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Document 62021CJ0022

    Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 15. September 2022.
    SRS und AA gegen Minister for Justice and Equality.
    Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/38/EG – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a – Begriff des Familienangehörigen, der mit dem primär aufenthaltsberechtigten Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebt – Beurteilungskriterien.
    Rechtssache C-22/21.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:683

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

    15. September 2022 ( *1 )

    [Text berichtigt mit Beschluss vom 28. Oktober 2022]

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/38/EG – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a – Begriff des Familienangehörigen, der mit dem primär aufenthaltsberechtigten Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebt – Beurteilungskriterien“

    In der Rechtssache C‑22/21

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 13. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Januar 2021, in dem Verfahren

    SRS,

    AA

    gegen

    Minister for Justice and Equality

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter N. Jääskinen, M. Safjan, N. Piçarra (Berichterstatter) und M. Gavalec,

    Generalanwalt: G. Pitruzzella,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von SRS und AA, vertreten durch K. Berkeley, Solicitor, M. Flynn, JC, und C. O’Dwyer, SC,

    [berichtigt mit Beschluss vom 28. Oktober 2022] des Minister for Justice and Equality, vertreten durch M. Browne, A. Joyce und J. Quaney als Bevollmächtigte im Beistand von D. Brett, M. D. Conlan Smyth, SC, und M. T. O’Connor, BL,

    der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

    der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,

    der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

    des Königreichs Norwegen, vertreten durch J. T. Kaasin und H. Ruus als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. März 2022

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen SRS und AA auf der einen und dem Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichberechtigung, Irland) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit der Versagung eines Aufenthaltstitels.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 lautet:

    „Um die Einheit der Familie im weiteren Sinne zu wahren und unbeschadet des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sollte die Lage derjenigen Personen, die nicht als Familienangehörige im Sinne dieser Richtlinie gelten und die daher kein automatisches Einreise- und Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat genießen, von dem Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage seiner eigenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften daraufhin geprüft werden, ob diesen Personen die Einreise und der Aufenthalt gestattet werden könnte, wobei ihrer Beziehung zu dem Unionsbürger sowie anderen Aspekten, wie ihre finanzielle oder physische Abhängigkeit von dem Unionsbürger, Rechnung zu tragen ist.“

    4

    Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie bestimmt in Nr. 2:

    „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

    2.

    ‚Familienangehöriger‘

    a)

    den Ehegatten;

    b)

    den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;

    c)

    die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;

    d)

    die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), denen von diesen Unterhalt gewährt wird“.

    5

    Art. 3 („Berechtigte“) der Richtlinie sieht vor:

    „(1)   Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.

    (2)   Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen:

    a)

    jedes nicht unter die Definition in Artikel 2 Nummer 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, oder wenn schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen;

    b)

    des Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist.

    Der Aufnahmemitgliedstaat führt eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände durch und begründet eine etwaige Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen.“

    Irisches Recht

    6

    Die Richtlinie 2004/38 wurde durch die European Communities (Free Movement of Persons) (No. 2) Regulations 2006 (Verordnung Nr. 2 von 2006 über die Europäischen Gemeinschaften [Freizügigkeit]) (im Folgenden: Verordnung von 2006) in irisches Recht umgesetzt.

    7

    In Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung, mit dem Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/38 in irisches Recht umgesetzt wird, heißt es:

    „…

    ‚zugelassener Familienangehöriger‘ eines Unionsbürgers ist jeder Familienangehörige unabhängig von seiner Staatsbürgerschaft, der kein berechtigter Familienangehöriger des Unionsbürgers ist und im Land seiner Herkunft, seines gewöhnlichen Aufenthalts oder seines vorherigen Aufenthalts

    a)

    von dem Unionsbürger Unterhalt bezieht,

    b)

    mit dem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebt,

    c)

    wegen schwerwiegender gesundheitlicher Gründe die persönliche Pflege durch den Unionsbürger zwingend benötigt oder

    d)

    als Partner mit dem Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist.“

    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

    8

    SRS und AA, die 1978 bzw. 1986 in Pakistan geboren wurden, sind Cousins ersten Grades. SRS zog 1997 mit seiner Familie in das Vereinigte Königreich und erwarb 2013 die britische Staatsangehörigkeit. AA begab sich 2010 in das Vereinigte Königreich, um dort sein in Pakistan begonnenes Universitätsstudium fortzusetzen. Er verfügte über ein vier Jahre gültiges Studentenvisum, das ihm keine Erwerbstätigkeit gestattete, und zog in die Wohnung von SRS ein.

    9

    Somit wohnten SRS und AA – einschließlich u. a. der Eltern von SRS – zusammen, bis SRS im Januar 2015 nach Irland zog. AA, dessen Studentenvisum am 28. Dezember 2014 abgelaufen war, folgte ihm am 5. März 2015 nach Irland, ohne über ein Visum zu verfügen. Seitdem wohnen beide in derselben Wohnung.

    10

    Am 24. Juni 2015 stellte AA beim Minister für Justiz und Gleichberechtigung einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels und machte geltend, er sei zum einen von SRS finanziell abhängig und zum anderen ein mit SRS in häuslicher Gemeinschaft lebender Familienangehöriger. Dieser Antrag wurde mit Entscheidung vom 21. Dezember 2015 u. a. deshalb abgelehnt, weil nur der Zeitraum nach der Einbürgerung von SRS im Februar 2013 habe berücksichtigt werden können, so dass davon auszugehen sei, dass SRS und AA weniger als zwei Jahre lang zusammengewohnt hätten.

    11

    Im Januar 2016 beantragte AA die Überprüfung dieser Entscheidung, nachdem er weitere Unterlagen zum Nachweis dafür eingereicht hatte, dass SRS ihm von Juli 2010 bis Januar 2015 Unterhalt gewährt hatte. Am 15. August 2016 bestätigte der Minister für Justiz und Gleichberechtigung die genannte Entscheidung mit der Begründung, SRS und AA hätten zwar unter derselben Adresse gewohnt, doch sei nicht erwiesen, dass SRS „im Vereinigten Königreich tatsächlich der Haushaltsvorstand war“.

    12

    SRS und AA erhoben daraufhin beim High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung vom 15. August 2016. Sie machten geltend, das Kriterium des „Haushaltsvorstands“ sei unklar, und sie verfügten über keine Anhaltspunkte dafür, wie ihm entsprochen werden könne. Mit Urteil vom 25. Juli 2018 wies der High Court die Klage mit der Begründung ab, die Einstufung als Familienangehöriger, der mit einem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebe, im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 erfordere den Nachweis, dass der Unionsbürger in seinem Herkunftsstaat der „Haushaltsvorstand“ gewesen sei.

    13

    Gegen dieses Urteil legten SRS und AA beim Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) Berufung ein und machten u. a. geltend, der High Court (Hoher Gerichtshof) habe den Begriff des Familienangehörigen, der mit dem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebe, eng ausgelegt und die übrigen Sprachfassungen der Richtlinie 2004/38 nicht berücksichtigt. Mit Entscheidung vom 19. Dezember 2019 wies der Court of Appeal (Berufungsgericht) die Berufung zurück. Er vertrat die Auffassung, dass Personen, die unter demselben Dach wohnten, nicht unbedingt zur selben häuslichen Gemeinschaft gehörten und dass sie, um als Familienangehörige, die mit einem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebten, angesehen werden zu können, integraler Bestandteil des Familienverbands dieses Unionsbürgers sein und auf absehbare Zeit bleiben müssten, indem sie nicht allein aus praktischen Gründen, sondern auch aus Gründen der affektiven Bindung im Aufnahmemitgliedstaat unter demselben Dach wohnten.

    14

    Das von SRS und AA beim Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland), dem vorlegenden Gericht, eingelegte Rechtsmittel wurde zugelassen. Am 20. Juli 2020 hat das vorlegende Gericht das Rechtsmittel auf die Auslegung des Begriffs des Familienangehörigen, der mit dem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebt, im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 beschränkt.

    15

    Unter Hinweis auf bestimmte Unterschiede in den Sprachfassungen der Richtlinie 2004/38 führt das vorlegende Gericht aus, der Ausdruck „Haushaltsvorstand“ sei zwar veraltet, könne aber nützlich sein, um den in der genannten Bestimmung verwendeten Begriff zu verstehen. Desgleichen schlägt es zur einheitlichen Auslegung dieses Begriffs eine Reihe von Kriterien vor, zu denen die Dauer der häuslichen Gemeinschaft und deren Zweck gehören. Ferner müsse in Anbetracht des mit der Richtlinie verfolgten Zieles, die Bewegungsfreiheit der Unionsbürger zu erleichtern, festgestellt werden, ob der Unionsbürger davon abgehalten werde, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, wenn der betreffende Familienangehörige im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie nicht in der Lage sei, ihn zu begleiten.

    16

    Unter diesen Umständen hat der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Kann der Begriff der Person, die mit einem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, wie er in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 verwendet wird, so definiert werden, dass er innerhalb der Europäischen Union allgemein verbindlich ist, und, wenn ja, wie lautet diese Definition?

    2.

    Wenn dieser Begriff nicht definiert werden kann, nach welchen Kriterien müssen Richter Beweise würdigen, damit nationale Gerichte nach einer feststehenden Liste von Faktoren entscheiden können, wer – soweit es um die Freizügigkeit geht – mit einem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat?

    Zu den Vorlagefragen

    17

    Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof darum, die Wendung „jeder Familienangehörige, der mit dem primär aufenthaltsberechtigten Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebt“, im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 in einer Weise auszulegen, bei der die dabei zu berücksichtigenden Kriterien präzisiert werden.

    18

    Vorab ist festzustellen, dass Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/38 zwar auf die innerstaatlichen Rechtsvorschriften Bezug nimmt, doch betrifft diese Bezugnahme – wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt – nicht die Definition der in dieser Bestimmung genannten Personen, sondern die Voraussetzungen, unter denen der Aufnahmemitgliedstaat ihre Einreise und ihren Aufenthalt zu erleichtern hat.

    19

    Da die genannte Bestimmung für die Definition der Wendung „jeder Familienangehörige, der mit dem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebt“, nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, folgt aus den Erfordernissen einer einheitlichen Anwendung des Rechts der Union sowie aus dem Gleichheitssatz, dass diese Bestimmung in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen ist, wobei nicht nur die gewöhnliche Bedeutung ihres Wortlauts, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja, C‑424/10 und C‑425/10, EU:C:2011:866, Rn. 32, vom 26. März 2019, SM [Unter algerische Kafala gestelltes Kind], C‑129/18, EU:C:2019:248, Rn. 50, und vom 24. Februar 2022, A u. a. [unit-linked-Versicherungsverträge], C‑143/20 und C‑213/20, EU:C:2022:118, Rn. 68).

    20

    Zur Auslegung des Wortlauts von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in einer der Sprachfassungen einer unionsrechtlichen Vorschrift verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den übrigen Sprachfassungen beanspruchen kann. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung und Anwendung jeder Vorschrift des Unionsrechts schließt es aus, sie in einer ihrer Sprachfassungen isoliert zu betrachten, sondern gebietet es, sie anhand des Kontexts und des Zwecks der Regelung auszulegen, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, EU:C:1977:172, Rn. 14, und vom 25. Februar 2021, Bartosch Airport Supply Services, C‑772/19, EU:C:2021:141, Rn. 26).

    21

    Im vorliegenden Fall lassen sich zwar die in einigen Sprachfassungen von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 wie der spanischen („viva con“), der italienischen („convive“) oder der niederländischen Fassung („inwonen“) verwendeten Begriffe dahin auslegen, dass sie auf ein bloßes Zusammenwohnen unter demselben Dach Bezug nehmen, doch bezeichnen die in anderen Sprachfassungen dieser Vorschrift verwendeten Begriffe das häusliche Leben und die Gesamtheit der mit einer familiären Lebensgemeinschaft im selben Haushalt zusammenhängenden Tätigkeiten und Angelegenheiten, was mehr impliziert als die bloße gemeinsame Nutzung derselben Wohnstätte oder ein bloßes vorübergehendes Zusammenwohnen aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen. Dies gilt insbesondere für die tschechische („domácnost“), die deutsche („häusliche Gemeinschaft“), die estnische („leibkond“), die englische („household“), die französische („ménage“), die ungarische („háztartás“), die portugiesische („comunhão de habitação“), die slowakische („domácnosť“) und die finnische („samassa taloudessa“) Fassung dieser Vorschrift.

    22

    Der Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 enthält auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass bei der Auslegung dieser Vorschrift auf den Begriff des Haushaltsvorstands abzustellen wäre. Wie der Generalanwalt in Nr. 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, liefe dies nämlich darauf hinaus, in der Praxis ein zusätzliches, im Wortlaut der Vorschrift nicht vorgesehenes Kriterium vorzuschreiben.

    23

    Die Auslegung des Wortlauts von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38, wonach ein Familienangehöriger nur dann unter diese Vorschrift fallen kann, wenn zu dem betreffenden Unionsbürger eine Beziehung besteht, die mehr impliziert als ein bloßes Zusammenwohnen aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen, wird durch seinen Kontext bestätigt. Im Licht des sechsten Erwägungsgrundes der Richtlinie stellen die beiden anderen in dieser Vorschrift genannten Fallgruppen nämlich auf eine Abhängigkeit des Familienangehörigen von dem Unionsbürger ab. Die erste Fallgruppe – der Familienangehörige bezieht von dem Unionsbürger Unterhalt – betrifft eine Situation finanzieller Abhängigkeit. Die zweite Fallgruppe – schwerwiegende gesundheitliche Gründe machen die persönliche Pflege des betreffenden Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich – nimmt ausdrücklich auf eine Situation physischer Abhängigkeit Bezug. In diesem Kontext ist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Fallgruppe – der Familienangehörige lebt mit dem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft – so zu verstehen, dass auch sie eine Situation der Abhängigkeit betrifft, und zwar eine, die auf einer engen und festen persönlichen Beziehung zwischen diesen beiden Personen beruht.

    24

    Eine solche Auslegung wird zudem durch das Ziel von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 gestützt, das im Licht ihres sechsten Erwägungsgrundes darin besteht, „die Einheit der Familie im weiteren Sinne zu wahren“, indem die Einreise und der Aufenthalt von Personen erleichtert werden, die zwar nicht zu einer der in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie definierten Kategorien von „Familienangehörigen“ eines Unionsbürgers gehören, aber aufgrund besonderer tatsächlicher Umstände enge und feste familiäre Beziehungen zu ihm haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. September 2012, Rahman u. a., C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 32, und vom 26. März 2019, SM [Unter algerische Kafala gestelltes Kind], C‑129/18, EU:C:2019:248, Rn. 60).

    25

    Anders als die in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2004/38 definierten Familienangehörigen des Unionsbürgers genießen seine Familienangehörigen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie kein Einreise- und Aufenthaltsrecht in seinem Aufnahmemitgliedstaat, aber es besteht die Möglichkeit, ihnen ein solches Recht einzuräumen, „wobei ihrer Beziehung zu dem Unionsbürger sowie anderen Aspekten, wie ihre finanzielle oder physische Abhängigkeit von dem Unionsbürger, Rechnung zu tragen ist“ (sechster Erwägungsgrund der Richtlinie). Insoweit stehen ihnen gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie Verfahrensgarantien in Form des Anspruchs auf eine Entscheidung über ihren Antrag auf Einreise und Aufenthalt zu; sie muss auf einer eingehenden Untersuchung ihrer persönlichen Umstände unter Berücksichtigung aller besonderen individuellen Gegebenheiten beruhen und im Fall der Ablehnung des Antrags begründet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. September 2012, Rahman u. a., C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 19 bis 22, und vom 26. März 2019, SM [Unter algerische Kafala gestelltes Kind], C‑129/18, EU:C:2019:248, Rn. 62).

    26

    Unter diesen Umständen kann nur dann davon ausgegangen werden, dass ein Familienangehöriger mit einem Unionsbürger, der im Aufnahmemitgliedstaat über ein Aufenthaltsrecht verfügt, im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 in häuslicher Gemeinschaft lebt, wenn er nachweist, dass eine enge und feste persönliche Beziehung zu diesem Unionsbürger besteht, die eine Situation echter Abhängigkeit zwischen diesen beiden Personen und eine häusliche Lebensgemeinschaft belegt, die nicht mit dem Ziel herbeigeführt wurde, in den Mitgliedstaat einreisen und sich dort aufhalten zu dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a., C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 38).

    27

    Bei der Beurteilung der Frage, ob eine solche Beziehung vorliegt, stellt der Verwandtschaftsgrad zwischen dem Unionsbürger und dem betreffenden Familienangehörigen zwar einen zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 40 und 41 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, sind jedoch je nach den besonderen Umständen des Einzelfalls auch die Nähe der fraglichen familiären Beziehung sowie die Gegenseitigkeit und die Intensität der zwischen beiden Personen bestehenden Beziehung zu berücksichtigen. Diese Beziehung muss so beschaffen sein, dass dann, wenn der betreffende Familienangehörige daran gehindert wäre, mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat in häuslicher Gemeinschaft zu leben, zumindest eine der beiden Personen dadurch beeinträchtigt würde.

    28

    Diese Beziehung muss hingegen nicht so beschaffen sein, dass der Unionsbürger auf die Ausübung seiner Freizügigkeit verzichten würde, wenn der Familienangehörige ihn nicht in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder dorthin nachziehen könnte. Ein solches Erfordernis liefe nämlich darauf hinaus, den betreffenden Familienangehörigen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 den in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie ausdrücklich genannten Familienangehörigen gleichzustellen.

    29

    Auch die Dauer der häuslichen Lebensgemeinschaft des Unionsbürgers mit dem betreffenden Familienangehörigen stellt einen wichtigen, bei der Beurteilung der Frage, ob eine feste persönliche Beziehung besteht, zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar. Ihre Dauer muss unabhängig vom Zeitpunkt des Erwerbs der Unionsbürgerschaft ermittelt werden können. Aus Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 ergibt sich nämlich bei einer Auslegung im Licht ihres sechsten Erwägungsgrundes, dass bei der Beurteilung, wie fest die persönliche Beziehung zwischen diesen beiden Personen ist, nicht nur der Zeitraum nach dem Erwerb der Unionsbürgerschaft zu berücksichtigen ist, sondern auch der Zeitraum davor.

    30

    Folglich ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass die Wendung „jeder Familienangehörige, der mit dem primär aufenthaltsberechtigten Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebt“, im Sinne dieser Bestimmung Personen bezeichnet, die zu dem betreffenden Unionsbürger in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, das auf engen und festen, im selben Haushalt im Rahmen einer häuslichen Lebensgemeinschaft entstandenen persönlichen Beziehungen beruht, die über ein bloßes vorübergehendes Zusammenwohnen aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen hinausgeht.

    Kosten

    31

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG

     

    ist dahin auszulegen, dass

     

    die Wendung „jeder Familienangehörige, der mit dem primär aufenthaltsberechtigten Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebt“, im Sinne dieser Bestimmung Personen bezeichnet, die zu dem betreffenden Unionsbürger in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, das auf engen und festen, im selben Haushalt im Rahmen einer häuslichen Lebensgemeinschaft entstandenen persönlichen Beziehungen beruht, die über ein bloßes vorübergehendes Zusammenwohnen aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen hinausgeht.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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