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Document 62021CC0700

Schlussanträge des Generalanwalts M. Campos Sánchez-Bordona vom 15. Dezember 2022.
O. G.
Vorabentscheidungsersuchen der Corte costituzionale.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann – Art. 4 Nr. 6 – Ziel der Resozialisierung – Drittstaatsangehörige, die sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben – Gleichbehandlung – Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
Rechtssache C-700/21.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:995

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 15. Dezember 2022 ( 1 )

Rechtssache C‑700/21

O. G.,

Beteiligter:

Presidente del Consiglio dei Ministri

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte costituzionale [Verfassungsgerichtshof, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Fakultative Gründe für die Ablehnung der Übergabe – Achtung des Privat- und Familienlebens – Drittstaatsangehörige, die sich in einem Mitgliedstaat aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben“

1.

Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) ersucht den Gerichtshof um Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI ( 2 ), dessen Umsetzung in italienisches Recht gegen die italienische Verfassung verstoßen könnte.

2.

Das Vorabentscheidungsersuchen gibt dem Gerichtshof die Möglichkeit, seine bereits umfangreiche Rechtsprechung zum Europäischen Haftbefehl (im Folgenden: EHB) zu präzisieren. Insbesondere ist zu klären, ob der den Mitgliedstaaten in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eingeräumte Spielraum es ihnen erlaubt, einen fakultativen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines EHB vorzusehen, der nicht für Drittstaatsangehörige gilt.

I. Rechtlicher Rahmen

A.   Recht der Europäischen Union

1. Rahmenbeschluss 2002/584

3.

Der zwölfte Erwägungsgrund lautet:

„Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EUV] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union[ ( 3 )], insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein [EHB] besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte [EHB] zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann. Der vorliegende Rahmenbeschluss belässt jedem Mitgliedstaat die Freiheit zur Anwendung seiner verfassungsmäßigen Regelung des Anspruchs auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren, der Vereinigungsfreiheit, der Pressefreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung in anderen Medien.“

4.

Art. 1 („Definition des [EHB] und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) sieht vor:

„(1)   Bei dem [EHB] handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden [EHB] nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“

5.

Art. 4 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“) bestimmt:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des [EHB] verweigern,

6.

wenn der [EHB] zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken;

…“

6.

In Art. 5 („Vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährende Garantien“) ist vorgesehen:

„Die Vollstreckung des [EHB] durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden:

3.

Ist die Person, gegen die ein [EHB] zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.“

2. Rahmenbeschluss 2008/909/JI ( 4 )

7.

Der neunte Erwägungsgrund lautet:

„Die Vollstreckung der Sanktion im Vollstreckungsstaat sollte die Resozialisierung der verurteilten Person begünstigen. Wenn sich die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats vergewissert, ob die Vollstreckung der Sanktion durch den Vollstreckungsstaat der Verwirklichung des Ziels der Resozialisierung der verurteilten Person dient, sollte sie dabei Aspekten wie beispielsweise der Bindung der verurteilten Person an den Vollstreckungsstaat Rechnung tragen und berücksichtigen, ob sie diesen als den Ort familiärer, sprachlicher, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher oder sonstiger Verbindungen zum Vollstreckungsstaat ansieht.“

8.

Der zwölfte Erwägungsgrund lautet:

„Dieser Rahmenbeschluss sollte sinngemäß auch für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen gemäß Artikel 4 [Nummer] 6 und Artikel 5 Absatz 3 des [Rahmenbeschlusses 2002/584] gelten. Dies bedeutet unter anderem, dass der Vollstreckungsstaat unbeschadet des genannten Rahmenbeschlusses als Voraussetzung für die Anerkennung und Vollstreckung des Urteils im Hinblick auf die Prüfung, ob die Person übergeben oder die Strafe vollstreckt wird, in Fällen gemäß Artikel 4 [Nummer] 6 des genannten Rahmenbeschlusses prüfen könnte, ob Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung gemäß Artikel 9 dieses Rahmenbeschlusses vorliegen, was auch die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit einschließt, soweit der Vollstreckungsstaat eine Erklärung gemäß Artikel 7 Absatz 4 dieses Rahmenbeschlusses abgibt.“

9.

Im 16. Erwägungsgrund heißt es:

„Dieser Rahmenbeschluss sollte im Einklang mit dem geltenden Gemeinschaftsrecht, insbesondere der Richtlinie 2003/86/EG ( 5 ) … [und] der Richtlinie 2003/109/EG ( 6 ) … angewandt werden.“

10.

Art. 3 („Zweck und Geltungsbereich“) bestimmt:

„(1)   Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt.

(2)   Dieser Rahmenbeschluss gilt, wenn sich die verurteilte Person im Ausstellungsstaat oder im Vollstreckungsstaat aufhält.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss gilt nur für die Anerkennung von Urteilen und die Vollstreckung von Sanktionen im Sinne des Rahmenbeschlusses. …“

11.

Art. 25 („Vollstreckung von Sanktionen aufgrund eines [EHB]“) sieht vor:

„Zwecks Vermeidung der Straflosigkeit der betreffenden Person gelten die Bestimmungen des vorliegenden Rahmenbeschlusses, unbeschadet des Rahmenbeschlusses [2002/584] und soweit sie mit diesem vereinbar sind, sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat sich zur Vollstreckung der Sanktion in Fällen gemäß Artikel 4 [Nummer] 6 jenes Rahmenbeschlusses verpflichtet, oder in denen er gemäß Artikel 5 Absatz 3 jenes Rahmenbeschlusses die Bedingung gestellt hat, dass die betreffende Person zur Verbüßung der Sanktion in den betreffenden Mitgliedstaat rücküberstellt wird.“

B.   Nationales Recht. Legge 22 aprile 2005, n. 69 ( 7 )

12.

Art. 18bis Abs. 1 Buchst. c bestimmt:

Die Übergabe kann abgelehnt werden, „wenn der EHB zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt wurde, sofern die gesuchte Person italienischer Staatsangehöriger oder Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats der Union ist und rechtmäßig und tatsächlich im italienischen Hoheitsgebiet wohnt oder sich dort aufhält, sofern das Rechtsmittelgericht anordnet, dass die Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung in Italien nach nationalem Recht vollstreckt wird“.

13.

Art. 19 Abs. l sieht vor:

„Die Vollstreckung des EHB durch die italienische Justizbehörde … ist an folgende Bedingungen geknüpft:

b)

wenn der EHB zum Zwecke der Strafverfolgung gegen einen [italienischen] Staatsangehörigen oder eine im italienischen Staat wohnhafte Person ergangen ist, wird die Übergabe davon abhängig gemacht, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird“ ( 8 ).

II. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

14.

O. G., ein moldauischer Staatsangehöriger, wurde in Rumänien rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt ( 9 ). Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass O. G. nach den Feststellungen des Gerichts, das die Frage der Verfassungswidrigkeit vorgelegt habe, „stabile familiäre und berufliche Wurzeln in Italien“ habe ( 10 ).

15.

Am 13. Februar 2012 stellte die Judecătoria Brașov (Gericht erster Instanz Brașov [Kronstadt], Rumänien) gegen O. G. einen EHB zum Zweck der Vollstreckung dieser Strafe aus.

16.

Am 7. Juli 2020 ordnete die Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna, Italien) die Übergabe der gesuchten Person an die ausstellende Justizbehörde an.

17.

Auf das Rechtsmittel von O. G. hin hob die Corte di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) am 16. September 2020 das Urteil des Berufungsgerichts auf, verwies die Rechtssache an dieses Gericht zurück und forderte es auf zu prüfen, ob die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) zur Verfassungsmäßigkeit der Regelung befragt werden solle.

18.

Das Berufungsgericht legte der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) die Frage vor, ob Art. 18bis Abs. 1 Buchst. c des Gesetzes Nr. 69/2005 mit Art. 2, Art. 3, Art. 11, Art. 27 Abs. 3 und Art. 117 Abs. 1 der italienischen Verfassung vereinbar sei.

19.

Kurz gesagt, beruhen die Zweifel des Berufungsgerichts darauf, dass die Bestimmung, mit der der fakultative Ablehnungsgrund gemäß Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in das italienische Recht umgesetzt wird, Folgendes vorsieht:

Die Befugnis, den EHB nicht zu vollstrecken, ist auf italienische Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der Union beschränkt, die sich rechtmäßig und tatsächlich im italienischen Hoheitsgebiet aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben. Sie gilt daher nicht für Drittstaatsangehörige, die die im Ausstellungsstaat verhängte Strafe nicht in Italien verbüßen können, auch wenn sie sich rechtmäßig und tatsächlich im italienischen Hoheitsgebiet aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben und erhebliche und dauerhafte Bindungen aufgebaut haben.

Dieser Ausschluss könnte mit der Achtung des Privat- und Familienlebens einer gesuchten Person, die in Italien starke soziale und familiäre Bindungen habe, und mit der „erzieherischen Funktion der Strafe“ unvereinbar sein.

20.

Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) weist darauf hin, dass dieser Aspekt von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vom Gerichtshof noch nicht erörtert worden sei ( 11 ), und legt diesem die folgenden Fragen vor:

1.

Steht Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584, ausgelegt im Licht von Art. 1 Abs. 3 dieses Rahmenbeschlusses und Art. 7 der Charta, einer Regelung wie der italienischen entgegen, wonach es den vollstreckenden Justizbehörden – im Rahmen eines Verfahrens über einen EHB zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel der Sicherung – absolut und automatisch verwehrt ist, die Übergabe von Drittstaatsangehörigen, die sich im italienischen Hoheitsgebiet aufhalten oder dort wohnen, unabhängig von den Verbindungen, die sie zu diesem Gebiet haben, abzulehnen?

2.

Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Anhand welcher Kriterien und Bedingungen sind diese Verbindungen als so erheblich anzusehen, dass die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe ablehnen muss?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

21.

Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 22. November 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. Es ist vorrangig behandelt worden.

22.

Die österreichische, die ungarische und die italienische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

23.

An der mündlichen Verhandlung vom 11. Oktober 2022 haben lediglich die italienische Regierung und die Kommission teilgenommen.

IV. Würdigung

A.   Erste Vorlagefrage

24.

Zusammenfassend gesagt, soll mit der ersten Frage geklärt werden, ob Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht von Art. 1 Abs. 3 dieses Rahmenbeschlusses und von Art. 7 der Charta mit dem italienischen Gesetz vereinbar ist, das ausschließt, dass ein im Ausstellungsstaat des EHB (Rumänien) zu einer Freiheitsstrafe verurteilter Drittstaatsangehöriger diese Strafe im Vollstreckungsstaat (Italien) verbüßen darf, in dem er sich offenbar ( 12 ) rechtmäßig und dauerhaft aufhält.

25.

Nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann die Justizbehörde die Vollstreckung eines EHB, der zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt wurde, ablehnen, sofern die beiden folgenden Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

Die gesuchte Person muss entweder Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats sein oder ihren Wohnsitz dort haben oder sich dort aufhalten.

Der Vollstreckungsstaat muss sich verpflichten, diese Strafe oder Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht selbst zu vollstrecken.

26.

Der italienische Gesetzgeber hat bei der Übernahme dieses fakultativen Ablehnungsgrundes in das innerstaatliche Recht zwei Änderungen vorgenommen:

Einerseits wurde die Voraussetzung der (italienischen) Staatsangehörigkeit um die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats der Union ergänzt ( 13 ). Damit wurde der Kreis der Personen vergrößert, die davon profitieren können, nicht an den Ausstellungsstaat des EHB ausgeliefert zu werden, sondern ihre Strafe in Italien zu verbüßen, vorausgesetzt, dass sie sich rechtmäßig und dauerhaft im italienischen Hoheitsgebiet aufhalten oder dort wohnen.

Andererseits wurde Drittstaatsangehörigen diese Möglichkeit verwehrt. Damit wurde die in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 enthaltene Voraussetzung eines Wohnsitzes oder Aufenthalts im Vollstreckungsmitgliedstaat eingeschränkt. Folglich werden Drittstaatsangehörige, auch wenn sie ihren Wohnsitz im italienischen Hoheitsgebiet haben oder sich dort aufhalten, in jedem Fall (sofern die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind) an den Ausstellungsstaat des EHB übergeben.

27.

Um die erste Vorlagefrage zu beantworten, erscheint es mir angebracht, Folgendes zu untersuchen: a) den Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584, b) die Auslegung dieses Artikels unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf Gleichheit vor dem Gesetz und c) die Auswirkungen, die andere durch die Charta geschützte Grundrechte auf diese Antwort haben können.

1. Wertungsspielraum der Staaten bei der Umsetzung von Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in innerstaatliches Recht

28.

Nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs verfügen die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und insbesondere seiner Nr. 6 über einen „gewissen Wertungsspielraum“ ( 14 ). Dieser Wertungsspielraum umfasst jedoch nicht die Befugnis, die im Rahmenbeschluss 2002/584 abschließend ( 15 ) aufgezählten Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung zu erweitern ( 16 ).

29.

In Einklang mit der soeben angeführten Rechtsprechung stellt die Vollstreckung des EHB die Regel dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme anzusehen und daher eng auszulegen ist ( 17 ).

30.

Nichts hindert die Mitgliedstaaten daran, die ihnen in Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eingeräumte Möglichkeit einzuschränken oder nicht anzuwenden. Da es sich um fakultative Ablehnungsgründe handelt, steht es jedem Mitgliedstaat frei zu entscheiden, wann er sie nicht anwendet; in diesem Fall dürfen seine vollstreckenden Justizbehörden die Übergabe einer mit einem EHB gesuchten Person nicht verweigern ( 18 ).

31.

Tatsächlich „verstärkt“, wie der Gerichtshof festgestellt hat, die nach dem Rahmenbeschluss 2002/584 zulässige Entscheidung der Mitgliedstaaten, diesen Ablehnungsgrund nicht umzusetzen, „nur das mit diesem Rahmenbeschluss im Sinne eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts errichtete System der Übergabe“ ( 19 ).

32.

Der Grund dafür ist, dass „[m]it der Begrenzung der Fälle, in denen die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern kann, … solche Rechtsvorschriften nur die Übergabe gesuchter Personen gemäß dem in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgestellten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, bei dem es sich um die mit diesem Rahmenbeschluss eingeführte Grundregel handelt, erleichtern“ ( 20 ).

33.

Die Entscheidungsfreiheit des nationalen Gesetzgebers ist jedoch nicht unbegrenzt. Hierfür gibt es mehrere Gründe.

34.

Erstens berührt der Rahmenbeschluss nicht die „die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten“ ( 21 ). Daher lässt Art. 4 Nr. 6, soweit es hier von Belang ist, keine Umsetzung durch die Mitgliedstaaten zu, die zu einer Verletzung der Grundrechte oder der Grundsätze von Art. 6 EUV führen würde.

35.

Zweitens wird der Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 nicht nur durch den Wortlaut der Vorschrift, sondern auch durch den Zweck, dem sie innerhalb des Rahmenbeschlusses 2002/584 dient, und durch den allgemeinen Kontext, in den sich dieser einfügt, d. h. durch das gesamte Unionsrecht, begrenzt.

36.

Unter diesem Gesichtspunkt stimme ich der Kommission darin zu, dass weder der Wortlaut von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 noch der mit ihm verfolgte Zweck oder der Kontext, in den er sich einfügt, für die vom italienischen Gesetzgeber gewählte Lösung sprechen ( 22 ).

37.

Nach dem Wortlaut von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ist einer anderen Staatsangehörigkeit als der des Vollstreckungsmitgliedstaats keinerlei Bedeutung beizumessen. Nur die Variante, dass die gesuchte Person Staatsangehöriger dieses Staats ist, ist vom Wortlaut erfasst.

38.

Eine andere Staatsangehörigkeit als die des Vollstreckungsmitgliedstaats ist daher irrelevant und wird durch die Kategorie „Wohnsitz“ (oder Aufenthalt) abgedeckt. Der Anwendungsbereich von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 wird für Staatsangehörige aller Staaten mit Ausnahme des Vollstreckungsstaats auf der Grundlage des Wohnsitzes (oder des Aufenthalts) bestimmt.

39.

Was den Zweck von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 anbelangt, hat der Gerichtshof festgestellt, dass „insbesondere die vollstreckende Justizbehörde in die Lage versetzt werden soll, der Frage besondere Bedeutung beizumessen, ob die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe erhöht werden können“ ( 23 ).

40.

Um den Zweck der Resozialisierung zu erreichen, ist die Staatsangehörigkeit der gesuchten Person als solche nicht relevant: Mit der Vorschrift soll erreicht werden, dass Personen sich auf diese Möglichkeit berufen können, die im Vollstreckungsmitgliedstaat wohnen oder sich dort aufhalten ( 24 ).

41.

Im Hinblick auf den Kontext, in dem Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 auszulegen ist, ist auf den Rahmenbeschluss 2008/909 über die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen hinzuweisen. Dessen umfassende Zielsetzung gilt auch für Ausländer gleich welcher Nationalität, auf die sich, wenn sie eine gewisse Verwurzelung im Vollstreckungsstaat haben ( 25 ), der Resozialisierungszweck bei der Verbüßung von Freiheitsstrafen erstreckt.

42.

Gemäß Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 gilt dieser Rahmenbeschluss sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in den Fällen des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584, soweit er mit diesem vereinbar ist ( 26 ).

43.

Dies alles führt zu der Überlegung, dass der Unionsgesetzgeber mit Rücksicht auf den Resozialisierungszweck der Verbüßung der Strafe ( 27 ) Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 als Möglichkeit ausgestaltet hat, diesen Zweck zu erreichen, wenn bestimmte vorstehend aufgezählte Umstände vorliegen, ohne dass der Aspekt der Staatsangehörigkeit (von der des Vollstreckungsstaats abgesehen) eine Rolle spielt.

2. Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und der Gleichheitsgrundsatz

44.

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Überlegungen hat der Gerichtshof entschieden, dass Staatsangehörige des Vollstreckungsmitgliedstaats und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben und in die Gesellschaft dieses Staates integriert sind, grundsätzlich nicht unterschiedlich behandelt werden sollten ( 28 ).

45.

Die Frage ist nun, ob eine Regel, die für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten gilt, auch für Drittstaatsangehörige gelten muss, wenn es um die Ablehnung der Vollstreckung eines EHB geht.

46.

Ich sehe keinen Grund, warum es nicht so sein sollte.

47.

Sicherlich kann man die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen nicht generell mit der von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten gleichsetzen ( 29 ). Gleichwohl kann eine Ungleichbehandlung solcher Personen keinen Bestand haben, wenn das abgeleitete Unionsrecht selbst – explizit oder implizit – eine einheitliche Regelung für Personen beider Kategorien vorsieht. In diesem Fall genießt das in Art. 20 der Charta verankerte Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz Vorrang.

48.

Angesichts der Unantastbarkeit der Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der in Art. 6 EUV verankerten Grundsätze schließt Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aus, dass Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses eine Umsetzung durch die Mitgliedstaaten erfährt, die zu einer Verletzung der Charta oder der Grundprinzipien der Union führen würde.

49.

Zu diesen Grundprinzipien gehört der in Art. 2 EUV und Art. 20 der Charta garantierte Gleichheitsgrundsatz. Beide stellen im vorliegenden Fall einen hinreichend belastbaren Beurteilungskanon dar, um festzustellen, dass die Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in das italienische Recht nicht mit ihnen vereinbar ist.

50.

Insbesondere muss der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz in dem von mir vertretenen Sinne gelten, da Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dem Kriterium der Staatsangehörigkeit keine Bedeutung beimisst und es durch das Kriterium des Wohnsitzes (oder des Aufenthalts) ersetzt, wobei die Staatsangehörigen des Vollstreckungsmitgliedstaats die einzige Ausnahme bilden.

51.

Daher umfasst der persönliche Anwendungsbereich von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 alle Personen, die sich, ohne Staatsangehörige des Vollstreckungsmitgliedstaats zu sein, dort aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben ( 30 ). Das Gesetz, vor dem Drittstaatsangehörige gleich zu behandeln sind, bietet daher keine Grundlage dafür, sie anders zu behandeln als Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Union.

52.

Der Spielraum bei der Umsetzung dieser Bestimmung des Unionsrechts darf daher nicht zu einer gesetzlichen Regelung führen, die Drittstaatsangehörige schlechter stellt als Staatsangehörige eines Mitgliedstaats. Wie die Kommission betont hat, ist die Situation eines Drittstaatsangehörigen, der sich tatsächlich im Vollstreckungsstaat aufhält, im Hinblick auf den Zweck von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 mit der Situation des Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats vergleichbar.

53.

Insoweit deutet der dauerhafte und tatsächliche Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen grundsätzlich auf ein Maß an Integration in dem Land hin, in dem er sich aufhält, das dem der Staatsangehörigen dieses Landes entspricht. Diese Bindungen zum Vollstreckungsmitgliedstaat sind geeignet, die Resozialisierung der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Freiheitsstrafe in diesem Staat ( 31 ) zu erleichtern.

3. Auswirkungen anderer durch die Charta geschützter Grundrechte auf die Anwendung von Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584

54.

Die vorstehenden Ausführungen reichen meines Erachtens aus, um die Unvereinbarkeit der umstrittenen nationalen Regelung mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 festzustellen. Ich halte es daher nicht für erforderlich, die (zusätzlichen) Auswirkungen von anderen in der Charta gewährleisteten Grundrechten auf die Auslegung dieses Artikels zu untersuchen.

55.

Zu diesen Rechten gehören die Rechte aus Art. 7 der Charta (Achtung des Privat- und Familienlebens), auf das sich das vorlegende Gericht bezieht, und aus Art. 24 Abs. 3 der Charta (Recht des Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen), auf das sich die Kommission bezieht ( 32 ).

56.

Natürlich können diese Rechte keinen Vorrang vor der Verbüßung einer Freiheitsstrafe haben. Sie können jedoch durchaus die Entscheidung zur Folge haben, dass die betreffende Person ihre Strafe in dem einem Mitgliedstaat (dem Vollstreckungsstaat des EHB) und nicht in dem anderen (dem Ausstellungsstaat des EHB) verbüßen sollte, wenn sie ihren Wohnsitz oder Aufenthalt im Vollstreckungsstaat hat und dort familiäre Bindungen unterhält.

57.

Dies begünstigt das Recht der gesuchten Person auf Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an familiären Beziehungen, soweit dies mit ihrem Aufenthalt in einer Haftanstalt vereinbar ist. Solche Beziehungen werden eher dort möglich sein, wo der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen liegt, d. h. in dem Staat, in dem sie sich tatsächlich aufhält.

B.   Zweite Vorlagefrage

58.

Für den Fall, dass der Gerichtshof, wie von mir vorgeschlagen, die erste Frage bejaht, möchte die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) wissen, „[a]nhand welcher Kriterien und Bedingungen … diese Verbindungen [des Drittstaatsangehörigen zum Vollstreckungsstaat] als so erheblich anzusehen [sind], dass die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe ablehnen muss“.

59.

Die Formulierung dieser zweiten Frage verlangt meines Erachtens zwei Vorüberlegungen, die die Voraussetzungen für die Ablehnung der Vollstreckung des EHB und die angebliche „Verpflichtung“ zur Ablehnung der Übergabe betreffen.

1. Voraussetzungen für die Ablehnung der Vollstreckung des EHB

60.

Die Frage betrifft nur eine der beiden in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 enthaltenen Voraussetzungen für eine mögliche Ablehnung der Übergabe der gesuchten Person.

61.

Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nennt zuerst die Voraussetzungen (Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsstaats, Wohnsitz oder Aufenthalt), die Verbindungen der gesuchten Person mit dem Vollstreckungsmitgliedstaat belegen. Diese Verbindungen müssen ausreichen, um eine mögliche Resozialisierung nach Verbüßung der verhängten Strafe zu erleichtern ( 33 ).

62.

Die in Rede stehende Bestimmung enthält jedoch noch eine weitere unabdingbare Voraussetzung: die Verpflichtung des Vollstreckungsmitgliedstaats ( 34 ), die dem EHB zugrunde liegende Freiheitsstrafe in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken. Im vorliegenden Fall sieht das vorlegende Gericht diese Voraussetzung als gegeben an und beschränkt sich strikt auf die Frage der Verbindungen der gesuchten Person zum Vollstreckungsmitgliedstaat.

2. Verpflichtung zur Ablehnung der Übergabe?

63.

Auch wenn das vorlegende Gericht von einer „Verpflichtung“ zur Ablehnung der Übergabe spricht, wenn die nachweislichen Verbindungen hinreichend erheblich sind, sieht Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eine solche Verpflichtung jedenfalls nicht vor. Er bestimmt lediglich, dass die Justizbehörde die Vollstreckung des EHB ablehnen „kann“, wenn die in der Vorschrift genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

64.

Genauso, wie der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der der Systematik des Rahmenbeschlusses 2002/584 zugrunde liegt, keine absolute Verpflichtung zur Vollstreckung des EHB nach sich zieht ( 35 ), muss auch die vollstreckende Justizbehörde, wenn ein Mitgliedstaat beschlossen hat, den hier erörterten fakultativen Ablehnungsgrund in innerstaatliches Recht umzusetzen, über einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Frage verfügen, ob die Vollstreckung des EHB zu verweigern ist ( 36 ).

65.

Der Gerichtshof hat dazu ausgeführt:

„[Es] kann nicht davon ausgegangen werden, dass mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 eine Regelung eines Mitgliedstaats im Einklang steht, mit der er Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses in der Weise umsetzt, dass seine Justizbehörden die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls stets ablehnen müssen, wenn die gesuchte Person ihren Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat hat, ohne dass seine Behörden über ein Ermessen verfügen …“ ( 37 )

„[D]ie vollstreckende Justizbehörde [muss], wenn ein Mitgliedstaat beschlossen hat, diese Bestimmung [Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584] in innerstaatliches Recht umzusetzen, gleichwohl über einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Frage verfügen …, ob die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern ist. Dabei muss die vollstreckende Justizbehörde das Ziel des in dieser Bestimmung genannten fakultativen Grundes für die Ablehnung der Vollstreckung berücksichtigen können, das nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs darin besteht, es der Behörde zu ermöglichen, besonderes Gewicht auf eine Erhöhung der Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe zu legen“ ( 38 ).

66.

Es reicht daher nicht aus, wenn die vollstreckende Justizbehörde feststellt, dass die beiden Voraussetzungen von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erfüllt sind. Darüber hinaus muss sie beurteilen, ob ein legitimes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat verbüßt wird ( 39 ).

67.

In der Antwort auf die zweite Vorlagefrage, die die Kriterien für die Beurteilung der Verwurzelung der gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat betrifft, sollte das vorlegende Gericht daher auf Folgendes hingewiesen werden:

Es besteht keine abstrakte gesetzliche Verpflichtung, die Vollstreckung des EHB allein aufgrund des Umstands abzulehnen, dass dieser fakultative Ablehnungsgrund in die innerstaatliche Rechtsordnung aufgenommen wurde.

Es ist Sache der Justizbehörde des Vollstreckungsstaats, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein legitimes Interesse daran besteht, dass die Strafe in diesem Staat und nicht im Ausstellungsstaat verbüßt wird.

3. Verwurzelung der gesuchten Person im Vollstreckungsstaat

68.

Der fakultative Ablehnungsgrund in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 beruht auf dem Gedanken, dass die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der verhängten Strafe erhöht werden können. Daraus folgt, dass es legitim ist, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat dieses Ziel nur gegenüber Personen verfolgt, die ein bestimmtes Maß an Integration in die Gesellschaft dieses Mitgliedstaats nachgewiesen haben ( 40 ).

69.

Folglich müssen die Kriterien, nach denen das vorlegende Gericht fragt, den Nachweis eines hinreichenden Maßes an Integration ermöglichen, um absehen zu können, dass die Resozialisierungschancen der gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat erheblich besser sind als im Ausstellungsmitgliedstaat.

70.

So versteht man besser, warum Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einerseits darauf abstellt, dass die gesuchte Person die Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsmitgliedstaats hat, und andererseits unterschiedslos darauf, dass sie in diesem Staat „ihren Wohnsitz hat“ oder „sich dort aufhält“:

Die Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsmitgliedstaats rechtfertigt die Annahme, dass die gesuchte Person in diesem Staat hinreichend integriert ist ( 41 ).

Da das, worauf es tatsächlich ankommt, das Maß der Integration in die Gesellschaft des Vollstreckungsmitgliedstaats ist, hat der Unionsgesetzgeber Begriffe benutzt, die auf einen tatsächlichen Umstand Bezug nehmen (Wohnsitz oder Aufenthalt), um „Situationen“ zu beschreiben, „in denen die Person, gegen die ein [EHB] erlassen wurde, entweder ihren tatsächlichen Wohnsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat begründet hat oder infolge eines beständigen Verweilens von gewisser Dauer in diesem Mitgliedstaat Bindungen zu diesem Staat von ähnlicher Intensität aufgebaut hat, wie sie sich aus einem Wohnsitz ergeben“ ( 42 ).

71.

„Ob in einer konkreten Situation zwischen der gesuchten Person und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die die Feststellung zulassen, dass diese Person unter den Begriff ‚sich aufhält‘ im Sinne des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses fällt, ist anhand einer Gesamtschau mehrerer objektiver Kriterien zu ermitteln, die die Situation dieser Person kennzeichnen und zu denen insbesondere die Dauer, die Art und die Bedingungen des Verweilens der gesuchten Person sowie ihre familiären und wirtschaftlichen Verbindungen zum Vollstreckungsmitgliedstaat gehören.“ ( 43 )

72.

Dieselben objektiven Kriterien sind erst recht anzuwenden, wenn die gesuchte Person sich nicht nur im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, sondern dort sogar ihren Wohnsitz hat.

73.

In diesem Punkt stimme ich mit der Kommission darin überein, dass sich im neunten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909 über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe verhängt wird, eine anschauliche Liste von Faktoren findet: [das Bestehen] „familiärer, sprachlicher, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher oder sonstiger Verbindungen zum Vollstreckungsstaat“.

74.

Wie das vorlegende Gericht zutreffend ausgeführt hat ( 44 ), finden sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs Urteile, nach denen das Maß der Integration der gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat von ihrer tatsächlichen Bindung an die Gesellschaft dieses Staats abhängt.

75.

Diese Rechtsprechung ist zwar für Fälle entwickelt worden, in denen die gesuchte Person Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats war. Im Einklang mit der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die erste Vorlagefrage können die Kriterien für die Bewertung der Integration von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Vollstreckungsmitgliedstaat jedoch auch für Drittstaatsangehörige herangezogen werden.

76.

Es ist daher Sache der vollstreckenden Justizbehörde, eine Gesamtbewertung der Faktoren vorzunehmen, anhand deren sie feststellen kann, ob die gesuchte Person ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit eine hinreichende Bindung an die Gesellschaft des Vollstreckungsmitgliedstaats hat, um absehen zu können, dass ihre Resozialisierungschancen und damit die Chancen, das Ziel von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu erreichen, nach der Verbüßung der Strafe im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats höher sind.

77.

Zu diesen Faktoren gehören die Dauer des bisherigen Aufenthalts ( 45 ), die Art und die Stärke der familiären Bindungen der gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat (sowie ggf. das Fehlen solcher Bindungen im Herkunftsland), das Maß ihrer Integration und ihre sprachlichen, kulturellen, beruflichen, sozialen oder wirtschaftlichen Verbindungen zu diesem Mitgliedstaat.

78.

Diese Liste ist natürlich nicht erschöpfend, da im Einzelfall weitere besondere Umstände vorliegen können, die das Gericht bei der Entscheidung über die Übergabe der gesuchten Person zu berücksichtigen hat.

V. Ergebnis

79.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Fragen der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) wie folgt zu antworten:

Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist

dahin auszulegen,

dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es, nachdem der Mitgliedstaat sich dafür entschieden hat, den betreffenden fakultativen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in das innerstaatliche Recht zu übernehmen, den vollstreckenden Justizbehörden ausnahmslos verwehrt, die Übergabe von Drittstaatsangehörigen, die sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats aufhalten oder dort wohnen, unabhängig von den Verbindungen, die sie zu diesem Gebiet haben, abzulehnen.

Maßgeblich für den Nachweis hinreichender Verbindungen der gesuchten Person zum Vollstreckungsmitgliedstaat sind alle Kriterien, die in ihrer Gesamtheit die Vermutung zulassen, dass die Resozialisierungschancen dieser Person unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit nach Verbüßung der Strafe in diesem Staat höher sind als im Ausstellungsmitgliedstaat.

Insbesondere die Dauer des bisherigen Aufenthalts, die Art und die Bedingungen des Aufenthalts der gesuchten Person sowie ihre familiären, sprachlichen, kulturellen, beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Verbindungen zum Vollstreckungsmitgliedstaat sind Faktoren, die insoweit von der vollstreckenden Justizbehörde zu berücksichtigen sind.


( 1 ) Originalsprache: Spanisch.

( 2 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung.

( 3 ) Im Folgenden: Charta.

( 4 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27).

( 5 ) Richtlinie des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12). Deren Art. 17 bestimmt: „Im Fall der Ablehnung eines Antrags, dem Entzug oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“

( 6 ) Richtlinie des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) in der durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 (ABl. 2011, L 132, S. 1) geänderten Fassung. Deren Art. 12 Abs. 3 sieht vor: „Bevor sie gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes: a) Dauer des Aufenthalts in ihrem Hoheitsgebiet, b) Alter der betreffenden Person, c) Folgen für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen, d) Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat.“

( 7 ) Disposizioni per conformare il diritto interno alla decisione quadro 2002/584/GAI del Consiglio, del 13 giugno 2002, relativa al mandato d’arresto europeo e alle procedure di consegna tra Stati membri (Gesetz Nr. 69 vom 22. April 2005, Bestimmungen zur Anpassung des nationalen Rechts an den Rahmenbeschluss …, GURI Nr. 98 vom 29. April 2005) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung; im Folgenden: Gesetz Nr. 69/2005.

( 8 ) Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts wurden sowohl dieser als auch der in der vorstehenden Randnummer angeführte Artikel durch das Decreto legislativo Nr. 10 vom 2. Februar 2021 geändert und erstrecken sich nun gleichermaßen auf italienische Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, wobei sich letztere seit mindestens fünf Jahren tatsächlich in Italien aufgehalten haben müssen. Gleichwohl ist in zeitlicher Hinsicht die frühere Regelung auf die vorliegende Rechtssache anwendbar (Nr. 4 Abs. 1 der Vorlageentscheidung).

( 9 ) Er wurde als Täter wegen der Delikte der Steuerhinterziehung und Veruntreuung von Einkommens- und Mehrwertsteuerbeträgen verurteilt, die er zwischen September 2003 und April 2004 in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung begangen hatte.

( 10 ) Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) weist darauf hin, dass sie „weder zu beurteilen hat, ob diese Wurzeln stabil und tatsächlich vorhanden sind, noch ob sich der Betroffene rechtmäßig im italienischen Hoheitsgebiet aufhält, da diese Feststellungen ausschließlich dem Gericht des Ausgangsverfahrens obliegen“ (Nr. 5 der Vorlageentscheidung).

( 11 ) Nr. 7 Abs. 2 der Vorlageentscheidung.

( 12 ) Vgl. den in Fn. 10 wiedergegebenen Vorbehalt des vorlegenden Gerichts zu diesem Punkt.

( 13 ) In ihrem Urteil Nr. 227 von 2010 (IT:COST:2010:227) hat die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) „auf der Grundlage insbesondere der Urteile Kozlowski [Urteil vom 17. Juli 2008, C‑66/08, EU:C:2008:437, im Folgenden: Urteil Kozłowski] und Wolzenburg [Urteil vom 6. Oktober 2009, C‑123/08, EU:C:2009:616, im Folgenden: Urteil Wolzenburg]“„die italienischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses …, soweit diese neben der Ablehnung der Übergabe italienischer Staatsangehöriger zwecks Vollstreckung der Strafe … in Italien nicht auch die von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorsehen, die rechtmäßig und tatsächlich im italienischen Hoheitsgebiet wohnen oder sich dort aufhalten“, für verfassungswidrig erklärt (Nr. 8.2.4 der Vorlageentscheidung).

( 14 ) Urteil Wolzenburg, Rn. 61. Auf derselben Linie Urteil[e] vom 29. April 2021, X (Europäischer Haftbefehl – Non bis in idem) (C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 41), und vom 13. Dezember 2018, Sut (C‑514/17, EU:C:2018:1016, im Folgenden: Urteil Sut, Rn. 42).

( 15 ) Hierzu allgemein Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 41).

( 16 ) Unbeschadet der Tatsache, dass die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, die den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bilden, „unter außergewöhnlichen Umständen“ wie jenen in den Verfahren, die u. a. zum Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), geführt haben, eingeschränkt werden können.

( 17 ) Vgl. statt aller Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde) (C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 18 ) Urteil Wolzenburg, Rn. 58.

( 19 ) Urteil Wolzenburg, Rn. 58.

( 20 ) Urteil Wolzenburg, Rn. 59. Hervorhebung nur hier. In diesem Sinne auch Urteil Sut, Rn. 43 und 44.

( 21 ) Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584.

( 22 ) Eine Lösung, die, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, von der „großen Mehrheit“ der Mitgliedstaaten nicht gewählt worden ist, die sich entschieden hat, die in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Möglichkeit ohne zusätzliche Bedingungen zu übernehmen.

( 23 ) Urteil Kozłowski, Rn. 45.

( 24 ) Genauer gesagt, die sich tatsächlich dort aufhalten, wie sich der Rechtsprechung des Gerichtshofs entnehmen lässt, die dem Urteil Wolzenburg zugrunde liegt.

( 25 ) Im neunten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909 heißt es: „Wenn sich die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats vergewissert, ob die Vollstreckung der Sanktion durch den Vollstreckungsstaat der Verwirklichung des Ziels der Resozialisierung der verurteilten Person dient, sollte sie dabei Aspekten wie beispielsweise der Bindung der verurteilten Person an den Vollstreckungsstaat Rechnung tragen und berücksichtigen, ob sie diesen als den Ort familiärer, sprachlicher, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher oder sonstiger Verbindungen zum Vollstreckungsstaat ansieht.“ Hervorhebung nur hier.

( 26 ) Wie das vorlegende Gericht (in Nr. 8.4 seiner Vorlageentscheidung) anmerkt, nehmen noch andere unionsrechtliche Vorschriften Bezug auf den Schutz des Interesses von Drittstaatsangehörigen daran, nicht aus dem Mitgliedstaat ausgewiesen zu werden, in dem sie tatsächlich wohnen. Auf sie bezieht sich der 16. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909: „Dieser Rahmenbeschluss sollte im Einklang mit dem geltenden Gemeinschaftsrecht, insbesondere der Richtlinie 2003/86 [Familienzusammenführung] und der Richtlinie 2003/109 [Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen] angewandt werden.“

( 27 ) Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) führt in Nr. 8.5 der Vorlageentscheidung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Resozialisierungsfunktion der Strafe an.

( 28 ) Urteil vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge (C‑42/11, EU:C:2012:517, Rn. 40). Derselben Rechtsprechungslinie folgend hat die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof), wie ich oben bereits angemerkt habe, das italienische Gesetz für verfassungswidrig erklärt, dass die Möglichkeit der Ablehnung der Übergabe nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ausschließlich italienischen Staatsangehörigen vorbehielt.

( 29 ) Art. 18 AEUV, der jede Art der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit untersagt, „findet … im Fall einer etwaigen Ungleichbehandlung zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen keine Anwendung“. Urteil vom 2. April 2020, Ruska Federacija (C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 40).

( 30 ) Urteil Kozłowski, Rn. 34, auf das sich auch Generalanwalt Mengozzi in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Lopes Da Silva Jorge (C‑42/11, EU:C:2012:151) bezieht. Er führt aus, dass der Gerichtshof „den persönlichen Anwendungsbereich von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht so versteht, dass er sich wahlweise entweder auf die Staatsangehörigen des Vollstreckungsstaats oder Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die in seinem Hoheitsgebiet ihren Wohnsitz haben oder sich dort aufhalten, oder beide Alternativen zusammen bezieht. Der Gerichtshof hat nämlich in Randnr. 34 des Urteils Kozlowski bekräftigt, dass ‚nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses [2002/584] der Anwendungsbereich dieses fakultativen Ablehnungsgrundes auf Personen begrenzt [ist], die sich, ohne Staatsangehörige des Vollstreckungsmitgliedstaats zu sein, dort ''aufhalten'' oder ''ihren Wohnsitz haben''‘.“

( 31 ) Auf diese Weise wird sichergestellt, dass es nicht zu einer Straflosigkeit kommt. Wie Generalanwalt Mengozzi in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Lopes Da Silva Jorge (C‑42/11, EU:C:2012:151) betont hat, „kann bei der von mir vorgeschlagenen Lesart des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses keine Rede davon sein, die Straffreiheit der gesuchten Person festzulegen oder sogar den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in Frage zu stellen, denn der Vollstreckungsstaat kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nur ablehnen, wenn er sich ausdrücklich verpflichtet, die Strafe in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken, ohne die Entscheidung, mit der sie verhängt wurde, in Frage zu stellen. Insoweit bleibt die Logik der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen der Justiz vollkommen gewahrt, auch wenn die gesuchte Person ihre Strafe im Vollstreckungsstaat und nicht in dem Staat, der sie ausgesprochen hat, verbüßt“ (Nr. 39).

( 32 ) Das vorlegende Gericht gibt an, dass die gesuchte Person Vater eines Minderjährigen ist (Nr. 5 Abs. 5 der Vorlageentscheidung).

( 33 ) Allgemein Urteil vom 29. Juni 2017, Popławski (C‑579/15, EU:C:2017:503, im Folgenden: Urteil Popławski, Rn. 21).

( 34 ) Es muss sich um eine „tatsächliche“ Verpflichtung handeln, wie der Gerichtshof unterstrichen hat. Vgl. Urteil Sut, Rn. 35.

( 35 ) Urteil Sut, Rn. 30.

( 36 ) Urteil Popławski, Rn. 21.

( 37 ) Urteil Popławski, Rn. 23.

( 38 ) Urteil Popławski, Rn. 21.

( 39 ) Urteil Sut, Rn. 36.

( 40 ) Urteil Wolzenburg, Rn. 67.

( 41 ) Urteil Wolzenburg, Rn. 68.

( 42 ) Urteil Kozłowski, Rn. 46.

( 43 ) Urteil Kozłowski, Rn. 48.

( 44 ) Nr. 8.2 der Vorlageentscheidung.

( 45 ) Vor allem bei langfristig Aufenthaltsberechtigten, mit denen sich die Richtlinie 2003/109 befasst.

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