

    45

    Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung reicht es nämlich aus, dass es mit solchen Risiken verbunden sein kann, wenn das Erzeugnis zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt wird. Außerdem verstieße es gegen das mit der Richtlinie 87/357 verfolgte Gebot des Schutzes von Personen und Verbrauchern, würde das Erfordernis auferlegt, die Gewissheit, dass sich diese Gefahren verwirklichen werden, nachzuweisen, und es würde kein angemessenes Gleichgewicht zwischen diesem Gebot und dem des freien Warenverkehrs gewährleistet, ein Ziel, das mit dieser Richtlinie, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 2 bis 5 ergibt, verfolgt wird.

    46

    Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 87/357 dahin auszulegen ist, dass es nicht erforderlich ist, durch objektive und belegte Daten nachzuweisen, dass es mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden sein kann, wenn Erzeugnisse zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden, die zwar keine Lebensmittel sind, bei denen jedoch aufgrund ihrer Form, ihres Geruchs, ihrer Farbe, ihres Aussehens, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung, ihres Volumens oder ihrer Größe vorhersehbar ist, dass sie von den Verbrauchern, insbesondere von Kindern, mit Lebensmitteln verwechselt werden und deshalb zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden. Die zuständigen nationalen Behörden müssen jedoch im Einzelfall prüfen, ob ein Erzeugnis die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllt, und begründen, warum dies der Fall ist.

    Zur zweiten Frage

    47

    In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

    Kosten

    48

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 87/357/EWG des Rates vom 25. Juni 1987 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Erzeugnisse, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist und die die Gesundheit oder die Sicherheit der Verbraucher gefährden ist dahin auszulegen, dass es nicht erforderlich ist, durch objektive und belegte Daten nachzuweisen, dass es mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden sein kann, wenn Erzeugnisse zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden, die zwar keine Lebensmittel sind, bei denen jedoch aufgrund ihrer Form, ihres Geruchs, ihrer Farbe, ihres Aussehens, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung, ihres Volumens oder ihrer Größe vorhersehbar ist, dass sie von den Verbrauchern, insbesondere von Kindern, mit Lebensmitteln verwechselt werden und deshalb zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden. Die zuständigen nationalen Behörden müssen jedoch im Einzelfall prüfen, ob ein Erzeugnis die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllt, und begründen, warum dies der Fall ist.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.

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