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Dokument 62021CC0814

Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 11. Januar 2024.


ECLI-nummer: ECLI:EU:C:2024:15

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 11. Januar 2024(1)

Rechtssache C814/21

Europäische Kommission

gegen

Republik Polen

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Unionsbürgerschaft – Art. 22 AEUV – Aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitzmitgliedstaat unter denselben Bedingungen wie für die Angehörigen dieses Staates – Unionsbürger, die in Polen wohnen, ohne die polnische Staatsangehörigkeit zu besitzen – Kein Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei – Kandidatur für die Kommunalwahlen oder die Wahlen zum Europäischen Parlament unter anderen Bedingungen als für Staatsangehörige – Art. 10 EUV – Demokratieprinzip – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 12, 39 und 40 – Rechtfertigung – Art. 4 Abs. 2 EUV“






Inhaltsverzeichnis


I. Einleitung

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

1. AEU-Vertrag

2. Charta

3. Richtlinie 93/109/EG

4. Richtlinie 94/80/EG

B. Polnisches Recht

1. Parteiengesetz

2. Wahlgesetzbuch

3. Rundfunkgesetz

4. Vereinsgesetz

III. Vorverfahren

IV. Anträge der Parteien

V. Würdigung

A. Zur von der Tschechischen Republik erhobenen Einrede der Unzulässigkeit

1. Vorbringen der Parteien

2. Beurteilung

B. Zur Begründetheit

1. Vorbringen der Parteien

a) Kommission

1) Zur Grundlage der Vertragsverletzungsklage

2) Zur Ausübung der Zuständigkeit durch die Mitgliedstaaten

b) Republik Polen

1) Der Wortlaut von Art. 22 AEUV verleihe nicht das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei

2) Die Beschränkung der Mitgliedschaft in einer politischen Partei sei durch das Bestreben gerechtfertigt, den Einflussbereich „mobiler“ Bürger der Union auf das nationale politische Leben zu begrenzen

3) Kandidaten, die nicht Mitglied einer politischen Partei seien, würden gegenüber Parteimitgliedern nicht speziell benachteiligt

c) Die besonderen Argumente der Tschechischen Republik als Streithelferin und die Stellungnahme der Kommission hierzu

1) Zur Tragweite von Art. 22 AEUV

i) Vorbringen der Tschechischen Republik

ii) Stellungnahme der Kommission

2) Zur anwendbaren Rechtsgrundlage

i) Vorbringen der Tschechischen Republik

ii) Stellungnahme der Kommission

3) Zum Nachweis der behaupteten Vertragsverletzung

i) Vorbringen der Tschechischen Republik

ii) Stellungnahme der Kommission

4) Zur Einschränkung der Ausübung der durch Art. 22 AEUV verliehenen Rechte

i) Vorbringen der Tschechischen Republik

ii) Stellungnahme der Kommission

5) Zur Situation in den anderen Mitgliedstaaten

i) Vorbringen der Tschechischen Republik

ii) Stellungnahme der Kommission

2. Beurteilung

a) Zur Tragweite von Art. 22 AEUV

b) Zum Vorliegen einer Beschränkung der Ausübung des Wahlrechts

c) Zur Rechtfertigung der Beschränkung der Mitgliedschaft in einer politischen Partei

VI. Kosten

VII. Ergebnis


I.      Einleitung

1.        Mit ihrer auf Art. 22 AEUV gestützten Klage nach Art. 258 AEUV beantragt die Europäische Kommission beim Gerichtshof die Feststellung, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen hat, dass sie Unionsbürgern, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, aber in ihrem Hoheitsgebiet wohnen(2), das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei verwehrt, so dass ihre Chancen, bei den Kommunalwahlen oder bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gewählt zu werden, geringer sind als die der polnischen Staatsangehörigen(3).

2.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich erläutern, warum der Auffassung der Republik Polen, dass sich Art. 22 AEUV auf eine wörtliche Auslegung in dem Sinne zu beschränken habe, dass er nur die gesetzlichen Voraussetzungen der Wählbarkeit regele, nicht gefolgt werden kann, und dass die systematische und teleologische Analyse der sich aus dieser Bestimmung ergebenden Verpflichtungen im Gegenteil zu dem Ergebnis führt, dass die von der Kommission geltend gemachte Rüge einer Beeinträchtigung der tatsächlichen Ausübung des passiven Wahlrechts begründet ist.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      AEU-Vertrag

3.        In Art. 20 AEUV heißt es:

„(1)      Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.

(2)      Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem

b)      in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats;

Diese Rechte werden unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.“

4.        Art. 22 AEUV bestimmt:

„(1)      Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Dieses Recht wird vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt, die vom Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments festgelegt werden; in diesen können Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist.

(2)      Unbeschadet des Artikels 223 Absatz 1 und der Bestimmungen zu dessen Durchführung besitzt jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Dieses Recht wird vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt, die vom Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments festgelegt werden; in diesen können Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist.“

2.      Charta

5.        Art. 12 („Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(4) lautet wie folgt:

„(1)      Jede Person hat das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit anderen zusammenzuschließen, was das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.

(2)      Politische Parteien auf der Ebene der Union tragen dazu bei, den politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zum Ausdruck zu bringen.“

3.      Richtlinie 93/109/EG

6.        Im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109/EG des Rates vom 6. Dezember 1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen(5), heißt es:

„Artikel 8b Absatz 2 des EG-Vertrags betrifft nur die Möglichkeit der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament – unbeschadet der Durchführung von Artikel 138 Absatz 3 des EG-Vertrags, der die Einführung eines in allen Mitgliedstaaten einheitlichen Verfahrens für diese Wahlen vorsieht – und zielt vor allem darauf ab, die Bedingung der Staatsangehörigkeit, an die heute in den meisten Mitgliedstaaten die Ausübung dieser Rechte geknüpft ist, aufzuheben.“

7.        Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„In dieser Richtlinie werden die Einzelheiten festgelegt, nach denen die Unionsbürger, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, dort das aktive und das passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ausüben können.“

4.      Richtlinie 94/80/EG

8.        Im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen(6), heißt es:

„Artikel 8b Absatz 1 des Vertrags zielt darauf ab, dass alle Unionsbürger, unabhängig davon, ob sie Staatsangehörige des Wohnsitzmitgliedstaats sind oder nicht, dort ihr aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen unter den gleichen Bedingungen ausüben können. Deshalb müssen für die Unionsbürger, die nicht Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats sind, insbesondere bezüglich der Wohnsitzdauer und des Wohnsitznachweises die gleichen Bedingungen gelten, wie sie gegebenenfalls für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats gelten. Die Unionsbürger, die keine Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats sind, dürfen keinen besonderen Voraussetzungen unterworfen sein, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung von in- und ausländischen Staatsangehörigen wäre durch besondere Umstände letzterer gerechtfertigt, die sie von den ersteren unterscheiden.“

9.        Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„In dieser Richtlinie werden die Einzelheiten festgelegt, nach denen die Unionsbürger, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, dort das aktive und das passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen ausüben können.“

B.      Polnisches Recht

1.      Parteiengesetz

10.      Art. 2 Abs. 1 der Ustawa o partiach politycznych (Gesetz über die politischen Parteien)(7) vom 27. Juni 1997 (im Folgenden: Parteiengesetz) sieht vor:

„Staatsangehörige der Republik Polen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, können Mitglieder einer politischen Partei sein.“

11.      Art. 5 dieses Gesetzes bestimmt:

„Der Zugang zu öffentlichen Hörfunk- und Fernsehkanälen wird den politischen Parteien gemäß den in gesonderten Gesetzen festgelegten Regeln garantiert.“

12.      In Art. 24 dieses Gesetzes heißt es:

„1.      Das Vermögen einer politischen Partei stammt aus Beiträgen ihrer Mitglieder, aus Spenden, Erbschaften oder Vermächtnissen, Vermögenserträgen sowie gesetzlich vorgesehenen Zuschüssen und Subventionen.

2.      Das Vermögen einer politischen Partei darf nur für satzungsgemäße oder gemeinnützige Zwecke verwendet werden.

4.            Eine politische Partei darf Einkünfte aus ihrem Vermögen nur erzielen aus

1)      der Verzinsung der auf Bankkonten und Einlagen angesammelten Gelder;

2)      dem Handel mit Anleihen und Schatzanweisungen des Skarb Państwa [Staatskasse, Polen];

3)      der Veräußerung von Vermögenswerten;

…“

13.      In Art. 28 Abs. 1 dieses Gesetzes heißt es:

„Eine politische Partei, die

1)      nach der Einsetzung ihres eigenen Wahlausschusses für die Wahlen zum Sejm [Erste Kammer des Parlaments, Polen] mindestens 3 % der landesweit abgegebenen gültigen Stimmen für ihre Wahlkreisliste der Kandidaten für das Amt eines Abgeordneten erhalten hat oder

2)      für die Wahlen zum Sejm einem Wahlbündnis beigetreten ist, auf dessen Wahlkreisliste der Kandidaten für das Amt eines Abgeordneten landesweit mindestens 6 % der abgegebenen gültigen Stimmen entfallen sind,

hat Anspruch darauf, während der Legislaturperiode und gemäß den in diesem Gesetz festgelegten Modalitäten und Regeln einen Zuschuss aus dem Staatshaushalt … zur Durchführung ihrer satzungsgemäßen Tätigkeiten zu erhalten.

…“

14.      Art. 36 Abs. 1 des Parteiengesetzes lautet:

„Die Mittel des Wahlfonds der politischen Partei können aus eigenen Beiträgen dieser Partei sowie aus Spenden, Erbschaften und Vermächtnissen stammen.“

2.      Wahlgesetzbuch

15.      Art. 84 der Ustawa Kodeks wyborczy (Gesetz über die Wahlordnung)(8) vom 5. Januar 2011 (im Folgenden: Wahlgesetzbuch) bestimmt:

„§ 1.      Das Recht, Kandidaten für eine Wahl zu nominieren, steht den Wahlausschüssen zu. Die Wahlausschüsse üben auch andere Wahltätigkeiten aus und betreiben insbesondere auf der Basis der Ausschließlichkeit den Wahlkampf für die Kandidaten.

(2)      Bei den Wahlen zum Sejm und zum Senat sowie bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in der Republik Polen können die Wahlausschüsse von den politischen Parteien und den Wahlbündnissen politischer Parteien sowie von den Wählern gebildet werden.

(4)      Bei den Wahlen zu den repräsentativen Gremien von Gebietskörperschaften und bei den Bürgermeisterwahlen können die Wahlausschüsse von den politischen Parteien und den Wahlbündnissen politischer Parteien, von sozialen Vereinen und Organisationen (im Folgenden: Organisationen) sowie von den Wählern gebildet werden.“

16.      Art. 87 §§ 1 und 2 dieses Gesetzbuchs sieht vor:

„§ 1.      Politische Parteien können ein Wahlbündnis bilden, um gemeinsame Kandidaten zu aufzustellen. Eine politische Partei kann nur einem einzigen Wahlbündnis angehören.

§ 2.      Die Wahlaktivitäten für ein Wahlbündnis werden von einem Wahlausschuss des Bündnisses durchgeführt, der aus den zur Vertretung der politischen Parteien nach außen befugten Organen besteht.“

17.      Art. 89 § 1 dieses Gesetzbuchs bestimmt:

„Mindestens 15 wahlberechtigte Bürger können einen Wahlausschuss bilden.“

18.      Art. 117 § 1 dieses Gesetzbuchs sieht vor:

„Die Wahlausschüsse, deren Kandidaten registriert wurden, haben ab dem 15. Tag vor dem Wahltermin bis zum Ende des Wahlkampfs das Recht, Wahlsendungen unentgeltlich in den Programmen der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten auf Kosten dieser Anstalten zu verbreiten.“

19.      Art. 119 § 1 des Wahlgesetzbuchs bestimmt:

„Unbeschadet des Rechts nach Art. 117 § 1 kann jeder Wahlausschuss ab dem Zeitpunkt des Eingangs der Anzeige seiner Einsetzung bei der zuständigen Wahlbehörde bis zum Ende des Wahlkampfs entgeltliche Wahlsendungen in den Programmen öffentlich-rechtlicher und privater Hörfunk- und Fernsehveranstalter verbreiten.“

20.      Art. 126 dieses Gesetzbuchs lautet:

„Die Wahlausschüsse bringen die für die Wahlen aufgewendeten Kosten aus eigenen Mitteln auf.“

21.      In Art. 130 dieses Gesetzbuchs heißt es:

„§ 1.      Die Verantwortung für die finanziellen Verpflichtungen des Wahlausschusses liegt beim Finanzbeauftragten.

§ 2.      Ohne die schriftliche Zustimmung des Finanzbeauftragten dürfen keine finanziellen Verpflichtungen im Namen und für Rechnung des Wahlausschusses eingegangen werden.

(3)      Reichen die dem Finanzbeauftragten zur Verfügung stehenden Mittel nicht zur Deckung der gegen den Wahlausschuss bestehenden Forderungen aus, so haften für die finanziellen Verpflichtungen

1)      des Wahlausschusses der politischen Partei oder der Organisation diejenige politische Partei oder Organisation, die diesen Ausschuss gebildet hat;

2)      des Wahlausschusses eines Wahlbündnisses die politischen Parteien, die diesem Bündnis angehören, als Gesamtschuldner;

3)      eines von den Wählern gebildeten Wahlausschusses die Mitglieder dieses Ausschusses als Gesamtschuldner.

…“

22.      In Art. 132 dieses Gesetzbuchs heißt es:

„§ 1.      Die finanziellen Mittel des Wahlausschusses einer politischen Partei dürfen nur aus dem nach den Bestimmungen des [Parteiengesetzes] errichteten Wahlfonds dieser Partei stammen.

§ 2.      Die finanziellen Mittel des Wahlausschusses eines Wahlbündnisses dürfen nur aus dem Wahlfonds der Parteien stammen, die diesem Wahlbündnis angehören.

§ 3.      Die finanziellen Mittel

1)      des Wahlausschusses einer Organisation

2)      des Wahlausschuss von Wählern

dürfen nur aus Beiträgen polnischer Staatsangehöriger mit ständigem Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Republik Polen sowie aus Bankkrediten stammen, die ausschließlich für Wahlzwecke aufgenommen wurden.

…“

23.      Art. 133 des Wahlgesetzbuchs sieht vor:

„§ 1.      Der Wahlausschuss einer politischen Partei oder eines Wahlbündnisses darf während des Wahlkampfs die Räumlichkeiten und die Büroausstattung der politischen Partei unentgeltlich nutzen.

(2)      Der Wahlausschuss von Bürgern darf während des Wahlkampfs die Räumlichkeiten und die Büroausstattung eines Mitglieds dieses Ausschusses unentgeltlich nutzen.

(3)      Der Wahlausschuss einer Organisation darf während des Wahlkampfs die Räumlichkeiten und die Büroausstattung dieser Organisation unentgeltlich nutzen.“

24.      Art. 341 dieses Gesetzbuchs lautet:

„Das Recht, Kandidaten für die Wahlen zum Europäischen Parlament zu nominieren, steht folgenden Gremien zu:

1)      dem Wahlausschuss einer politischen Partei;

2)      dem Wahlausschuss eines Wahlbündnisses;

3)      einem Wahlausschuss der Wähler.“

25.      Nach Art. 343 dieses Gesetzbuchs muss die Bewerberliste durch Unterschriften von mindestens 10 000 Wählern, die ihren ständigen Wohnsitz im betreffenden Wahlkreis haben, unterstützt werden.

26.      In Bezug auf die Wahlen der Vertreter der Gebietskörperschaften sieht Art. 399 dieses Gesetzbuchs vor, dass das Recht, Kandidaten für das Amt eines Ratsmitglieds zu nominieren, den Wahlausschüssen politischer Parteien, den Wahlausschüssen von Wahlbündnissen, den Wahlausschüssen von Organisationen und den Wahlausschüssen von Bürgern zusteht.

27.      Nach Art. 400 § 1 des Wahlgesetzbuchs ist der Wahlausschuss einer politischen Partei verpflichtet, seine Konstituierung der Państwowa Komisja Wyborcza (Staatlichen Wahlkommission) ab dem Tag der Veröffentlichung der Verordnung über die Durchführung von Wahlen bis zum 55. Tag vor dem Wahltermin anzuzeigen.

28.      Art. 401 § 1 dieses Gesetzbuchs bestimmt, dass der Wahlausschuss eines Wahlbündnisses in der Zeit vom Tag der Veröffentlichung der Verordnung über die Durchführung von Wahlen bis zum 55. Tag vor dem Wahltermin gebildet werden kann und der Wahlbeauftragte des Wahlausschusses des Wahlbündnisses die Konstituierung dieses Ausschusses der Staatlichen Wahlkommission spätestens am 55. Tag vor dem Wahltermin anzuzeigen hat.

29.      Nach Art. 402 § 1 des Wahlgesetzbuchs ist der Wahlausschuss einer Organisation verpflichtet, seine Konstituierung dem für den Sitz der Organisation zuständigen Wahlkommissar ab dem Tag der Veröffentlichung der Verordnung über die Durchführung von Wahlen bis zum 55. Tag vor dem Wahltermin anzuzeigen.

30.      Art. 403 §§ 1 bis 3 dieses Gesetzbuchs bestimmt:

„§ 1.      Mindestens 15 wahlberechtigte Bürger können einen Wahlausschuss von Bürgern bilden.

§ 2      Vorbehaltlich der Bestimmungen von § 3 zeigt der Wahlbeauftragte eines Wahlausschusses von Bürgern dessen Konstituierung an, nachdem mindestens 1 000 Unterschriften von wahlberechtigten Staatsangehörigen gesammelt wurden, die die Bildung dieses Wahlausschusses unterstützen. Die Anzeige kann spätestens am 55. Tag vor dem Wahltermin erfolgen.

§ 3      Wurde ein Wahlausschuss für Wähler gebildet, um Kandidaten in nur einer Woiwodschaft zu benennen, so beträgt

1)      die Zahl der in § 1 genannten Bürger 5;

2)      die Zahl der in § 2 genannten Unterschriften 20, und die in § 2 genannte Anzeige wird dem für den Sitz des Ausschusses zuständigen Wahlkommissar übermittelt.“

3.      Rundfunkgesetz

31.      Art. 23 Abs. 1 der Ustawa o Radiofonii i Telewizji (Rundfunkgesetz)(9) vom 29. Dezember 1992 bestimmt, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten den politischen Parteien die Möglichkeit geben, ihren Standpunkt zu grundlegenden öffentlichen Angelegenheiten darzulegen.

4.      Vereinsgesetz

32.      Nach Art. 4 Abs. 1 der Ustawa Prawo o stowarzyszeniach (Vereinsgesetz)(10) vom 7. April 1989 können sich auch Ausländer mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Republik Polen in Vereinigungen zusammenschließen.

III. Vorverfahren

33.      Am 16. April 2012 teilte die Kommission den polnischen Behörden im Rahmen eines EU-Pilotprojekts ihre vorläufige Bewertung mit, wonach die polnischen Rechtsvorschriften, die das Recht, eine politische Partei zu gründen, und das Recht, einer politischen Partei anzugehören, polnischen Staatsangehörigen vorbehalten, mit Art. 22 AEUV unvereinbar seien.

34.      Da sie keine Antwort erhielt, richtete die Kommission am 26. April 2013 ein Aufforderungsschreiben mit demselben Gegenstand an die Republik Polen. In seiner Antwort vom 24. Juli 2013 bestritt dieser Mitgliedstaat jeden Verstoß gegen das Unionsrecht.

35.      Am 22. April 2014 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie daran festhielt, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen habe, dass sie „mobilen“ Unionsbürgern das Recht, eine politische Partei zu gründen, und das Recht, einer politischen Partei anzugehören, verwehrt habe.

36.      In ihrer Antwort vom 16. Juni 2014 machte die Republik Polen geltend, dass Art. 22 AEUV den „mobilen“ Unionsbürgern nicht das Recht verleihe, im Wohnsitzmitgliedstaat eine politische Partei zu gründen und einer politischen Partei anzugehören.

37.      Mit Schreiben vom 2. Dezember 2020 forderte der Europäische Justizkommissar die Republik Polen auf, ihn über eine mögliche Änderung ihres Standpunkts oder über Gesetzesänderungen zu informieren, die angenommen wurden, um diesen „mobilen“ Unionsbürgern die in Rede stehenden Rechte zu garantieren.

38.      Nachdem die polnischen Behörden der Kommission mit Schreiben vom 26. Januar 2021 mitgeteilt hatten, dass sie an ihrer Auffassung festhielten, beschloss die Kommission, die vorliegende Klage zu erheben und deren Gegenstand auf die Regelung zu beschränken, die die Mitgliedschaft in einer politischen Partei polnischen Staatsangehörigen vorbehält. Die Kommission hat klargestellt, dass sie sich die Möglichkeit vorbehalte, die in den früheren Phasen des Verfahrens aufgeworfene Frage der Gründung einer politischen Partei durch „mobile“ Unionsbürger im Rahmen eines gesonderten Verfahrens aufzugreifen.

IV.    Anträge der Parteien

39.      Mit ihrer Klage beantragt die Kommission,

–        festzustellen, dass die Republik Polen „dadurch, dass sie Unionsbürgern, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, aber ihren Wohnsitz im Gebiet der Republik Polen haben, das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei verwehrt, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 [AEUV] verstoßen hat“, und

–        der Republik Polen die Kosten aufzuerlegen.

40.      Die Republik Polen beantragt, die Klage als unbegründet abzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

41.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. Mai 2022 ist die Tschechische Republik als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Republik Polen zugelassen worden.

42.      In ihrem Streithilfeschriftsatz hat die Tschechische Republik eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben, einige Argumente der Republik Polen unterstützt und auf bestimmte Argumente der Kommission geantwortet.

43.      Die Kommission schließt ihre auf die neuen Fragen beschränkte Stellungnahme zu diesem Streithilfeschriftsatz mit der Erklärung ab, dass sie die in ihrer Klageschrift gestellten Anträge aufrecht erhalte.

V.      Würdigung

A.      Zur von der Tschechischen Republik erhobenen Einrede der Unzulässigkeit

1.      Vorbringen der Parteien

44.      Im Gegensatz zur Republik Polen macht die Tschechische Republik in ihrem Streithilfeschriftsatz geltend, dass die Vertragsverletzungsklage unzulässig sei, weil aus ihr nicht klar hervorgehe, auf welche Bestimmungen sie gestützt werde. Die Kommission habe zwar einen Verstoß gegen Art. 22 AEUV festgestellt, stelle in der Begründung ihrer Klageschrift aber auch auf Art. 20 Abs. 2 Buchst. b AEUV und auf die Art. 11 und 12 der Charta ab.

45.      Die Kommission ist der Ansicht, sie mache unmissverständlich geltend, dass das für „mobile“ Unionsbürger geltende Verbot, Mitglied einer Partei zu sein, mit Art. 22 AEUV unvereinbar sei. Die Republik Polen habe dies sehr wohl verstanden und verteidige sich in ihren Schriftsätzen auch klar dagegen. Die Kommission weist zunächst darauf hin, dass eine zutreffende Auslegung der Grundlage ihrer Klage eine systemische Berücksichtigung anderer Bestimmungen des Primärrechts erfordere. Ferner habe sie auf die Charta auch Bezug genommen, um darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie Vorschriften über die Ausübung der durch Art. 22 AEUV verliehenen politischen Rechte festlegten, das Recht der Union durchführten und daher die Grundrechte beachten müssten. Schließlich stelle dies nicht die Tragweite der vorliegenden Rechtssache in Frage, wie sie im Klageantrag zum Ausdruck komme, dem zufolge die in Rede stehende nationale Regelung, die eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit bewirke, als Verstoß gegen Art. 22 AEUV anzusehen sei.

2.      Beurteilung

46.      Art. 40 Abs. 4 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bestimmt, dass „[m]it den aufgrund des Beitritts gestellten Anträgen … nur die Anträge einer Partei unterstützt werden [können]“(11). Folglich ist die von der Tschechischen Republik erhobene Einrede unzulässig(12), weil die Republik Polen keine Einrede der Unzulässigkeit der Klage erhoben hat.

47.      In Anbetracht der in Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufgestellten Anforderungen und seiner Rechtsprechung(13) ist jedoch zu prüfen, ob die Klage der Kommission eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthält, damit die Republik Polen und der Gerichtshof die Tragweite des gerügten Verstoßes gegen das Unionsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit dieser Staat sich sachgerecht verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt.

48.      Im vorliegenden Fall geht, wie die Kommission geltend macht, aus der Begründung der Klageschrift klar hervor, dass Art. 22 AEUV, auf den diese gestützt ist, dahin auszulegen ist, dass er in dem durch Art. 20 Abs. 2 Buchst. b AEUV definierten Kontext und unter Berücksichtigung der zu den Art. 11 und 12 der Charta bestehenden Verbindungen zu betrachten ist. Daraus folgt somit nicht, dass die Kommission einen Verstoß gegen diese Bestimmungen geltend macht(14).

B.      Zur Begründetheit

1.      Vorbringen der Parteien

a)      Kommission

1)      Zur Grundlage der Vertragsverletzungsklage

49.      Die Kommission hat ihre Klage auf Art. 22 AEUV mit der Begründung gestützt, diese Bestimmung

–        verleihe den „mobilen“ Bürgern der Union das Recht, das Wahlrecht bei den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen auszuüben wie die Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz hätten;

–        stelle einen allgemeinen und universellen Grundsatz der Gleichbehandlung auf, der nicht allein auf die insbesondere in den Richtlinien 93/109 und 94/80 niedergelegten praktischen, administrativen und verfahrensrechtlichen Vorschriften beschränkt sei und der nicht erfordere, dass er in allen konkreten Aspekten des Zugangs zu Wahlen im Einzelnen dargelegt werde;

–        folglich sei jede Maßnahme verboten, die auf einem Staatsangehörigkeitskriterium beruhe und „mobile“ Unionsbürger daran hindere, ihr passives Wahlrecht unter den gleichen Bedingungen auszuüben wie die Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz hätten, und

–        die Unmöglichkeit der Mitgliedschaft „mobiler“ Unionsbürger in einer politischen Partei, die sich aus Art. 2 Abs. 1 des Parteiengesetzes ergebe und ihnen den Zugang zu einem Organ verwehre, das für die Teilnahme an den Wahlen von grundlegender Bedeutung sei, beeinträchtige ihre Chancen, gewählt zu werden, im Vergleich zu denen polnischer Staatsangehöriger. Sie nehme diesen Bürgern somit die Wirkung, die mit den durch den Vertrag verliehenen und auf ihrer Integration im Wohnsitzmitgliedstaat beruhenden Rechten angestrebt werde(15).

50.      Die Kommission betont, sie mache nicht geltend, dass das Unionsrecht den „mobilen“ Bürgern der Union ein Recht auf Teilhabe am politischen Leben zuerkenne. Sie hebt vielmehr die wesentliche Rolle der politischen Parteien in den Wahlsystemen und im politischen Leben der Mitgliedstaaten sowie ganz allgemein ihren Beitrag zur repräsentativen Demokratie hervor. Sie stützt sich dabei auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte(16) und auf die von der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) herausgegebenen Guidelines on Political Party Regulation(17).

51.      Sie vertritt daher der Auffassung, dass ein „mobiler“ Unionsbürger in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz habe, an den Wahlen nicht unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Staates teilnehmen könne, wenn er bei diesen Wahlen nicht als Mitglied einer nationalen politischen Partei kandidieren könne.

52.      Insoweit macht sie geltend, dass die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei für einen Wahlkandidaten – entgegen der Analyse, die die Republik Polen aus bestimmten nationalen Vorschriften über Organisationen ableite(18) – zahlreiche besondere Vorteile biete, die außerhalb einer solchen Partei keine Entsprechung hätten. Dabei handele es sich um folgende Vorteile:

–        die öffentliche Bekanntheit des Namens der Partei, ihre historische Verankerung und ihr Ansehen sowie die Verbindungen zu den sozioorganisatorischen Strukturen (z. B. zu den Gewerkschaften, die historisch einer Partei zugeordnet werden könnten, zu Jugendorganisationen usw.);

–        die Nutzung des Wahlapparats und der personellen und finanziellen Ressourcen der politischen Partei sowie

–        die besonderen Vorrechte, die das nationale Recht in Bezug auf den Zugang zu Finanzmitteln oder Medien und im Bereich der Steuern vorsehe.

53.      In Bezug auf die Finanzierung in Polen stellt die Kommission fest, dass die politischen Parteien, die bei den Wahlen zum Sejm eine bestimmte Anzahl von Stimmen erhielten, gemäß Art. 28 des Parteiengesetzes für die Dauer der Legislaturperiode Anspruch auf eine Subvention hätten. Sie hätten nach Art. 24 dieses Gesetzes Zugang zu Finanzierungsquellen, die weitaus zahlreicher seien als diejenigen, die den Wahlausschüssen von Wählern oder Organisationen zur Verfügung stünden und u. a. zur Finanzierung des Wahlkampfs durch ihre Wahlfonds verwendet werden könnten, die nach Art. 36 dieses Gesetzes auch aus Spenden, Erbschaften und Vermächtnissen gespeist würden.

54.      Die Kommission weist in diesem Zusammenhang auf zwei weitere spezifische Beschränkungen der Wahlausschüsse von Wählern hin, nämlich:

–        bei Kommunalwahlen müssten die Wähler, die einen Wahlausschuss bilden wollten, gemäß Art. 403 des Wahlgesetzbuchs mindestens 1 000 Unterschriften sammeln, und

–        Kandidaten, die keine polnischen Staatsangehörigen seien, hätten nicht das Recht, einen finanziellen Beitrag zu den Wahlausschüssen von Organisationen oder Wählern zu leisten, so dass sie auch für ihre eigene Kampagne keine Mittel an den Ausschuss überweisen könnten, was zur Folge habe, dass diese Beschränkung ihre Chancen, gewählt zu werden, weiter vermindere(19).

55.      In Bezug auf die Medien betont die Kommission, dass die politischen Parteien in der Regel über größere finanzielle Mittel verfügten, um Aktivitäten zur Förderung ihrer Kandidaten durchzuführen oder gar Werbeeinblendungen bei Privatsendern zu kaufen oder auch in sozialen Netzwerken tätig zu sein. Darüber hinaus hätten die politischen Parteien gemäß Art. 5 des Parteiengesetzes und Art. 23 des Rundfunkgesetzes einen garantierten ständigen Zugang zu den öffentlich-rechtlichen Medien und könnten sich daher über die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender auch dann zu grundlegenden öffentlichen Angelegenheiten äußern, wenn diese nicht im Zusammenhang mit einem bestimmten Wahlkampf stünden. Nach Ansicht der Kommission erhöhen all diese Mittel die Chancen der Mitglieder einer Partei, bekannt zu werden und den Inhalt ihres Wahlprogramms weit zu verbreiten.

56.      Außerdem ist die Kommission der Ansicht, dass die Existenz einiger Meinungsumfragen, die darauf hinzudeuten schienen, dass der Wähler seine Stimmabgabe häufiger an der Persönlichkeit des Kandidaten als an seiner Zugehörigkeit zu einer politischen Partei ausrichte, nicht die Feststellung entkräften könne, dass das polnische Recht dazu führe, „mobile“ Unionsbürger, die bei Kommunalwahlen oder bei den Wahlen zum Europäischen Parlament kandidieren wollten, aus Gründen der Staatsangehörigkeit unmittelbar zu diskriminieren. Konkret sei auch zu berücksichtigen, dass diese Bürger in ihrem Aufnahmeland möglicherweise weniger bekannt seien.

2)      Zur Ausübung der Zuständigkeit durch die Mitgliedstaaten

57.      Die Kommission weist darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs

–        die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten unter Beachtung des Unionsrechts ausüben müssten(20) und

–        die Anwendung einer nationalen Maßnahme, die geeignet sei, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern, nach dem Unionsrecht nur gerechtfertigt sein könne, wenn die Anwendung dieser Maßnahme nicht zu einer Verletzung der in der Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechte führe(21).

58.      Sie macht insoweit geltend, dass die Republik Polen beim Erlass von Bestimmungen über das passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament die Verpflichtungen aus Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und aus Art. 22 AEUV berücksichtigen müsse, so dass das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta Anwendung finde(22).

59.      Die Mitgliedschaft in einer politischen Partei sei Ausdruck der Ausübung der Vereinigungsfreiheit und des Rechts auf freie Meinungsäußerung, die in Art. 12 Abs. 1(23) bzw. Art. 11 der Charta verankert seien. Nach Auffassung der Kommission sind der Anwendungsbereich und die Anforderungen von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV unter Berücksichtigung dieser Vorschriften der Charta auszulegen(24).

60.      So macht die Kommission geltend, dass die Vorenthaltung des Rechts, Mitglied einer politischen Partei zu sein, ein offenkundiger Ausdruck einer Einschränkung des Grundrechts der Vereinigungsfreiheit sei. Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta dürfe eine solche Einschränkung nicht über eine nach der EMRK zulässige Einschränkung hinausgehen. Sie weist auch darauf hin, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Besonderheit der Mitgliedstaaten der Union anerkenne(25).

61.      Darüber hinaus weist die Kommission darauf hin, dass die Aufnahme politischer Rechte in die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft darauf abziele, den „mobilen“ Unionsbürgern die Möglichkeit zu geben, sich in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz hätten, zu integrieren und eine aktive politische Rolle bei den Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu spielen, was jeglichem Gedanken an eine Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten den Boden entziehe.

62.      Außerdem stehe es den Mitgliedstaaten frei, das passive Wahlrecht bei den nationalen (oder in bestimmten Fällen regionalen) Wahlen ihren Staatsangehörigen vorzubehalten, was dem Grundsatz genüge, dass die nationale Identität, die in den grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck komme, nicht beeinträchtigt werden dürfe. Insoweit weist die Kommission darauf hin, dass die Republik Polen keinen Beweis für eine solche Beeinträchtigung erbracht habe, obwohl außer ihr und der Tschechischen Republik kein anderer Mitgliedstaat die Bedingungen für die Mitgliedschaft in einer politischen Partei beschränke. Darüber hinaus verwahrt sich die Kommission gegen die Unterstellung, sie wolle ein Recht auf uneingeschränkte Teilhabe am politischen Leben im Wohnsitzmitgliedstaat postulieren. Sie ist zudem der Ansicht, dass nichts dagegen spreche, den Umfang der Beteiligung „mobiler“ Unionsbürger an politischen Parteien einzuschränken, z. B. bei der Nominierung von Kandidaten für nationale Parlamentswahlen.

63.      Schließlich sei der Umstand, dass Kandidaten, die keiner politischen Partei angehörten, in die Liste des Wahlausschusses einer Partei aufgenommen werden könnten, nicht geeignet, die Gleichheit mit parteiangehörigen Kandidaten wiederherzustellen; insoweit genüge die Feststellung, dass Letztere als Mitglieder einer Partei kandidierten, während Erstere von einer Vereinbarung abhängig seien, die nach einer positiven Entscheidung der Mitglieder der Partei getroffen werde, einer Entscheidung, auf die sie selbst keinen Einfluss „von innen heraus“ nehmen könnten.

b)      Republik Polen

64.      Dieser Mitgliedstaat macht drei Gruppen von Argumenten geltend.

1)      Der Wortlaut von Art. 22 AEUV verleihe nicht das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei

65.      Die Republik Polen hält Art. 22 AEUV für nicht unmittelbar anwendbar, weil seine beiden Absätze den Erlass ergänzender Rechtsakte erforderten, die nicht auf eine umfassende Harmonisierung der Wahlrechtsordnungen der Mitgliedstaaten abzielten(26). Dieser Artikel beziehe sich nur auf die formellen Anforderungen an das passive Wahlrecht und nicht auf die konkreten Möglichkeiten, in einem Mitgliedstaat gewählt zu werden. Die Auslegung von Art. 22 AEUV auf das Recht zu erstrecken, Mitglied einer politischen Partei zu sein, liefe dem in Art. 5 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 1 und 2 EUV aufgestellten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung zuwider.

2)      Die Beschränkung der Mitgliedschaft in einer politischen Partei sei durch das Bestreben gerechtfertigt, den Einflussbereich „mobiler“ Bürger der Union auf das nationale politische Leben zu begrenzen

66.      Die Republik Polen ist der Ansicht, aufgrund der Rolle der Parteien im Bereich des öffentlichen politischen Handelns und ihres Ziels der Ausübung öffentlicher Gewalt sei die Mitgliedschaft „mobiler“ Unionsbürger in einer politischen Partei geeignet, sich insbesondere auf die Ergebnisse der Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen auszuwirken, was mit Art. 22 AEUV, dessen Anwendungsbereich auf bestimmte Wahlen beschränkt sei, sowie mit Art. 4 Abs. 2 EUV unvereinbar sei.

67.      In diesem Zusammenhang macht sie in Bezug auf die Mitgliedschaft in politischen Parteien geltend, dass Art. 11 Abs. 1 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen) die Freiheit der Bildung und Tätigkeit der politischen Parteien gewährleiste, wobei politische Parteien polnische Staatsangehörige auf der Grundlage der Freiwilligkeit und Gleichheit mit dem Zweck vereinigten, auf die Gestaltung der Staatspolitik mit demokratischen Methoden einzuwirken.

68.      Die Republik Polen tritt der Analyse der Kommission entgegen, wonach die Vorenthaltung des Rechts auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei die in Art. 12 der Charta und in Art. 11 EMRK verankerte Vereinigungsfreiheit beeinträchtige. Sie macht zum einen geltend, dass die Vertragsstaaten dieser Konvention Beschränkungen der politischen Aktivität von Ausländern einführen könnten(27). Da es zum anderen keine unionsrechtliche Bestimmung über das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei gebe, sei Art. 12 der Charta nicht anwendbar.

3)      Kandidaten, die nicht Mitglied einer politischen Partei seien, würden gegenüber Parteimitgliedern nicht speziell benachteiligt

69.      Die Republik Polen macht erstens geltend, das polnische Recht mache die Möglichkeit, bei den Kommunalwahlen oder bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu kandidieren, nicht von der Zugehörigkeit zu einer politischen Partei abhängig.

70.      Zweitens müsse die Kommission ihr Vorbringen untermauern, wonach die Mitgliedschaft in einer politischen Partei die Chancen optimiere, bei den Kommunalwahlen oder bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gewählt zu werden, zumal Studien zeigten, dass sich die Wähler bei ihrer Wahlentscheidung im Gegenteil von der Art und Weise leiten ließen, in der sie die Kandidaten wahrnähmen, d. h. anhand ihrer Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben(28) oder, anders ausgedrückt, anhand ihres Bekanntheitsgrads. Abgesehen davon sei das von der Kommission gebildete Beispiel eines Zusammenschlusses „mobiler“ Unionsbürger zu einer Vereinigung, die ähnliche Meinungen wie eine politische Partei vertreten könne, realitätsfern, weil es davon ausgehe, dass kein Pole Mitglied dieser Vereinigung sei.

71.      Drittens hat die Republik Polen darauf hingewiesen, dass ein „mobiler“ Unionsbürger in die von einer politischen Partei oder einem Wahlbündnis von Parteien vorgeschlagene Kandidatenliste aufgenommen werden könne(29).

72.      Viertens trägt die Republik Polen in Erwiderung auf das Vorbringen der Kommission zur Finanzierung zum einen vor, dass die Kommission die den Wahlausschüssen von Parteien oder Wahlbündnissen durch das Wahlgesetzbuch auferlegten Ausgabengrenzwerte verkenne, wenn sie geltend mache, dass die Wahlausschüsse von Wählern und Organisationen im Vergleich dazu finanziell benachteiligt seien. Zum anderen könnten zwar nur polnische Staatsangehörige zur Finanzierung einer politischen Partei beitragen, müssten aber gemäß Art. 25 Abs. 1 des Parteiengesetzes grundsätzlich ihren ständigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Republik Polen haben.

73.      Fünftens gelte das Erfordernis, für die Bildung eines Wahlausschusses – von bestimmten Fällen abgesehen(30) – 1 000 Unterschriften zu sammeln, zwar nicht für die Wahlausschüsse von Parteien, Wahlbündnissen und Organisationen, aber die „mobilen“ Unionsbürger hätten die Möglichkeit, Wahlausschüsse von Organisationen zu bilden, in denen sie kandidieren und deren Infrastruktur sie nutzen könnten.

74.      Sechstens weist die Republik Polen in Bezug auf die Medien zunächst darauf hin, dass der Zugang zu ihnen in den Art. 116 ff. des Wahlgesetzbuchs und den besonderen Bestimmungen dieses Gesetzbuchs über die verschiedenen Wahlen geregelt sei, ohne dass darin zwischen den einzelnen Arten von Wahlausschüssen unterschieden werde. Ferner ergebe sich das Recht, sich außerhalb des Wahlkampfzeitraums über öffentlich-rechtliche Sender zu äußern, aus der Rolle der Parteien im politischen System des Staates, und die Mitgliedstaaten verfügten in diesem Bereich über eine ausschließliche Zuständigkeit. Schließlich weist die Republik Polen auf den gleichberechtigten Zugang zu den sozialen Netzwerken hin, die während und außerhalb des Wahlkampfs großen Einfluss hätten.

c)      Die besonderen Argumente der Tschechischen Republik als Streithelferin und die Stellungnahme der Kommission hierzu

1)      Zur Tragweite von Art. 22 AEUV

i)      Vorbringen der Tschechischen Republik

75.      Dieser Mitgliedstaat macht geltend, dass sich aus den Richtlinien 93/109 und 94/80, die für die Auslegung von Art. 22 AEUV maßgebend seien, ergebe, dass sich diese Bestimmung mit der Voraussetzung der Staatsangehörigkeit in Bezug auf das aktive und passive Wahlrecht befasse und nicht in Bezug auf andere Aspekte, einschließlich der Bedingungen für die Mitgliedschaft in einer politischen Partei. Diese Analyse werde durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs gestützt(31).

ii)    Stellungnahme der Kommission

76.      Die Kommission ist der Ansicht, dass das abgeleitete Recht zwar sicherlich bestimmte Aspekte des Rechts der Unionsbürger auf dem Gebiet der Wahlen regele, dieses Sekundärrecht jedoch nicht herangezogen werden könne, um die Tragweite von Art. 22 AEUV und damit die Tragweite von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b AEUV auf spezifische, diesem Recht unterliegende Fragen zu beschränken. Es sei der Vertrag, der den zulässigen Anwendungsbereich des abgeleiteten Rechts bestimme, und nicht umgekehrt(32).

2)      Zur anwendbaren Rechtsgrundlage

i)      Vorbringen der Tschechischen Republik

77.      Dieser Mitgliedstaat macht geltend, dass die vorliegende Rechtssache, sofern das Unionsrecht auf sie anwendbar wäre, im Licht des in Art. 18 AEUV enthaltenen allgemeinen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und nicht im Licht von Art. 22 AEUV beurteilt werden müsse, der ein besonderes Diskriminierungsverbot in Bezug auf das aktive und passive Wahlrecht der „mobilen“ Unionsbürger bei bestimmten Wahlen vorsehe. Da die Mitgliedschaft in einer politischen Partei einem „mobilen“ Unionsbürger nicht die Eigenschaft eines Kandidaten für eine Wahl verleihe, sei mangels einer solchen Eigenschaft allein Art. 18 AEUV anwendbar(33).

ii)    Stellungnahme der Kommission

78.      Die Kommission hält die von der Tschechischen Republik zur Stützung ihres Vorbringens angeführte Rechtsprechung für nicht einschlägig. Der Umstand, dass der Gerichtshof eine Diskriminierung festgestellt habe, die gegen Bestimmungen verstoße, die Art. 18 AEUV entsprächen, bedeute nicht, dass die im vorliegenden Verfahren in Rede stehenden diskriminierenden Bestimmungen über die Voraussetzungen für die Ausübung der den „mobilen“ Unionsbürgern durch Art. 22 AEUV verliehenen politischen Rechte nicht als Verstoß gegen das in dieser Bestimmung ausdrücklich vorgesehene Gleichbehandlungsgebot angesehen werden könnten. Der Unionsgesetzgeber habe in der Richtlinie 93/109 klargestellt, dass „[d]as [im derzeitigen Art. 22 Abs. 2 AEUV] vorgesehene aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitzmitgliedstaat … eine Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung zwischen in- und ausländischen [Unions]bürgern … dar[stellt]“(34). Darüber hinaus würde die Auslegung, dass der Anwendungsbereich von Art. 22 AEUV auf Bürger mit Kandidatenstatus beschränkt sei, dem Wortlaut dieser Bestimmung widersprechen, der sich auf die Bedingungen für das passive Wahlrecht beziehe, darunter auf die Chancen, Kandidat zu werden und dann wählbar zu sein(35).

3)      Zum Nachweis der behaupteten Vertragsverletzung

i)      Vorbringen der Tschechischen Republik

79.      Dieser Mitgliedstaat weist darauf hin, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs Sache der Kommission sei, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen, ohne dass sie sich hierfür auf irgendwelche Vermutungen stützen könne(36). Folglich könnten die in der Klageschrift enthaltenen unbelegten Behauptungen und Vermutungen bezüglich der schwachen Position „mobiler“ Unionsbürger, die keiner politischen Partei angehörten, keinen Bestand haben.

ii)    Stellungnahme der Kommission

80.      Die Kommission weist darauf hin, dass sich die der Republik Polen vorgeworfene Diskriminierung unmittelbar aus zwingenden Rechtsvorschriften und nicht aus einer Verwaltungspraxis ergebe. Es sei daher nicht erforderlich, dem Gerichtshof statistische Daten über die Zahl der „mobilen“ Unionsbürger vorzulegen, die durch diese Diskriminierung tatsächlich einen Nachteil erlitten hätten. Dies sei zudem in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die diskriminierende Maßnahme abschreckende Wirkung habe, praktisch unmöglich. Es sei nämlich unmöglich, genau zu bestimmen, wie viele „mobile“ Unionsbürger von einem Versuch, bei den Wahlen zu kandidieren, abgesehen hätten, weil sie durch das Verbot der Mitgliedschaft in einer politischen Partei davon abgehalten worden seien(37).

4)      Zur Einschränkung der Ausübung der durch Art. 22 AEUV verliehenen Rechte

i)      Vorbringen der Tschechischen Republik

81.      Dieser Mitgliedstaat hält die von der Kommission angeführte Rechtsprechung, d. h. das Urteil vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland(38), für nicht einschlägig und macht geltend, dass die Unmöglichkeit, als „mobiler“ Unionsbürger Mitglied einer politischen Partei zu sein, jedenfalls nicht den Wesensgehalt der in Art. 22 AEUV vorgesehenen Wahlrechte beeinträchtige und dass die polnischen Rechtsvorschriften deren uneingeschränkte Ausübung ermöglichten.

ii)    Stellungnahme der Kommission

82.      Die Kommission hält an ihrem Standpunkt fest, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie Vorschriften über die Ausübung der durch Art. 22 AEUV verliehenen politischen Rechte erließen, dies im Einklang mit den Anforderungen dieser Bestimmung und unter Beachtung der Grundrechte tun müssten. Sie fügt hinzu, aus der in ihrer Klageschrift angeführten Rechtsprechung zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten, diese Rechte zu berücksichtigen, ergebe sich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihr Ermessen so auszuüben, dass die Wahrung dieser Rechte sichergestellt sei(39).

5)      Zur Situation in den anderen Mitgliedstaaten

i)      Vorbringen der Tschechischen Republik

83.      Das Argument der Kommission, dass nur zwei Mitgliedstaaten Beschränkungen der Mitgliedschaft in politischen Parteien vorsähen, sei für die Auslegung von Art. 22 AEUV nicht relevant. Dieses Argument bestätige vielmehr, dass die Kommission versuche, diese Bestimmung, deren Wortlaut seit langem unverändert geblieben sei, auf der Grundlage eines sich ändernden sozialen Umfelds anders auszulegen. Eine solche Entwicklung könne jedoch allenfalls Anlass geben, eine Änderung der betreffenden Bestimmung in Betracht zu ziehen, nicht aber eine grundlegende Änderung ihrer Auslegung.

ii)    Stellungnahme der Kommission

84.      Die Kommission hält dieses Argument für unverständlich. Der Umstand, dass die große Mehrheit der Mitgliedstaaten den Zugang „mobiler“ Unionsbürger zur Mitgliedschaft in einer politischen Partei nicht beschränke, belege im Gegenteil die Relevanz der von ihr vertretenen Auslegung.

2.      Beurteilung

85.      Die vorliegende Klage betrifft die Folgen, die sich für das passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament aus dem Recht ergeben, Mitglied einer politischen Partei zu sein, was das polnische Recht „mobilen“ Unionsbürgern verwehrt. Hat dieses Verbot zur Folge, wie die Kommission geltend macht, dass diese Bürger ihr passives Wahlrecht bei diesen Wahlen nicht im Sinne von Art. 22 AEUV „unter denselben Bedingungen“ ausüben wie polnische Staatsangehörige?

86.      Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts fällt die Mitgliedschaft in einer politischen Partei in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich jedoch, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verpflichtungen beachten müssen(40).

87.      Daher ist zu prüfen, welche Anforderungen sich aus Art. 22 AEUV ergeben, auf den sich die Kommission beruft, und ob mit Erfolg geltend gemacht werden kann, dass diese Anforderungen geeignet seien, die nationale Identität eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV zu beeinträchtigen.

a)      Zur Tragweite von Art. 22 AEUV

88.      Gemäß seinem Wortlaut beschränkt sich der Anwendungsbereich von Art. 22 AEUV auf die von ihm erfassten Wahlen, d. h. auf die Kommunalwahlen (Abs. 1) und auf die Wahlen zum Europäischen Parlament (Abs. 2), was somit nationale Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen ausschließt.

89.      Mit der vorliegenden Klage wird der Gerichtshof um Klärung gebeten, ob der Gleichheitsgrundsatz, den Art. 22 AEUV aufstellt, so zu verstehen ist, dass er sämtliche Bedingungen umfasst, unter denen jeder „mobile“ Unionsbürger bei Wahlen kandidieren kann, oder ob er sich nur auf die gesetzlichen Voraussetzungen des passiven Wahlrechts bezieht.

90.      Es geht mithin darum, den Handlungsspielraum zu bestimmen, der den Mitgliedstaaten in Anbetracht des Umstands verbleibt, dass die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und des passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament(41) sowie bei den Kommunalwahlen in den Richtlinien 93/109 bzw. 94/80 festgelegt sind.

91.      Das auf eine wörtliche Auslegung von Art. 22 AEUV gestützte Vorbringen der Republik Polen, wonach diese Richtlinien den in dieser Bestimmung genannten Gleichheitsgrundsatz einschränkten, ist von vornherein aus dem von der Kommission zu Recht angeführten Grund der Normenhierarchie zurückzuweisen, wonach das abgeleitete Recht ein vom Vertrag anerkanntes Recht nicht einschränken darf(42).

92.      Diese Richtlinien legen somit nur einen Mindestrahmen fest, in dem der Gleichheitsgrundsatz für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts konkretisiert wird(43).

93.      Vor allem aber zeigen die Entstehungsgeschichte von Art. 22 AEUV und die Entwicklung des Rechtsrahmens, in den der Inhalt dieser Bestimmung eingebettet ist, seit dem Vertrag von Lissabon sehr deutlich, dass diese Bestimmung unter Berücksichtigung der beiden Säulen, auf denen sie beruht, nämlich der Unionsbürgerschaft und der repräsentativen Demokratie, ausgelegt werden muss.

94.      Was als Erstes die Unionsbürgerschaft betrifft, beruft sich die Kommission zu Recht auf die Anwendung von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b AEUV, wonach die Unionsbürgerschaft(44) neben anderen Rechten auch das Recht verleiht, im Wohnsitzmitgliedstaat das aktive und das passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen unter denselben Bedingungen auszuüben wie die Angehörigen dieses Staates.

95.      Dieser Zusammenhang mit den Bürgerrechten ist seit dem am 7. Februar 1992 unterzeichneten Vertrag von Maastricht im Primärrecht enthalten(45). Von Anfang an knüpft er an das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten(46), und an den Grundsatz der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit an, der Bestandteil jeder Freizügigkeit ist.

96.      Dieser Zusammenhang hat jedoch infolge der durch den Vertrag von Lissabon eingeführten Änderungen, die auf dem Willen der Mitgliedstaaten beruhen, der insbesondere darauf abzielt, der Unionsbürgerschaft einen herausragenden Platz einzuräumen, eine besondere Dimension erhalten. Zum einen wurde der EU-Vertrag nämlich um einen Titel II („Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze“) ergänzt, der Art. 9 enthält, in dem es heißt: „Die Union achtet in ihrem gesamten Handeln den Grundsatz der Gleichheit ihrer Bürgerinnen und Bürger, denen ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit seitens der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zuteil wird. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.“ Die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte sind in den Art. 20 bis 24 AEUV niedergelegt, die den Art. 17 bis 21 EG entsprechen. Die Rechte der „mobilen“ Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen sind in Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV festgelegt.

97.      Zum anderen ist jedes dieser Rechte auch in Titel V („Bürgerrechte“) der Charta(47) enthalten. Die Rechte der „mobilen“ Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen sind in den Art. 39(48) und 40(49) in allgemeiner Form verankert.

98.      Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon müssen die in Art. 22 AEUV verankerten Wahlrechte der Unionsbürger folglich als Grundrechte und als Ausdruck des Grundsatzes der Gleichbehandlung, der zum grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten gehört, analysiert werden(50).

99.      Ihre Wiederholung im EU-Vertrag und in der Charta soll auch Verbindungen zu anderen dort genannten Rechten oder Grundsätzen wie der Gleichheit und der Demokratie herstellen, bei denen es sich um Werte handelt, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind und auf die sich die Union gründet(51).

100. Was als Zweites die demokratischen Grundsätze betrifft, bestimmt Art. 10 Abs. 1 EUV seit dem Vertrag von Lissabon, dass „[d]ie Arbeitsweise der Union… auf der repräsentativen Demokratie [beruht]“(52), und Art. 10 Abs. 2 und 3 EUV erkennt das Recht der europäischen Bürgerinnen und Bürger an, unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten zu sein und am demokratischen Leben der Union teilzunehmen.

101. Somit wird aufgrund der im Vertrag von Lissabon zumindest für die Wahlen zum Europäischen Parlament vorgenommenen Verknüpfung des mit der Unionsbürgerschaft verbundenen aktiven und passiven Wahlrechts mit den demokratischen Grundsätzen innerhalb der Union das Ziel, eine tatsächliche Repräsentativität der „mobilen“ Unionsbürger zu gewährleisten, klar zum Ausdruck gebracht.

102. Die Kommission macht zu Recht geltend, dass diese Repräsentativität die logische Folge der Integration der „mobilen“ Unionsbürger in ihrem Wohnsitzstaat ist, wie in den Erwägungsgründen der Richtlinien 93/109 und 94/80 hervorgehoben wird(53). Insbesondere auf lokaler Ebene sollen die politischen Rechte, die diesen Bürgern zuerkannt werden, die soziale Eingliederung dieser Bürger fördern, die sich für einen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat entschieden haben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch auf das in diesen Erwägungsgründen genannte Ziel hinzuweisen, „jede Polarisierung zwischen den Listen von in- und ausländischen Kandidaten zu vermeiden“.

103. Meines Erachtens kann die Kommission daher auf der Grundlage von Art. 22 AEUV, der in den Kontext der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte und der in den Verträgen verankerten demokratischen Grundsätze gestellt wird, zu Recht geltend machen, dass die Gewährleistung gleicher Wahlrechte für Unionsbürger – ohne dass es einer als Hinweis dienenden oder gar erschöpfenden Liste von Kriterien bedarf – in der allgemeinen Verpflichtung zum Ausdruck kommen muss, nicht durch verschiedene Faktoren von der Teilnahme an Wahlen abzuschrecken(54).

104. Art. 22 AEUV ist mit anderen Worten dahin zu verstehen, dass jedes auf der Staatsangehörigkeit beruhende und über den durch die Richtlinien 93/109 und 94/80 festgelegten Rahmen hinausgehende Hindernis für die Ausübung des Wahlrechts eine Diskriminierung im Anwendungsbereich der Verträge darstellt(55), die verboten ist(56).

105. Unter diesen Umständen ist nunmehr die Analyse der Kommission zu prüfen, wonach die Unmöglichkeit, Mitglied einer politischen Partei zu sein, die Ausübung dieser Rechte beeinträchtigen kann.

106. Im vorliegenden Fall sind sich die Beteiligten darüber einig, dass die Chancen, ein Wahlamt auf lokaler oder auf europäischer Ebene zu erringen, vom Grad der Teilhabe am demokratischen Leben des Mitgliedstaats abhängen, in dem die „mobilen“ Unionsbürger kandidieren, sei es innerhalb einer Partei oder als unabhängige Kandidaten.

107. Gleichwohl bin ich – ebenso wie die Kommission, die sich auf die von der Republik Polen nicht beanstandeten Leitlinien der Venedig-Kommission(57) stützt – der Auffassung, dass der Zugang zu den Mitteln, über die die politischen Parteien verfügen, ein wesentliches Element zur Förderung der Kandidaturen(58) bei den Kommunalwahlen oder bei den Wahlen zum Europäischen Parlament darstellt.

108. Darüber hinaus kommt der Rolle der politischen Parteien bei der Ausübung der politischen Rechte in den Mitgliedstaaten, wie die Kommission unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geltend gemacht hat, entscheidende Bedeutung zu(59). Auf der Ebene der Union wird diese Rolle in Art. 10 Abs. 4 EUV(60), dem Art. 12 Abs. 2 der Charta entspricht, eindeutig anerkannt(61).

109. Zwischen diesem Artikel der Charta und ihren Art. 39 und 40 besteht nämlich eine eindeutige Verbindung(62). Unter diesen Umständen und aus den bereits dargelegten Gründen(63) sowie unter strikter Einhaltung des in Art. 5 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung muss jeder Mitgliedstaat diesen Bestimmungen Rechnung tragen, um die Ausübung der durch Art. 22 AEUV verliehenen Rechte zu gewährleisten.

110. Daher teile ich die Auffassung der Kommission, dass ihre auf Art. 22 AEUV gestützte Klage im Hinblick auf das in Art. 12 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Vereinigungsfreiheit in Verbindung mit Art. 11 der Charta(64), der sich auf die Freiheit der Meinungsäußerung bezieht, beurteilt werden muss. Diese Freiheiten sind aufgrund ihrer überragenden Rolle bei der Beteiligung der Bürger an der Demokratie besonders geschützt(65). In Art. 12 Abs. 2 der Charta wird diese Verbindung in Bezug auf die europäischen politischen Parteien zum Ausdruck gebracht.

111. Dieses Recht auf Vereinigungsfreiheit entspricht dem in Art. 11 Abs. 1 EMRK garantierten Recht, so dass ihm gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Letzterem zuzuerkennen ist(66).

112. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt das Recht auf Vereinigungsfreiheit eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft dar, weil es den Bürgern ermöglicht, in Bereichen von gemeinsamem Interesse gemeinsam zu handeln und dadurch zum ordnungsgemäßen Funktionieren des öffentlichen Lebens beizutragen(67).

113. Daher ist auch im Licht dieser Bestimmungen des EU-Vertrags und der Charta zu prüfen, ob, wie die Kommission geltend macht, die rechtliche Unmöglichkeit für „mobile“ Unionsbürger, Mitglied einer politischen Partei in Polen zu sein, die Gleichheit der Bedingungen ihres passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament mit den für polnische Staatsangehörige geltenden Bedingungen beeinträchtigt, insbesondere weil dadurch ihre Chancen, gewählt zu werden, erheblich verringert werden.

b)      Zum Vorliegen einer Beschränkung der Ausübung des Wahlrechts

114. Nach der durch die Tschechische Republik unterstützten Ansicht der Republik Polen legt die Kommission keine Beweise für die praktischen Auswirkungen der in Rede stehenden Rechtsvorschriften auf das passive Wahlrecht der „mobilen“ Unionsbürger vor.

115. Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass das Vorliegen einer Vertragsverletzung, wenn sie auf dem Erlass einer Maßnahme in Form eines Gesetzes oder einer Verordnung beruht, deren Existenz und Anwendung nicht bestritten werden, durch eine rechtliche Analyse der Bestimmungen dieser Maßnahme nachgewiesen werden kann(68).

116. Im vorliegenden Fall beruht die Vertragsverletzung, die die Kommission der Republik Polen vorwirft, auf dem Erlass einer gesetzgeberischen Maßnahme, deren Existenz und Anwendung dieser Mitgliedstaat nicht bestreitet und deren Bestimmungen Gegenstand einer rechtlichen Analyse in der Klageschrift sind.

117. Außerdem geht es darum, zu beurteilen, inwieweit die Regelung abschreckende Wirkung auf etwaige Kandidaturen bei Wahlen hat, was nicht quantifizierbar ist.

118. Daher kann die Republik Polen der Kommission nicht mit Erfolg vorwerfen, sie habe keine Beweise für die praktischen Auswirkungen des Gesetzes, das die Mitgliedschaft in einer politischen Partei polnischen Staatsangehörigen vorbehalte, auf das Wahlrecht der „mobilen“ Unionsbürger vorgelegt.

119. Was das in Rede stehende polnische Gesetz betrifft, das das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei polnischen Staatsangehörigen vorbehält, ergibt sich die Ungleichbehandlung im Hinblick auf das Wahlrecht meines Erachtens aus der bloßen Feststellung, dass diese Staatsangehörigen, wenn sie bei den Kommunalwahlen oder bei den Wahlen zum Europäischen Parlament kandidieren wollen, die freie Wahl haben, als Mitglieder einer politischen Partei oder als unabhängige Kandidaten anzutreten, während den „mobilen“ Unionsbürgern nur die letztgenannte Möglichkeit zur Verfügung steht. Wie zuvor dargelegt, ermöglicht der Zugang zu politischen Parteien jedoch eine effektivere Ausübung der Wahlrechte, um am demokratischen Leben teilzunehmen.

120. Keine der von der Republik Polen dargelegten Ausweichlösungen kann an dieser Beurteilung etwas ändern. Insbesondere kann nämlich der Umstand, dass „mobile“ Unionsbürger als Kandidaten in die Liste einer politischen Partei aufgenommen werden können, diese Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit nicht ausgleichen, weil sie dafür spezifische von der Kommission angeführte Kriterien erfüllen müssen. Außerdem steht die Bedeutung der Rolle der Organisationen, die Parteilosen offenstehen und auf die sich die Republik Polen beruft, außer Verhältnis zu der einer politischen Partei.

121. Darüber hinaus hat die Kommission das Vorliegen einer Ungleichheit hinsichtlich der Finanzierung der Wahlausschüsse nachgewiesen, die sich unmittelbar aus den gesetzlichen Bestimmungen ergibt und die von den Verfassern des von der Kommission angeführten Berichts als „offenkundiges Hindernis“ eingestuft wurde(69).

122. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass die Kommission das Vorliegen einer Beschränkung der Ausübung des Wahlrechts zum Nachteil der „mobilen“ Unionsbürger, die sich in der gleichen Situation wie Inländer befinden, hinreichend nachgewiesen hat.

123. Daraus folgt, dass die Republik Polen dadurch, dass sie in Ausübung ihrer Zuständigkeit die in Rede stehende nationale Bestimmung erlassen hat, die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen, nämlich die des in Verbindung mit den Art. 12, 39 und 40 der Charta zu lesenden Art. 22 AEUV, nicht beachtet hat.

c)      Zur Rechtfertigung der Beschränkung der Mitgliedschaft in einer politischen Partei

124. Die Republik Polen rechtfertigt die Ungleichbehandlung der „mobilen“ Unionsbürger, die sich aus ihrer Entscheidung ergibt, die Mitgliedschaft einer politischen Partei ihren eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten, mit aus dem Vertrag abgeleiteten Gründen, insbesondere im Zusammenhang mit der Achtung der nationalen Identität.

125. Dieser Mitgliedstaat beruft sich auf Art. 4 Abs. 2 EUV und macht im Wesentlichen geltend, dass das Unionsrecht, so wie die Kommission es auslege, zur Folge hätte, dass die „mobilen“ Unionsbürger auf einer anderen als der von den Mitgliedstaaten zugelassenen Ebene am öffentlichen Leben teilnähmen, und es ihnen insbesondere ermöglichen würde, unter Inanspruchnahme des Instruments der politischen Parteien Einfluss auf nationale Entscheidungen zu nehmen.

126. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsrechtlichen Strukturen zum Ausdruck kommt.

127. Die Organisation des nationalen politischen Lebens, zu der die politischen Parteien beitragen, ist zwar Bestandteil der nationalen Identität im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV. In dieser Hinsicht zeigt sich die Achtung dieser Identität darin, dass das Wahlrecht der „mobilen“ Unionsbürger auf die Wahlen zum Europäischen Parlament und auf die Kommunalwahlen beschränkt wird, ohne dass eine Harmonisierung der Wahlsysteme der Mitgliedstaaten angestrebt wird(70). Der Unionsgesetzgeber hat auch die Auswirkungen des erleichterten Zugangs zu diesen Wahlen auf das Gleichgewicht des politischen Lebens im Wohnsitzmitgliedstaat berücksichtigt, indem er vorsieht, dass die Mitgliedstaaten begrenzte(71) und vorübergehende Modifikationen zugunsten ihrer Staatsangehörigen beschließen können.

128. Zu der Frage, welchen Einfluss die Mitgliedschaft „mobiler“ Unionsbürger in politischen Parteien aufgrund ihrer potenziellen Auswirkungen innerhalb dieser Parteien auf nationaler Ebene hat, stelle ich fest, dass diese Frage nach Ansicht aller Beteiligten in die Zuständigkeit der politischen Parteien fällt. Diese können ihre Organisation und die Modalitäten der Auswahl ihrer Kandidaten nämlich frei festlegen(72). Ich weise darauf hin, dass sich die Republik Polen darauf beschränkt, zu behaupten, dass es unmöglich sei, den Tätigkeitsbereich der Parteimitglieder, die „mobile“ Unionsbürger seien, auf bestimmte Wahlen zu beschränken, dass sie hierfür aber keine Nachweise vorlegt.

129. Ich teile daher die Auffassung der Kommission, dass eine Zulassung der Mitgliedschaft „mobiler“ Unionsbürger in einer politischen Partei, um die Wirksamkeit der Rechte dieser Unionsbürger bei den Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu gewährleisten, die nationale Identität der Republik Polen nicht beeinträchtigen kann.

130. Darüber hinaus ist Art. 4 Abs. 2 EUV selbst dann, wenn eine solche Beeinträchtigung erwiesen wäre, unter Berücksichtigung der ihm gleichrangigen Bestimmungen auszulegen(73).

131. Daher kann Art. 4 Abs. 2 EUV die Mitgliedstaaten nicht von der Pflicht entbinden, die durch die Charta bekräftigten Grundrechte(74) zu beachten, zu denen der Grundsatz der Demokratie und der in Art. 22 AEUV(75) niedergelegte Grundsatz der durch die Unionsbürgerschaft zuerkannten Gleichbehandlung hinsichtlich der Ausübung des passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gehören. Diese Grundsätze gehören zu den grundlegenden Werten der Union(76).

132. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Klage der Kommission für begründet zu erachten.

VI.    Kosten

133. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Gerichtshof meines Erachtens dem Antrag der Kommission stattgeben sollte, ist die Republik Polen zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

134. Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung trägt die Tschechische Republik ihre eigenen Kosten.

VII. Ergebnis

135. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen, dass sie Unionsbürgern, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, aber ihren Wohnsitz im Gebiet der Republik Polen haben, das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei verwehrt.

2.      Die Republik Polen trägt die Kosten.

3.      Die Tschechische Republik trägt ihre eigenen Kosten.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Im Folgenden: „mobile“ Unionsbürger.


3      Die Kommission hat eine identische Klage gegen die Tschechische Republik erhoben (Rechtssache C‑808/21), die koordiniert behandelt wird. Am 12. September 2023 hat eine gemeinsame mündliche Verhandlung für diese beiden Rechtssachen stattgefunden.


4      Im Folgenden: Charta.


5      ABl. 1993, L 329, S. 34 und Sonderausgabe des Amtsblatts der Europäischen Union in polnischer Sprache, Kapitel 20, Bd. 1, S. 7.


6      ABl. 1994, L 368, S. 38 und Sonderausgabe des Amtsblatts der Europäischen Union in polnischer Sprache, Kapitel 20, Bd. 1, S. 12.


7      Dz. U. 1997, Nr. 98, Position 604 in geänderter Fassung (Dz. U. 2022, Position 372).


8      Dz. U. 2011, Nr. 21, Position 112 in geänderter Fassung (Dz. U. 2020, Position 1319).


9      Dz. U. 1993, Nr. 7, Position 34, in geänderter Fassung (Dz. U. 2020, Position 805).


10      Dz. U. 1989, Nr. 20, Position 104, in geänderter Fassung (Dz. U. 2020, Position 2261).


11      Vgl. auch Art. 129 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.


12      Vgl. Urteile vom 24. März 1993, CIRFS u. a./Kommission (C‑313/90, EU:C:1993:111, Rn. 22), und vom 8. November 2007, Spanien/Rat (C‑141/05, EU:C:2007:653, Rn. 27 und 28).


13      Vgl. zur Kontrolle durch den Gerichtshof u. a. Urteile vom 2. Juni 2016, Kommission/Niederlande (C‑233/14, EU:C:2016:396, Rn. 43), und vom 22. September 2016, Kommission/Tschechische Republik (C‑525/14, EU:C:2016:714, Rn. 14), sowie zu den zu beachtenden Voraussetzungen Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 188 bis 190 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14      Vgl. entsprechend Urteil vom 30. September 2010, Kommission/Belgien (C‑132/09, EU:C:2010:562, Rn. 40 und 41).


15      Die Kommission verweist auf den 10. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 und auf den 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80.


16      Die Kommission verweist auf das Urteil des EGMR vom 30. Januar 1998, Vereinte Kommunistische Partei der Türkei u. a./Türkei (CE:ECHR:1998:0130JUD001939292, § 44), und zur Bedeutung der politischen Parteien u. a. auf die Urteile vom 25. Mai 1998, Sozialistische Partei der Türkei u. a./Türkei (CE:ECHR:1998:0525JUD002123793, § 41), und vom 13. Februar 2003, Refah Partisi (Die Wohlfahrtspartei) u. a./Türkei (CE:ECHR:2003:0213JUD004134098, §§ 86 bis 89).


17      Im Folgenden: Leitlinien der Venedig-Kommission. Vgl. 2. Ausgabe dieser Leitlinien (Studie Nr. 881/2017). Die Kommission verweist auf Nr. 1 (S. 5) sowie Nrn. 17 und 18 (S. 8 und 9) dieser Leitlinien. In Bezug auf die durch die Parteien verkörperte Verbindung zwischen den Bürgern und den Trägern öffentlicher Ämter bezieht sich dieses Organ auf Nr. 18 (S. 9).


18      Siehe Nrn. 72 und 73 der vorliegenden Schlussanträge. Außerdem lege die Republik Polen nicht dar, warum die Mitgliedschaft in einer politischen Partei für die Wähler weniger wichtig sei als die Persönlichkeit der Kandidaten.


19      Die Kommission bezieht sich auf den durch das Programm „Rechte, Gleichstellung und Unionsbürgerschaft“ (2014-2020) der Kommission finanzierten Bericht „Report on Political Participation of Mobile EU Citizens: Poland“ („Bericht über die politische Beteiligung mobiler EU-Bürger: Polen“), Oktober 2018, S. 14, abrufbar unter https://faireu.ecas.org/wp-content/uploads/2019/02/FAIREU_Poland.pdf?msclkid=2da146edac3e11ec9e63cccc876888d9.


20      Die Kommission führt zum Wahlverfahren das Urteil vom 12. September 2006, Eman und Sevinger (C‑300/04, EU:C:2006:545), an.


21      Die Kommission verweist auf das Urteil vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland (C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 108).


22      Die Kommission führt das Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland (C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 88), an und weist darauf hin, dass der Gerichtshof klargestellt habe, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der den grundlegenden Status der Unionsbürger betreffenden Bestimmungen des AEU-Vertrags verpflichtet seien, die Vorschriften der Charta zu beachten.


23      Die Kommission weist darauf hin, dass diese Bestimmung Art. 11 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) entspreche.


24      Die Kommission verweist erneut auf das Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland (C‑709/20, EU:C:2021:602). Was die Tatsache betrifft, dass die nationalen Vorschriften das in Art. 12 der Charta verankerte Recht der Vereinigungsfreiheit beachten müssen, bezieht sie sich auf das Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) (C‑78/18, EU:C:2020:47).


25      Die Kommission verweist in Bezug auf Art. 16 EMRK auf das Urteil des EGMR vom 27. April 1995, Piermont/Frankreich (CE:ECHR:1995:0427JUD001577389, § 64), wonach sich die Mitgliedstaaten der Union gegenüber Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die Rechte aus den Verträgen geltend machen, nicht auf diese Bestimmung berufen könnten.


26      Die Republik Polen bezieht sich auf die Richtlinien 93/109 und 94/80 sowie speziell auf den fünften Erwägungsgrund der ersten und den vierten Erwägungsgrund der zweiten Richtlinie.


27      Dieses Argument wird auf Art. 16 EMRK gestützt.


28      Die Republik Polen verweist auf zwei Studienberichte des Centrum Badania Opinii Społecznej (Zentrum für öffentliche Meinungsforschung, Polen), Nr. 165/2018 („Beweggründe für die Stimmabgabe bei den Kommunalwahlen 2018“) bzw. Nr. 96/2014 („Wahlen zum Europäischen Parlament in den Erklärungen der Polen nach der Wahl“), die auf der Grundlage von Erklärungen der Befragten erstellt worden seien.


29      Insoweit weist die Republik Polen darauf hin, dass bei den letzten Kommunalwahlen, die 2018 stattgefunden hätten, vier „mobile“ Unionsbürger der Union kandidiert hätten, davon zwei als Kandidaten des Wahlausschusses einer Partei oder eines Wahlbündnisses von Parteien. Einer dieser Kandidaten sei in diesem Rahmen gewählt worden. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2019 habe kein „mobiler“ Unionsbürger kandidiert. Die Republik Polen weist darauf hin, dass trotz des geringen Interesses an einer Kandidatur, das die „mobilen“ Unionsbürger bekundet hätten – selbst unter Berücksichtigung der insgesamt geringen Zahl „mobiler“ Unionsbürger mit Wohnsitz in Polen – die Hälfte dieser Bürger als Kandidaten auf den Listen des Wahlausschusses einer politischen Partei oder eines Wahlbündnisses von Parteien angetreten sei. Vgl. auch das von der Kommission angeführte Commission Staff Working Document, Impact Assessment, Accompanying the document Proposal for a Council Directive laying down detailed arrangements for the exercise of the right to vote and stand as a candidate in elections to the European Parliament for Union citizens residing in a Member State of which they are not nationals“ (Arbeitsdokument der Kommission „Folgenabschätzungsbericht zu dem am 25. November 2021 vorgelegten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen (Arbeitsdokument SWD(2021) 357 final). Diesem Dokument zufolge hat ein „mobiler“ Unionsbürger angegeben, er habe in seinem Wohnsitzmitgliedstaat versucht, bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu kandidieren, was aber an der Unmöglichkeit gescheitert sei, einer politischen Partei beizutreten. Die Republik Polen weist darauf hin, dass die Daten dieses Berichts auf einer geringen Anzahl von Befragten beruhten.


30      Vgl. Art. 403 des Wahlgesetzbuchs.


31      Nach Auffassung der Tschechischen Republik beschränkt sich Art. 19 Abs. 2 EG in seiner aus dem Vertrag von Amsterdam hervorgegangenen Fassung, d. h. der heutige Art. 22 AEUV, „darauf, auf dieses aktive und passive Wahlrecht das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anzuwenden“. Sie führt das Urteil vom 12. September 2006, Eman und Sevinger (C‑300/04, EU:C:2006:545, Rn. 53), an.


32      Die Kommission führt in Bezug auf Art. 21 AEUV entsprechend die Urteile vom 14. November 2017, Lounes (C‑165/16, EU:C:2017:862), und vom 5. Juni 2018, Coman u. a. (C‑673/16, EU:C:2018:385), an.


33      Dem hat die Tschechische Republik folgende Verweise hinzugefügt: „Vgl. Urteil vom 12. Mai 1998, Martínez Sala (C‑85/96, EU:C:1998:217, Rn. 58 und 63). In dieser Rechtssache ging es um die Frage, ob die betreffende mobile Unionsbürgerin die Eigenschaft einer Arbeitnehmerin erworben hatte“, sowie „Vgl. Urteil vom 29. Juni 1999, Kommission/Belgien (C‑172/98, EU:C:1999:335, Rn. 12), und Schlussanträge des Generalanwalts Cosmas in der Rechtssache Kommission/Belgien (C‑172/98, EU:C:1999:43, Nr. 11).“


34      Die Kommission zitiert hier teilweise den dritten Erwägungsgrund dieser Richtlinie.


35      Die gleiche Erwägung gelte für das aktive Wahlrecht. Art. 22 AEUV garantiere das aktive Wahlrecht in dem Stadium, in dem die Eigenschaft eines Wahlberechtigten noch nicht erworben sei.


36      Dieser Mitgliedstaat bezieht sich u. a. auf das Urteil vom 14. März 2019, Kommission/Tschechische Republik (C‑399/17, EU:C:2019:200, Rn. 51).


37      Die Kommission weist darauf hin, dass sie gleichwohl zumindest ein Beispiel dieser Art angeführt habe, vgl. den in Fn. 29 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Folgenabschätzungsbericht.


38      C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 108.


39      Sie bestätigt ihre Bezugnahme auf Rn. 108 des Urteils vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland (C‑441/02, EU:C:2006:253), und verweist auch auf die dort angeführte Rechtsprechung.


40      Vgl. im Bereich des Wahlrechts, soweit es um die Bestimmung der Inhaber dieser Rechte geht, Urteile vom 12. September 2006, Eman und Sevinger (C‑300/04, EU:C:2006:545, Rn. 45 und 52), und vom 6. Oktober 2015, Delvigne (C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 42). Vgl. auch zu den mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechten Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“ (C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 52). Vgl. schließlich zu den Werten der Union Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 64 bis 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).


41      Der Gerichtshof hat entschieden, dass sich aus Art. 8 Abs. 1 und Art. 12 des Akts vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung (ABl. 1976, L 278, S. 5), in dem die gemeinsamen Grundsätze festgelegt werden, die auf das Verfahren der Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments in allgemeiner unmittelbarer Wahl anwendbar sind, ergibt, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich dafür zuständig bleiben, das Wahlverfahren zu regeln. Vgl. Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies (C‑502/19, EU:C:2019:1115, Rn. 67 bis 69).


42      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2022, Kommission/Österreich (Indexierung von Familienleistungen) (C‑328/20, EU:C:2022:468, Rn. 57).


43      Vgl. Art. 22 a. E. AEUV sowie vierter und sechster Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 und vierter und fünfter Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80. Diese Richtlinien enthalten Einzelheiten zu den gemeinsamen Bedingungen für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts, die sich beispielsweise auf die Unionsbürgerschaft und die vom Wohnsitzmitgliedstaat festgelegte Wohnsitzdauer, die Modalitäten für die Eintragung in die Wählerverzeichnisse und die Kandidaturerklärung sowie die Fälle des Ausschlusses beziehen.


44      Zur Einstufung als „grundlegender Status“ vgl. u. a. Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistiques et des études économiques (C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


45      Vgl. erster bis dritter Erwägungsgrund der Richtlinien 93/109 und 94/80. Nach Shaw, J., „Sovereignty at the Boundaries of the Polity“, in: Walker, N., Sovereignty in Transition, Hart Publishing, London, 2003, S. 461 bis 500, insbesondere S. 471, machen die Bestimmungen zum Wahlrecht einen Großteil des Mehrwerts der Bestimmungen des Vertrags von Maastricht aus. Die Möglichkeit, an den Direktwahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen, besteht nämlich seit dem Akt vom 20. September 1976 (siehe Fn. 41 der vorliegenden Schlussanträge). Erst seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht ist dieses Recht im EG-Vertrag in Art. 8b, dann in Art. 19 EG und schließlich in Art. 22 AEUV geregelt. Vgl. für eine Darstellung der Entstehungsgeschichte Shaw, J., und Khadar, L., „Article 39“, in: Peers, S., Hervey, T., Kenner, J., und Ward, A., The EU Charter of Fundamental Rights: A Commentary, 2. Aufl., Hart Publishing, Oxford, 2021, S. 1085 bis 1112, insbesondere Nrn. 39.33 und 39.34 (S. 1093 und 1094). Dasselbe gilt seit diesem Vertrag für die Kommunalwahlen. Für einen ausführlichen historischen Rückblick vgl. Groenendijk, K., „Article 40“, The EU Charter of Fundamental Rights: A Commentary, a. a. O., S. 1113 bis 1123, insbesondere Nr. 40.17 (S. 1118). Vgl. in Bezug auf Art. 19 EG Urteil vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich (C‑145/04, EU:C:2006:543, Rn. 66), und im selben Sinne Urteil vom 6. Oktober 2015, Delvigne (C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 42).


46      Vgl. dritter Erwägungsgrund der Richtlinien 93/109 und 94/80 sowie in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques (C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 50).


47      Gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV sind die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig.


48      Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) (im Folgenden: Erläuterungen zur Charta) „[entspricht] Art. 39 Abs. 1 … dem Recht, das durch Artikel 20 Absatz 2 [AEUV] garantiert ist“, während Art. 22 AEUV die Rechtsgrundlage für die Festlegung der Einzelheiten für die Ausübung dieses Rechts bildet.


49      Nach den Erläuterungen zur Charta „[entspricht] dieser Artikel dem Recht, das durch Artikel 20 Absatz 2 [AEUV] garantiert ist“, während Art. 22 AEUV die Rechtsgrundlage für die Festlegung der Einzelheiten für die Ausübung dieses Rechts bildet. Vgl. Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques (C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 51).


50      Vgl. Urteil vom 20. September 2001, Grzelczyk (C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31).


51      Vgl. Art. 2 EUV. Vgl. hierzu Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 64 und 67 sowie die dort angeführte Rechtsprechung); vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) (C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 112), das sich auf die implizite Verbindung zwischen drei in Art. 2 EUV genannten Werten stützt, nämlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Grundrechte. Zur Kontrollbefugnis der Organe vgl. Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat (C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 159).


52      Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 10 Abs. 1 EUV den in Art. 2 EUV genannten Wert der Demokratie konkretisiert. Vgl. Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies (C‑502/19, EU:C:2019:1115, Rn. 63).


53      Vgl. zehnter Erwägungsgrund und Art. 14 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 93/109 sowie 14. Erwägungsgrund und Art. 12 Abs. 1 Buchs. c der Richtlinie 94/80. Vgl. zur Bedeutung dieses Faktors auch Shaw, J., „Sovereignty at the Boundaries of the Polity“, a. a. O S. 478, der zufolge „Wahlrechte … die Migrationspraxis von Unionsbürgern begleitende Rechte [sind], die von der Union als schützendem Gemeinwesen geschaffen werden müssen, um eine stärkere Bindung der EU-Migranten an den Aufnahmestaat und an bestimmte Aspekte seiner politischen Kultur zu fördern und den Nachteil des Verlusts politischer Rechte zu begrenzen, den die Migrantin durch ihre Auswanderung aus ihrem Herkunftsstaat erleiden kann“ (frei übersetzt).


54      Nach ständiger Rechtsprechung verbieten die Vorschriften über die Gleichbehandlung von Inländern und Ausländern nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen. Vgl. Urteil vom 2. Februar 2023, Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland (C‑372/21, EU:C:2023:59, Rn. 29).


55      Vgl. in diesem Sinne sechster Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 und fünfter Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80.


56      Hinsichtlich der Anwendung von Art. 18 AEUV, auf die sich die Tschechische Republik beruft, ist auf das Urteil vom 11. Juni 2020, TÜV Rheinland LGA Products und Allianz IARD (C‑581/18, EU:C:2020:453, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung), zu verweisen. Der Gerichtshof hat auf den Grundsatz hingewiesen, dass nationale Maßnahmen nur insoweit im Hinblick auf Art. 18 Abs. 1 AEUV geprüft werden können, als sie auf Sachverhalte Anwendung finden, die nicht unter von diesem Vertrag vorgesehene besondere Diskriminierungsverbote fallen.


57      Vgl. insbesondere Nrn. 17 und 18 (S. 8 und 9).


58      Vgl. hierzu in Bezug auf die Finanzierung und den Zugang zu den Medien die Leitlinien der Venedig-Kommission, Nr. 185 (S. 54 und 55).


59      Siehe Nr. 50 der vorliegenden Schlussanträge. Vgl. auch Urteil des EGMR vom 8. Juli 2008, Yumak und Sadak/Türkei (CE:ECHR:2008:0708JUD001022603, § 107 und die dort angeführte Rechtsprechung). In seiner ständigen Rechtsprechung betont der EGMR, dass die politische Debatte, zu der die politischen Parteien beitragen, „zum Kernbereich des Begriffs der demokratischen Gesellschaft gehört“.


60      Diese Bestimmung betrifft die europäischen politischen Parteien. Im Wesentlichen übernimmt sie den Wortlaut von Art. 191 Abs. 1 EG.


61      Vgl. Erläuterungen zur Charta.


62      Zur Verbindung zwischen den Art. 39 und 40 der Charta und ihrem Art. 12 Abs. 2 hinsichtlich der Rolle der politischen Parteien vgl. Costa, O., „Article 39 – Droit de vote et d’éligibilité aux élections municipales et au Parlement européen“, in: Picod, F., Rizcallah, C., und Van Drooghenbroeck, S., Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne: commentaire article par article, 3. Aufl., Bruylant, Brüssel, 2023, S. 1043 bis 1068, insbesondere § 6 (S. 1048), und in demselben Werk Ducoulombier, P., „Article 12 – Liberté de réunion et d’association“, S. 313 bis 327, insbesondere § 6 (S. 317 f.). Vgl. auch Shaw, J., und Khadar, L., a. a. O., Nr. 39.04 (S. 1087), sowie Groenendijk, K., a. a. O., Nr. 40.26 (S. 1120).


63      Siehe Nr. 99 der vorliegenden Schlussanträge.


64      Dieser Artikel entspricht Art. 10 EMRK. Vgl. Erläuterungen zur Charta.


65      Vgl. hierzu auch Art. 3 des Protokolls Nr. 1 zur EMRK sowie zur Anwendung dieser Bestimmung auf die Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments Urteil des EGMR vom 18. Februar 1999, Matthews/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1999:0218JUD002483394, § 44).


66      Vgl. Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) (C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 111 bis 114).


67      Vgl. Urteil des EGMR vom 30. Januar 1998, Vereinte Kommunistische Partei der Türkei u. a./Türkei (CE:ECHR:1998:0130JUD001939292, § 25). Darin wird klargestellt, dass „[d]ie politischen Parteien … eine Form der Vereinigung dar[stellen], die für das reibungslose Funktionieren der Demokratie von wesentlicher Bedeutung ist. Angesichts der Bedeutung der Demokratie im System der [EMRK] kann kein Zweifel daran bestehen, dass die politischen Parteien unter Artikel 11 fallen.“ Zur Bedeutung der Teilnahme der Bürger am öffentlichen Leben in einem größeren Rahmen vgl. u. a. Urteile des EGMR vom 17. Februar 2004, Gorzelik u. a./Polen (CE:ECHR:2004:0217JUD004415898, §§ 88, 90 und 92), sowie vom 8. Oktober 2009, Tebieti Mühafize Cemiyyeti und Israfilov/Aserbaidschan (CE:ECHR:2009:1008JUD003708303, §§ 52 und 53).


68      Vgl. Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) (C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 37).


69      Vgl. den in Fn. 19 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Bericht über die politische Beteiligung, S. 14.


70      Vgl. in diesem Sinne fünfter Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 und vierter Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80. Vgl. auch Urteil vom 12. September 2006, Eman und Sevinger (C‑300/04, EU:C:2006:545, Rn. 52 und 53).


71      Siehe Nr. 104 der vorliegenden Schlussanträge. Vgl. insoweit zur Beschränkung des Zugangs zu bestimmten Ämtern auf Staatsangehörige und zur Teilnahme an Wahlen zu einer parlamentarischen Versammlung fünfter und zehnter Erwägungsgrund sowie Art. 5 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 94/80. Zu den Regelungen der Mitgliedstaaten innerhalb dieses Handlungsspielraums vgl. den in Fn. 29 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Folgenabschätzungsbericht, Punkt 1.3.6 (S. 20), und die Analyse von Blacher, P., „Article 40 – Droit de vote et d’éligibilité aux élections municipales“, in: Picod, F., Rizcallah, C., und Van Drooghenbroeck, S., a. a. O., S. 1069 bis 1088, insbesondere Nr. 16 (S. 1083 und 1084). Zu den Einschränkungen des aktiven und passiven Wahlrechts, speziell in Abhängigkeit vom Anteil „mobiler“ Unionsbürger im Wohnsitzmitgliedstaat und von der Dauer ihres Wohnsitzes, vgl. Art. 14 der Richtlinie 93/109 und Art. 12 der Richtlinie 94/80. Vgl. auch die Kommentare von Shaw, J. und Khadar, L., a. a. O., Nr. 39.74 (S. 1104) in Bezug auf die Wahlen zum Europäischen Parlament sowie von Groenendijk, K., a. a. O., Nrn. 40.27 und 40.28 (S. 1121) in Bezug auf die Kommunalwahlen.


72      Vgl. hierzu Leitlinien der Venedig-Kommission, Nrn. 153 und 155 (S. 49 und 50). Vgl. zur Veranschaulichung auch den vom Programm Rechte, Gleichstellung und Unionsbürgerschaft (2014-2020) der Kommission finanzierten Bericht von Alina Ostling mit dem Titel „Fair EU Synthesis report: Electoral Rights for Mobile EU Citizens – Challenges and Facilitators of Implementation“, Nr. 4.1.2 (S. 27).


73      Vgl. Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatsphäre von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 72).


74      Vgl. zweiter und fünfter Erwägungsgrund der Präambel der Charta.


75      Zur Tragweite dieses Artikels siehe Nrn. 101, 110 und 113 der vorliegenden Schlussanträge.


76      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat (C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 127), und vom 16. Februar 2022, Polen/Parlament und Rat (C‑157/21, EU:C:2022:98, Rn. 145). Vgl. Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatsphäre von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 72).

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