Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62021CC0660

    Schlussanträge des Generalanwalts P. Pikamäe vom 26. Januar 2023.
    Strafverfahren gegen K. B. und F. S.
    Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal correctionnel de Villefranche-sur-Saône.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 3 und 4 – Verpflichtung der zuständigen Behörden, Verdächtige und beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren – Art. 8 Abs. 2 – Recht, einen Verstoß gegen diese Verpflichtung zu rügen – Nationale Regelung, die es dem Strafrichter des Hauptverfahrens verbietet, einen solchen Verstoß von Amts wegen zu prüfen – Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
    Rechtssache C-660/21.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:52

     SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    PRIIT PIKAMÄE

    vom 26. Januar 2023 ( 1 )

    Rechtssache C‑660/21

    Procureur de la République,

    Strafverfahren

    gegen

    K. B.,

    F. S.

    (Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal correctionnel de Villefranche-sur-Saône [Frankreich])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Art. 82 Abs. 2 AEUV – Vertrauensgrundsatz und Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Recht auf Belehrung über das Recht auf Aussageverweigerung – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 3 und 4 – Verteidigungsrechte – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz – Nationale Rechtsprechung, die es den Strafgerichten verbietet, eine Verletzung der aus dem Unionsrecht erwachsenden Verfahrensrechte von Amts wegen zu prüfen – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität“

    1.

    „In Vielfalt geeint“, so lautet das Motto der Europäischen Union ( 2 ), und das ist die Herausforderung, der sie sich bei ihrer Errichtung stellen muss, so schwer das Gleichgewicht zwischen diesen Polen auch herzustellen sein mag. Gleiches gilt im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, die traditionell auf die nationale Souveränität verweist – insbesondere des Strafverfahrens, das zu Recht als „eines der am meisten in den Rechtstraditionen oder der Rechtskultur der Staaten, wenn nicht sogar in ihren kulturellen Traditionen oder kurz ihrer Kultur verwurzelten Gebiete des Strafrechts“ ( 3 ) angesehen wird.

    2.

    Die vorliegende Rechtssache betrifft gerade das heikle Thema der Aufgabe der Strafgerichte im Hauptverfahren, wobei der Gerichtshof auf folgende Frage zu antworten hat: Haben die Gerichte einen Verfahrensmangel, der aus einer Verletzung des Rechts der beschuldigten Person hergeleitet wird, über ihr Recht auf Aussageverweigerung belehrt zu werden, von Amts wegen zu prüfen?

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3.

    Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache sind Art. 82 Abs. 2 AEUV, die Art. 3 und 4 sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13/EU ( 4 ) sowie die Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) relevant.

    Französisches Recht

    4.

    Art. 63-1 des Code de procédure pénale (Strafprozessordnung, im Folgenden: CPP) sieht vor:

    „Die in Polizeigewahrsam genommene Person erhält unverzüglich von einem Beamten oder, unter dessen Aufsicht, von einem Hilfsbeamten der Kriminalpolizei in einer Sprache, die sie versteht, gegebenenfalls unter Verwendung des in Abs. 13 vorgesehenen Formulars, Informationen über:

    1. ihre Ingewahrsamnahme sowie die Dauer der Maßnahme und deren mögliche Verlängerung(en);

    2. den mutmaßlichen Tatbestand, das mutmaßliche Datum und den mutmaßlichen Ort des Delikts, dessen Begehung oder versuchter Begehung die Person verdächtigt wird, sowie die in Art. 62-2 Nrn. 1 bis 6 aufgeführten Gründe, die ihre Ingewahrsamnahme rechtfertigen;

    3. den Umstand, dass sie folgende Rechte hat:

    gemäß Art. 63-2 das Recht, eine nahestehende Person und ihren Arbeitgeber sowie, falls es sich um eine Person mit ausländischer Staatsangehörigkeit handelt, die Konsularbehörden des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, benachrichtigen zu lassen und gegebenenfalls mit diesen Personen zu kommunizieren;

    gemäß Art. 63-3 das Recht, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen;

    gemäß den Art. 63-3-1 bis 63-4-3 das Recht, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen;

    das Recht, falls erforderlich, einen Dolmetscher hinzuzuziehen;

    das Recht, schnellstmöglich und spätestens vor einer etwaigen Verlängerung des Polizeigewahrsams die in Art. 63-4-1 genannten Dokumente einzusehen;

    das Recht, der Staatsanwaltschaft oder gegebenenfalls dem Haftrichter eine Stellungnahme zur Beendigung des Polizeigewahrsams zu übermitteln, wenn diese über eine etwaige Verlängerung dieser Maßnahme entscheiden. Wird die Person nicht dem Staatsanwalt oder Richter vorgeführt, kann sie ihre Stellungnahme mündlich zu Protokoll geben; das Protokoll wird dem Staatsanwalt oder Richter übermittelt, bevor er über die Verlängerung der Maßnahme entscheidet;

    das Recht, bei den Vernehmungen nach den Angaben zur Person Erklärungen abzugeben, auf Fragen zu antworten oder zu schweigen.

    Ist die Person gehörlos und kann weder lesen noch schreiben, ist ein Gebärdensprachdolmetscher oder eine andere qualifizierte Person hinzuzuziehen, die eine Sprache oder Methode beherrscht, die die Kommunikation mit der gehörlosen Person ermöglicht. Es kann auch jede technische Vorrichtung eingesetzt werden, die die Kommunikation mit einer gehörlosen Person ermöglicht.

    Versteht die Person kein Französisch, ist sie von einem Dolmetscher über ihre Rechte zu belehren, gegebenenfalls nachdem ihr ein Formular zu ihrer sofortigen Information ausgehändigt worden ist.

    Ein Vermerk über die nach diesem Artikel erteilten Informationen wird in das Protokoll zum Ablauf des Polizeigewahrsams aufgenommen und von der in Gewahrsam genommenen Person abgezeichnet. Wird die Abzeichnung verweigert, so ist dies zu vermerken.

    Gemäß Art. 803-6 wird der Person bei der Benachrichtigung über ihre Ingewahrsamnahme ein Dokument ausgehändigt, in dem diese Rechte dargelegt werden.“

    5.

    Art. 385 Abs. 1 CPP bestimmt:

    „Das Strafgericht kann bei ihm geltend gemachte prozessuale Nichtigkeitsgründe feststellen, es sei denn, die Sache wurde vom Ermittlungsrichter oder von der Ermittlungskammer zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.“

    6.

    Art. 802 CPP lautet:

    „Im Fall eines die Nichtigkeit eines Verfahrens bedingenden Verstoßes gegen Formvorschriften oder der Nichteinhaltung wesentlicher Formvorschriften kann jedes Gericht, das mit einem Antrag auf Nichtigerklärung befasst ist oder das von Amts wegen eine solche Unregelmäßigkeit prüft, einschließlich der Cour de cassation, die Nichtigkeit nur dann erklären, wenn diese Unregelmäßigkeit die Interessen der von der Nichtigkeit betroffenen Partei beeinträchtigt hat.“

    Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

    7.

    Am Abend des 22. März 2021 fielen Hilfsbeamten der Kriminalpolizei zwei Personen auf, weil sie sich in verdächtiger Weise auf einem Firmenparkplatz aufhielten und sich vor ihnen zu verbergen versuchten. Die Hilfsbeamten stellten fest, dass der Tank eines auf diesem Parkplatz geparkten Lastkraftwagens offen war und sich Kanister in der Nähe befanden. Um 22.25 Uhr nahmen sie die beiden Verdächtigen, K. B. und F. S., denen Handschellen angelegt wurden, um jeglichen Fluchtversuch zu vereiteln, im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens auf frischer Tat wegen Kraftstoffdiebstählen vorläufig fest.

    8.

    Nachdem die Hilfsbeamten K. B. und F. S. befragt hatten, benachrichtigten sie einen Beamten der Kriminalpolizei, der sie aufforderte, die aufgegriffenen Personen zwecks Ingewahrsamnahme unverzüglich vorzuführen.

    9.

    Anschließend riefen diese Hilfsbeamten einen weiteren Beamten der Kriminalpolizei herbei, der um 22.40 Uhr vor Ort erschien und das Fahrzeug von K. B. und F. S. durchsuchte. Der Beamte stellte K. B. und F. S. ebenfalls Fragen, auf die diese antworteten. Bei der Durchsuchung des Fahrzeugs wurde belastendes Beweismaterial wie Stopfen, ein Trichter und eine elektrische Pumpe entdeckt.

    10.

    Um 22.50 Uhr wurde der Staatsanwalt benachrichtigt, dass K. B. und F. S., die um 23.00 Uhr bzw. um 23.06 Uhr über ihre Rechte belehrt wurden, in Gewahrsam genommen worden waren.

    11.

    Das vorlegende Gericht, das K. B und F. S. wegen gemeinschaftlich begangener Kraftstoffdiebstähle abzuurteilen hat, stellt fest, dass Ermittlungen angestellt und selbstbelastende Aussagen gewonnen worden seien, bevor K. B. und F. S. über ihre Rechte gemäß den Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 belehrt worden seien. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Ingewahrsamnahme, Benachrichtigung des Staatsanwalts und Rechtsbelehrung, insbesondere die Belehrung über das Recht auf Aussageverweigerung, mit Verspätung erfolgt seien, müssten die Durchsuchung des Fahrzeugs, die Ingewahrsamnahme der Verdächtigen und alle daraus resultierenden Maßnahmen grundsätzlich für nichtig erklärt werden.

    12.

    Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass – außer bei unüberwindbaren Umständen – jede Verzögerung sowohl bei der Belehrung der vorläufig festgenommenen Personen über ihre Rechte als auch bei der Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft nach der Rechtsprechung der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) einen Grund für die Aufhebung des Polizeigewahrsams dieser Personen darstelle.

    13.

    Die Cour de cassation habe aber auch entschieden, dass die Strafgerichte nicht das Recht hätten, von Amts wegen die Nichtigkeit des Verfahrens zu prüfen (mit Ausnahme des Nichtigkeitsgrundes der Unzuständigkeit), weil der Angeklagte, der das Recht habe, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen, wenn er vor einem Strafgericht erscheine oder vertreten werde, eine solche Prüfung beantragen könne, wobei dem Angeklagten die gleiche Befugnis im Berufungsverfahren zustehe, falls er in erster Instanz weder erschienen noch vertreten worden sei ( 5 ).

    14.

    In der Hauptverhandlung gegen K. B. und F. S. erhoben deren jeweilige Rechtsbeistände keine Einrede der Nichtigkeit des Verfahrens.

    15.

    Aus dieser Rechtsprechung der Cour de cassation ergibt sich nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, dass nicht der Strafrichter den Vorrang und die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts für den Einzelnen sichert, sondern sein Rechtsanwalt. Aus diesem Grund könne der Richter bei Bagatelldelikten und/oder bei Beschuldigten, die keinen Rechtsanwalt hinzuzögen, die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch gewährleisten, dass er gegebenenfalls von Amts wegen einen Verstoß gegen dieses Recht feststelle.

    16.

    Das vorlegende Gericht weist insoweit auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hin, wonach, wenn es – wie im vorliegenden Fall – keine einschlägigen Unionsregeln gibt, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats ist, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der zum Schutz der Rechte der Bürger bestimmten Rechtsbehelfe festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Im Urteil vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck ( 6 ), habe der Gerichtshof jedoch entschieden, dass das Unionsrecht der Anwendung einer nationalen Verfahrensvorschrift entgegenstehe, die es einem im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufenen nationalen Gericht verbiete, von Amts wegen die Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Rechtsakts mit einer Vorschrift des Unionsrechts zu prüfen, wenn sich kein Verfahrensbeteiligter innerhalb einer bestimmten Frist auf die letztgenannte Vorschrift berufen habe.

    17.

    Außerdem verweist das vorlegende Gericht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes, in der dieser zu dem Schluss gekommen sei, dass das nationale Gericht verpflichtet sei, einen Verstoß gegen die Richtlinie 93/13/EWG ( 7 ) von Amts wegen zu prüfen, da eine solche Prüfung die Erreichung der von dieser Richtlinie vorgeschriebenen Ergebnisse ermögliche. Mit dieser Rechtsprechung würden der Status des nationalen Gerichts als Träger der mitgliedstaatlichen Hoheitsgewalt und seine damit verbundenen Pflichten als vollwertiger Akteur im Prozess der Umsetzung von Richtlinien in einem spezifischen Kontext anerkannt, der durch die Unterlegenheit einer Partei des Verfahrens gekennzeichnet sei. Die vorstehenden Ausführungen zum Verbraucher könnten vollständig auf einen Angeklagten in Strafsachen übertragen werden, da dieser nicht zwangsläufig von einem Rechtsanwalt unterstützt werde, um seine Rechte geltend zu machen.

    18.

    Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass das nationale Gericht – sollte der Gerichtshof entscheiden, dass das Verbot, einen Verstoß gegen eine nationale Vorschrift zur Umsetzung einer Richtlinie von Amts wegen festzustellen, unionsrechtswidrig sei – die Wirksamkeit des Unionsrechts sicherstellen könnte, und zwar auch dann, wenn der Betroffene keinen Rechtsanwalt habe oder dieser keinen Unionsrechtsverstoß gerügt habe. Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht aus, dass es, wenn es die verspätete Belehrung über das Recht auf Aussageverweigerung von Amts wegen feststellen könnte, auch die für die Feststellung der Schuld der Angeklagten ausschlaggebenden Maßnahmen, nämlich die Durchsuchung des Fahrzeugs und die gewonnenen selbstbelastenden Aussagen sowie die Ingewahrsamnahme und die daraus resultierenden Maßnahmen, für nichtig erklären könnte.

    19.

    Unter diesen Umständen hat das Tribunal correctionnel de Villefranche-sur-Saône (Frankreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zu stellen:

    Sind die Art. 3 (Recht auf Rechtsbelehrung) und 4 (Schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme) der Richtlinie [2012/13], Art. 7 (Recht auf Aussageverweigerung) der Richtlinie [(EU) 2016/343] und Art. 48 (Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte) der [Charta] dahin auszulegen, dass sie einem dem nationalen Gericht auferlegten Verbot entgegenstehen, von Amts wegen eine Verletzung der von [diesen] Richtlinien garantierten Verteidigungsrechte zu prüfen, und insbesondere dem Verbot entgegenstehen, zum Zweck der Nichtigerklärung des Verfahrens das Fehlen der Belehrung über das Recht zu schweigen zum Zeitpunkt der Festnahme oder eine verspätete Belehrung über das Recht zu schweigen von Amts wegen zu berücksichtigen?

    Verfahren vor dem Gerichtshof

    20.

    Die Beklagten des Ausgangsverfahrens, die französische und die irische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht und in der Sitzung vom 20. September 2022 mündlich Stellung genommen.

    Würdigung

    21.

    Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 sowie Art. 7 der Richtlinie 2016/343 ( 8 ) im Licht von Art. 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer gerichtlichen Praxis entgegenstehen, die es dem für die Beurteilung der Schuld des Beschuldigten zuständigen Strafgericht verbietet, zum Zweck der Nichtigerklärung des Verfahrens ( 9 ) eine Verletzung des Rechts, über das Recht auf Aussageverweigerung belehrt zu werden, von Amts wegen zu berücksichtigen.

    Anwendbarkeit der Richtlinie 2012/13

    22.

    In der mündlichen Verhandlung ist im Hinblick auf den Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13, wonach diese „ab dem Zeitpunkt [gilt], zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind“, die Frage nach der Anwendbarkeit der Richtlinie aufgeworfen worden. Die Formulierung sei geeignet, die zeitliche Anwendung der Richtlinie für jeden Sachverhalt auszuschließen, der vor der offiziellen Mitteilung dieser Information liege.

    23.

    Die Richtlinie 2012/13 hat ihrem Art. 1 zufolge zum Gegenstand, Mindestvorschriften für die Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen in Strafverfahren, darunter das Recht auf Rechtsbelehrung, festzulegen. Der Anwendungsbereich dieser Richtlinie wird in deren Art. 2 definiert. Art. 3 der Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend … über [die] Verfahrensrechte … belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen[.]“

    24.

    Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 wird erwähnt, dass das Recht auf Rechtsbelehrung ab den ersten Verfahrensschritten für die Fairness des Strafverfahrens sorgen und die Wirksamkeit der Verteidigungsrechte gewährleisten soll. Wie aus Rn. 24 des der Richtlinie 2012/13 zugrunde liegenden Richtlinienvorschlags der Kommission vom 20. Juli 2010 (KOM[2010] 392 endgültig) hervorgeht, besteht im Zeitraum unmittelbar nach Beginn des Freiheitsentzugs das größte Risiko dafür, dass missbräuchlich Geständnisse erpresst werden, so dass es „unerlässlich [ist], dass Verdächtige oder Beschuldigte unmittelbar, d. h. ohne Verzögerung nach ihrer Festnahme, und möglichst wirksam … über [ihre Rechte] belehrt werden“. Außerdem wird im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 hervorgehoben, dass das Recht auf Rechtsbelehrung „spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei“ umgesetzt werden muss, wobei der betreffenden Person bei ihrer Festnahme oder Inhaftierung nach dem 22. Erwägungsgrund dieser Richtlinie „umgehend“ eine schriftliche Erklärung mit einer Belehrung über die anwendbaren Verfahrensrechte auszuhändigen ist ( 10 ).

    25.

    Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich, dass Personen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, ab dem Zeitpunkt, zu dem der gegen sie gerichtete Verdacht es in einem anderen Kontext als dem der Dringlichkeit rechtfertigt, dass die zuständigen Behörden ihre Freiheit durch Zwangsmaßnahmen einschränken, so schnell wie möglich und spätestens vor ihrer ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei über ihre Rechte belehrt werden müssen ( 11 ). Da die Rechtsbelehrung, um wirksam zu sein, somit in einem frühen Verfahrensstadium erfolgen muss, hat der Gerichtshof entschieden, dass die betreffenden Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder „auf sonstige Art und Weise“ oder „auf welche Weise auch immer“ davon in Kenntnis gesetzt werden können, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden, da es nicht von Belang ist, auf welchem Wege eine solche Information diesen Personen zugeht ( 12 ).

    26.

    Außerdem ist hervorzuheben, dass die Richtlinie 2012/13 nach ihrem 14. Erwägungsgrund auf den in der Charta verankerten Rechten aufbaut, insbesondere auf den Art. 6, 47 und 48 der Charta, und dabei die Art. 5 und 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) zugrunde legt, und dass in dieser Richtlinie der Begriff „Tatvorwurf“ verwendet wird, der denselben Bedeutungsinhalt wie der in Art. 6 Abs. 1 EMRK verwendete Begriff „Anklage“ hat. In diesem Zusammenhang liegt eine „strafrechtliche Anklage“ ab dem Zeitpunkt vor, zu dem eine Person von der zuständigen Behörde offiziell von der ihr zur Last gelegten Begehung einer Straftat in Kenntnis gesetzt wird, oder ab dem Zeitpunkt, zu dem ihre Situation durch Handlungen, die von den Behörden infolge eines Verdachts gegen sie vorgenommen wurden, spürbar beeinträchtigt wurde. So kann insbesondere eine Person, die wegen des Verdachts, eine Straftat begangen zu haben, festgenommen wurde, als „einer Straftat angeklagt“ betrachtet werden und den Schutz von Art. 6 EMRK beanspruchen ( 13 ). Insonderheit hat jeder „Angeklagte“ im Sinne dieses Artikels das Recht, über sein Recht auf Aussageverweigerung belehrt zu werden ( 14 ).

    27.

    Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass der Polizei am Abend des 22. März 2021 zwei Personen aufgefallen sind, weil sie sich auf einem Firmenparkplatz aufgehalten, sich an einem Lastkraftwagen, dessen Tank offen war und in dessen Nähe sich Kanister befanden, zu schaffen gemacht und sich vor den Polizisten zu verbergen versucht haben, was zur vorläufigen Festnahme der Betroffenen unter Anlegung von Handschellen geführt hat. Mit diesen eindeutigen Zwangsmaßnahmen ist den Betroffenen zur Kenntnis gebracht worden, dass sie der Begehung einer Straftat, im vorliegenden Fall eines Kraftstoffdiebstahls, verdächtigt wurden, weshalb die Richtlinie 2012/13 anwendbar ist. Folglich hatten die beiden betroffenen Personen nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2012/13 das Recht, umgehend über ihre Rechte, insbesondere das Recht auf Aussageverweigerung, belehrt zu werden.

    28.

    Ich stelle schließlich fest, dass die in Nr. 22 der vorliegenden Schlussanträge erwähnte Auslegung von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 darauf hinauslaufen würde, aus der verspäteten und somit nicht ordnungsgemäßen Belehrung über die vorgesehenen Rechte einen Grund für die Nichtanwendung der Richtlinie zu machen, was logisch und rechtlich nicht hinnehmbar ist.

    Tragweite des Vorabentscheidungsersuchens

    29.

    Als Erstes halte ich es in Anbetracht des Wortlauts der Vorlagefrage für notwendig, deren genaue Bedeutung zu ergründen. Aus ihrer Formulierung geht hervor, dass das vorlegende Gericht seine Fragestellung allein auf die Problematik einer Unvereinbarkeit des nationalen richterlichen Verbots einer Prüfung von Amts wegen mit dem Unionsrecht zu beschränken scheint – im Widerspruch zum Wunsch dieses Gerichts, eine solche Zuständigkeit ausüben zu können. Daher bezöge sich die Vorlagefrage, mit der der Gerichtshof befasst ist, nicht auf das Bestehen einer etwaigen Verpflichtung zur Prüfung von Amts wegen, die dem nationalen Gericht unter den Umständen der Ausgangsrechtssache durch das Unionsrecht auferlegt wird.

    30.

    Die vorstehende Auslegung der Vorlagefrage erscheint mir problematisch, da das nationale Gericht in der Vorlageentscheidung ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs Bezug nimmt, die zu dem Schluss kommt, dass das nationale Gericht dazu „verpflichtet“ ist, einen Verstoß gegen Unionsrecht auf dem Gebiet des Schutzes des Verbrauchers vor missbräuchlichen Klauseln von Amts wegen zu prüfen. Dieses Gericht geht offenkundig davon aus, dass die vorerwähnte Rechtsprechung in der Ausgangsrechtssache zur Anwendung gelangen müsse, weil Angeklagte und Verbraucher unter Berücksichtigung der ihnen gemeinsamen Unterlegenheit in den betreffenden Verfahren gleichzustellen seien. Insoweit ist es nicht verwunderlich, dass sowohl die Beklagten des Ausgangsverfahrens als auch die französische und die irische Regierung sowie die Kommission in ihre Erklärungen Antwortelemente hinsichtlich des Bestehens einer aus dem Unionsrecht erwachsenden Verpflichtung zur Prüfung von Amts wegen aufgenommen haben – eine Frage, die angesichts des Wortlauts der Vorlageentscheidung meines Erachtens in der Tat nicht einfach außer Betracht bleiben darf.

    31.

    Als Zweites ist zu bemerken, dass das Recht von Verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Aussageverweigerung in zwei unterschiedlichen Rechtsinstrumenten, nämlich der Richtlinie 2012/13 und der Richtlinie 2016/343, in das Unionsrecht eingeführt wird. Die erste sieht in ihren Art. 3 und 4 das Recht auf Belehrung und das Recht auf Aussageverweigerung vor, während die zweite in ihrem Art. 7 das letztgenannte Recht als materielles Recht verankert, zusammen mit dem Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, die beide als Aspekte der Unschuldsvermutung beschrieben werden. Nach den Erwägungsgründen 26 und 27 der Richtlinie 2016/343 gelten das Aussageverweigerungsrecht und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, für Fragen, die mit der zur Last gelegten Straftat im Zusammenhang stehen, und umfassen auch, dass die zuständigen Behörden keinen Zwang auf Verdächtige oder beschuldigte Personen ausüben dürfen, um sie gegen ihren Willen zu einer Aussage zu bewegen, wobei der letztgenannte Erwägungsgrund auf die Auslegung durch den EGMR verweist ( 15 ).

    32.

    Nach Auffassung dieses Gerichts betrifft das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, in erster Linie die Achtung des Willens eines Angeklagten, die Aussage zu verweigern, und setzt in einer Strafsache voraus, dass die Staatsanwaltschaft diesen Angeklagten überführt, ohne auf Beweismittel zurückzugreifen, die sie durch Zwang oder Druck gegen seinen Willen erlangt hat. Die Daseinsberechtigung für diese Rechte hängt u. a. mit dem Schutz des Angeklagten vor missbräuchlicher Ausübung von Zwang seitens der Behörden zusammen, was es ermöglicht, Justizirrtümer zu vermeiden und die Ziele von Art. 6 EMRK zu erreichen ( 16 ). Daher haben die genannten Rechte in Art. 7 der Richtlinie 2016/343 und Art. 6 EMRK die gleiche Bedeutung, nämlich einen Schutz anlässlich von Vernehmungen vor der Erlangung von Beweisen durch Zwang – trotz der vorherigen Äußerung des Willens des Verdächtigen, die Aussage zu verweigern.

    33.

    In Anbetracht des Sachverhalts der Ausgangsrechtssache, wie er sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, geht es somit nicht unmittelbar um die Substanz des Rechts auf Aussageverweigerung in Art. 7 der Richtlinie 2016/343, auf den sich die Vorlagefrage bezieht und der oben beschrieben worden ist. Die durch die vorliegende Rechtssache aufgeworfene Problematik hängt mit der Tatsache zusammen, dass die Belehrung der Verdächtigen über ihr Recht auf Aussageverweigerung unter Verstoß gegen die in innerstaatliches Recht umgesetzten Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13, wonach eine solche Belehrung umgehend zu erfolgen hat, verspätet vorgenommen worden ist. Unter diesen Umständen scheint Art. 7 der Richtlinie 2016/343 für die vom Gerichtshof im vorliegenden Fall zu gebende Antwort irrelevant zu sein.

    34.

    Aus der Vorlageentscheidung geht ferner hervor, dass die Ausgangsrechtssache die Existenz eines wirksamen Rechtsbehelfs betrifft, wie er in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 vorgesehen ist, der verlangt, dass „Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben [müssen], ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten“.

    35.

    Daher ist zum einen festzustellen ( 17 ), dass es im Ausgangsverfahren vor allem um die Art. 3 und 4 sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 geht, und zum anderen, dass diese Vorschriften die Grundrechte auf ein faires Verfahren und auf Achtung der Verteidigungsrechte, wie sie insbesondere in Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verankert sind, konkretisieren und anhand dieser letzteren Bestimmungen auszulegen sind ( 18 ). Aus den Erläuterungen zur Charta – die nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind – ergibt sich insoweit, dass die Art. 47 und 48 der Charta den Schutz, der durch die Art. 6 und 13 EMRK verliehen ist, gewährleisten ( 19 ). Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung dieser Artikel der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem in den Art. 6 und 13 EMRK in ihrer Auslegung durch den EGMR garantierten Schutzniveau zurückbleibt ( 20 ).

    36.

    Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die Art. 3 und 4 sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 im Licht von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Auslegung einer nationalen Vorschrift entgegenstehen, nach der es den Gerichten verwehrt ist, im Hauptverfahren, dem kein Ermittlungsverfahren vorausgegangen ist ( 21 ), eine Verletzung des Rechts des Beschuldigten, über sein Recht auf Aussageverweigerung belehrt zu werden, die eine Einrede der Nichtigkeit des Verfahrens begründet, von Amts wegen zu prüfen, und, falls ja, ob das Unionsrecht dem nationalen Gericht die Befugnis verleiht oder ihm die Verpflichtung auferlegt, eine solche Verletzung von Amts wegen zu prüfen.

    37.

    Bei der Beantwortung der vorstehenden Frage sind die Bestimmungen der Richtlinie 2012/13 meines Erachtens auch unter Berücksichtigung der Grenzen der Rechtsgrundlage auszulegen, auf der diese Richtlinie erlassen worden ist.

    Rechtsgrundlage der Richtlinie 2012/13

    38.

    Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass es in Art. 67 AEUV heißt: „Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden.“ Art. 82 Abs. 2 AEUV, der zum Dritten Teil Titel V Kapitel 4 („Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“) dieses Vertrags gehört, bestimmt: „Soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist, können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften festlegen. Bei diesen Mindestvorschriften werden die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt.“

    39.

    Art. 82 Abs. 2 Buchst. b AEUV, der die Rechtsgrundlage für die Richtlinie 2012/13 darstellt, erlaubt lediglich die Festlegung von Mindestvorschriften über „Rechte des Einzelnen“ im Strafverfahren, so dass diese Richtlinie keine Vorschriften zur Bestimmung des für behauptete Verletzungen der in ihr anerkannten materiellen Rechte zuständigen Gerichts oder von Art und Umfang der gerichtlichen Kontrolle enthalten kann, da dem Unionsgesetzgeber insoweit keine Zuständigkeit übertragen worden ist ( 22 ).

    40.

    Folglich trägt die Richtlinie 2012/13 zur Schaffung einer Mindestharmonisierung der Strafverfahren innerhalb der Union bei und kann nicht so verstanden werden, dass sie ein vollständiges und abschließendes Instrument darstellt. Sie überlässt es, wie ihr 40. Erwägungsgrund klarstellt, den Mitgliedstaaten, ob sie die in ihr vorgesehenen Rechte ausweiten wollen, um auch in Situationen, die in der Richtlinie nicht ausdrücklich behandelt werden, ein höheres Schutzniveau zu bieten, wobei das Schutzniveau nie unter den Standards der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des EGMR liegen sollte ( 23 ).

    41.

    Wie die Kommission zu Recht hervorhebt, zielen die vorerwähnten Bestimmungen des Primärrechts darauf ab, die Besonderheiten der nationalen Strafverfahren zu bewahren, so dass das Unionsrecht die für diese Verfahren geltenden Vorschriften nur begrenzt regeln darf, was mir schwer mit einer Auslegung der Richtlinie 2012/13 durch den Gerichtshof vereinbar zu sein scheint, die zu dem Schluss kommt, dass das nationale Gericht eine Verletzung der in der Richtlinie anerkannten Verfahrensrechte im Hauptverfahren, dem kein Ermittlungsverfahren vorausgegangen ist, von Amts wegen prüfen kann oder sogar muss.

    42.

    Als Zweites ist daran zu erinnern, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden. Sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der auf dem Erstgenannten beruht, haben im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen ( 24 ).

    43.

    Insoweit ergibt sich aus ihren Erwägungsgründen 3, 4, 10 und 14, dass die Richtlinie 2012/13 darauf abzielt, durch Erlass gemeinsamer Mindestvorschriften über das Recht auf Unterrichtung in Strafverfahren das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege zu stärken, um die Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern. Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 lautet: „Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen kann nur in einem Klima des Vertrauens vollständig zum Tragen kommen, in dem nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an Strafverfahren beteiligten Akteure Entscheidungen der Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten als denen ihrer eigenen Justizbehörden gleichwertig ansehen; dies setzt nicht nur Vertrauen in die Angemessenheit der Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten voraus, sondern auch Vertrauen in die ordnungsgemäße Anwendung dieser Vorschriften.“

    44.

    Hinzuzufügen ist, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts von jedem Mitgliedstaat verlangt, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Bei der Durchführung des Unionsrechts können die Mitgliedstaaten somit unionsrechtlich verpflichtet sein, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie weder die Möglichkeit haben, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte zu verlangen als das durch das Unionsrecht gewährleistete, noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat ( 25 ).

    45.

    Diese Rechtsprechung ist Ausdruck einer Vermutung eines gegenseitigen Vertrauens in die nationalen Systeme zum Schutz der Grundrechte, die nur in äußerst begrenzten Fällen, in denen „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen müssen, widerlegt werden kann. Sie soll auf sämtliche Instrumente des abgeleiteten Rechts, die sich auf die Vollstreckung von Urteilen in Strafsachen, durch die eine Strafe verhängt wird, beziehen, nämlich den Rahmenbeschluss 2002/584/JI ( 26 ), den Rahmenbeschluss 2008/909/JI ( 27 ) und den Rahmenbeschluss 2008/675/JI ( 28 ), Anwendung finden.

    46.

    Neben der Bewahrung der Besonderheiten der nationalen Rechtssysteme und der Vermutung der Gleichwertigkeit dieser Systeme beim Grundrechtsschutz muss die vom vorlegenden Gericht aufgeworfene rechtliche Problematik auch anhand des Grundsatzes der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten geprüft werden, für den die notwendige Erfüllung der sich aus den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität ergebenden Anforderungen den Rahmen bildet ( 29 ).

    Beschränkte Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten

    47.

    Die Rechte, die K. B. und F. S. aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. e und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 herleiten, sind im Rahmen des im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden Strafverfahrens unstreitig verletzt worden. Die den nationalen Behörden durch diese Vorschriften auferlegte Verpflichtung, Verdächtige und beschuldigte Personen über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren, ist von wesentlicher Bedeutung für die wirksame Gewährleistung dieser Rechte und damit für die Einhaltung von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta. Ohne diese Belehrung wüsste die betroffene Person nämlich weder, dass sie die genannten Rechte hat und worin sie bestehen, noch könnte sie sie geltend machen, so dass es ihr unmöglich wäre, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrzunehmen und ein faires Verfahren zu erhalten ( 30 ). Es sei jedoch daran erinnert, dass die beiden vorläufig festgenommenen Personen im vorliegenden Fall durchaus über ihre Rechte belehrt worden sind, aber verspätet, was zur Schlussfolgerung einer Verletzung dieser Rechte führt, da die Verspätung durch keinen unüberwindbaren Umstand gerechtfertigt ist ( 31 ).

    48.

    Was die Folgen dieser Verletzung angeht, so ergibt sich aus den Erklärungen der französischen Regierung, dass das nationale Recht zwischen absoluten Nichtigkeitsgründen, die sich auf die Organisation, Zusammensetzung und Zuständigkeiten der Gerichte beziehen, und relativen Nichtigkeitsgründen, die im Interesse der Parteien festgestellt werden, unterscheidet. Letztere liegen nur vor, wenn eine Beeinträchtigung der Interessen desjenigen nachgewiesen wird, der sie geltend macht, ausgenommen bestimmte besonders wichtige Garantien wie die Garantie der Aussageverweigerung, deren Verletzung zwangsläufig als Beeinträchtigung gilt, und können von den Gerichten nicht von Amts wegen geprüft werden. Die letztgenannte Regel ergibt sich aus der Auslegung von Art. 385 Abs. 1 CPP durch die Cour de cassation.

    49.

    In diesem Zusammenhang sei in Erinnerung gerufen, dass Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten. Somit hat es der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten überlassen, über die Art und die konkreten Modalitäten der Rechtsbehelfe, die den Beteiligten zur Verfügung stehen, sowie über die Folgen zu entscheiden, die sich aus einer Verletzung der in der Richtlinie 2012/13 vorgesehenen Rechte ergeben müssen.

    50.

    In Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung ist es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten jeweils Sache von deren innerstaatlichem Recht, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Nach dem nunmehr in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität). Diese Erfordernisse in Bezug auf die Äquivalenz und Effektivität sind Ausdruck der allgemeinen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den gerichtlichen Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, einschließlich der Verteidigungsrechte, zu gewährleisten ( 32 ).

    Zum Äquivalenzgrundsatz

    51.

    Zum Äquivalenzgrundsatz ist festzustellen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht von vornherein ersichtlich ist, dass dieser Grundsatz durch die Anwendung von Art. 385 Abs. 1 CPP auf die Verstöße gegen die Rechte aus der Richtlinie 2012/13 verletzt worden wäre. Diese Vorschrift, so wie sie in der beanstandeten gerichtlichen Praxis ausgelegt wird, regelt die Voraussetzungen für die Geltendmachung einer Nichtigkeit des Verfahrens vor dem Strafgericht nämlich unabhängig davon, ob diese Nichtigkeit auf einem Verstoß gegen ein individuelles Recht des nationalen Rechts oder einem Verstoß gegen ein individuelles Recht des Unionsrechts beruht ( 33 ).

    Zum Effektivitätsgrundsatz

    52.

    Zum Effektivitätsgrundsatz ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht dazu zwingt, neben den nach innerstaatlichem Recht bereits bestehenden Rechtsbehelfen neue zu schaffen, es sei denn, es gibt nach dem System der betreffenden nationalen Rechtsordnung keinen Rechtsbehelf, mit dem wenigstens inzident die Wahrung der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden könnte, oder die einzige Möglichkeit für den Einzelnen, Zugang zu einem Gericht zu erlangen, bestünde darin, eine Rechtsverletzung begehen zu müssen ( 34 ).

    53.

    Darüber hinaus ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Ausübung der den Bürgern durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens ( 35 ).

    54.

    Nach dieser Rechtsprechung ist für die Beurteilung der Frage, ob der Grundsatz der Effektivität gewahrt ist, nicht die Prüfung sämtlicher in einem Mitgliedstaat bestehender Rechtsbehelfe, sondern eine kontextbezogene Prüfung der Bestimmung, die gegen diesen Grundsatz verstoßen soll, erforderlich. Dies kann bedeuten, dass weitere Verfahrensbestimmungen, die im Zusammenhang mit dem Rechtsbehelf anwendbar sind, dessen Effektivität angezweifelt wird, oder Rechtsbehelfe, die denselben Zweck wie dieser Rechtsbehelf haben, zu prüfen sind ( 36 ). Nach Auffassung des Gerichtshofs sind die ergangenen Entscheidungen daher lediglich das Ergebnis von Einzelfallbeurteilungen, die unter Berücksichtigung des gesamten tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhangs der jeweiligen Rechtssache vorgenommen wurden und nicht automatisch auf andere Bereiche als die übertragen werden können, in deren Rahmen sie getroffen wurden ( 37 ).

    55.

    Ich möchte besonders auf die Herausforderung hinweisen, die eine solche Beurteilung im Hinblick auf die Art und Weise der Befassung des Gerichtshofs, im vorliegenden Fall eine Vorlage zur Vorabentscheidung, darstellt. In diesem Rahmen ist für das Verständnis der anwendbaren nationalen Regelung nämlich vorrangig die Vorlageentscheidung heranzuziehen, wobei die Angaben für den Fall, dass diese Entscheidung – wie hier – lückenhaft ist, durch die schriftlichen Erklärungen der Verfahrensbeteiligten und gegebenenfalls die mündlichen Erklärungen in der Sitzung ergänzt werden. Im vorliegenden Fall scheint mir die geforderte Kontextbezogenheit mehrere Bestimmungen des nationalen Rechts einschließen zu müssen.

    56.

    Was als Erstes die Rolle der Staatsanwaltschaft in Frankreich angeht, so macht die französische Regierung geltend, diese habe, wie sich aus den einschlägigen Bestimmungen des CPP ( 38 ) ergebe, die Aufgabe, die Verteidigung der allgemeinen Interessen der Gesellschaft durch die Verfolgung von Verstößen gegen die Strafgesetze einerseits und die Achtung der individuellen Freiheiten durch die Wahrung der Rechte des Einzelnen während des gesamten Verfahrens andererseits unter einen Hut zu bringen. Auch wenn eine Auslegung der betreffenden Bestimmungen der Richtlinie 2012/13 streng genommen keine Beurteilung des Begriffs „Justizbehörde“ voraussetzt, ist gleichwohl der sehr kontroverse Charakter einer solchen Einstufung in Bezug auf die französische Staatsanwaltschaft hervorzuheben.

    57.

    Die Cour de cassation, die sich zur Fähigkeit der Staatsanwaltschaft zu äußern hatte, Maßnahmen zur Ingewahrsamnahme im Sinne von Art. 5 Abs. 3 EMRK, wonach „[j]ede Person, die … von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, … unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werden [muss]“, wirksam zu kontrollieren, hat in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR ( 39 ) entschieden, dass die Staatsanwaltschaft keine Justizbehörde im Sinne des vorerwähnten Artikels sei, da sie als Verfolgungsbehörde keine Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit biete ( 40 ). Demgegenüber hat der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat, Frankreich) stets die Auffassung vertreten, dass Justizbehörden, die die Achtung der individuellen Freiheit sicherzustellen hätten, sowohl Richter als auch Staatsanwälte umfassten und die Kontrolle der ersten 48 Stunden des Polizeigewahrsams durch die Staatsanwaltschaft nicht gegen die Verfassung verstoße ( 41 ). Hinzuzufügen ist, dass der Gerichtshof der französischen Staatsanwaltschaft die Eigenschaft einer Justizbehörde ausschließlich im besonderen Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zugesprochen hat. Nach Ansicht des Gerichtshofs handeln die Mitglieder der Staatsanwaltschaft, die in Frankreich zum Berufsstand der Richter und Staatsanwälte gehören, bei der Ausübung ihrer der Ausstellung eines solchen Haftbefehls innenwohnenden Aufgaben unabhängig ( 42 ).

    58.

    Über den rechtlichen Relativismus hinsichtlich der Definition einer Justizbehörde – auch innerhalb ein und desselben Staates – und die entsprechende Feststellung der sich daraus ergebenden objektiven Schwierigkeiten hinsichtlich des Verständnisses eines nationalen Rechtssystems hinaus kann in diesem Zusammenhang nur schwerlich davon ausgegangen werden, dass die präventive Kontrolle durch die französische Staatsanwaltschaft, an der es im vorliegenden Fall fehlt, für sich allein geeignet ist, den durch die Richtlinie 2012/13 garantierten Schutz wirksam zu gewährleisten.

    59.

    Als Zweites geht aus den schriftlichen und mündlichen Erklärungen der französischen Regierung hervor, dass das Recht auf einen Anwalt während des gesamten Strafverfahrens garantiert ist ( 43 ), was in der vorliegenden Rechtssache im Übrigen nicht im Streit steht, und durch die Regelungen über Prozesskostenhilfe erleichtert wird, die es mittellosen Personen bzw. Personen mit niedrigem Einkommen ermöglichen, die vollständige oder teilweise Übernahme der Verfahrenskosten – darunter die Anwaltsgebühren und die Kosten für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, bei der vom Vorsitzenden der Anwaltskammer oder vom Gerichtspräsidenten ein Anwalt benannt wird, um einem Rechtsunterworfenen in einem Strafverfahren beizustehen, sei es auf Antrag des Rechtsunterworfenen, weil dieser keinen Anwalt hat oder keine Zeit gehabt hat, einen zu wählen, sei es, weil das Verfahren die Anwesenheit eines Rechtsanwalts verlangt und der Rechtsunterworfene keinen hat – durch den Staat zu erwirken.

    60.

    Zur Rolle des Rechtsanwalts ist zu sagen, dass dieser nach jeder Besprechung mit der in Gewahrsam befindlichen Person und jeder Vernehmung oder Gegenüberstellung, der er beigewohnt hat, schriftliche Erklärungen, die mit dem Verfahren verbunden werden, vorlegen und während der Dauer des Polizeigewahrsams an die Staatsanwaltschaft richten kann. Der Rechtsanwalt kann insbesondere das Protokoll einsehen, in dem die Benachrichtigung über die Ingewahrsamnahme und die Belehrung über die damit verknüpften Rechte festgehalten sind, was es ihm ermöglicht, die Achtung dieser Rechte – auch in ihrer zeitlichen Dimension – zu überprüfen ( 44 ).

    61.

    In bestimmten Verfahren – etwa solchen, in denen das sofortige Erscheinen angeordnet und auf ein vorheriges Schuldeingeständnis vor dem Schwurgericht (Frankreich), das Verbrechen aburteilt, sehr kurze Zeit nach den zur Last gelegten Handlungen ein Urteil gefällt wird, sowie in allen Strafverfahren betreffend einen Minderjährigen – gilt für die Hauptverhandlung ( 45 ) Anwaltszwang. Besteht kein Anwaltszwang, kann sich die beschuldigte Person auf ihre Initiative hin von einem Rechtsanwalt ihrer Wahl beistehen oder vertreten lassen oder – gegebenenfalls auch noch am Tag der Hauptverhandlung – nach einem Pflichtverteidiger verlangen. Es sei darauf hingewiesen, dass ein Angeklagter, der nicht erschienen oder nicht vertreten ist und die Einrede der Nichtigkeit des Verfahrens im ersten Rechtszug nicht erhoben hat, dies in der Berufung nachholen kann.

    62.

    Als Drittes ist hervorzuheben, dass der einleitende Artikel des CPP einen Absatz umfasst, wonach eine Person wegen eines Verbrechens oder Vergehens nicht allein aufgrund von Aussagen verurteilt werden darf, die sie gemacht hat, ohne sich zuvor mit einem Rechtsanwalt besprechen und sich von ihm beistehen lassen zu können. Außerdem und vor allem umfasst der vorerwähnte Artikel seit einem Gesetz vom 22. Dezember 2021, das am 31. Dezember desselben Jahres in Kraft getreten ist, einen neuen Absatz, in dem es heißt: „Bei einem Verbrechen oder Vergehen wird jede verdächtigte oder beschuldigte Person anlässlich ihres erstmaligen Erscheinens vor einem Untersuchungsdienst, einem Richter, einem Gericht oder einem von der Justizbehörde beauftragten Dienst vor jeder Aufforderung zur Aussage und vor jeder Vernehmung über das Recht belehrt, zu den ihr zur Last gelegten Handlungen zu schweigen, und zwar auch dann, wenn die Aufforderung zur Aussage bzw. die Vernehmung dazu dient, Auskunft über ihre Person zu erhalten oder eine Maßregel der Sicherung zu verhängen. Allein aufgrund von Aussagen, die ohne eine Belehrung über das Recht auf Aussageverweigerung getätigt worden sind, kann kein Urteil gefällt werden.“

    63.

    Diese Bestimmungen sind insofern von wesentlicher Bedeutung, als sie die automatische Heilung einer Verletzung des Rechts von Verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Belehrung und Unterrichtung über ihre Rechte gemäß der Richtlinie 2012/13, insbesondere das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts und das Recht auf Aussageverweigerung, ermöglichen, indem sie Aussagen „neutralisieren“, die bei den Betroffenen zum Zweck der Beurteilung ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit unrechtmäßig gesammelt worden sind.

    64.

    Als Viertes ist ein Spruchkörper zwar unstreitig nicht befugt, die Nichtigkeit nicht ordnungsgemäß erstellter Protokolle von Amts wegen zu prüfen, hat diesen Protokollen aufgrund der festgestellten Unregelmäßigkeit aber einen Mangel an Beweiskraft zu attestieren. So sieht der in der Hauptverhandlung angesprochene Art. 429 CPP vor, dass ein Protokoll oder Bericht nur dann Beweiswert hat, wenn er formell ordnungsgemäß ist und der Ersteller in Wahrnehmung seiner Aufgaben gehandelt und über eine in seine Zuständigkeit fallende Angelegenheit berichtet hat ( 46 ). Vorschriftswidrige Handlungen haben keinerlei Beweiskraft. Das vorlegende Gericht müsste vorschriftswidrige Verfahrensstücke somit außer Betracht lassen und ihnen jeden Beweiswert absprechen, wobei die Aberkennung der Beweiskraft eines Protokolls nicht auf dessen Nichtigerklärung zurückzuführen ist. Es könnte nach Maßgabe seiner Beurteilung der weiterhin gültigen Aktenelemente aus fester Überzeugung beschließen, die beiden Angeklagten gegebenenfalls freizulassen. Festzustellen ist, dass sich mit Art. 429 CPP Informationen und Beweismittel ausschließen lassen, die unter Verstoß gegen die Vorgaben des Unionsrechts, im vorliegenden Fall die Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13, gewonnen worden sind. Die festgestellte Unregelmäßigkeit wird mithin geheilt ( 47 ).

    65.

    Es zeigt sich, dass die Existenz derartiger Verfahrensregeln in der französischen Rechtsordnung die Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet und das dem vorlegenden Gericht auferlegte Verbot, von Amts wegen eine aus der verspäteten Belehrung der beiden Angeklagten über ihr Recht auf Aussageverweigerung hergeleitete Einrede der Nichtigkeit des Verfahrens – einen Nichtigkeitsgrund privater Natur – zu prüfen, nicht gegen den Effektivitätsgrundsatz verstößt, da Art. 429 CPP als solcher nicht geeignet ist, die Ausübung der Rechte, die Verdächtige oder beschuldigte Personen aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. e und Art. 4 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 herleiten, praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren.

    66.

    Die vorstehende Schlussfolgerung kann durch Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta nicht in Frage gestellt werden. Insoweit genügt der Hinweis, dass, wenn die Rechtsuchenden im betreffenden Bereich des Unionsrechts über einen gerichtlichen Rechtsbehelf verfügen, mit dem sich die Achtung der ihnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte sicherstellen lässt, was in der französischen Rechtsordnung der Fall zu sein scheint, eine nationale Rechtsvorschrift, die das erkennende Gericht daran hindert, von Amts wegen eine Einrede der Nichtigkeit des Verfahrens wegen Verstoßes gegen Vorschriften zum Schutz des privaten Interesses dieser Personen zu erheben, nicht als eine Einschränkung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren oder der durch Art. 47 bzw. Art. 48 Abs. 2 der Charta garantierten Verteidigungsrechte angesehen werden kann ( 48 ).

    67.

    Die damit vorgeschlagene Auslegung des Unionsrechts scheint mir mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des EGMR zur Frage einer Prüfung von Amts wegen vereinbar zu sein.

    Europäische Rechtsprechung auf dem Gebiet der Prüfung von Amts wegen

    Rechtsprechung des Gerichtshofs

    68.

    In zivil- und verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass das Unionsrecht, insbesondere der Effektivitätsgrundsatz, von den nationalen Gerichten grundsätzlich nicht verlangt, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen Bestimmungen dieses Rechts unabhängig von deren Bedeutung für die europäische Rechtsordnung aufzugreifen, wenn sie durch die Prüfung dieser Frage die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen müssten, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung dieser Bestimmungen hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat. Diese Beschränkung der Befugnis des nationalen Gerichts wird durch das Prinzip gerechtfertigt, dass die Initiative in einem Prozess den Parteien zusteht und das nationale Gericht folglich, wenn das nationale Verfahrensrecht der betroffenen Partei tatsächlich die Möglichkeit bietet, ein auf Unionsrecht beruhendes Angriffs- oder Verteidigungsmittel geltend zu machen, nur in Ausnahmefällen von Amts wegen tätig werden darf, wenn das öffentliche Interesse sein Eingreifen erfordert ( 49 ).

    69.

    Der Gerichtshof hat ferner darauf hingewiesen ( 50 ), dass diese Rechtsprechung durch die Rechtsprechung in den Urteilen vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck (C‑312/93, EU:C:1995:437), und vom 27. Juni 2000, Océano Grupo Editorial (C‑240/98, EU:C:2000:346), die in der Vorlageentscheidung angeführt werden, nicht in Frage gestellt wird; diese Rechtsprechung ist durch die besonderen Umstände des Einzelfalls, in dem dem Kläger des Ausgangsverfahrens die Möglichkeit genommen war, die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht in geeigneter Weise geltend zu machen, geprägt bzw. durch das Erfordernis gerechtfertigt, für Verbraucher den mit der Richtlinie 93/13 ( 51 ) angestrebten effektiven Schutz sicherzustellen.

    70.

    Das Gebiet der missbräuchlichen Klauseln hat unstreitig das Eingangstor für die Entwicklung der Aufgaben der nationalen Gerichte im Verbraucherrecht dargestellt, denen die Befugnis zuerkannt und später die Pflicht auferlegt worden ist, die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel von Amts wegen zu prüfen ( 52 ). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs beruht das mit der Richtlinie 93/13 geschaffene Schutzsystem auf dem Gedanken, dass sich der Verbraucher gegenüber dem Gewerbetreibenden in einer schwächeren Verhandlungsposition befindet und einen geringeren Informationsstand besitzt, was dazu führt, dass er den vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen zustimmt, ohne auf deren Inhalt Einfluss nehmen zu können. In Anbetracht dieser schwächeren Position sieht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 vor, dass missbräuchliche Klauseln für den Verbraucher unverbindlich sind. Es handelt sich um eine zwingende Bestimmung, die darauf abzielt, die nach dem Vertrag bestehende formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen ( 53 ).

    71.

    Insoweit muss das nationale Gericht von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fällt, prüfen und damit dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abhelfen, sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt. Ferner verpflichtet die Richtlinie 93/13, wie sich aus ihrem Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit ihrem 24. Erwägungsgrund ergibt, die Mitgliedstaaten, angemessene und wirksame Mittel vorzusehen, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird. Unter Berücksichtigung der Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 – einer normativen Verbindung, die in der Richtlinie 2012/13 keine Entsprechung hat – hat der Gerichtshof geregelt, wie das nationale Gericht den Schutz der den Verbrauchern nach der erstgenannten Richtlinie zustehenden Rechte sicherstellen muss, gleichzeitig aber klargestellt, dass der Schutz des Verbrauchers nicht absolut ist ( 54 ). So hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Wahrung des Effektivitätsgrundsatzes nicht so weit gehen kann, dass vom nationalen Gericht verlangt wird, nicht nur das Unterlassen einer Verfahrenshandlung durch einen Verbraucher, der seine Rechte nicht kennt, auszugleichen, sondern auch einer völligen Untätigkeit des Verbrauchers vollständig abzuhelfen ( 55 ).

    72.

    Das vorlegende Gericht hält eine Übertragung der vorerwähnten Rechtsprechung auf das Ausgangsverfahren für möglich und beruft sich dabei insbesondere auf die Situation der Unterlegenheit, die Verbrauchern ( 56 ) und Angeklagten gemein sein soll – ein Ansatz, dem meines Erachtens nicht gefolgt werden kann. Rufen wir uns in Erinnerung, dass die Ausgangsrechtssache zu den Strafsachen und damit zu einem Bereich gehört, der in keinem Zusammenhang mit vertraglichen Verpflichtungen steht und in dem es sowohl dem Gesetzgeber als auch den Gerichten obliegt, sicherzustellen, dass sich die Verhütung von Straftaten gegen die öffentliche Ordnung, die Ermittlung von Straftätern und die Verfolgung von Straftaten einerseits und die Grundrechte der beschuldigten Person andererseits im Einklang befinden, und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass das Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist abläuft. Außerdem soll der Staat im Rahmen der Ausübung seiner Befugnis zur Rechtsdurchsetzung nicht nur die Interessen der Opfer von Straftaten schützen, aber auch die allgemeineren Interessen der Gesellschaft, die das öffentliche Interesse im weiteren Sinne bilden.

    73.

    In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass seit der Annahme des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen Rechtsinstrumente eingeführt wurden, deren koordinierte Anwendung darauf gerichtet ist, das Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen mit dem Ziel zu stärken, die Anerkennung und Durchführung von Urteilen in Strafsachen in der Union sicherzustellen, um die Straflosigkeit von Straftätern zu vermeiden ( 57 ), gleichzeitig aber die Fairness des Strafverfahrens zu gewährleisten. Die Richtlinie 2012/13 ist, worauf ihre Erwägungsgründe 11, 12 und 14 hindeuten, Teil dieses Pakets von Rechtsinstrumenten zur Konkretisierung des vom Rat im Jahr 2009 verabschiedeten Fahrplans zur Stärkung der Rechte von Verdächtigen oder Beschuldigten während des gesamten Strafverfahrens ( 58 ). Die kumulierte Wirkung dieser Instrumente, die zu den Bestimmungen der Charta und der EMRK sowie zur Rechtsprechung des EGMR und zu den einzelstaatlichen Regelungen hinzukommen, verleiht den Betroffenen, deren Stellung – auch auf der Informationsebene – somit nicht mit der eines Verbrauchers in seiner vertraglichen Beziehung zu einem Gewerbetreibenden vergleichbar ist, einen wirksamen und umfassenden Schutz ( 59 ). Unter diesen Umständen scheint mir jede Form von Übertragung der auf Art. 6 der Richtlinie 93/13 angewandten Lösung einer Gleichsetzung des europäischen Standards mit zwingenden innerstaatlichen Vorschriften auf die vorliegende Rechtssache ausgeschlossen.

    74.

    Schließlich muss an dieser Stelle auf die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Rolle der Gerichte im Rahmen eines Strafverfahrens, das auf Informationen oder Beweisen beruht, die unter Verletzung der sich aus der Richtlinie 2002/58/EG ( 60 ) ergebenden Anforderungen erlangt worden sind, einerseits, und eines Verfahrens zur Kontrolle der unionsrechtlichen Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme von Drittstaatsangehörigen andererseits eingegangen werden.

    75.

    Als Erstes hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 ein nationales Strafgericht bei einer Auslegung im Licht des Effektivitätsgrundsatzes dazu verpflichtet, Informationen und Beweise, die durch eine mit dem Unionsrecht unvereinbare allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten erlangt wurden, im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Personen, die im Verdacht stehen, Straftaten begangen zu haben, auszuschließen, wenn diese Personen nicht in der Lage sind, sachgerecht zu diesen Informationen und Beweisen Stellung zu nehmen, die einem Bereich entstammen, in dem das Gericht nicht über Sachkenntnis verfügt, und geeignet sind, die Würdigung der Tatsachen maßgeblich zu beeinflussen ( 61 ). Auch wenn es in jenem Fall um den in einem Strafverfahren wie in der Ausgangsrechtssache angewandten Effektivitätsgrundsatz geht, betrifft die Ausgangsrechtssache keine Beweise, die einem Bereich entstammen, in dem das Gericht nicht über Sachkenntnis verfügt, und deren Zulässigkeit eine Gefahr für die Wahrung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens und damit für die Achtung des Rechts auf ein faires Verfahren bergen würde.

    76.

    Als Zweites hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2008/115/EG ( 62 ), Art. 9 Abs. 3 und 5 der Richtlinie 2013/33/EU ( 63 ) sowie Art. 28 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ( 64 ) in Verbindung mit den Art. 6 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass eine Justizbehörde im Rahmen ihrer Kontrolle, ob die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen beachtet wurden, anhand der ihr zur Kenntnis gebrachten Umstände des Falles, wie sie im bei ihr anhängigen kontradiktorischen Verfahren ergänzt oder aufgeklärt wurden, von Amts wegen zu prüfen hat, ob eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung missachtet wurde, auf die sich die betroffene Person nicht berufen hat ( 65 ).

    77.

    Diese Lösung scheint mir einem besonderen normativen Kontext zu entspringen, der sich grundlegend von dem der vorliegenden Rechtssache unterscheidet. Der Gerichtshof hat zunächst klargestellt, dass, auch wenn die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen einen schwerwiegenden Eingriff in das in Art. 6 der Charta verankerte Recht auf Freiheit darstellt, Zweck einer solchen Maßnahme im Sinne der Richtlinie 2008/115, der Richtlinie 2013/33 und der Verordnung Nr. 604/2013 aber nicht die Verfolgung oder Ahndung von Straftaten ist. Der Gerichtshof hat sodann und vor allem festgestellt, dass sich der Unionsgesetzgeber nicht darauf beschränkt hat, gemeinsame materielle Normen festzulegen, sondern auch gemeinsame Verfahrensnormen eingeführt hat, die gewährleisten sollen, dass in jedem Mitgliedstaat eine Regelung besteht, die es der zuständigen Justizbehörde ermöglicht, die betroffene Person, gegebenenfalls nach einer Prüfung von Amts wegen, freizulassen, sobald sich erweist, dass ihre Inhaftierung nicht oder nicht mehr rechtmäßig ist ( 66 ). Der Gerichtshof hat betont, dass die von einer Verwaltungsbehörde angeordnete Haft von Amts wegen oder auf Antrag der betroffenen Person gerichtlich überprüft wird, wohingegen die zuständige Behörde bezüglich der Aufrechterhaltung der Maßnahme verpflichtet ist, diese Überprüfung von Amts wegen vorzunehmen, selbst wenn die betroffene Person sie nicht beantragt hat. In einem normativen Kontext, in dem die Gerichte von Amts wegen befasst werden, wenn sich herausstellt, dass die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft nicht oder nicht mehr erfüllt sind, was durch ein Verfahren zum Ausdruck kommen kann, in dem sich die in Gewahrsam genommene Person nicht einlässt, war es theoretisch nur schwer vorstellbar, zu einer anderen Lösung als der einer von Amts wegen vorzunehmenden gerichtlichen Prüfung der Missachtung einer Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme zu gelangen, „auf die sich die betroffene Person nicht berufen hat“.

    78.

    In Anbetracht dieses – oben in Erinnerung gerufenen – strengen Rahmens für Haftmaßnahmen ist der Gerichtshof von seiner üblichen Rechtsprechung, wonach in Verwaltungsstreitsachen, in denen die Dispositionsmaxime Anwendung findet, nicht von vornherein eine Verpflichtung zur Prüfung von Amts wegen besteht, und zur Verwirklichung des Effektivitätsgrundsatzes abgewichen ( 67 ). Im vorliegenden Fall fehlt es in verfahrensrechtlicher Hinsicht jedoch offenkundig an einem solchen unionsrechtlichen Rahmen, was nach meinem Dafürhalten jegliche Form von Übertragung der auf dem Gebiet der gerichtlichen Überprüfung der Inhaftnahme gewählten Lösung verbietet.

    Rechtsprechung des EGMR

    79.

    Bei der Prüfung einer aus Art. 6 EMRK hergeleiteten Rüge hat der EGMR im Wesentlichen festzustellen, ob das Strafverfahren nach den Umständen des jeweiligen Falls im Großen und Ganzen fair gewesen ist. Die Achtung der Grundsätze eines fairen Verfahrens ist somit von Fall zu Fall anhand der Führung des Verfahrens insgesamt und nicht auf der Grundlage einer isolierten Prüfung dieses oder jenes Punktes oder Ereignisses zu beurteilen, obwohl sich nicht ausschließen lässt, dass ein bestimmter Gesichtspunkt so entscheidend ist, dass frühzeitig über die Fairness des Verfahrens entschieden werden kann ( 68 ). Unter Berücksichtigung des Wesens des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, und des Rechts auf Aussageverweigerung vertritt der EGMR die Auffassung, dass es grundsätzlich keine Rechtfertigung für die fehlende Belehrung eines Verdächtigen über diese Rechte geben könne. Falls keine Belehrung stattgefunden habe, müsse er jedoch feststellen, ob das Verfahren trotz dieses Versäumnisses insgesamt fair gewesen sei ( 69 ).

    80.

    Diese Gesamtbeurteilung kann die Überprüfung der Effektivität der rechtlichen Unterstützung einschließen, auf die gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK Anspruch besteht. Der EGMR ist der Ansicht, dass die Führung der Verteidigung im Einklang mit der anwaltlichen Unabhängigkeit gegenüber dem Staat im Wesentlichen Sache des Angeklagten und seines Rechtsanwalts sei, unabhängig davon, ob dieser von Amts wegen bestellt sei oder von seinem Mandanten bezahlt werde. Falls die Untätigkeit des Pflichtverteidigers jedoch auf der Hand liege oder den Behörden auf andere Art und Weise hinreichend zur Kenntnis gebracht werde, müssten diese Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass der Angeklagte tatsächlich in den Genuss des Anspruchs auf rechtliche Unterstützung komme. Der Staat könne allerdings nicht für jedes Versagen eines für die Rechtsberatung bestellten Anwalts zur Verantwortung gezogen werden ( 70 ).

    81.

    So kann die Staatshaftung ausgelöst werden, wenn ein Rechtsanwalt schlechterdings nicht für Rechnung des Angeklagten tätig wird ( 71 ) oder eine Formvorschrift für die Einlegung eines Rechtsbehelfs missachtet, ohne dass sich dies einem Fehlverhalten oder einer lediglich fehlerhaften Argumentation, die die Staatshaftung nicht generieren kann, gleichsetzen lässt, wobei der EGMR im Rahmen einer Gesamtheit von Umständen auch berücksichtigt hat, dass der Beschwerdeführer ein Ausländer war, der die Verfahrenssprache nicht beherrschte und mit Anschuldigungen konfrontiert wurde, die eine langjährige Gefängnisstrafe nach sich ziehen konnten. Im letztgenannten Fall hat der EGMR die Auffassung vertreten, dass das nationale Gericht den Rechtsanwalt von Amts wegen hätte auffordern können, seine Rechtsbehelfsschrift zu ergänzen oder zu berichtigen, anstatt das Rechtsmittel für unzulässig zu erklären ( 72 ).

    82.

    Abgesehen davon, dass die Rolle des EGMR darin besteht, bei ihm anhängige Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, und nicht darin, sich abstrakt zu äußern oder die verschiedenen Rechtssysteme in Anbetracht der besonderen Umstände des jeweiligen Falls zu vereinheitlichen ( 73 ), stelle ich fest, dass sich die vorerwähnten Situationen, die einem restriktiven Ansatz entsprechen, von den Umständen der Ausgangsrechtssache unterscheiden. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass das Recht auf Belehrung über die Verfahrensrechte und das Recht auf Aussageverweigerung persönliche Rechte sind, über die die Inhaber frei verfügen, und dass es allein Sache der Angeklagten und ihrer Rechtsbeistände ist, die Verteidigungsstrategie, die die Nichtgeltendmachung einer Verletzung dieser Rechte aus den Betroffenen eigenen Gründen umfassen kann ( 74 ), festzulegen. Diese Situation kann als solche nicht notwendigerweise der Situation einer „offensichtlichen Untätigkeit“ gleichgestellt werden, die positive Maßnahmen seitens des zuständigen Gerichts erfordert ( 75 ). In der Hauptverhandlung darf sich das Gericht bei der Wahl der Verteidigungsstrategien nicht an die Stelle der Parteien setzen.

    Zwischenergebnis

    83.

    Nach alledem wird dem Gerichtshof vorgeschlagen, für Recht zu erkennen, dass die Art. 3 und 4 sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13, ausgelegt im Licht von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta sowie im Licht der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, der Auslegung einer nationalen Vorschrift nicht entgegenstehen, nach der es den Gerichten verwehrt ist, im Hauptverfahren, dem kein Ermittlungsverfahren vorausgegangen ist, eine Verletzung des Rechts des Beschuldigten, über sein Recht auf Aussageverweigerung belehrt zu werden, von Amts wegen zu prüfen.

    84.

    Eine Betrachtung des innerstaatlichen Rechts ( 76 ) scheint mir zu keiner anderen Auslegung führen zu müssen. Weit davon entfernt, die klassische oberste Einteilung zwischen Anklage- und Untersuchungsgrundsatz widerzuspiegeln, bei denen den Gerichten eine passive bzw. aktive Rolle zugedacht ist, unterstreicht ein gekreuzter Blick über die verschiedenen nationalen Rechtsordnungen die Verflechtungen dieser beiden Grundsätze sowie die Vielfalt und die Komplexität der Strafverfahren, die auf Kombinationen von Regeln beruhen, die eine vergleichende Prüfung erschweren und sogar relativieren. So können die nationalen Systeme – unabhängig davon, ob sie (bisweilen automatische) Sanktionsmechanismen für Verletzungen des Rechts auf Belehrung auf der Grundlage von Regeln für die Zulässigkeit von Beweisen oder die Nichtigkeit fehlerhafter Verfahrenshandlungen vorsehen oder nicht – die Rolle der beschuldigten Personen und entsprechend der Gerichte bei der Umsetzung dieser Mechanismen mehr oder weniger genau definieren.

    85.

    Allerdings erkennen sämtliche berücksichtigten nationalen Rechtsordnungen unter Verweis auf die freie richterliche Beweiswürdigung das System der Beweisfreiheit an und teilen, auch wenn diese Rechtsordnungen unterschiedlichen Verfahrenswegen folgen können, allesamt das gleiche Anliegen bzw. Ziel, nämlich das Ziel, einer Verfahrenshandlung, die infolge einer Verletzung des Rechts auf Belehrung, insbesondere über das Recht auf Aussageverweigerung, fehlerhaft ist, keine Wirkung zu verleihen. Wie es im „Untersuchungsbericht“ 22/006 zu Recht heißt, kann ein im Rahmen der Beschaffung eines Beweises auftretender Verfahrensmangel in Ermangelung eines förmlichen Ausschlusses dieses Beweises durch die Gerichte immer noch im Rahmen der Sachentscheidung – bei der Beurteilung des Beweiswerts – berücksichtigt werden, was wir in den vorstehenden Nummern der vorliegenden Schlussanträge gerade für die französische Rechtsordnung beobachtet haben.

    86.

    Ist es daher notwendig und sogar angezeigt, dass der Gerichtshof eine Lösung wählt, bei der den Gerichten eine Befugnis oder sogar eine Verpflichtung zur Prüfung von Amts wegen verliehen bzw. auferlegt wird, deren Folgen für die subtilen Architekturen der nationalen Verfahren, die allesamt Ausdruck der Suche nach einem – so schwer zu findenden – Gleichgewicht zwischen den Notwendigkeiten der Verfolgung von Straftaten und den Rechten der beschuldigten Personen auf ein faires Verfahren sind ( 77 ), und für den Aufbau der Justiz in den Mitgliedstaaten ( 78 ) nach dem Stand der Dinge nicht abschließend beurteilt werden können? Außerdem ist eine richterliche Umsetzung der Prüfung von Amts wegen selbstverständlich nur bei strikter Einhaltung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens vorstellbar, was in einer längeren Verfahrensdauer zum Ausdruck kommen kann ( 79 ).

    87.

    Eine solche Lösung erscheint mir nicht notwendig, um die Legitimität des gegenseitigen Vertrauens zu festigen, das die gegenseitige Anerkennung voraussetzt. Das Unionsrecht hat im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen unstreitig erheblich an Bedeutung gewonnen, so dass es nunmehr möglich ist, einen Besitzstand bzw. ein beträchtliches gemeinsames Erbe anzuführen, der bzw. das eine Angleichung der nationalen Rechtssysteme auf dem Gebiet des Schutzes der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder beschuldigten Personen nach oben und einen echten Fortschritt der Integration dieser Systeme in die Union ermöglicht hat. In diesem Kontext ist hervorzuheben, dass das Problem im vorliegenden Fall nicht darin besteht, im Rahmen eines zwischenstaatlichen Pseudo-Wettbewerbs das nationale System ausfindig zu machen, das diese Rechte am besten schützt, wie einerseits die französische Regierung geltend gemacht hat ( 80 ), und kein subjektives Recht auf Inanspruchnahme des Systems besteht, das den umfassendsten Schutz individueller Rechte bietet, wie andererseits das Schrifttum ausgeführt hat ( 81 ).

    88.

    Im Zusammenhang mit einer Frage, in der die Besonderheiten der nationalen Rechtssysteme zum Ausdruck kommen, zu deren Erhaltung sich die Verfasser der Verträge verpflichtet haben ( 82 ), und der Auslegung einer Richtlinie, die es ihrem Wortlaut nach Verdächtigen oder beschuldigten Personen bzw. deren Rechtsanwalt überlässt, Verletzungen der darin enthaltenen Rechte ahnden zu lassen, hat der Gerichtshof meines Erachtens Sorgfalt an den Tag zu legen und sich über die Akzeptanz seiner Antwort in den nationalen Rechtsordnungen Gedanken zu machen ( 83 ). Dem französischen Philosophen und Schriftsteller der Aufklärung Montesquieu zufolge „ist es mitunter notwendig, bestimmte Gesetze zu ändern. Aber der Fall ist selten; und wenn er auftritt, darf man nur mit zitternder Hand daran rühren“ ( 84 ). Im vorliegenden Fall müsste diese Beschwörung, angewandt auf den Ansatz der Rechtsprechung, jedenfalls zur Zurückweisung einer Lösung der Verpflichtung zu einer Prüfung von Amts wegen führen, durch die eine Erfüllung der Aufgaben der nationalen Gerichte, die gleichzeitig die innerstaatlichen Normen, das primäre und abgeleitete Unionsrecht, darunter die Charta, und konventionelle Standards, darunter die EMRK, anzuwenden haben, in institutionellen Zusammenhängen mit erheblichen Diskrepanzen tätig sind ( 85 ) und Gefahr laufen, in Anbetracht ihrer Pflicht zur Gesetzmäßigkeit haftbar gemacht zu werden, zusätzlich erschwert würde. Denn Richter – ein kurzer Hinweis auf die unverzichtbare menschliche Komponente des Gerichtsverfahrens – sind genauso fehlbar wie die übrigen Akteure des Strafprozesses, die nicht aus der Verantwortung entlassen werden dürfen.

    Ergebnis

    89.

    Im Licht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Tribunal correctionnel de Villefranche-sur-Saône (Frankreich) wie folgt zu antworten:

    Die Art. 3 und 4 sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren sind im Licht von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität

    dahin auszulegen,

    dass sie der Auslegung einer nationalen Vorschrift nicht entgegenstehen, nach der es den Gerichten verwehrt ist, im Hauptverfahren, dem kein Ermittlungsverfahren vorausgegangen ist, eine Verletzung des Rechts der beschuldigen Person, über ihr Recht auf Aussageverweigerung belehrt zu werden, von Amts wegen zu prüfen, sofern die innerstaatlichen Verfahrensregeln gewährleisten, dass zum einen Verdächtige oder beschuldigte Personen im Vorfeld und während des Hauptverfahrens Recht auf Zugang zu einem Rechtsanwalt haben und zum anderen der rechtswidrige Charakter der unter Verletzung dieses Rechts vorgenommenen Verfahrenshandlungen oder erlangten Beweise mittels Verfahren zu deren Nichtigkeits- oder Unzulässigkeitserklärung bzw. bei der Beurteilung ihrer Beweiskraft berücksichtigt wird.


    ( 1 ) Originalsprache: Französisch.

    ( 2 ) Erklärung Nr. 52, aufgenommen in den Vertrag von Lissabon und unterzeichnet von 16 der 27 Mitgliedstaaten.

    ( 3 ) Weyembergh, A., „L’harmonisation des procédures pénales au sein de l’Union européenne“, Archives de politique criminelle, Nr. 26, éd. Pédone, 2004 (https://www.cairn.info/revue-archives-de-politique-criminelle-2004-1-page-37.htm).

    ( 4 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1).

    ( 5 ) Cour de cassation, 6. Februar 2018, Rechtsmittel Nr. 17-82826.

    ( 6 ) C‑312/93, EU:C:1995:437.

    ( 7 ) Richtlinie des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).

    ( 8 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1).

    ( 9 ) Der Ausdruck „Nichtigerklärung des Verfahrens“ ist möglicherweise verwirrend in dem Sinne, dass sich der Umfang einer Nichtigerklärung, die im richterlichen Ermessen liegt, nach ständiger Rechtsprechung der Cour de cassation nach dem Kriterium des Rechtsakts richtet, der die notwendige Unterstützung liefert. Mit anderen Worten erstreckt sich die Nichtigerklärung nur auf Handlungen, für die der Rechtsakt oder das für nichtig erklärte Schriftstück die „notwendige Unterstützung“ darstellt (vgl. u. a. Urteil vom 15. Oktober 2003, Rechtsmittel Nr. 03-82.683).

    ( 10 ) Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom (C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 51 und 52).

    ( 11 ) Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom (C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 53).

    ( 12 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 12. März 2020, VW (Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bei Nichterscheinen vor Gericht) (C‑659/18, EU:C:2020:201, Rn. 24 bis 26), betreffend Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1), der deren Anwendungsbereich nahezu gleichlautend wie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 definiert (Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom [C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 38]).

    ( 13 ) Urteil vom 23. November 2021, IS (Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses) (C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 121).

    ( 14 ) EGMR, 13. September 2016, Ibrahim u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2016:0913JUD005054108, § 272).

    ( 15 ) Auch wenn Art. 6 EMRK sie nicht ausdrücklich erwähnt, sind das Recht zu schweigen und das Recht, sich nicht selbst beschuldigen zu müssen, allgemein anerkannte internationale Standards, die den Kern des in diesem Artikel verankerten Begriffs des fairen Verfahrens bilden. Da der EGMR keine theoretischen und illusorischen, sondern konkrete und tatsächliche Rechte gewährleisten soll, ist dem Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, dem Recht auf Aussageverweigerung und dem Recht auf Rechtsbeistand seiner Ansicht nach inhärent, dass jeder „Angeklagte“ im Sinne des besagten Art. 6 das Recht hat, über diese Rechte belehrt zu werden (EGMR, 13. September 2016, Ibrahim u. a./Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2016:0913JUD005054108, §§ 266 und 272).

    ( 16 ) EGMR, 13. September 2016, Ibrahim u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2016:0913JUD005054108, § 266).

    ( 17 ) Auch wenn das vorlegende Gericht seine Frage der Form nach auf die Auslegung einer bestimmten Unionsrechtsvorschrift beschränkt hat, hindert dies den Gerichtshof im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit nicht daran, ihm alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung in dem bei ihm anhängigen Verfahren von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 1. August 2022, TL [Fehlen eines Dolmetschers und einer Übersetzung] [C‑242/22 PPU, EU:C:2022:611, Rn. 37]).

    ( 18 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, TL (Fehlen eines Dolmetschers und einer Übersetzung) (C‑242/22 PPU, EU:C:2022:611, Rn. 42).

    ( 19 ) Urteil vom 13. September 2018, UBS Europe u. a. (C‑358/16, EU:C:2018:715, Rn. 50).

    ( 20 ) Urteil vom 23. November 2021, IS (Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses) (C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 101).

    ( 21 ) Diese Klarstellung erscheint mir zur Charakterisierung des Ausgangsverfahrens, das sich nach Art. 385 Abs. 1 CPP richtet, geboten.

    ( 22 ) Man wird mit Interesse feststellen, dass der Gesetzgeber auf der Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV auch Mindestvorschriften über die Zulässigkeit von Beweismitteln zwischen den Mitgliedstaaten (Buchst. a), die Rechte der Opfer von Straftaten (Buchst. c) und spezifische andere Aspekte des Strafverfahrens als die in den Buchst. a bis c dieser Vorschrift genannten festlegen kann, sofern diese Aspekte zuvor durch vom Rat einstimmig nach Zustimmung des Parlaments erlassenen Beschluss bestimmt worden sind. Die Voraussetzungen für den Erlass dieser dritten Art von Vorschriften sind besonders hervorzuheben. Gleiches gilt für Art. 82 Abs. 3 über die Möglichkeit eines Mitglieds des Rates, Einwände gegen einen Entwurf einer Richtlinie zu erheben, der seiner Auffassung nach grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde.

    ( 23 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2019, Moro (C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 36 und 54), und entsprechend Urteil vom 19. September 2018, Milev (C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 47).

    ( 24 ) Urteil vom 11. März 2020, SF (Europäischer Haftbefehl – Garantie einer Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat) (C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 35 und 36).

    ( 25 ) Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 191 und 192).

    ( 26 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584). Im Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586), hat der Gerichtshof anerkannt, dass die vollstreckende Justizbehörde das Übergabeverfahren im Kontext einer behaupteten Verletzung des Grundrechts der betreffenden Person auf ein faires Verfahren – ausgehend von einer Kontrolle in zwei Schritten, nämlich der auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben über das Funktionieren des Justizsystems im Ausstellungsmitgliedstaat getroffenen Feststellung, ob systemische oder zumindest allgemeine Mängel vorliegen, die eine echte Gefahr der Verletzung des Wesensgehalts dieses Rechts begründen, und, falls ja, der konkreten Prüfung, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird – beenden kann. Diese sehr strenge Kontrolle zeigt die Bedeutung und die Kraft des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, nach dem Verurteilungen so vollstreckt werden sollen, wie sie ausgesprochen worden sind.

    ( 27 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27). Der im Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586), angeführte Grund für die Versagung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls würde entsprechend einen Grund für die Versagung der Überstellung nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 darstellen.

    ( 28 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren (ABl. 2008, L 220, S. 32). Vgl. Urteil vom 5. Juli 2018, Lada (C‑390/16, EU:C:2018:532, Rn. 37 und 38).

    ( 29 ) Die Anwendung dieser beiden Grundsätze wird in Rn. 19 der Vorlageentscheidung angesprochen.

    ( 30 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 1. August 2022, TL (Fehlen eines Dolmetschers und einer Übersetzung) (C‑242/22 PPU, EU:C:2022:611, Rn. 78).

    ( 31 ) Vgl. Rn. 8 der Vorlageentscheidung.

    ( 32 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. März 2010, Alassini u. a. (C‑317/08 bis C‑320/08, EU:C:2010:146, Rn. 49), vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting-04 (C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 35 und 36), sowie vom 1. August 2022, TL (Fehlen eines Dolmetschers und einer Übersetzung) (C‑242/22 PPU, EU:C:2022:611, Rn. 75).

    ( 33 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, TL (Fehlen eines Dolmetschers und einer Übersetzung) (C‑242/22 PPU, EU:C:2022:611, Rn. 76). Hervorzuheben ist, dass nationale Regelungen über die Organisation, Zusammensetzung und Zuständigkeit der Gerichte, die der öffentlichen Ordnung zuzurechnen sind und deren Verletzung von den Gerichten von Amts wegen zu prüfen ist, offenkundig keinen ähnlichen Zweck wie die betreffenden Bestimmungen des Unionsrechts haben (vgl. Urteile vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a. [C‑222/05 bis C‑225/05, EU:C:2007:318, Rn. 29 und 30], sowie vom 17. März 2016, Bensada Benallal, [C‑161/15, EU:C:2016:175]).

    ( 34 ) Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia (C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 62).

    ( 35 ) Urteile vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck (C‑312/93, EU:C:1995:437, Rn. 14), vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a. (C‑222/05 bis C‑225/05, EU:C:2007:318, Rn. 33), sowie vom 11. September 2019, Călin (C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 42).

    ( 36 ) Urteil vom 28. Juni 2022, Kommission/Spanien (Verstoß des Gesetzgebers gegen das Unionsrecht) (C‑278/20, EU:C:2022:503, Rn. 59 und 60).

    ( 37 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2002, Cofidis (C‑473/00, EU:C:2002:705, Rn. 37).

    ( 38 ) Gemäß Art. 31 CPP übernimmt die Staatsanwaltschaft die Anklageerhebung und fordert die Anwendung des Gesetzes unter Wahrung des Grundsatzes der Unparteilichkeit, an den sie gebunden ist. In ihren Funktionen der Leitung der Kriminalpolizei nach Art. 39-3 CPP ist sie für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der von den Ermittlungsbehörden eingesetzten Mittel zuständig und stellt sicher, dass die Nachforschungen der Wahrheitsfindung dienen und unter Achtung der Rechte des Opfers, des Anzeigeerstatters und der verdächtigten Person sowohl belastende als auch entlastende Tatsachen zu Tage fördern.

    ( 39 ) EGMR, 29. März 2010, Medvedyev u. a./Frankreich (CE:ECHR:2010:0329JUD000339403), und 23. November 2010, Moulin/Frankreich (CE:ECHR:2010:1123JUD003710406).

    ( 40 ) Urteile der Cour de cassation vom 15. Dezember 2010 (Rechtsmittel Nr. 10-83.674) und vom 18. Januar 2011 (Rechtsmittel Nr. 10-84.980).

    ( 41 ) Conseil constitutionnel, 30. Juli 2010, QPC Nr. 2010-14/22.

    ( 42 ) Urteil vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaften Lyon und Tours) (C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 52 bis 58).

    ( 43 ) Im Urteil vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. (C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 31), hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass der Begriff „faires Verfahren“ in Art. 6 EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR verschiedene Elemente umfasst, zu denen u. a. die Rechte der Verteidigung, der Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Zugang zu den Gerichten sowie das Recht auf einen Anwalt sowohl in Zivilsachen als auch in Strafsachen gehören.

    ( 44 ) Vgl. Art. 63-4-3 und 64-4-3 CPP.

    ( 45 ) Im Fall eines Verfahrens durch Vorladung gemäß Art. 390-1 CPP, das bei den beiden in Rede stehenden Angeklagten vorliegt, können die Rechtsanwälte der Parteien die Verfahrensakte gemäß Art. 388-4 CPP ab Erstellung oder spätestens zwei Monate nach Zustellung der Vorladung bei der Gerichtskanzlei einsehen; darüber hinaus können sich die Parteien oder ihr Rechtsanwalt auf Antrag eine Kopie der Akte anfertigen lassen.

    ( 46 ) Vgl. Murbach-Vibert, M., und Payen, H., „Relevé d’office des nullités et office du juge pénal“, AJ Pénal, Lyon, 2018, S. 403. Protokolle, in denen von einer Handlung wie beispielsweise einer Vernehmung oder der Durchsuchung eines Fahrzeugs die Rede ist, gelten grundsätzlich als einfache Auskünfte und stellen somit einen Beweis dar, der im Vergleich zum sonstigen Akteninhalt keinen höheren Wert hat. Sie werden daher in das freie richterliche Ermessen gestellt, und die Parteien könne sie im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens vor dem erkennenden Gericht frei beanstanden.

    ( 47 ) Wie wir im Folgenden – bei der vergleichenden Analyse der Rechtsordnungen der verschiedenen Mitgliedstaaten – sehen werden, gehört diese Bestimmung des französischen Rechts zu den bekannten mitgliedstaatlichen Verfahren, mit denen sich – über Nichtigkeits- oder Unzulässigkeitsmechanismen und/oder bei der Beurteilung der Beweiskraft der vorgenommenen Verfahrenshandlungen bzw. der unter Verletzung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder beschuldigten Personen gewonnenen Beweismittel – die Rechtswidrigkeit dieser Handlungen bzw. Mittel berücksichtigen lässt.

    ( 48 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia (C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 69), sowie vom 7. Juli 2022, F. Hoffmann-La Roche u. a. (C‑261/21, EU:C:2022:534, Rn. 57).

    ( 49 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a. (C‑222/05 bis C‑225/05, EU:C:2007:318, Rn. 41), sowie vom 26. April 2017, Farkas (C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 32 und 33). In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bensada Benallal (C‑161/15, EU:C:2016:3, Nr. 42) betreffend eine Klage gegen eine Entscheidung über ein Aufenthaltsverbot, die in das Stadium des Kassationsverfahrens gelangt war, hatte Generalanwalt Mengozzi die Ansicht vertreten, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht nach der Tragweite des Effektivitätsgrundsatzes fragte, und dies wie folgt begründet: „Der Umstand, dass das letztinstanzliche Verwaltungsgericht die erstmals als Kassationsgrund vor ihm erhobene Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht von Amts wegen prüfen könnte oder als unzulässig zurückzuweisen hätte, bedeutet keineswegs, dass die Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts die Geltendmachung einer Verletzung eines solchen Rechts vor den nationalen Gerichten unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Im Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz kommt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs darauf an, dass die Parteien tatsächlich die Möglichkeit hatten, einen auf Unionsrecht gestützten Klagegrund vor einem nationalen Gericht geltend zu machen … Mit anderen Worten verlangt dieser Grundsatz nicht, dass das nationale Gericht Abhilfe für ein Versäumnis oder eine Unterlassung der Parteien schafft, wenn diese nach den Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts tatsächlich die Möglichkeit hatten, einen auf die Verletzung des Unionsrechts gestützten Klagegrund zu erheben. Da dies hier mit Sicherheit der Fall ist und der Kläger des Ausgangsverfahrens außerdem bei der Einreichung der erstinstanzlichen Klage durch einen Rechtsanwalt vertreten war, führt die Anwendung des Effektivitätsgrundsatzes nicht dazu, dass das vorlegende Gericht einen Kassationsgrund der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, unabhängig von der Bedeutung dieses Anspruchs für die Unionsrechtsordnung, von Amts wegen zu prüfen hat …“ Im Urteil vom 17. März 2016, Bensada Benallal (C‑161/15, EU:C:2016:175, Rn. 28), ist der Gerichtshof diesen Schlussanträgen ausdrücklich gefolgt und hat ausgeführt, dass „sich die Frage der Beachtung dieser Grundsätze im Ausgangsrechtsstreit ausschließlich im Hinblick auf den Äquivalenzgrundsatz, nicht aber im Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz [stellt]“.

    ( 50 ) Urteil vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a. (C‑222/05 bis C‑225/05, EU:C:2007:318, Rn. 39 und 40).

    ( 51 ) Rechtsgrundlage für diese Richtlinie ist der frühere Art. 100a des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der den Erlass von Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten vorsah, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben.

    ( 52 ) Cour de cassation, „Contentieux des clauses abusives: illustration d’un dialogue des juges“, Recueil annuel des études, La Documentation française, 2022.

    ( 53 ) Urteile vom 11. März 2020, Lintner (C‑511/17, EU:C:2020:188, Rn. 23), sowie vom 17. Mai 2022, SPV Project 1503 u. a. (C‑693/19 und C‑831/19, EU:C:2022:395, Rn. 51 und 52). Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 6 der Richtlinie 93/13 in Anbetracht von Natur und Bedeutung des öffentlichen Interesses, auf dem der Schutz beruht, den diese Richtlinie für den Verbraucher sicherstellt, als eine Norm zu betrachten ist, die den im nationalen Recht zwingenden innerstaatlichen Bestimmungen gleichwertig ist und es dem nationalen Gericht ermöglicht, die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel vom Amts wegen zu prüfen (Urteil vom 30. Mai 2013, Asbeek Brusse und de Man Garabito, C‑488/11, EU:C:2013:341, Rn. 44 bis 46).

    ( 54 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Mai 2022, SPV Project 1503 u. a. (C‑693/19 und C‑831/19, EU:C:2022:395, Rn. 53 bis 55 und 58).

    ( 55 ) Urteil vom 6. Oktober 2009, Asturcom Telecomunicaciones (C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 47), vom 17. Mai 2022, SPV Project 1503 u. a. (C‑693/19 und C‑831/19, EU:C:2022:395, Rn. 60), sowie vom 30. Juni 2022, Profi Credit Bulgaria (Verrechnung von Amts wegen im Fall einer missbräuchlichen Klausel) (C‑170/21, EU:C:2022:518, Rn. 48).

    ( 56 ) Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass die den nationalen Gerichten zuerkannten Befugnisse als notwendig angesehen worden sind, um den wirksamen Schutz des Verbrauchers insbesondere angesichts der nicht zu unterschätzenden Gefahr zu gewährleisten, dass dieser seine Rechte nicht kennt oder Schwierigkeiten hat, sie auszuüben. Der Gerichtshof hat die Ansicht vertreten, dass die Rechtsanwaltsgebühren in Rechtsstreitigkeiten mit niedrigem Streitwert höher sein könnten als der streitige Betrag, was – zusätzlich zur Unmöglichkeit, Prozesskostenhilfe zu beantragen – den Verbraucher davon abhalten könnte, sich gegen die Anwendung einer missbräuchlichen Klausel zu verteidigen.

    ( 57 ) Urteil vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaften Lyon und Tours) (C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 43).

    ( 58 ) Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. 2010, L 280, S. 1), Richtlinie 2013/48, Richtlinie 2016/343 und Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (ABl. 2016, L 297, S. 1).

    ( 59 ) Nach Auffassung des EGMR befindet sich ein Beschuldigter im Ermittlungsverfahren oftmals in einer besonders schwierigen Situation, was meist nur durch die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts angemessen ausgeglichen werden kann (EGMR, 27. November 2008, Salduz/Türkei, CE:ECHR:2008:1127JUD003639102, §§ 52 und 54, sowie EGMR, 13. September 2016, Ibrahim u. a./Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2016:0913JUD005054108, § 253), wobei darauf hinzuweisen ist, dass der Zugang zu diesem durch die Richtlinie 2013/48 und das nationale Recht garantiert wird.

    ( 60 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. 2002, L 201, S. 37) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 (ABl. 2009, L 337, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2002/58).

    ( 61 ) Urteile vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 226 bis 228), sowie vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu elektronischen Kommunikationsdaten) (C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 44).

    ( 62 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

    ( 63 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).

    ( 64 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31).

    ( 65 ) Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid und X (Haftprüfung von Amts wegen) (C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 94).

    ( 66 ) Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid und X (Haftprüfung von Amts wegen) (C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 72, 74 und 86).

    ( 67 ) Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid und X (Haftprüfung von Amts wegen) (C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 74, 86 und 94).

    ( 68 ) Der EGMR hebt hervor, dass die Rüge einer Verletzung ausdrücklich oder implizit in Art. 6 EMRK aufgeführter Rechte im Ermittlungsstadium eines Strafverfahrens im Allgemeinen während der Hauptverhandlung mit ihren Erörterungen über die Zulassung der zusammengetragenen Beweise erhoben werde und dass er sich zwar nicht grundsätzlich zur Zulässigkeit bestimmter Arten von Beweismitteln zu äußern habe, aber prüfen müsse, ob das Verfahren, einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung, insgesamt fair gewesen sei. Zu diesem Zweck berücksichtigt der EGMR verschiedene Faktoren, insbesondere die für das Ermittlungsverfahren geltenden Rechtsvorschriften und deren Beachtung sowie die Zulässigkeit von Beweisen im Hauptverfahren, die Möglichkeit des Beschwerdeführers, die Echtheit der zusammengetragenen Beweise zu bestreiten und sich ihrer Vorlage entgegenzustellen, die Verwendung der Beweise, insbesondere die Frage, ob sie ein integraler oder wichtiger Bestandteil des Belastungsmaterials sind, auf das sich die Verurteilung gestützt hat, sowie die Beweiskraft des übrigen Akteninhalts und das Vorhandensein weiterer Garantien im innerstaatlichen Recht und in der innerstaatlichen Praxis (EGMR, 13. September 2016, Ibrahim u. a./Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2016:0913JUD005054108, §§ 254 und 274).

    ( 69 ) EGMR, 13. September 2016, Ibrahim u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2016:0913JUD005054108, §§ 250, 251 und 273).

    ( 70 ) EGMR, 19. Dezember 1989, Kamasinski/Österreich (CE:ECHR:1989:1219JUD000978382, § 65), EGMR, 24. November 1993, Imbrioscia/Schweiz (CE:ECHR:1993:1124JUD001397288, § 41), sowie EGMR, 26. Juli 2011, Huseyn u. a./Aserbaidschan (CE:ECHR:2011:0726JUD003548505, § 180).

    ( 71 ) EGMR, 13. Mai 1980, Artico/Italien (CE:ECHR:1980:0513JUD000669474, §§ 33 und 36).

    ( 72 ) EGMR, 10. Oktober 2002, Czekalla/Portugal (CE:ECHR:2002:1010JUD003883097, §§ 65, 66, 68 und 71). In einem Urteil vom 20. Januar 2009, Güveç/Türkei (CE:ECHR:2009:0120JUD007033701, § 131), hat der EGMR seine Rechtsprechung zur Effektivität der rechtlichen Unterstützung ausnahmsweise in einem Fall angewandt, in dem die Unterstützung durch einen privaten Rechtsanwalt, aber unter Umständen geleistet wurde, die sich erheblich von der vorliegenden Rechtssache unterscheiden. Unter Berücksichtigung des geringen Alters des Beschwerdeführers (15 Jahre), der Schwere der ihm zur Last gelegten Straftaten (insbesondere Aktivitäten zur Spaltung des nationalen Hoheitsgebiets, die seinerzeit mit der Todesstrafe bedroht waren), der offensichtlich widersprüchlichen Vorwürfe, die von der Polizei und einem Belastungszeugen gegen ihn erhoben worden waren, der Tatsache, dass er von seinem Rechtsanwalt (der zu mehreren Sitzungen nicht erschienen war) offenkundig schlecht vertreten wurde, und der zahlreichen Abwesenheiten des Beschwerdeführers bei den Sitzungen ist er zu dem Schluss gekommen, dass das erkennende Gericht rasch hätte reagieren müssen, um dem Beschwerdeführer eine effektive Prozessvertretung zu garantieren.

    ( 73 ) EGMR, 9. November 2018, Beuze/Belgien (CE:ECHR:2018:1109JUD007140910, § 148).

    ( 74 ) Insoweit lässt sich eine fehlerhafte, aber auf die Unschuld des Angeklagten hindeutende bzw. eine in Anbetracht der sonstigen in den Akten enthaltenen gültigen Beweismittel für den Nachweis der Unschuld jedenfalls unzureichende Verfahrenshandlung oder die Situation eines Angeklagten anführen, der das Opfer bereits vor der Hauptverhandlung entschädigt hat und seine Schuld in dieser Verhandlung eingestehen möchte.

    ( 75 ) Die vorstehende Schlussfolgerung ist unabhängig von der in der Vorlageentscheidung nicht näher ausgeführten Stellung der Rechtsbeistände der beiden Angeklagten – für die Rechtsberatung bestellte oder von den Angeklagten bezahlte Rechtsanwälte – geboten. Die Beklagten des Ausgangsverfahrens haben in der Sitzung mehrfach auf das Urteil des EGMR vom 7. Oktober 2008, Bogumil/Portugal (CE:ECHR:2008:1007JUD003522803, §§ 46 bis 50), betreffend eine Person verwiesen, die von einem Referendar und später von einem Pflichtverteidiger, der sich nur am Verfahren beteiligt hatte, um zu beantragen, von seinen Funktionen entbunden zu werden, unterstützt und somit durch eine neue, erst am Sitzungstag bestellte Pflichtverteidigerin ersetzt worden war, die die Akten etwas mehr als fünf Stunden – einen Zeitraum, der als für eine ernste Angelegenheit, die zu einer schweren Verurteilung führen konnte, zu knapp bemessen angesehen worden war – hatte studieren können. Unter diesen Umständen, die mit der vorliegenden Rechtssache in keinerlei Zusammenhang stehen, hat der EGMR die Ansicht vertreten, dass das nationale Gericht die Hauptverhandlung auf eigene Initiative hätte vertagen können.

    ( 76 ) Vgl. Untersuchungsbericht 22/006 über die Aufgaben der Strafgerichte im Fall einer Verletzung des Rechts der beschuldigten Person auf Belehrung über ihre Verfahrensrechte, der im Rahmen der vorliegenden Rechtssache auf Ersuchen des Gerichtshofs von der Direktion Wissenschaftlicher Dienst und Dokumentation des Gerichtshofs erstellt worden ist. Es ist nur auf den der Ausgangsrechtssache entsprechenden Teil dieses Berichts betreffend ein Hauptverfahren, dem kein Ermittlungsverfahren vorausgegangen ist, Bezug zu nehmen. Abgesehen davon, dass sich dieses Dokument lediglich auf das Recht von 19 Mitgliedstaaten bezieht, kommt inhaltlich darin zum Ausdruck, dass eine Erfassung der nationalen Rechtsordnungen angesichts der Verknüpfungen zwischen Verfahrensregeln und Gerichtsorganisation, Rechtsvorschriften und dazugehörigen, bisweilen widersprüchlichen einzelstaatlichen Rechtsprechungen sowie Anmerkungen im Schrifttum objektiv schwierig ist.

    ( 77 ) Ich teile insoweit voll und ganz die Auffassung des EGMR, wonach ein Strafprozess im Allgemeinen ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Aspekte des Strafverfahrens ist (EGMR, 13. September 2016, Ibrahim u. a./Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2016:0913JUD005054108, § 274).

    ( 78 ) Ich verweise auf die Bedenken der irischen Regierung hinsichtlich der Auswirkungen einer Prüfung von Amts wegen auf ein Strafrechtssystem, in dem eine überwältigende Mehrheit von Rechtssachen im Rahmen vereinfachter Verfahren auf Schuldeingeständnis behandelt wird, die von einem Justizwesen mit weniger Richtern als Rechtsanwälten bereitgestellt werden.

    ( 79 ) Neben der notwendigen Frage nach der Verfolgungsbehörde sollte die Frage nach den Opfern von Straftaten aufgeworfen werden, deren Mitgliedstaaten ihnen nach der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. 2012, L 315, S. 57) die Möglichkeit garantieren müssen, am Strafverfahren teilzunehmen, insbesondere im Verfahren gehört zu werden und Beweise vorzulegen. So ist etwa der Fall eines sich nicht einlassenden Opfers denkbar, das gegebenenfalls in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Begehung und Verfolgung der Straftat wohnhaft ist und schriftlich eine Entschädigung durch den mutmaßlichen Täter beantragt hat. Die Beachtung des kontradiktorischen Verfahrens müsste zu einer Vertagung des Prozesses und zu einer nachfolgenden Debatte über die weitere Behandlung der beschuldigten Person führen, damit gewährleistet ist, dass diese Person zum Zeitpunkt der Rückführung und einer etwaigen Inhaftnahme in Erwartung des Prozesses anwesend ist, obwohl eine Freiheitsstrafe in Anbetracht ihrer strafrechtlichen Vergangenheit noch zur Bewährung ausgesetzt werden könnte.

    ( 80 ) Müsste davon ausgegangen werden, dass das französische Recht aufgrund des Verbots einer Prüfung von Amts wegen weniger schützt als eine andere Rechtsordnung, die eine solche Prüfung vorsieht, nicht aber die im französischen Recht verankerte Regel enthält, wonach beschuldigte Personen oder ihr Rechtsanwalt im Strafprozess das letzte Wort haben müssen?

    ( 81 ) Weyembergh, A., „L’harmonisation des procédures pénales au sein de l’Union européenne“, Archives de politique criminelle, Nr. 26, éd. Pédone, 2004, S. 60 (https://www.cairn.info/revue-archives-de-politique-criminelle-2004-1-page-37.htm). In seinem Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 55 bis 64), hat der Gerichtshof unter Berücksichtigung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung entschieden, dass der Automatismus der Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl vorliegt, selbst dann angezeigt ist, wenn der vollstreckende Mitgliedstaat in seiner Verfassungsordnung eine anspruchsvollere Gestaltung des Rechts auf ein faires Verfahren entwickelt.

    ( 82 ) Die vom Gerichtshof zu gebende Antwort muss auch Art. 51 Abs. 2 der Charta umfassen, wonach „[d]iese Charta … den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus[dehnt] und … weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union [begründet] noch … die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben [ändert]“. Eine Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2012/13 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta darf daher nicht zu einem übermäßigen Eingriff in die nationalen Verfahrensrechte führen.

    ( 83 ) Der Gerichtshof hat seinerseits den Klagegrund einer Verletzung der Verteidigungsrechte, obwohl er in Schlussanträgen von Generalanwälten mehrfach dazu aufgefordert worden ist, nach meiner Kenntnis nicht als zwingend eingestuft, so dass er von den Unionsgerichten dementsprechend nicht von Amts wegen geprüft werden kann oder muss. Außerdem hat er im Urteil vom 17. März 2016, Bensada Benallal (C‑161/15, EU:C:2016:175), aus dem grundlegenden Charakter des allgemeinen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte im Unionsrecht nicht abgeleitet, dass dieser den zwingenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften gleichzustellen war, was im Grunde bedeutet, dass die Gerichte bei deren Verletzung von Amts wegen eine Prüfung vornehmen, der im innerstaatlichen Recht eine gleichwertige Bedeutung zukommt.

    ( 84 ) Persische Briefe, Brief 79.

    ( 85 ) Vgl. Bericht 2022 der Europäischen Kommission für die Effizienz der Justiz, (https://www.coe.int/fr/web/cepej/cepej-work/evaluation-of-judicial-systems).

    Top