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Document 62021CC0323

Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 8. September 2022.
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid gegen B.und F, K gegen Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid.
Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Stellung mehrerer Anträge auf internationalen Schutz in drei Mitgliedstaaten – Art. 29 – Überstellungsfrist – Ablauf – Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags – Art. 27 – Rechtsmittel – Umfang der gerichtlichen Kontrolle – Möglichkeit für den Antragsteller, sich auf den Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags zu berufen.
Verbundene Rechtssachen C-323/21 bis C-325/21.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:651

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 8. September 2022 ( 1 )

Rechtssache C‑323/21

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid,

Beteiligter:

B.

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

und

Verbundene Rechtssachen C‑324/21 und C‑325/21

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (C‑324/21),

K. (C‑325/21),

Beteiligte:

F.,

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung – Begriff ‚ersuchender Mitgliedstaat‘ – Auswirkung einer zuvor zwischen zwei anderen Mitgliedstaaten geschlossenen Vereinbarung – Umfang des Rechtsbehelfs“

I. Einleitung

1.

Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen bieten dem Gerichtshof Gelegenheit, zu präzisieren, wie Wiederaufnahmeverfahren aufeinander abzustimmen sind, die nacheinander von zwei verschiedenen Mitgliedstaaten gegenüber ein und demselben Antragsteller auf internationalen Schutz gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist ( 2 ), eingeleitet worden sind.

2.

Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) auf der einen sowie B., F. und K., die alle drei Drittstaatsangehörige und Antragsteller auf internationalen Schutz sind, auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit der ihnen gegenüber erlassenen Überstellungsentscheidungen. Nach Stellung ihres ersten Antrags auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat reisten sie allesamt innerhalb der Europäischen Union weiter und stellten bei dieser Gelegenheit innerhalb sehr kurzer Zeit neue Anträge auf internationalen Schutz in anderen Mitgliedstaaten, in die sie sich begeben hatten.

3.

Da weder in der Dublin‑III-Verordnung noch in ihrer Durchführungsverordnung ( 3 ) klargestellt wird, in welchem Verhältnis Wiederaufnahmeverfahren zueinander stehen, die nacheinander von verschiedenen Mitgliedstaaten gegenüber ein und demselben Antragsteller geführt werden, muss der Gerichtshof die Modalitäten definieren, die es ermöglichen, zum einen eine klare, praktikable und schnelle Formel zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats beizubehalten ( 4 ) und zum anderen Missbrauch vorzubeugen, der sich aus mehreren Anträgen auf internationalen Schutz ergibt, die gleichzeitig oder nacheinander von ein und derselben Person in mehreren Mitgliedstaaten gestellt werden, sei es, um ihren Aufenthalt in der Union zu verlängern und dabei die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in Anspruch zu nehmen, sei es, um den Mitgliedstaat auszuwählen, der für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist ( 5 ).

4.

In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich die Gründe erläutern, weshalb ich der Auffassung bin, dass in Situationen, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede stehen, in denen das erste Wiederaufnahmeverfahren nach Abstimmung zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten wirksam eingeleitet wurde, die Ereignisse nach dieser Abstimmung, nämlich die Abreise des Antragstellers aus dem ersuchenden Mitgliedstaat, bevor seine Überstellung durchgeführt wurde, und die nachfolgende Stellung eines zweiten Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat, in dem sich der Antragsteller befindet, dem ersten Verfahren einen Bestandteil nehmen, der für seine Gültigkeit wesentlich ist. Ich werde also erläutern, warum der ersuchte Mitgliedstaat, soweit er an zwei Wiederaufnahmeverfahren beteiligt ist, die innerhalb kurzer Zeit gegenüber derselben Person von zwei verschiedenen ersuchenden Mitgliedstaaten eingeleitet worden sind, in der Lage ist, sich mit dem ersten ersuchenden Mitgliedstaat darauf zu einigen, dass das erste dieser Verfahren hinfällig wird, sobald er dem zweiten Wiederaufnahmegesuch stattgibt.

II. Rechtlicher Rahmen

5.

In den Erwägungsgründen 4 und 5 der Dublin‑III-Verordnung heißt es:

„(4)

Entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(5)

Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.“

6.

In Kapitel II („Allgemeine Grundsätze und Schutzgarantien“) bestimmt Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung:

„Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.“

7.

Kapitel VI („Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren“) der Dublin‑III-Verordnung umfasst deren Art. 20 bis 33. In Art. 20 Abs. 5 Unterabs. 1 dieser Verordnung heißt es:

„Der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, ist gehalten, einen Antragsteller, der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält oder dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem er seinen ersten Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.“

8.

Art. 23 Abs. 1 bis 3 der Dublin‑III-Verordnung bestimmt:

„(1)   Ist ein Mitgliedstaat, in dem eine Person im Sinne des Artikels 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Auffassung, dass nach Artikel 20 Absatz 5 und Artikel 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist, so kann er den anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen.

(2)   Ein Wiederaufnahmegesuch ist so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach dem Erhalt der Eurodac-Treffermeldung … zu stellen.

Stützt sich das Wiederaufnahmegesuch auf andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System, ist es innerhalb von drei Monaten, nachdem der Antrag auf internationalen Schutz … gestellt wurde, an den ersuchten Mitgliedstaat zu richten.

(3)   Erfolgt das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der in Absatz 2 festgesetzten Frist, so ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, in dem der neue Antrag gestellt wurde.“

9.

Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung lautet:

„Der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.“

10.

Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung sieht vor:

„(1)   Die Überstellung des Antragstellers … aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese … aufschiebende Wirkung hat.

(2)   Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.“

III. Sachverhalte der Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

A.   Rechtssache C‑323/21

11.

Am 3. Juli 2017 stellte B. in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz. Da B. zuvor in Italien internationalen Schutz beantragt hatte, ersuchten die deutschen Behörden die italienischen Behörden um seine Wiederaufnahme. Die italienischen Behörden gaben dem Wiederaufnahmegesuch am 4. Oktober 2017 statt. Die Frist für die Überstellung verlängerte sich in der Folge wegen der Flucht von B. bis zum 4. April 2019.

12.

Am 17. Februar 2018 stellte B. in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Staatssekretär ersuchte am 17. März 2018 die italienischen Behörden, B. wieder aufzunehmen. Am 1. April 2018 gaben die italienischen Behörden dem Wiederaufnahmegesuch statt. Der Staatssekretär informierte mit Schreiben vom 29. Juni 2018 die italienischen Behörden darüber, dass B. geflohen sei, was eine Verlängerung der Frist für die Überstellung bis zum 1. Oktober 2019 bedeutet hätte.

13.

Am 9. Juli 2018 stellte B in Deutschland einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Die deutschen Behörden erließen am 14. September 2018 eine Entscheidung gemäß der Dublin‑III-Verordnung, gegen die kein Rechtsbehelf eingelegt wurde.

14.

Am 27. Dezember 2018 stellte B. in den Niederlanden einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Mit Entscheidung vom 8. März 2019 wies der Staatssekretär diesen Antrag ohne Prüfung mit der Begründung zurück, dass die Italienische Republik weiterhin der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat sei.

15.

Am 29. April 2019 wurde B. nach Italien überstellt.

16.

B. erhob gegen die Entscheidung des Staatssekretärs vom 8. März 2019 Klage beim zuständigen Gericht. Mit Urteil vom 12. Juni 2019 gab es der Klage statt und hob diese Entscheidung mit der Begründung auf, dass die Bundesrepublik Deutschland am 4. April 2019 wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist der zuständige Mitgliedstaat geworden sei.

17.

Der Staatssekretär legte gegen dieses Urteil Berufung beim vorlegenden Gericht ein. Er machte zur Stützung dieser Berufung u. a. geltend, dass die Frist für die Überstellung im Verhältnis zwischen dem Königreich der Niederlande und der Italienischen Republik berechnet werden müsse und dass bei der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz durch B. in den Niederlanden für die Bundesrepublik Deutschland in Anwendung der „Kettenregel“ eine neue Überstellungsfrist zu laufen begonnen habe.

18.

Nach der Feststellung des vorlegenden Gerichts ist am Tag der Stellung des letzten Antrags von B. auf internationalen Schutz unstreitig die Italienische Republik der zuständige Mitgliedstaat gewesen. Die Parteien des Ausgangsverfahrens sind sich jedoch uneins darüber, ob die Überstellungsfrist vor der Überstellung von B. abgelaufen war, da mehr als 18 Monate vergangen waren, seit die Italienische Republik dem ersten Wiederaufnahmegesuch stattgegeben hatte.

19.

Im vorliegenden Fall habe es zur gleichen Zeit zwei „gültige Annahmen“ zur Wiederaufnahme mit zwei unterschiedlichen Fristen für die Wiederaufnahme gegeben, weshalb das Verhältnis zwischen diesen beiden Fristen geklärt werden müsse. Dafür müsse ermittelt werden, ob der erste Mitgliedstaat, der ein Wiederaufnahmegesuch gestellt habe, noch als „ersuchender Mitgliedstaat“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung angesehen werden müsse oder ob diese Eigenschaft dem letzten Mitgliedstaat zukomme, der ein solches Gesuch gestellt habe.

20.

Für den Fall, dass der zweiten Auslegung gefolgt wird, fragt sich das vorlegende Gericht, ob dieser letztgenannte Mitgliedstaat in irgendeiner Weise an die Überstellungsfrist gebunden ist, die dem ersten Mitgliedstaat obliegt. Wenn hingegen der ersten Auslegung der Vorzug gegeben werde, müsse ermittelt werden, ob sich B. vor den niederländischen Gerichten auf den Ablauf der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik vereinbarten Frist berufen könne, was das „forum shopping“ begünstigen würde.

21.

Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

a)

Ist der Begriff „ersuchender Mitgliedstaat“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen, dass hierunter der Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall der dritte Mitgliedstaat, d. h. die Niederlande) zu verstehen ist, der als Letzter bei einem anderen Mitgliedstaat ein Gesuch um Wiederaufnahme oder Aufnahme gestellt hat?

b)

Falls die Frage verneint wird: Hat der Umstand, dass zuvor zwischen zwei Mitgliedstaaten (im vorliegenden Fall Deutschland und Italien) eine Vereinbarung über die Anerkennung der Zuständigkeit getroffen worden ist, dann noch Folgen für die rechtlichen Verpflichtungen des dritten Mitgliedstaats (im vorliegenden Fall der Niederlande) aus der Dublin‑III-Verordnung gegenüber dem Ausländer oder den an dieser früheren Vereinbarung beteiligten Mitgliedstaaten, und falls ja, welche?

2.

Sofern Frage 1 zu bejahen ist: Ist Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, betrachtet vor dem Hintergrund ihres 19. Erwägungsgrundes, dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung mit Erfolg geltend macht, die Überstellung dürfe nicht durchgeführt werden, da die Frist für eine zuvor zwischen zwei Mitgliedstaaten (im vorliegenden Fall Deutschland und Italien) vereinbarte Überstellung abgelaufen sei?

B.   Verbundene Rechtssachen C‑324/21 und C‑325/21

1. Rechtssache C‑324/21

22.

Am 24. November 2017 stellte F. in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz. Da F. zuvor in Italien internationalen Schutz beantragt hatte, ersuchte der Staatssekretär die italienischen Behörden, F. wieder aufzunehmen. Die italienischen Behörden gaben dem Wiederaufnahmegesuch am 19. Dezember 2017 statt. Der Staatssekretär informierte mit Schreiben vom 12. April 2018 die italienischen Behörden darüber, dass B. geflohen sei, was eine Verlängerung der Frist für die Überstellung bis zum 19. Juni 2019 bedeutete.

23.

Am 29. März 2018 stellte F. in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz. Dem vorlegenden Gericht ist nicht bekannt, wie mit diesem Antrag weiter verfahren wurde.

24.

Am 30. September 2018 stellte F. in den Niederlanden einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Mit Entscheidung vom 31. Januar 2019 wies der Staatssekretär diesen Antrag ohne Prüfung mit der Begründung zurück, dass die Italienische Republik weiterhin der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat sei.

25.

Nachdem er das Zentrum für Asylbewerber, in dem er untergebracht war, verlassen hatte, wurde F. mit einer Entscheidung des Staatssekretärs vom 1. Juli 2019 im Hinblick auf seine Überstellung nach Italien festgenommen und anschließend in Haft genommen.

26.

F. erhob gegen diese Entscheidung Klage beim zuständigen Gericht. Mit Urteil vom 16. Juli 2019 gab es der Klage statt und hob die Entscheidung mit der Begründung auf, dass das Königreich der Niederlande am 19. Juni 2019 wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist der zuständige Mitgliedstaat geworden sei.

27.

Der Staatssekretär legte gegen dieses Urteil Berufung beim vorlegenden Gericht ein. Zur Stützung der Berufung machte er u. a. geltend, dass bei der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz durch F. in Deutschland für das Königreich der Niederlande in Anwendung der „Kettenregel“ eine neue Überstellungsfrist zu laufen begonnen habe.

28.

Nach Feststellung des vorlegenden Gerichts ist es unstreitig, dass die Italienische Republik zumindest bis zum 19. Juni 2019 als zuständiger Mitgliedstaat anzusehen ist.

29.

Es fragt sich allerdings, ob es relevant ist, dass der Betreffende vor dem Ablauf der Überstellungsfrist in einem anderen Mitgliedstaat einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

30.

Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen, dass eine laufende Überstellungsfrist im Sinne von Art. 29 Abs. 1 und 2 zu dem Zeitpunkt erneut zu laufen beginnt, zu dem der Ausländer, nachdem er die Überstellung durch einen Mitgliedstaat durch Flucht vereitelt hat, in einem anderen (im vorliegenden Fall einem dritten) Mitgliedstaat erneut um internationalen Schutz nachsucht?

2. Rechtssache C‑325/21

31.

Am 6. September 2018 stellte K. in Frankreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Da K. zuvor in Österreich internationalen Schutz beantragt hatte, ersuchten die französischen Behörden die österreichischen Behörden, K. wieder aufzunehmen. Die österreichischen Behörden gaben dem Wiederaufnahmegesuch am 4. Oktober 2018 statt.

32.

Am 27. März 2019 stellte K. in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Staatssekretär ersuchte am 3. Mai 2019 die österreichischen Behörden um die Wiederaufnahme von K. Am 10. Mai 2019 wiesen die österreichischen Behörden dieses Wiederaufnahmegesuch mit der Begründung zurück, dass die Französische Republik seit dem 4. April 2019 der für die Prüfung des Antrags von K. zuständige Mitgliedstaat sei.

33.

Am 20. Mai 2019 ersuchte der Staatssekretär die französischen Behörden um die Wiederaufnahme von K. Diese wiesen das Wiederaufnahmegesuch mit der Begründung zurück, dass die Überstellungsfrist an dem Tag, an dem K. in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, noch nicht abgelaufen sei.

34.

Am 31. Mai 2019 ersuchte der Staatssekretär sowohl die österreichischen als auch die französischen Behörden, das Wiederaufnahmegesuch nochmals zu prüfen. Im Ersuchen an die österreichischen Behörden wurde geltend gemacht, dass zwischen der Französischen Republik und der Republik Österreich ab der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in den Niederlanden durch K. eine neue Überstellungsfrist zu laufen begonnen habe. Am 3. Juni 2019 stimmten die österreichischen Behörden der Wiederaufnahme von K. zu.

35.

Mit Entscheidung vom 24. Juli 2019 wies der Staatssekretär den Antrag von K. auf internationalen Schutz ohne Prüfung zurück.

36.

K. erhob gegen diese Entscheidung Klage beim zuständigen Gericht. Mit Urteil vom 17. Oktober 2019 wies es die Klage mit der Begründung ab, dass der Staatssekretär zutreffend die Auffassung vertreten habe, dass die Republik Österreich der für die Prüfung des Antrags von K. auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat sei.

37.

K. legte gegen dieses Urteil Berufung beim vorlegenden Gericht ein. Zur Stützung der Berufung machte er geltend, dass die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem dritten Mitgliedstaat den Ablauf der Frist für eine zwischen zwei Mitgliedstaaten vorgesehene Überstellung nicht verhindern könne.

38.

Nach Feststellung des vorlegenden Gerichts ist es unstreitig, dass die Republik Österreich zumindest bis zum 4. April 2019 als zuständiger Mitgliedstaat anzusehen ist, da dieser Mitgliedstaat von den französischen Behörden nicht über die Flucht von K. informiert worden sei.

39.

Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen, dass eine laufende Überstellungsfrist im Sinne von Art. 29 Abs. 1 und 2 zu dem Zeitpunkt erneut zu laufen beginnt, zu dem der Ausländer, nachdem er die Überstellung durch einen Mitgliedstaat durch Flucht vereitelt hat, in einem anderen (im vorliegenden Fall einem dritten) Mitgliedstaat erneut um internationalen Schutz nachsucht?

2.

Sofern Frage 1 zu verneinen ist: Ist Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, betrachtet vor dem Hintergrund ihres 19. Erwägungsgrundes, dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung mit Erfolg geltend macht, die Überstellung dürfe nicht durchgeführt werden, da die Frist für eine zuvor zwischen zwei Mitgliedstaaten (im vorliegenden Fall Frankreich und Österreich) vereinbarte Überstellung abgelaufen sei, mit der Folge, dass die Frist, innerhalb derer die Niederlande überstellen könnten, abgelaufen sei?

C.   Verfahren vor dem Gerichtshof

40.

Die Rechtssachen C‑324/21 und C‑325/21 sind in diesem Stadium des Verfahrens miteinander verbunden worden. Die Rechtssache C‑323/21 ist hingegen nicht mit den beiden anderen verbunden worden. In Anbetracht des Zusammenhangs zwischen diesen drei Rechtssachen wurde allerdings am 5. Mai 2022 eine gemeinsame mündliche Verhandlung durchgeführt, in der die Parteien gehört wurden und u. a. aufgefordert wurden, auf Fragen des Gerichtshofs zur mündlichen Beantwortung einzugehen.

IV. Würdigung

A.   Zur ersten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑323/21, der einzigen Frage in der Rechtssache C‑324/21 und der ersten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑325/21

41.

Ich werde die erste Vorlagefrage in der Rechtssache C‑323/21, die einzige Frage in der Rechtssache C‑324/21 und die erste Vorlagefrage in der Rechtssache C‑325/21 gemeinsam prüfen.

42.

Obwohl diese Fragen unterschiedlich formuliert sind, zielen sie im Wesentlichen darauf ab, die Bestimmungen über die Berechnung der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung genannten Überstellungsfristen in einer Situation auszulegen, in der der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal gestellt wurde, von zwei verschiedenen Mitgliedstaaten um Wiederaufnahme desselben Antragstellers ersucht wird und es dem ersten ersuchenden Mitgliedstaat unmöglich ist, die Überstellung dieses Antragstellers gemäß den Modalitäten und innerhalb der Fristen, die in diesem Artikel vorgesehen sind, durchzuführen, weil dieser das nationale Staatsgebiet verlassen hat, um sich in den zweiten ersuchenden Mitgliedstaat zu begeben ( 6 ).

43.

In jeder dieser drei Rechtssachen konzentriert das vorlegende Gericht seine Fragen auf die Auslegung von Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung.

44.

Dieser Artikel definiert die Modalitäten und die Fristen, innerhalb deren der ersuchende Mitgliedstaat für die Zwecke der Auf- oder Wiederaufnahme eines Antragstellers diesen in den zuständigen Mitgliedstaat überstellen muss.

45.

Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Verordnung bestimmt, dass die Überstellung gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten erfolgt, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat.

46.

Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung stellt allerdings klar, dass diese Frist ausnahmsweise verlängert werden kann, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es dem ersuchenden Mitgliedstaat praktisch unmöglich ist, die betreffende Person zu überstellen, weil sie inhaftiert wurde oder flüchtig ist. Diese Frist verlängert sich dann auf maximal ein Jahr, wenn die Überstellung aufgrund einer Inhaftierung der Person – dieser Begriff wurde im Urteil vom 31. März 2022, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl u. a. (Unterbringung eines Asylbewerbers in einem psychiatrischen Krankenhaus) ( 7 ), definiert – nicht durchgeführt werden konnte, oder auf maximal 18 Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist, wobei der Begriff „Flucht“ im Urteil vom 19. März 2019, Jawo ( 8 ), definiert wurde.

47.

Art. 29 Abs. 2 dieser Verordnung bestimmt außerdem, dass bei Ablauf dieser Fristen der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. Gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dieser dann nicht mehr befugt, die Überstellung vorzunehmen, und muss vielmehr von Amts wegen die notwendigen Maßnahmen treffen, um den Antrag auf internationalen Schutz unverzüglich zu prüfen ( 9 ).

48.

Der Wortlaut dieser Bestimmung geht von einem klassischen Wiederaufnahmeverfahren zwischen zwei Mitgliedstaaten aus, dem ersuchten Mitgliedstaat auf der einen und dem ersuchenden Mitgliedstaat auf der anderen Seite, bei dem der Antragsteller einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

49.

Die Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts ergehen aber allesamt in einem anderen Rahmen, da sie die Modalitäten betreffen, wie ein Antragsteller zu überstellen ist, der aufgrund zahlreicher Anträge auf internationalen Schutz, die er gestellt hat, Gegenstand von Wiederaufnahmeverfahren ist, die nacheinander von verschiedenen Mitgliedstaaten geführt werden.

50.

Keine Bestimmung der Dublin‑III-Verordnung oder der Verordnung Nr. 1560/2003 sieht für diesen Fall besondere Regeln vor, der sinnbildlich für das Phänomen der „Sekundärmigration“ steht, mit der sich zahlreiche Antragsteller auf internationalen Schutz von dem für ihren Antrag zuständigen Mitgliedstaat in andere Mitgliedstaaten begeben, in denen sie internationalen Schutz beantragen und sich niederlassen möchten.

51.

In diesem Kontext erscheinen mir die in Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Bestimmungen über den Ablauf des Überstellungsverfahrens zu eng gefasst, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben und insbesondere die Modalitäten zu definieren, die es ermöglichen, zum einen eine klare, praktikable und rasche Methode zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats beizubehalten und zum anderen Missbrauch vorzubeugen, der sich aus den Reisen bestimmter Antragsteller innerhalb der Union ergibt.

52.

Dafür muss meines Erachtens analysiert werden, unter welchen – u. a. in Art. 20 Abs. 5 und Art. 23 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung aufgestellten – Bedingungen die betreffenden Mitgliedstaaten ein Wiederaufnahmeverfahren vereinbaren, und geprüft werden, welches Ziel der Unionsgesetzgeber unter diesen Umständen verfolgt.

1. Die Bedingungen für das Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung

53.

Aus der Darstellung der Sachverhalte der Ausgangsverfahren geht hervor, dass jeder Antragsteller zum ersten Mal einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt hat, und zwar in Italien in den Rechtssachen C‑323/21 und C‑324/21 sowie in Österreich in der Rechtssache C‑325/21, bevor sie in der Union weitergereist sind und sich in andere Mitgliedstaaten begeben haben, in denen sie nacheinander weitere Anträge auf internationalen Schutz gestellt haben.

54.

Dies bedeutet, dass die Antragsteller in den Anwendungsbereich von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d der Dublin‑III-Verordnung fallen. Dieser Artikel bezieht sich auf eine Person, deren Antrag auf internationalen Schutz noch geprüft wird (Buchst. b), die einen solchen Antrag während der Prüfung zurückgezogen hat (Buchst. c) oder deren Antrag abgelehnt wurde (Buchst. d) und die entweder in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält ( 10 ).

55.

Außerdem bedeutet dies, dass der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, also Italien in den Rechtssachen C‑323/21 und C‑324/21 und Österreich in der Rechtssache C‑325/21, gemäß Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung verpflichtet ist, den Antragsteller wieder aufzunehmen.

56.

Nach Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung wird ein Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger im Hoheitsgebiet eines der Mitgliedstaaten stellt, nämlich grundsätzlich allein von dem nach den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung als zuständiger Staat bestimmten Mitgliedstaat geprüft ( 11 ). Über die in Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung genannten Kriterien hinaus sieht Kapitel VI dieser Verordnung jedoch Verfahren zur Aufnahme und Wiederaufnahme durch einen anderen Mitgliedstaat vor, die „ebenso wie die in Kapitel III der Verordnung genannten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats beitragen“ ( 12 ).

57.

Ebenso verhält es sich mit den Bestimmungen in Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung.

58.

Art. 20 dieser Verordnung betrifft, wie es in seiner Überschrift heißt, die Einleitung des Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahrens.

59.

Abs. 5 dieses Artikels bestimmt, dass der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, gehalten ist, einen Antragsteller wieder aufzunehmen, der, bevor das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats abgeschlossen wurde, das nationale Hoheitsgebiet verlassen hat und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat ( 13 ). Die Wiederaufnahme des Antragstellers hat zum Ziel, dem Mitgliedstaat, bei dem der Antrag zuerst gestellt wurde, zu ermöglichen, „das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen“, und nicht, den Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen ( 14 ).

60.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist diese Bestimmung auch auf die Situation anwendbar, in der ein Antragsteller seinen Antrag implizit zurückgenommen hat, indem er den Mitgliedstaat verlassen hat, in dem er den Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal gestellt hat, ohne die zuständige nationale Behörde über die Rücknahme seines Antrags zu informieren, und in dem folglich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats immer noch läuft ( 15 ).

61.

Des Weiteren sieht Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung vor, dass das Verfahren zur Wiederaufnahme des Antragstellers nach den Bestimmungen in den Art. 23, 24, 25 und 29 zu führen ist.

62.

Nach Art. 23 Abs. 1 dieser Verordnung kann ein Mitgliedstaat ein Wiederaufnahmegesuch nur unter der Voraussetzung stellen, dass der ersuchte Mitgliedstaat die Voraussetzungen in Art. 20 Abs. 5 oder Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d dieser Verordnung erfüllt ( 16 ). Infolgedessen setzt das Wiederaufnahmeverfahren die Erfüllung zweier kumulativer Voraussetzungen voraus, die der Unionsgesetzgeber in Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehen hat: Erstens muss der Antragsteller seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz bei dem ersuchten Mitgliedstaat gestellt haben, und zweitens muss sich dieser Antragsteller ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats befinden oder bei den nationalen Behörden dieses letztgenannten Mitgliedstaats einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben.

63.

Der Unionsgesetzgeber sieht den Fall, in dem die für die Führung dieses Verfahrens aufgestellten Voraussetzungen aufgrund von Umständen, die nach seiner Einleitung eingetreten sind, nicht mehr erfüllt sind, nicht vor.

64.

Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung ist lediglich zu entnehmen, dass das Wiederaufnahmeverfahren auf dreierlei Weise endet: Entweder wurde die Überstellung gemäß den in diesem Artikel genannten Modalitäten und Fristen durchgeführt (Abs. 1), oder die Überstellung konnte z. B. aufgrund der Inhaftierung oder der Flucht der betreffenden Person nicht durchgeführt werden (Abs. 2) oder die Überstellungsentscheidung wurde nach Einlegung eines Rechtsbehelfs oder einem vom Antragsteller gestellten Antrag auf Überprüfung gemäß Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung für nichtig erklärt (Abs. 3).

65.

Meines Erachtens hindert nichts daran, dass die in Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung genannte „Abstimmung“ zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten über die Modalitäten der Überstellung zur Feststellung führt, dass das zuvor eingeleitete Wiederaufnahmeverfahren seinen Gegenstand verloren hat und hinfällig wird, sobald der ersuchte Mitgliedstaat einem neuen Gesuch zur Wiederaufnahme des Antragstellers stattgibt. In Situationen, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede stehen, wurde das erste Wiederaufnahmeverfahren zwar ordnungsgemäß nach Abstimmung zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten eingeleitet, doch nehmen die Ereignisse nach dieser Abstimmung, nämlich die Abreise des Antragstellers aus dem Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats und sein Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat, bei dem er einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, diesem ersten Verfahren einen für seine Gültigkeit wesentlichen Bestandteil. Entgegen den in Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung genannten Voraussetzungen befindet sich der Antragsteller nämlich nicht mehr im Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats und wegen seiner Abreise ist sein von ihm gestellter Antrag auf internationalen Schutz als zurückgenommen anzusehen. Denn der Gerichtshof hat entschieden, dass der Wegzug des Antragstellers aus einem Mitgliedstaat, in dem er einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, für den Zweck der Anwendung von Art. 20 Abs. 5 dieser Verordnung einer stillschweigenden Rücknahme dieses Antrags gleichgestellt werden muss ( 17 ). Diese Feststellung ist meines Erachtens umso mehr in Situationen geboten, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede stehen, in denen der Antragsteller nicht nur den ersuchenden Mitgliedstaat verlassen hat, sondern sich auch in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat, in dem er einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

66.

Daraus folgt, dass die in Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung aufgestellten Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Antragstellers nicht mehr erfüllt sind.

67.

Ich bin insoweit der Auffassung, dass der ersuchte Mitgliedstaat, soweit er an zwei Wiederaufnahmeverfahren beteiligt ist, die innerhalb kürzester Zeit gegenüber derselben Person von zwei verschiedenen Mitgliedstaaten eingeleitet werden, in der Lage ist, sich mit dem ersten ersuchenden Mitgliedstaat darauf zu einigen, dass das erste Wiederaufnahmeverfahren hinfällig ist.

68.

Der ersuchte Mitgliedstaat wird nämlich darüber informiert, dass es dem ersten ersuchenden Mitgliedstaat aufgrund der Flucht des Antragstellers unmöglich ist, diesen innerhalb der Fristen und gemäß den Modalitäten, die sie gemeinsam vereinbart hatten, zu überstellen, während er zur gleichen Zeit über das zweite Wiederaufnahmegesuch zu entscheiden hat, das vom zweiten Mitgliedstaat gestellt wurde, in dem sich der Antragsteller befindet.

69.

Unter Berücksichtigung der Art der Informationen, über die der ersuchte Mitgliedstaat nun Kenntnis erlangen muss – u. a. den Aufenthaltsort des Antragstellers und den Stand der gegenüber ihm eingeleiteten Verfahren –, bin ich der Auffassung, dass er sich nicht wirksam gegenüber dem zweiten ersuchenden Mitgliedstaat verpflichten kann, den Antragsteller wieder aufzunehmen und sich so über die Modalitäten von dessen Überstellung zu einigen, ohne dass er sich mit dem ersten ersuchenden Mitgliedstaat darauf verständigt, dass die zuvor im Rahmen des ersten Wiederaufnahmeverfahrens eingegangenen Verpflichtungen hinfällig sind. Wie ich oben ausgeführt habe, scheint diese Auslegung den Wortlaut von Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung nicht zu verkennen.

70.

Außerdem denke ich, dass die im Rahmen des zweiten Wiederaufnahmeverfahrens übermittelten Informationen über den Aufenthaltsort des Antragstellers und den Stand der gegenüber ihm eingeleiteten Verfahren zu denen gehören, die der ersuchte Mitgliedstaat gemäß Art. 34 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung mit den betroffenen Mitgliedstaaten teilen kann. Dieser Artikel, der sich in Kapitel VII („Verwaltungskooperation“) dieser Verordnung befindet, sieht in seinem Abs. 2 Buchst. d, f und g vor, dass diese Informationen die Aufenthaltsorte und die Reisewege des Antragstellers sowie das Datum jeder früheren Antragstellung auf internationalen Schutz, das Datum der jetzigen Antragstellung, den Stand des Verfahrens und den Tenor der gegebenenfalls getroffenen Entscheidung betreffen können.

71.

Die Hinfälligkeit des ersten Wiederaufnahmeverfahrens würde auch zu den Zielen beitragen, die der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Dublin‑III-Verordnung verfolgt.

2. Zweck der Dublin‑III-Verordnung

72.

Wie sich aus ihren Erwägungsgründen 4 und 5 ergibt, hat die Dublin‑III-Verordnung zum Zweck, eine Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats bereitzustellen, die „klar und praktikabel“ sein und „auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren“ soll. Diese Formel soll vor allem „eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um … das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden“. Der Unionsgesetzgeber will so die Bearbeitung dieser Anträge rationalisieren, indem er den Antragstellern die Prüfung ihrer Anträge in der Sache durch einen einzigen eindeutig bestimmten Mitgliedstaat garantiert. Durch die Einführung einheitlicher Verfahren und Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zielt der Unionsgesetzgeber außerdem darauf ab, Sekundärmigration der Drittstaatsangehörigen, die einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt haben, in andere Mitgliedstaaten zu verhindern ( 18 ).

73.

Es versteht sich von selbst, dass zwei Wiederaufnahmeverfahren nicht wirksam gleichzeitig von verschiedenen Mitgliedstaaten gegenüber derselben Person geführt werden können, außer man würde den Zweck der Dublin‑III-Verordnung verkennen.

74.

Erstens garantiert die Durchführung des ersten Wiederaufnahmeverfahrens bis zu seinem Abschluss nach der Abreise der betreffenden Person aus dem ersuchenden Mitgliedstaat und die Übertragung der Zuständigkeit, die dieses Verfahren mit sich bringen kann, keineswegs, dass dieses Verfahren rasch durchgeführt wird. Im Gegenteil, die Durchführung dieses ersten Verfahrens bis zu seinem Abschluss wäre zum einen geeignet, die vom Unionsgesetzgeber angestrebte Wirksamkeit merklich zu beschränken, und würde zum anderen die Gefahr in sich bergen, die betreffenden Personen dazu zu bewegen, den ersuchenden Mitgliedstaat zu verlassen, um ihre Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat zu verhindern oder ihren Aufenthalt in der Union zu verlängern und dabei die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in Anspruch zu nehmen.

75.

Die nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Dublin‑III-Verordnung verlangte Übertragung der Zuständigkeit kommt einer Bestimmung des für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaats durch eine „Sanktion“ des ersuchenden Mitgliedstaats gleich, wenn dieser die Überstellung, um die er selbst ersucht hat, nicht durchgeführt hat. Ab dem Zeitpunkt, zu dem der ersuchende Mitgliedstaat die in dieser Bestimmung festgelegten Fristen nicht einhält, geht die Zuständigkeit automatisch und unabhängig von den Umständen des Einzelfalls über.

76.

In Situationen, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede stehen, erlaubt der Automatismus dieses Mechanismus allerdings nicht die Berücksichtigung der Tatsache, dass der Antragsteller das Hoheitsgebiet des ersten ersuchenden Mitgliedstaats unter Verstoß gegen die ihm obliegende Kooperationspflicht verlassen hat. Den zuständigen Behörden dieses Staates ist es daher weder möglich, ihn gemäß den in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung genannten Modalitäten und Fristen zu überstellen, noch, die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz durchzuführen, wenn die Zuständigkeit übergegangen ist, und zwar im Gegensatz zu den zuständigen Behörden des zweiten ersuchenden Mitgliedstaats.

77.

Sowohl das Verfahren zur Überstellung als auch das zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz setzen nämlich voraus, dass der Antragsteller den zuständigen nationalen Behörden zur Verfügung steht.

78.

Zwar können diese Behörden den Antragsteller aufgrund der Formalitäten, die dieser für die Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat erfüllen musste, lokalisieren (insbesondere dank der Eintragung im Eurodac-System) ( 19 ), sie verfügen jedoch über keine Zuständigkeit, um die Überstellung dieser Person gemäß Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung zu vollstrecken, da diese Person sich außerhalb des nationalen Staatsgebiets befindet und das mit dieser Verordnung eingeführte Verfahren nicht strafrechtlicher Art ist.

79.

Ebenso setzt das Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz voraus, dass der Antragsteller den Pflichten nachkommt, die ihm sowohl die Verfahrensrichtlinie als auch die Richtlinie 2013/33/EU ( 20 ) auferlegen, und zwar für eine zügige Bearbeitung und wirksame Überwachung seines Antrags auf internationalen Schutz. Zu diesen Pflichten gehört, am angegebenen Ort zu wohnen und sich regelmäßig bei den zuständigen nationalen Behörden zu melden.

80.

Unter diesen Umständen sehe ich keinen Grund, der die Fortführung dieses Verfahrens und insbesondere die Verlängerung der Frist für die Überstellung rechtfertigen kann, da diese zum Scheitern verurteilt ist.

81.

Zweitens trägt die Fortführung des ersten Wiederaufnahmeverfahrens nicht zu einer klaren und praktikablen Formel bei, die der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Dublin‑III-Verordnung festzulegen beabsichtigt.

82.

Zum einen erlaubt der Automatismus des Übergangs der Zuständigkeit nicht die Berücksichtigung der Tatsache, dass dieser Übergang die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz betrifft, der wahrscheinlich ein Antrag ist, der identisch ist mit dem, der zuvor im ersten Mitgliedstaat gestellt wurde, und mit dem, der später in einem anderen Mitgliedstaat gestellt wurde.

83.

Zum anderen bringt der nachfolgende Ablauf dieser beiden Verfahren durch die u. a. in Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Dublin‑III-Verordnung aufgeführte Regel des Übergangs der Zuständigkeit Schwierigkeiten mit sich, die die wirksame Funktionsweise des „Dublin-Systems“ ( 21 ) beeinträchtigen können.

84.

So wird das zweite Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet, obwohl das erste Wiederaufnahmeverfahren im Gange ist, und kann im Fall des Ablaufs der in Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung genannten Fristen zu einem Übergang der Zuständigkeit auf den ersten ersuchenden Mitgliedstaat führen. Unter Berücksichtigung der Frist von zwei Monaten, innerhalb der der zweite ersuchende Mitgliedstaat verpflichtet ist, sein Wiederaufnahmegesuch zu stellen, wird dieses Gesuch also gestellt und gegebenenfalls vom ersuchten Mitgliedstaat angenommen, obwohl dessen Zuständigkeit nicht definitiv feststeht, da sie wegen des Übergangs der Zuständigkeit auf den ersten ersuchenden Mitgliedstaat übergehen kann. Ein solcher Mechanismus setzt die zuständigen nationalen Behörden jedes betroffenen Mitgliedstaats Unsicherheiten bezüglich der ihnen obliegenden Zuständigkeiten aus, und zwar umso mehr, als das Eurodac-System nicht ermöglicht, über den Fortgang der Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren, die in anderen Mitgliedstaaten geführt werden, informiert zu werden. Wie es die vorliegenden Rechtssachen veranschaulichen, setzt sich die zuständige Behörde des zweiten ersuchenden Mitgliedstaats somit der Gefahr aus, dass die Überstellungsentscheidung, die sie dem Antragsteller mitgeteilt hat, gemäß Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung angefochten wird und die Überstellung, die sie durchführen könnte, gegebenenfalls aufgehoben wird, mit der Folge, dass dieser Staat gemäß Art. 29 Abs. 3 dieser Verordnung verpflichtet ist, die betreffende Person unverzüglich wieder aufzunehmen.

85.

Ein solcher Mechanismus kann meines Erachtens zu einer Lähmung des Dublin-Systems führen, wodurch paradoxerweise die Migration der Antragsteller auf internationalen Schutz in der Union gefördert wird.

86.

Unter diesen Umständen ist es meines Erachtens wesentlich, die praktische Wirksamkeit von Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung zu wahren, indem der „besondere Status“ und die „besondere Rolle“, die der Unionsgesetzgeber dem Mitgliedstaat zuschreibt, bei dem ein erster Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, aufrechterhalten wird ( 22 ). Zu diesem Zweck machen es Situationen, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede stehen, die sich durch die Stellung einer Vielzahl von Anträgen auf internationalen Schutz bei verschiedenen Mitgliedstaaten auszeichnen, erforderlich, einen geordneten und kontrollierten Mechanismus festzulegen, um zu verhindern, dass die Rolle und die Aufgabe jedes einzelnen Mitgliedstaats ständig infolge von Ortsveränderungen des Antragstellers in Frage gestellt werden.

87.

Drittens bin ich der Meinung, dass es wichtig ist, das Augenmerk auf die rechtlichen Möglichkeiten zu legen, über die der zweite ersuchende Mitgliedstaat verfügt, um ein Wiederaufnahmeverfahren zu gewährleisten, das sehr viel schneller und wirksamer ist als das, das der erste ersuchende Mitgliedstaat durchführen kann, und zwar wegen der Anwesenheit der betreffenden Person in seinem Hoheitsgebiet. Offenkundig ist, wie es die Regel der Verteilung der Zuständigkeiten in Art. 20 Abs. 4 der Dublin‑III-Verordnung bestätigt, die Anwesenheit der betreffenden Person im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ein Gesichtspunkt, der für die Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens wesentlich ist ( 23 ).

88.

Die Stellung eines neuen Antrags auf internationalen Schutz führt somit im Rahmen der Regelung über das Gemeinsame Europäische Asylsystem zur Anwendung eines verpflichtenden gesetzlichen Rahmens, der dem betreffenden Mitgliedstaat Rechtspflichten auferlegt, die sowohl in der Dublin‑III-Verordnung als auch in der Verfahrensrichtlinie und der Richtlinie 2013/33 festgelegt sind.

89.

Dieser Mitgliedstaat ist zunächst gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Dublin‑III-Verordnung verpflichtet, sobald ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 20 Abs. 2 dieser Verordnung gestellt wird, den Antragsteller schriftlich und in einer Sprache, die er versteht, über die Folgen der Stellung seines neuen Antrags auf internationalen Schutz sowie über die Folgen seiner Weiterreise von einem Mitgliedstaat in einen anderen während der Phasen, in denen der zuständige Mitgliedstaat bestimmt wird und der Antrag auf internationalen Schutz geprüft wird, zu informieren. In diesem Kontext denke ich, dass die zuständigen nationalen Behörden den Antragsteller über den Stand der Verfahren, die gegenüber ihm eingeleitet wurden, und über die Folgen der Stellung mehrerer Anträge auf internationalen Schutz in der Union informieren können.

90.

Des Weiteren ist der ersuchende Mitgliedstaat gemäß Art. 23 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung verpflichtet, den zuständigen Mitgliedstaat gemäß Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 dieser Verordnung um die Wiederaufnahme des Antragstellers innerhalb der Fristen und gemäß den Bedingungen, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, zu ersuchen. Um die Effektivität des Wiederaufnahmeverfahrens zu gewährleisten, kann der ersuchende Mitgliedstaat gemäß Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 über den Ort entscheiden, an dem der Antragsteller wohnen muss, und von ihm gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie verlangen, dass er sich bei den zuständigen Behörden meldet oder persönlich erscheint, entweder sofort oder zu einem bestimmten Zeitpunkt.

91.

Schließlich kann dieser Mitgliedstaat unter Berücksichtigung des erheblichen Risikos der Flucht des Antragstellers und vorbehaltlich der Wahrung der Rechte und Garantien, die diesem eingeräumt werden, Zwangsmaßnahmen ergreifen, um die Wirksamkeit des Überstellungsverfahrens zu gewährleisten, wie z. B. die Inhaftierung unter den in Art. 8 Abs. 3 Buchst. f der Richtlinie 2013/33 und Art. 28 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung genannten Voraussetzungen.

92.

In Anbetracht all dieser Gesichtspunkte und insbesondere der Voraussetzungen, die in Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung für die Durchführung eines Wiederaufnahmeverfahrens vorgesehen sind, sowie der Ziele, die der Unionsgesetzgeber verfolgt, ist es meines Erachtens in Situationen, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede stehen, unabdingbar, die Hinfälligkeit des ersten Wiederaufnahmeverfahrens festzustellen.

93.

In Anbetracht der Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, zu entscheiden, dass Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass in einer Situation, in der ein Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal gestellt wurde, auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 dieser Verordnung mit zwei nacheinander von zwei verschiedenen Mitgliedstaaten gegenüber ein und demselben Antragsteller eingeleiteten Wiederaufnahmeverfahren um dessen Wiederaufnahme ersucht wird, der ersuchte Mitgliedstaat und der erste ersuchende Mitgliedstaat, falls der letztgenannte Mitgliedstaat aufgrund der Abreise dieser Person aus dem ersten ersuchenden Mitgliedstaat die Überstellung des Antragstellers nicht gemäß den Modalitäten und innerhalb der in Art. 29 dieser Verordnung genannten Fristen durchführen kann, ab der Annahme des zweiten, vom zweiten ersuchenden Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat die Hinfälligkeit des ersten Wiederaufnahmeverfahrens feststellen müssen.

B.   Zur zweiten Frage in den Rechtssachen C‑323/21 und C‑325/21

94.

Mit seiner zweiten Frage in den Rechtssachen C‑323/21 und C‑325/21 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass sich in der Situation, in der ein zweites Wiederaufnahmeverfahren gegenüber derselben Person in einem anderen Mitgliedstaat als dem, der das erste Wiederaufnahmeverfahren geführt hat, eingeleitet wird, der Antragsteller im Rahmen eines Rechtsbehelfs, den er gegen die vom zweiten ersuchenden Mitgliedstaat erlassene Überstellungsentscheidung einlegt, auf den Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung genannten Fristen und den Übergang der Zuständigkeit, der sich daraus ergeben hat, berufen kann.

95.

In Anbetracht der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die erste Vorlagefrage erübrigt sich die Prüfung der zweiten Vorlagefrage.

V. Ergebnis

96.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) in den Rechtssachen C‑323/21, C‑324/21 und C‑325/21 wie folgt zu beantworten:

Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,

ist dahin auszulegen, dass

in einer Situation, in der ein Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal gestellt wurde, auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 dieser Verordnung mit zwei nacheinander von zwei verschiedenen Mitgliedstaaten gegenüber ein und demselben Antragsteller eingeleiteten Wiederaufnahmeverfahren um dessen Wiederaufnahme ersucht wird, der ersuchte Mitgliedstaat und der erste ersuchende Mitgliedstaat, falls der letztgenannte Mitgliedstaat aufgrund der Abreise dieser Person aus dem ersten ersuchenden Mitgliedstaat die Überstellung des Antragstellers nicht gemäß den Modalitäten und innerhalb der in Art. 29 dieser Verordnung genannten Fristen durchführen kann, ab der Annahme des zweiten, vom zweiten ersuchenden Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat die Hinfälligkeit des ersten Wiederaufnahmeverfahrens feststellen müssen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung.

( 3 ) Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 222, S. 3), in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (ABl. 2014, L 39, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1560/2003).

( 4 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 58 und 59). Vgl. auch Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin‑III-Verordnung.

( 5 ) Vgl. den Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines dritten Landes in einem Mitgliedstaat gestellt hat, vorgelegt von der Europäischen Kommission am 26. Juli 2001 (KOM[2001] 447 endg., Punkt 2.1).

( 6 ) Die erste Vorlagefrage in der Rechtssache C‑323/21 ist etwas anders formuliert als die einzige Frage in der Rechtssache C‑324/21 und die erste dem Gerichtshof in der Rechtssache C‑325/21 vorgelegte Frage, da sich das vorlegende Gericht auf die Auslegung des in Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung verwendeten Begriffs „ersuchender Mitgliedstaat“ konzentriert. Insbesondere fragt es sich, ob in einer Situation, in der der ersuchende Mitgliedstaat die Überstellung des Antragstellers nicht durchführen kann, weil dieser das nationale Staatsgebiet verlassen hat, um sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, bei dem er einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und in dem er sich befindet, mit dem (in Art. 29 Abs. 2 dieser Verordnung verwendeten) Begriff „ersuchender Mitgliedstaat“ der letzte Mitgliedstaat gemeint ist, bei dem der neue Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde und in dessen Folge ein neues Ersuchen um Wiederaufnahme des Antragstellers gestellt wurde.

( 7 ) C‑231/21, EU:C:2022:237 (Rn. 55 und 58).

( 8 ) C‑163/17, EU:C:2019:218 (Rn. 56 und 57).

( 9 ) Vgl. insoweit Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri (C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 43).

( 10 ) Vgl. u. a. Urteil vom 2. April 2019, H. und R. (C‑582/17 und C‑583/17, im Folgenden: Urteil H. und R., EU:C:2019:280, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 11 ) Vgl. Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 56).

( 12 ) Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri (C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 39). Im Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587), hat der Gerichtshof entschieden, dass „die Vorschriften in Art. 21 Abs. 1 [der Dublin‑III-Verordnung über die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs] zwar das Aufnahmeverfahren regeln sollen, aber auch – ebenso wie die in Kapitel III der Verordnung genannten Kriterien – zur Bestimmung des im Sinne der Verordnung zuständigen Mitgliedstaats beitragen“ (Rn. 53).

( 13 ) Des Weiteren ergibt sich aus Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung, dass der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig ist, wenn sich der zuständige Mitgliedstaat nicht anhand der Kriterien der Verordnung bestimmen lässt.

( 14 ) Vgl. Urteil H. und R. (Rn. 59 bis 64).

( 15 ) Vgl. Urteil H. und R. (Rn. 47 bis 50).

( 16 ) Vgl. Urteil H. und R. (Rn. 59 bis 61).

( 17 ) Vgl. Urteil H. und R. (Rn. 50). Ich weise auch darauf hin, dass nach Art. 28 („Verfahren bei stillschweigender Rücknahme des Antrags oder Nichtbetreiben des Verfahrens“) Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60, im Folgenden: Verfahrensrichtlinie) die Mitgliedstaaten „insbesondere dann davon ausgehen [können], dass der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz stillschweigend zurückgezogen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt, wenn er nachweislich … untergetaucht ist oder seinen Aufenthaltsort oder Ort seiner Ingewahrsamnahme ohne Genehmigung verlassen und nicht innerhalb einer angemessenen Frist die zuständige Behörde kontaktiert hat, oder seinen Melde- und anderen Mitteilungspflichten nicht innerhalb einer angemessenen Frist nachgekommen ist, es sei denn, der Antragsteller weist nach, dass dies auf Umstände zurückzuführen war, auf die er keinen Einfluss hatte“ (Buchst. b).

( 18 ) Vgl. Urteil vom 10. Dezember 2013, Abdullahi (C‑394/12, EU:C:2013:813, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil H. und R. (Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 19 ) Um u. a. eine wirksame Anwendung dieser Bestimmungen sicherzustellen, sieht Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist[,] und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT‑Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ABl. 2013, L 180, S. 1) vor, dass die Fingerabdrücke jedes Asylbewerbers grundsätzlich spätestens 72 Stunden nach der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz, wie er in Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung definiert ist, an das Eurodac-System übermittelt werden müssen. Vgl. auch Art. 6 Abs. 4 der Verfahrensrichtlinie.

( 20 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).

( 21 ) Das „Dublin-System“ umfasst die Dublin‑III-Verordnung, die Verordnung Nr. 603/2013 und die Verordnung Nr. 1560/2003.

( 22 ) Vgl. Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 93), und Urteil H. und R. (Rn. 64).

( 23 ) Der Unionsgesetzgeber macht daraus in Art. 20 Abs. 4 der Dublin‑III-Verordnung im Übrigen ein entscheidendes Kriterium. Dieser Artikel sieht vor, dass im Fall, dass ein Antrag auf internationalen Schutz in einem anderen als dem Mitgliedstaat gestellt wird, in dem sich der Antragsteller befindet, die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats diesem letztgenannten Mitgliedstaat obliegt, dieser also für die Zwecke dieser Verordnung als der Mitgliedstaat angesehen wird, bei dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. In diesem Fall muss der Antragsteller schriftlich über diese Änderung und über den Zeitpunkt informiert werden, zu dem diese stattfindet; dieses Erfordernis übernimmt die Bestimmungen in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung.

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