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Document 62021CJ0088

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 15. Dezember 2022.
Regionų apygardos administracinio teismo Kauno rūmai.
Vorabentscheidungsersuchen der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II) – Beschluss 2007/533/JI – Ausschreibung einer gesuchten Sache – Art. 38 – Ausschreibungsziele – Sicherstellung oder Beweissicherung in Strafverfahren – Art. 39 – Maßnahme aufgrund einer Ausschreibung – Nach Maßgabe des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten ergriffene Maßnahmen – Nationale Regelung, die eine Verpflichtung vorsieht, die Zulassung von im SIS II ausgeschriebenen Fahrzeugen zu verbieten.
Rechtssache C-88/21.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:982

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

15. Dezember 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II) – Beschluss 2007/533/JI – Ausschreibung einer gesuchten Sache – Art. 38 – Ausschreibungsziele – Sicherstellung oder Beweissicherung in Strafverfahren – Art. 39 – Maßnahme aufgrund einer Ausschreibung – Nach Maßgabe des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten ergriffene Maßnahmen – Nationale Regelung, die eine Verpflichtung vorsieht, die Zulassung von im SIS II ausgeschriebenen Fahrzeugen zu verbieten“

In der Rechtssache C‑88/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) mit Entscheidung vom 8. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Februar 2021, in dem Verfahren

Regionų apygardos administracinio teismo Kauno rūmai,

Beteiligter:

Lietuvos Respublikos vidaus reikalų ministerija,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,

der lettischen Regierung, vertreten durch J. Davidoviča und K. Pommere als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. A. M. de Ree als Bevollmächtigte,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, L. Inez Fernandes, M. J. Ramos und C. Vieira Guerra als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Grønfeldt und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Juli 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 38 Abs. 1 und Art. 39 Abs. 3 des Beschlusses 2007/533/JI des Rates vom 12. Juni 2007 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) (ABl. 2007, L 205, S. 63, im Folgenden: SIS‑II‑Beschluss oder Beschluss).

2

Es ergeht im Rahmen eines vom Regionų apygardos administracinio teismo Kauno rūmai (Regionalverwaltungsgericht, Abteilung Kaunas, Litauen) beim Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) eingeleiteten Verfahrens, in dem es um die Rechtmäßigkeit einer litauischen Regelung geht, die es verbietet, im Schengener Informationssystem der zweiten Generation (im Folgenden: SIS II) ausgeschriebene Fahrzeuge in das nationale Zulassungsregister einzutragen.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung (EG) Nr. 1986/2006

3

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1986/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Zugang von für die Ausstellung von Kfz-Zulassungsbescheinigungen zuständigen Dienststellen der Mitgliedstaaten zum Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II) (ABl. 2006, L 381, S. 1, berichtigt in ABl. 2015, L 26, S. 34) bestimmt:

„Ungeachtet der Artikel 38 und 40 und des Artikels 46 Absatz 1 des [SIS‑II‑]Beschlusses erhalten die für die Ausstellung von Kfz-Zulassungsbescheinigungen im Sinne der Richtlinie 1999/37/EG [des Rates vom 29. April 1999 über Zulassungsdokumente für Fahrzeuge (ABl. 1999, L 138, S. 57)] zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten Zugang zu folgenden gemäß Artikel 38 Absatz 2 Buchstaben a, b und f jenes Beschlusses im SIS II gespeicherten Daten zu dem alleinigen Zweck der Überprüfung, ob das ihnen zur Zulassung vorgeführte Fahrzeug gestohlen, unterschlagen oder sonst abhanden gekommen ist bzw. zur Beweissicherung in Strafverfahren gesucht wird:

a)

Daten betreffend Kraftfahrzeuge mit einem Hubraum von mehr als 50 ccm;

…“

SIS‑II‑Beschluss

4

In den Erwägungsgründen 5, 8 und 13 des SIS‑II‑Beschlusses heißt es:

„(5)

Das SIS II sollte als Ausgleichsmaßnahme zur Wahrung eines hohen Maßes an Sicherheit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Europäischen Union beitragen, indem es die operative Zusammenarbeit zwischen Polizei- und Justizbehörden in Strafsachen unterstützt.

(8)

Es ist notwendig, ein Handbuch zu erstellen, das Durchführungsvorschriften für den Austausch von bestimmten Zusatzinformationen im Hinblick auf die aufgrund der Ausschreibung erforderliche Maßnahme enthält. Die nationalen Behörden jedes Mitgliedstaats sollten den Austausch dieser Informationen gewährleisten.

(13)

Die Ausschreibungen sollten nicht länger als für den verfolgten Zweck erforderlich im SIS II gespeichert werden. … Sachfahndungsausschreibungen zur Sicherstellung oder Beweissicherung in Strafverfahren sollten nach zehn Jahren automatisch aus dem SIS II gelöscht werden. …“

5

Art. 1 („Einrichtung und allgemeines Ziel des SIS II“) Abs. 2 des Beschlusses sieht vor:

„Das SIS II hat zum Ziel, nach Maßgabe dieses Beschlusses anhand der über dieses System erteilten Informationen ein hohes Maß an Sicherheit in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Europäischen Union, einschließlich der Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie des Schutzes der Sicherheit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, zu gewährleisten …“

6

Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 1 des Beschlusses bestimmt:

„Im Sinne dieses Beschlusses gelten folgende Begriffsbestimmungen:

a)

‚Ausschreibung‘: ein in das SIS II eingegebener Datensatz, der den zuständigen Behörden die Identifizierung einer Person oder Sache im Hinblick auf die Ergreifung spezifischer Maßnahmen ermöglicht;

b)

‚Zusatzinformationen‘: nicht im SIS II gespeicherte Informationen, die jedoch mit SIS‑II-Ausschreibungen in Zusammenhang stehen und in folgenden Fällen ausgetauscht werden:

ii)

nach einem Treffer, damit die geeigneten Maßnahmen ergriffen werden können;

…“

7

In Art. 8 Abs. 1 und 3 des SIS‑II‑Beschlusses heißt es:

„(1)   Der Austausch von Zusatzinformationen erfolgt über die Kommunikationsinfrastruktur im Einklang mit den Bestimmungen des SIRENE‑Handbuchs. …

(3)   Ersuchen anderer Mitgliedstaaten um Zusatzinformationen werden so schnell wie möglich beantwortet.“

8

Art. 38 („Ausschreibungsziele und ‑bedingungen“) des Beschlusses bestimmt:

„(1)   Daten in Bezug auf Sachen, die zur Sicherstellung oder Beweissicherung in Strafverfahren gesucht werden, werden in das SIS II eingegeben.

(2)   Es werden folgende Kategorien von leicht identifizierbaren Sachen einbezogen:

a)

Kraftfahrzeuge mit einem Hubraum von mehr als 50 ccm, Wasserfahrzeuge und Luftfahrzeuge;

…“

9

Art. 39 („Maßnahme aufgrund einer Ausschreibung“) des SIS‑II‑Beschlusses lautet:

„(1)   Ergibt eine Abfrage, dass eine Sachfahndungsausschreibung besteht, so setzt sich die aufgreifende mit der ausschreibenden Stelle in Verbindung, um erforderliche Maßnahmen abzustimmen. Zu diesem Zweck können nach Maßgabe dieses Beschlusses auch personenbezogene Daten übermittelt werden.

(2)   Informationen nach Absatz 1 werden im Wege des Austauschs von Zusatzinformationen übermittelt.

(3)   Der aufgreifende [Mitgliedstaat] ergreift Maßnahmen nach Maßgabe seines nationalen Rechts.“

10

In Art. 45 („Erfassungsdauer der Sachfahndungsausschreibungen“) des Beschlusses heißt es:

„(1)   Die gemäß diesem Beschluss in das SIS II eingegebenen Sachausschreibungen werden nicht länger als für den Zweck, für den sie eingegeben wurden[,] erforderlich gespeichert.

(3)   Sachausschreibungen nach Artikel 38 werden nicht länger als zehn Jahre gespeichert.

(4)   Die Erfassungsdauer nach [Absatz 3] kann verlängert werden, wenn dies für den der Ausschreibung zugrunde liegenden Zweck erforderlich ist. In diesem Fall [gilt Absatz 3] auch für die Verlängerung.“

11

Art. 49 Abs. 1 und 2 des SIS‑II‑Beschlusses sieht vor:

„(1)   Der ausschreibende Mitgliedstaat ist für die … Aktualität der Daten … der Eingabe in das SIS II verantwortlich.

(2)   Die Änderung, Ergänzung, Berichtigung, Aktualisierung oder Löschung der Daten darf nur durch den ausschreibenden Mitgliedstaat vorgenommen werden.“

SIRENE‑Handbuch

12

Der Anhang des Durchführungsbeschlusses 2013/115/EU der Kommission vom 26. Februar 2013 über das SIRENE‑Handbuch und andere Durchführungsbestimmungen für das Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II) (ABl. 2013, L 71, S. 1) in der durch den Durchführungsbeschluss (EU) 2017/1528 der Kommission vom 31. August 2017 (ABl. 2017, L 231, S. 6) geänderten Fassung (im Folgenden: SIRENE‑Handbuch) sieht in Abschnitt 2.1 vor:

„Begriffsbestimmungen

‚Ausschreibender Mitgliedstaat‘: Mitgliedstaat, der die Ausschreibung in das SIS II eingegeben hat;

‚vollziehender Mitgliedstaat‘: Mitgliedstaat, der im Trefferfall die erforderlichen Maßnahmen vollzieht;

…“

13

Abschnitt 2.10 („Löschung, wenn die Voraussetzungen für die Beibehaltung der Ausschreibung nicht mehr gegeben sind“) dieses Handbuchs bestimmt:

„Ausschreibungen dürfen nur so lange im SIS II gespeichert werden, bis der Zweck, für den sie eingegeben wurden, erfüllt ist.

Sobald die Voraussetzungen für die Beibehaltung der Ausschreibung nicht mehr erfüllt sind, löscht der ausschreibende Mitgliedstaat die Ausschreibung unverzüglich. …

…“

Litauisches Recht

14

Aus Nr. 25 der Vorschriften des litauischen nationalen SIS II, gebilligt durch die Lietuvos Respublikos vidaus reikalų ministro įsakymas Nr. 1V-324 „Dėl Lietuvos nacionalinės antrosios kartos Šengeno informacijos sistemos nuostatų patvirtinimo“ (Verordnung Nr. 1V-324 des Innenministers der Republik Litauen zur Billigung der Vorschriften für das litauische nationale Schengener Informationssystem der zweiten Generation) vom 17. September 2007 (Žin., 2007, Nr. 100-4084) geht hervor, dass die Abteilung für Informatik und Kommunikation des litauischen Innenministeriums den Zugang des öffentlichen Unternehmens Regitra zu der N.SIS‑II-Datenliste gemäß den Nrn. 1 und 3.1 bis 3.3 (Daten über gesuchte Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger, nationales Fahrzeugzulassungsregister und Zulassungsdokumente gesuchter Kraftfahrzeuge) gewährleistet.

15

Art. 27 Abs. 1 des Lietuvos Respublikos saugaus eismo automobilių keliais įstatymas (Gesetz der Republik Litauen über die Sicherheit im Straßenverkehr) vom 12. Oktober 2000 (Žin., 2000, Nr. 92-2883) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht vor, dass „ordnungsgemäß zugelassene Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger … auf öffentlichen Straßen in der Republik Litauen fahren [dürfen]“.

16

Nr. 13 der Vorschriften über die Zulassung von Kraftfahrzeugen und ihrer Anhänger, gebilligt durch die Lietuvos Respublikos reikalų ministro įsakymas Nr. 260 „Dėl kelių transporto priemonių registravimo taisyklių patvirtinimo“ (Verordnung Nr. 260 des Innenministers der Republik Litauen zu den Vorschriften über die Zulassung von Straßenfahrzeugen) vom 25. Mai 2001 (Žin., 2001, Nr. 48-1683) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht vor:

„13. Das öffentliche Unternehmen Regitra informiert die Polizei, wenn

13.1 ein Antragsteller ein Fahrzeug zulassen möchte,

13.1.1 das oder dessen Motor oder Kennzeichen im Register der gesuchten Fahrzeuge, im litauischen Schengener Informationssystem oder in der Datenbank des Generalsekretariats von Interpol eingetragen ist;

…“

17

Nr. 14 dieser Zulassungsvorschriften bestimmt:

„Nach Unterrichtung der Polizei … prüft das öffentliche Unternehmen Regitra die Fahrzeugzulassungsanträge der Antragsteller erst nach den Untersuchungen oder Nachforschungen der Strafverfolgungsbehörden … Die in Nr. 13.1.1 der Zulassungsvorschriften genannten Fahrzeuge … dürfen erst zugelassen werden, nachdem sie aus dem Register der gesuchten Fahrzeuge, aus dem litauischen Schengener Informationssystem oder aus der Datenbank des Generalsekretariats von Interpol gelöscht worden sind.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18

Am 13. November 2015 erwarb D. R. gemäß einem mit AM Transportas geschlossenen Vertrag in Deutschland ein Kraftfahrzeug, das zuvor in Bulgarien gestohlen worden war.

19

Am 20. November 2015 wurde dieses Kraftfahrzeug im Fahrzeugregister in Deutschland abgemeldet, nach Litauen gebracht und an eine dritte Person weiterverkauft, auf deren Identität im Vorabentscheidungsersuchen nicht eingegangen wird.

20

Am 22. Februar 2016 beantragte diese dritte Person in Litauen bei Regitra, dem in Litauen mit der Zulassung von Kraftfahrzeugen betrauten öffentlichen Unternehmen, die Zulassung des Kraftfahrzeugs. Dabei erfuhr sie, dass das Kraftfahrzeug am 23. Dezember 2015 in Bulgarien im SIS II zur Fahndung ausgeschrieben worden war. Sie löste daher den bezüglich dieses Fahrzeugs geschlossenen Kaufvertrag auf.

21

Mit Entscheidung der litauischen Staatsanwaltschaft vom 21. September 2016 wurde das in Litauen wegen des betreffenden Kraftfahrzeugs eingeleitete Strafverfahren eingestellt, da nicht festgestellt werden konnte, dass in Litauen eine Straftat begangen worden war. Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, wurde das Kraftfahrzeug auf der Grundlage dieser Entscheidung an den Käufer D. R. zurückgegeben.

22

Die Eigentümerin des Kraftfahrzeugs zum Zeitpunkt des vermuteten Diebstahls, die bulgarische Tochtergesellschaft der Nabko Holding Company LLC, wurde durch die Übermittlung einer Kopie dieser Entscheidung und die Mitteilung der Identität von D. R. entsprechend informiert, so dass sie ihre Rechte hätte geltend machen können, was sie jedoch nicht getan hat. Auch der ausschreibende Mitgliedstaat hat trotz der Übermittlung der erforderlichen Informationen über drei Jahre danach noch keine Maßnahme zur Löschung der Ausschreibung des Kraftfahrzeugs aus dem SIS II ergriffen.

23

Mit Entscheidung vom 20. Februar 2019 lehnte die örtliche Zweigstelle von Regitra den von D. R. in Litauen gestellten Antrag auf Zulassung des betreffenden Fahrzeugs gemäß einer Bestimmung der litauischen Regelung ab, wonach im SIS II ausgeschriebene Fahrzeuge in Litauen erst nach der Löschung dieser Ausschreibung zugelassen werden dürfen.

24

AM Transportas legte einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung bei Regitra ein, die die Entscheidung der örtlichen Zweigstelle, den Antrag auf Zulassung des Fahrzeugs in Litauen abzulehnen, mit Entscheidung vom 28. März 2019 bestätigte.

25

Daraufhin erhob AM Transportas beim Regionų apygardos administracinio teismo Kauno rūmai (Regionalverwaltungsgericht, Abteilung Kaunas) Klage gegen die Entscheidungen von Regitra.

26

Dieses Gericht beantragte beim vorlegenden Gericht die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der fraglichen nationalen Regelung.

27

Dem vorlegenden Gericht stellt sich die Frage, ob eine nationale Regelung, die die Zulassung von Kraftfahrzeugen im nationalen Straßenfahrzeugregister davon abhängig macht, dass das betreffende Fahrzeug nicht im SIS II ausgeschrieben ist, mit dem SIS‑II‑Beschluss vereinbar ist, und zwar insbesondere dann, wenn diese Ausschreibung vom ausschreibenden Mitgliedstaat nicht aus dem SIS II gelöscht wurde, obwohl die Behörden des vollziehenden Mitgliedstaats die erforderlichen Informationen zur aufgefundenen Sache sowohl den Behörden des ausschreibenden Mitgliedstaats als auch dem ursprünglichen Eigentümer übermittelt haben.

28

Unter diesen Umständen hat der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 39 des SIS‑II-Beschlusses, insbesondere Art. 39 Abs. 3, dahin auszulegen, dass er eine Verpflichtung begründet, die Zulassung von Sachen, die im SIS II ausgeschrieben sind, ungeachtet der Tatsache zu untersagen, dass die Ausschreibung nicht länger relevant ist (das Fahrzeug wurde aufgefunden; das Strafverfahren in dem Mitgliedstaat, in dem das Fahrzeug aufgefunden wurde, wurde eingestellt, da dort keine Straftat begangen wurde; der Staat, von dem die Ausschreibung stammt, wurde informiert, ergreift aber keine Maßnahmen, um die Ausschreibung im System zu löschen)?

2.

Ist Art. 39 des SIS‑II-Beschlusses, insbesondere Art. 39 Abs. 3, dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat, der eine nach Art. 38 Abs. 1 des Beschlusses ausgeschriebene Sache aufgefunden hat, verpflichtet, nationale Rechtsvorschriften zu erlassen, die alle Handlungen im Zusammenhang mit der aufgefundenen Sache verbieten, die nicht der Erreichung eines in Art. 38 genannten Ziels (Sicherstellung oder Beweissicherung in Strafverfahren) dienen?

3.

Ist Art. 39 des SIS‑II-Beschlusses, insbesondere Art. 39 Abs. 3, dahin auszulegen, dass er es den Mitgliedstaaten gestattet, Rechtsvorschriften zu erlassen, die Ausnahmen vom Verbot der Zulassung von nach Art. 38 des Beschlusses im SIS II ausgeschriebenen Fahrzeugen vorsehen, nachdem die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats Maßnahmen ergriffen haben, um den Staat, von dem die Ausschreibung stammt, über die aufgefundene Sache zu unterrichten?

Zu den Vorlagefragen

29

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 39 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 des SIS‑II-Beschlusses dahin auszulegen ist, dass er zunächst eine allgemeine Verpflichtung vorsieht, die Zulassung eines im SIS II ausgeschriebenen Kraftfahrzeugs zu verbieten, sodann die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, allgemeine Vorschriften vorzusehen, die Maßnahmen in Bezug auf die aufgefundene Sache verbieten, die nicht der Erreichung der Ziele von Art. 38 Abs. 1 des Beschlusses dienen, und schließlich den Mitgliedstaaten erlaubt, Ausnahmen von einem etwaigen allgemeinen Verbot der Zulassung eines solchen Fahrzeugs vorzusehen.

30

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass die betreffende Ausschreibung ein Kraftfahrzeug mit einem Hubraum von mehr als 50 ccm betrifft.

31

Art. 38 Abs. 1 und 2 Buchst. a des SIS‑II-Beschlusses sieht insoweit vor, dass Daten in Bezug auf ein Kraftfahrzeug wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das zur Sicherstellung oder Beweissicherung in Strafverfahren gesucht wird, in das SIS II eingegeben werden.

32

In Bezug auf die Vorlagefragen ist vorweg darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 67).

33

Art. 39 des SIS‑II‑Beschlusses regelt die Durchführung von Maßnahmen aufgrund einer Ausschreibung von Sachen zur Sicherstellung oder Beweissicherung in Strafverfahren.

34

Erstens ist zum Wortlaut von Art. 39 Abs. 1 des Beschlusses festzustellen, dass diese Bestimmung vorsieht, dass dann, wenn eine Abfrage ergibt, dass eine Sachfahndungsausschreibung besteht, die aufgreifende Stelle sich mit der ausschreibenden Stelle in Verbindung setzt, um erforderliche Maßnahmen abzustimmen.

35

Informationen nach Art. 39 Abs. 1 des SIS‑II‑Beschlusses werden gemäß Art. 39 Abs. 2 des Beschlusses im Wege des Austauschs von Zusatzinformationen übermittelt.

36

Nach Art. 39 Abs. 3 des Beschlusses ergreift der aufgreifende Mitgliedstaat Maßnahmen „nach Maßgabe seines nationalen Rechts“.

37

Folglich beschränkt sich Art. 39 des SIS‑II‑Beschlusses auf eine allgemeine Beschreibung der Art und Weise, wie die zuständigen Behörden des vollziehenden Mitgliedstaats im Falle eines Treffers anlässlich einer nach Art. 38 des Beschlusses erfolgten Ausschreibung im SIS II vorzugehen haben.

38

Demnach wollte der Unionsgesetzgeber – wie vom Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge ausgeführt – den Mitgliedstaaten dadurch, dass er in Art. 39 des SIS‑II‑Beschlusses nicht im Einzelnen festgelegt hat, welche konkreten Maßnahmen sie zur Vollziehung einer nach Art. 38 des Beschlusses in das SIS II eingegebenen Ausschreibung ergreifen müssen, insoweit einen weiten Entscheidungsspielraum lassen.

39

Zweitens ist zum Kontext, in dem Art. 39 des SIS‑II‑Beschlusses steht, festzustellen, dass die operative Zusammenarbeit zwischen Polizei- und Justizbehörden in Strafsachen im Rahmen dieses Beschlusses zwar voraussetzt, dass die Behörden des vollziehenden Mitgliedstaats die notwendigen sichernden Maßnahmen ergreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2022, Nachalnik na Rayonno upravlenie Silistra,C‑520/20, EU:C:2022:466, Rn. 40), dass in diesem Beschluss aber nirgends konkret bestimmt ist, welche Art von Maßnahmen der Mitgliedstaat, der die ausgeschriebene Sache aufgefunden hat, nach Maßgabe seines nationalen Rechts ergreifen muss.

40

Im Übrigen sieht Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1986/2006 zwar vor, dass die für die Ausstellung von Kfz-Zulassungsbescheinigungen zuständige Stelle eines Mitgliedstaats zu dem Zweck der Überprüfung, ob das ihnen zur Zulassung vorgeführte Fahrzeug gestohlen, unterschlagen oder sonst abhandengekommen ist bzw. zur Beweissicherung in Strafverfahren gesucht wird, Zugang zum SIS II erhält, enthält aber keine Verpflichtung, die Zulassung von im SIS II ausgeschriebenen Fahrzeugen zu verbieten.

41

Drittens geht aus Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit dem fünften Erwägungsgrund des SIS‑II‑Beschlusses hervor, dass der Beschluss insbesondere darauf abzielt, die operative Zusammenarbeit zwischen Polizei- und Justizbehörden in Strafsachen zu unterstützen und so anhand der über das SIS II erteilten Informationen zur Gewährleistung eines hohen Maßes an Sicherheit in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Union beizutragen.

42

Die Auslegung von Art. 39 des Beschlusses, nach der diese Vorschrift den Mitgliedstaaten keine vorab festgelegten Maßnahmen vorschreibt, sondern ihnen bei der Entscheidung, welche erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen sind, einen weiten Spielraum lässt, steht diesem Ziel nicht entgegen und wahrt den Beitrag zur Verbesserung des Sicherheitsniveaus im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Union, der mit der Übermittlung von Informationen über Sachen zur Sicherstellung oder Beweissicherung in Strafverfahren und dem Austausch zwischen den betroffenen Mitgliedstaaten zur Abstimmung der erforderlichen Maßnahmen verbunden ist.

43

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass sich aus Art. 39 des SIS‑II‑Beschlusses keine allgemeine Verpflichtung wie diejenige ergibt, die Zulassung von im SIS II ausgeschriebenen Kraftfahrzeugen oder andere als mit Art. 38 Abs. 1 des Beschlusses zusammenhängende Maßnahmen hinsichtlich dieses Kraftfahrzeugs zu verbieten.

44

Beschließt ein Mitgliedstaat, von dem weiten Entscheidungsspielraum, über den er nach Art. 39 Abs. 3 des Beschlusses in Bezug auf die Maßnahmen verfügt, die nach Maßgabe seines nationalen Rechts ergriffen werden können, Gebrauch zu machen, indem er ein allgemeines Verbot der Zulassung von im SIS II ausgeschriebenen Kraftfahrzeugen vorsieht, verwehrt der SIS‑II‑Beschluss es diesem Mitgliedstaat daher nicht, Ausnahmen von diesem Verbot vorzusehen.

45

Im Übrigen ist hinsichtlich der Zweifel, die das vorlegende Gericht angesichts dessen äußert, dass die zuständigen Behörden des ausschreibenden Mitgliedstaats im Zusammenhang mit der eingegebenen Ausschreibung nicht tätig geworden sind, auf die nachfolgenden Erwägungen zu verweisen.

46

Zum einen ergibt sich aus Art. 8 Abs. 3 des SIS‑II‑Beschlusses, dass Ersuchen anderer Mitgliedstaaten um Zusatzinformationen so schnell wie möglich beantwortet werden. Außerdem sieht Art. 45 Abs. 1 in Verbindung mit dem 13. Erwägungsgrund des Beschlusses vor, dass die gemäß dem SIS‑II‑Beschluss in das SIS II eingegebenen Sachausschreibungen nicht länger als für den Zweck, für den sie eingegeben wurden, erforderlich gespeichert werden.

47

Zum anderen heißt es zwar in Art. 49 Abs. 1 und 2 des Beschlusses, dass nur der ausschreibende Mitgliedstaat, der u. a. für die Aktualisierung der in das SIS II eingegebenen Daten verantwortlich ist, die Löschung dieser Daten vornehmen darf. In Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit dem achten Erwägungsgrund des SIS‑II‑Beschlusses wird jedoch auf das SIRENE‑Handbuch verwiesen, das ausführlichere Regeln enthält und in Abschnitt 2.10 Abs. 2 vorschreibt, dass der ausschreibende Mitgliedstaat, sobald die Voraussetzungen für die Beibehaltung der betreffenden Ausschreibung nicht mehr erfüllt sind, die Ausschreibung unverzüglich löscht. Diese Bestimmung des SIRENE‑Handbuchs erlegt dem Mitgliedstaat somit eine Verpflichtung auf, diese Ausschreibung zu löschen, sobald das damit verfolgte Ziel erreicht wurde.

48

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 39 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 des SIS‑II‑Beschlusses dahin auszulegen ist, dass

er keine allgemeine Verpflichtung vorsieht, die Zulassung von im SIS II ausgeschriebenen Kraftfahrzeugen zu verbieten;

er den vollziehenden Mitgliedstaat nicht verpflichtet, allgemeine Vorschriften zu erlassen, die Maßnahmen in Bezug auf die aufgefundene Sache verbieten, die nicht der Erreichung der in Art. 38 Abs. 1 des Beschlusses genannten Ziele dienen;

er es diesem Mitgliedstaat nicht verwehrt, Ausnahmen von einem allgemeinen Verbot der Zulassung eines solchen Fahrzeugs vorzusehen.

Kosten

49

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 39 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 des Beschlusses 2007/533/JI des Rates vom 12. Juni 2007 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II)

 

ist dahin auszulegen, dass

 

er keine allgemeine Verpflichtung vorsieht, die Zulassung von im Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II) ausgeschriebenen Kraftfahrzeugen zu verbieten;

 

er den vollziehenden Mitgliedstaat nicht verpflichtet, allgemeine Vorschriften zu erlassen, die Maßnahmen in Bezug auf die aufgefundene Sache verbieten, die nicht der Erreichung der in Art. 38 Abs. 1 des Beschlusses genannten Ziele dienen;

 

er es diesem Mitgliedstaat nicht verwehrt, Ausnahmen von einem allgemeinen Verbot der Zulassung eines solchen Fahrzeugs vorzusehen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.

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