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Document 62021CC0241

Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 2. Juni 2022.


Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:432

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 2. Juni 2022 ( 1 )

Rechtssache C‑241/21

I. L.

gegen

Politsei- ja Piirivalveamet

(Vorabentscheidungsersuchen des Riigikohus [Oberstes Gericht, Estland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 15 Abs. 1 – Inhaftnahme zur Durchführung eines Abschiebungsverfahrens – Gründe – Hinzufügung – Nachgewiesene Gefahr der Begehung einer Straftat, auf die ein Ermittlungsverfahren und eine Sanktion folgen, die die Durchführung einer Abschiebung erheblich behindern können“

I. Einleitung

1.

Die Vorlagefrage des Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG ( 2 ).

2.

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen einer Klage des moldauischen Staatsangehörigen I. L., gegen den die Politsei- ja Piirivalveamet (Polizei- und Grenzschutzbehörde, Estland, im Folgenden: PPA) eine Anordnung erlassen hatte, das estnische Hoheitsgebiet zu verlassen, gegen die zum Zweck seiner Abschiebung erlassene Anordnung der Inhaftnahme. Er wendet ein, die Begründung der Inhaftnahme, nämlich, dass die reale Gefahr bestehe, dass er, wenn er sich vor seiner Abschiebung in Freiheit befinde, eine Straftat begehe, die das Abschiebungsverfahren aufgrund der Strafverfolgungsmaßnahmen und der sich daraus ergebenden Strafe erheblich erschweren könne, sei rechtswidrig.

3.

Ich werde in den vorliegenden Schlussanträgen darlegen, weshalb nach meiner Ansicht die Mitgliedstaaten nicht befugt sind, die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen darauf zu stützen, dass die Wirksamkeit des in der Richtlinie 2008/115 geregelten Rückführungsverfahrens gewährleistet werden müsse, und diese Inhaftnahme damit zu rechtfertigen, dass dieses Verfahren aufgrund der wahrscheinlichen Begehung strafbewehrter Taten verzögert werden könne.

II. Rechtsrahmen

A.   Unionsrecht

4.

In Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2008/115 wird die Fluchtgefahr definiert als „das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnten“.

5.

Art. 15 Abs. 1 in Kapitel IV („Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)

Fluchtgefahr besteht oder

b)

die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen zu erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.“

B.   Estnisches Recht

6.

§ 68 („Fluchtgefahr des Ausländers“) des Väljasõidukohustuse ja sissesõidukeelu seadus (Gesetz über die Ausreisepflicht und das Einreiseverbot) ( 3 ) vom 21. Oktober 1998 lautet:

„Der Erlass einer Rückkehrentscheidung oder die Inhaftnahme eines Ausländers erfolgen auf der Grundlage einer Beurteilung seiner Fluchtgefahr. Bei einem Ausländer besteht Fluchtgefahr, wenn

1)

er nicht nach Ablauf der in der Rückkehrentscheidung festgesetzten Frist für die freiwillige Ausreise aus Estland oder einem anderen Mitgliedstaat des Übereinkommens von Schengen ausgereist ist;

2)

wenn er bei seinem Antrag auf legalen Aufenthalt in Estland, Antrag auf Verlängerung dies Aufenthalts, Antrag auf Erteilung der estnischen Staatsangehörigkeit, Antrag auf internationalen Schutz oder Antrag auf Ausstellung von Ausweispapieren unrichtige Informationen mitgeteilt oder gefälschte Dokumente vorgelegt hat;

3)

an seiner Identität oder seiner Staatsangehörigkeit berechtigte Zweifel bestehen;

4)

er wiederholt vorsätzliche Vergehen begangen hat oder eine Straftat begangen hat, für die er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde;

5)

er gegen ihn zur Sicherstellung der Beachtung der Rückkehrentscheidung verhängte Überwachungsmaßnahmen nicht beachtet hat;

6)

er der [PPA] oder der Kaitsepolitseiamet (Behörde für innere Sicherheit, Estland) seine Absicht mitgeteilt hat, der Rückkehrentscheidung nicht Folge zu leisten, oder die Verwaltungsbehörde in Anbetracht der Einstellung oder des Verhaltens des Ausländers zu dieser Schlussfolgerung gelangt;

7)

er nach Estland eingereist ist, als ein gegen ihn verhängtes Einreiseverbot wirksam war;

8)

er wegen illegalen Überschreitens der Außengrenze Estlands in Haft genommen wurde und weder die Genehmigung noch das Recht erhalten hat, sich in Estland aufzuhalten;

9)

er ohne Genehmigung den ihm zugewiesenen Aufenthaltsort oder einen anderen Mitgliedstaat des Übereinkommens von Schengen verlassen hat;

10)

die gegen den Ausländer erlassene Rückkehrentscheidung auf der Grundlage einer Entscheidung der Justizbehörde vollstreckbar wird.“

7.

§ 72 („Festlegung der Frist für die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung“) VSS lautet:

„…

(2) Es ist möglich, keine Frist für die freiwillige Ausreise festzusetzen und die Rückkehrentscheidung unverzüglich zu vollstrecken, wenn

1)

bei dem Ausländer eine Fluchtgefahr besteht;

4)

der Ausländer eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt;

…“

8.

Nach § 73 Abs. 2 VSS „[erfolgt] [d]ie Zwangsvollstreckung der gegen den Ausländer ergangenen Rückkehrentscheidung durch dessen Inhaftnahme und dessen Abschiebung aus Estland“.

9.

§ 15 („Inhaftnahme des Ausländers und Abschiebungsvorkehrung“) VSS bestimmt:

„(1)   Der Ausländer kann gemäß dem nachfolgenden Absatz 2 in Haft genommen werden, wenn die in diesem Gesetz vorgesehenen Überwachungsmaßnahmen nicht wirksam vorgenommen werden können. Die Inhaftnahme muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen und in jedem Einzelfall die maßgeblichen Umstände des Ausländers berücksichtigen.

(2)   Der Ausländer kann in Haft genommen werden, wenn die Vornahme der in diesem Gesetz vorgesehenen Überwachungsmaßnahmen keine wirksame Vollstreckung der Rückkehrentscheidung gewährleistet und insbesondere, wenn

1)

eine Fluchtgefahr des Ausländers besteht;

2)

der Ausländer der Pflicht zu Kooperation nicht nachkommt oder

3)

der Ausländer nicht im Besitz der für die Rückreise erforderlichen Dokumente ist oder sich deren Erlangung aus dem Empfangs- oder Transitstaat verzögert.

…“

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

10.

I. L., moldauischer Staatsangehöriger, geboren 1993 in Russland, hielt sich aufgrund einer Befreiung von der Visumpflicht in Estland auf. Er wurde am 12. Oktober 2020 festgenommen, weil er verdächtigt wurde, seiner Lebensgefährtin und einer weiteren Frau körperliche Schmerzen zugefügt und diese an der Gesundheit geschädigt zu haben.

11.

Mit Urteil vom 13. Oktober 2020 verurteilte das Harju Maakohus (Gericht erster Instanz Harju, Estland) I. L. wegen der ihm vorgeworfenen Tathandlungen der körperlichen Misshandlung im Sinne des estnischen Strafgesetzes. Eine Verurteilung wegen des Tatbestands der Bedrohung gegen seine Lebensgefährtin erfolgte nicht. Dieses Gericht verurteilte I. L. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, einem Monat und 28 Tagen mit einer Bewährungszeit von zwei Jahren und ordnete die unverzügliche Aufhebung der Haft an.

12.

An demselben Tag entzog die PPA I. L. vorzeitig die Aufenthaltsberechtigung und ordnete anschließend gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 1 VSS die Inhaftnahme von I. L. im Gebäude des Harju Maakohus (Gericht erster Instanz Harju) an.

13.

PPA berücksichtigte bei dieser Entscheidung die Einstellung von I. L. zu der begangenen Straftat und sein Verhalten nach seiner Verurteilung, woraus diese Behörde folgerte, dass I. L. ungeachtet seiner Zusage, freiwillig auszureisen, und seines Gesuchs, seine freiwillige Ausreise anzuordnen, versuchen könnte, sich der Abschiebung zu entziehen.

14.

Ebenfalls am 13. Oktober 2020 erließ die PPA eine mit dem illegalen Aufenthalt von I. L. in Estland begründete und sofort vollziehbare Anordnung gemäß § 72 Abs. 1 und 4 VSS, dass I .L. Estland unverzüglich zu verlassen habe.

15.

Mit Beschluss vom 15. Oktober 2020 genehmigte das Tallinna Halduskohus (Verwaltungsgericht Tallinn, Estland), indem es einem entsprechenden Antrag der PPA stattgab, die Inhaftnahme von I. L. bis zum Zeitpunkt seiner auf den 15. Dezember 2020 als spätestem Zeitpunkt angeordneten Abschiebung. I. L. wurde am 23. November 2020 aus Estland nach Moldau abgeschoben.

16.

Die Entscheidung über die Inhaftnahme wurde mit Beschluss vom 2. Dezember 2020 des Tallinna Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tallinn, Estland), mit dem dieses Gericht über die Klage von I. L. auf Aufhebung der Inhaftnahme und Freilassung entschied, bestätigt.

17.

In dem von I. L. anhängig gemachten Rechtsmittelverfahren, das auf die Aufhebung des letztgenannten Beschlusses und die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inhaftnahme gerichtet war, kommt das vorlegende Gericht erstens zu dem Ergebnis, dass die Inhaftnahme nicht gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 1 VSS mit der bei I. L. bestehenden Fluchtgefahr gerechtfertigt werden könne. Dieses Gericht weist darauf hin, dass die Kriterien für eine solche Gefahr in § 68 dieses Gesetzes abschließend aufgeführt seien und unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls zu prüfen seien. Nach seiner Auffassung waren die Voraussetzungen für die Anwendung der Kriterien im Sinne der Nrn. 1 und 4 dieses Artikels im vorliegenden Fall nicht gegeben. Insoweit habe es zum einen an einer dem Betroffenen im Rahmen einer schriftlichen Rückkehrentscheidung gewährten Frist für die freiwillige Ausreise und zum anderen am Vorliegen einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung zum Zeitpunkt der Genehmigung der Inhaftnahme gefehlt.

18.

Das vorlegende Gericht stellt im Übrigen klar, dass § 68 Nr. 6 VSS auch deshalb nicht anwendbar sei, weil aus den Äußerungen der betroffenen Person in der Anhörung im Rahmen des Verfahrens zum Erlass einer Rückkehrentscheidung nicht automatisch darauf geschlossen werden könne, dass der Betroffene beabsichtige, einer behördlichen Entscheidung nicht nachzukommen, wenn weitere Umstände fehlten, die auf die Gefahr hindeuteten, dass er sich der Abschiebung entziehen könne. Eine Fluchtgefahr ergebe sich auch nicht daraus, dass der Betroffene in der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht geäußert habe, er wolle die noch bei seiner Lebensgefährtin befindlichen Gegenstände zurückholen und das ihm von seinem Arbeitgeber geschuldete Arbeitsentgelt geltend machen.

19.

Zweitens ist es nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts zwar nicht ausgeschlossen, dass die in Rede stehende Situation unter den in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Grund fallen kann. Da jedoch § 15 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 VSS diese Bestimmung nicht wortgleich umgesetzt habe, sei zu beachten, dass ungeachtet der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie die Rechte einer Person nicht unmittelbar auf der Grundlage dieser Richtlinie beschränkt werden könnten.

20.

Deshalb hängt nach der Auffassung des vorlegenden Gerichts die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme von I. L. davon ab, wie § 15 Abs. 2 VSS ausgelegt wird, der, wie das Gericht ausführt, in den Nrn. 1 bis 3 eine von der Wortfolge „insbesondere dann, wenn“ eingeleitete Aufzählung der Gründe für eine Inhaftnahme enthält. Dieses Gericht vertritt die Auffassung, dass es sich ausgehend von diesem Wortlaut dabei um eine Liste nur beispielhaft aufgeführter Gründe handle und dass die Inhaftnahme von I. L. auf die in § 15 Abs. 2 VSS enthaltene allgemeine Voraussetzung gestützt werden könne. Diese Inhaftnahme sei aber auch deshalb gerechtfertigt, weil „die wirksame Vollstreckung der Rückkehrentscheidung“ beeinträchtigt werde. Daneben müsse deren Rechtmäßigkeit an den in Abs. 1 dieses Artikels genannten Grundsätzen gemessen werden.

21.

Insoweit hebt das vorlegende Gericht hervor, dass in Anbetracht der zeitlichen Nähe der Ereignisse in der vorliegenden Rechtssache und des Wesens der von I. L. begangenen Straftat hinreichend Anlass für die Annahme bestanden habe, er könnte erneut versuchen, den mit seiner Lebensgefährtin aufgetretenen Konflikt zu regeln. Deshalb hat nach seiner Ansicht die reale Gefahr bestanden, dass I. L., während er sich auf vor der Abschiebung freiem Fuß befand, eine Straftat begehen würde. Die Aufklärung und die Ahndung dieser Straftat durch eine gerichtliche Entscheidung und die mögliche sich anschließende Strafvollstreckung hätten die Durchführung des Abschiebungsverfahrens auf unbestimmte Zeit aufschieben und damit diesen Prozess erheblich erschweren können. Im Übrigen sei es angesichts der persönlichen und materiellen Situation von I. L. nicht möglich gewesen, mit den in § 10 Abs. 2 VSS vorgesehenen Überwachungsmaßnahmen die wirksame Durchführung der Abschiebung in gleicher Weise sicherzustellen.

22.

Da jedoch § 15 VSS der Umsetzung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dient, ist sich das vorlegende Gericht hinsichtlich seiner Auslegung im Unklaren, da sich nach seiner Auffassung der Gerichtshof noch nicht zu der Frage geäußert hat, ob eine der in dieser Vorschrift aufgezählten Voraussetzungen erfüllt sein muss oder ob das Ziel, die wirksame Durchführung der Abschiebung zu gewährleisten, genügen kann, um eine Inhaftnahme zu rechtfertigen, wenn die reale Gefahr der Begehung einer Straftat durch die betroffene Person dieses Verfahren wesentlich erschweren kann.

23.

Unter diesen Umständen hat das Riigikohus (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und an den Gerichtshof die folgende Vorlagefrage zu richten:

Ist Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten einen Drittstaatsangehörigen in Haft nehmen dürfen, bei dem die reale Gefahr besteht, dass er, während er sich in Freiheit befindet, vor der Abschiebung eine Straftat begeht, deren Aufklärung und Ahndung die Durchführung der Abschiebung wesentlich erschweren kann?

24.

Die estnische und die spanische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen abgegeben. Diese Beteiligten haben auch in der Sitzung vom 17. März 2022 mündlich Stellung genommen.

IV. Würdigung

25.

Mit seiner Vorlagefrage will das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass die Inhaftnahme eines sich illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen mit der realen Gefahr gerechtfertigt werden kann, dass diese Person eine Straftat begeht, die die wirksame Durchführung seiner Abschiebung erschweren kann.

26.

Dieser Frage liegt die Feststellung des vorlegenden Gerichts zugrunde, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation es nicht erlaubt, die Inhaftnahme der betroffenen Person mit dem nach dem VSS vorgesehenen Grund der Fluchtgefahr zu rechtfertigen.

27.

Vor dem Hintergrund der hierzu von der estnischen Regierung ( 4 ) und der spanischen Regierung ( 5 ) abgegebenen schriftlichen Erklärungen weise ich zum einen darauf hin, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, die Würdigung des Sachverhalts und die Auslegung des nationalen Rechts durch das nationale Gericht in Frage zu stellen ( 6 ).

28.

Zum anderen kann auch nicht von der Anwendung von Art. 15 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 die Rede sein, da nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit die Richtlinien nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen können ( 7 ). Eine Richtlinie kann daher als solche nicht gegenüber Einzelnen geltend gemacht werden ( 8 ). Diese Feststellung gilt jedoch unbeschadet des Umstands, dass sämtliche Stellen eines Mitgliedstaats bei der Anwendung des nationalen Rechts dazu angehalten sind, dieses so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und der Zielsetzung der Richtlinien auszulegen, um das mit diesen verfolgte Ziel zu erreichen, so dass diese Behörden Einzelnen eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts entgegenhalten können ( 9 ).

29.

Aus den von mir noch darzulegenden Gründen betreffend die Tragweite von Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/115 müssen die Mitgliedstaaten die Gründe genau bestimmen, die eine Inhaftnahme rechtfertigen, unabhängig davon, ob sie von dieser Richtlinie vorgesehen sind oder nicht.

A.   Zur möglichen erschöpfenden Regelung der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Gründe für eine Inhaftnahme

30.

Ich bin in Übereinstimmung mit allen Beteiligten, die ihre Erklärungen abgegeben haben, der Ansicht, dass sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung folgern lässt, dass die in der Richtlinie 2008/115 genannten Gründe, die die Inhaftnahme einer Person, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, ermöglichen, bespielhaft aufgeführt sind. Zu diesen Gründen gehören die Fluchtgefahr oder der Umstand, dass die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgangen oder behindert wird. Meines Erachtens genügt insoweit die Feststellung, dass die Aufzählung in Art. 15 Abs. 1 Buchst. a und b dieser Richtlinie mit dem Ausdruck „insbesondere“ eingeleitet wird ( 10 ) und dass dieser Ausdruck klar darauf hinweist, dass die Liste dieser Gründe nicht abschließend ist.

31.

Die vom Unionsgesetzgeber getroffene Wahl ist aufgrund der Zielsetzung der Richtlinie 2008/115 gerechtfertigt, die darin besteht, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, die Maßnahmen zu ergreifen, die zur Sicherstellung der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger erforderlich sind ( 11 ).

32.

Diese Beurteilung der Tragweite von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 steht mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33/EU ( 12 ) im Einklang, wonach jeder der von dieser Bestimmung abschließend aufgezählten Gründe, die die Inhaftnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, rechtfertigen können, einem besonderen Bedürfnis entspricht und autonomen Charakter hat ( 13 ).

33.

Dasselbe gilt für Art. 28 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ( 14 ), der einen einzigen Grund für eine Inhaftnahme vorsieht, nämlich jenen der erheblichen Fluchtgefahr der betroffenen Person ( 15 ).

34.

Deshalb steht es den Mitgliedstaaten frei, auch andere Gründe für eine Inhaftnahme als jene zu berücksichtigen, die in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vorgesehen sind, und deren Anwendungskriterien zu bestimmen, vorausgesetzt, sie entsprechen den von dieser Richtlinie verfolgten Zielen.

35.

Insoweit erinnert der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung daran, dass durch diese Richtlinie eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Wahrung der Grundrechte und der Würde der betroffenen Personen eingeführt werden soll ( 16 ).

36.

Ferner hebt der Gerichtshof hervor, dass die Bestimmungen des Kapitels IV dieser Richtlinie jede unter diese Richtlinie fallende Inhaftnahme einer strengen Regelung unterwerfen, damit zum einen die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele und zum anderen die Wahrung der Grundrechte der betroffenen Drittstaatsangehörigen gewährleistet sind ( 17 ).

37.

In diesem Kontext richtet das vorlegende Gericht an den Gerichtshof im Wesentlichen die Frage, ob eine nationale Regelung, die sich darauf beschränkt, zur Rechtfertigung einer Inhaftnahme das Ziel der Gewährleistung der wirksamen Vollziehung einer Rückkehrentscheidung vorzusehen, ohne im Übrigen ein präzises Kriterium festzulegen, mit Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 vereinbar ist.

B.   Zur Bestimmung der Inhaftnahmegründe durch jeden Mitgliedstaat

38.

Da in der Richtlinie 2008/115 die Grenzen, innerhalb der die Mitgliedstaaten den in Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie aufgeführten weitere Inhaftnahmegründe hinzufügen bzw. diese Gründe anpassen können, nicht klar bestimmt sind, muss die Frage des vorlegenden Gerichts auf der Grundlage einer teleologischen Auslegung dieser Bestimmung beantwortet werden, in deren Rahmen dann die anwendbaren Grundsätze und die Bedingungen ihrer Umsetzung entwickelt werden können.

39.

Meines Erachtens müssen sich die Mitgliedstaaten bei der Auswahl von mehreren Grundsätzen leiten lassen. Erstens gibt die bereits am Anfang von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Anforderung, vorrangig auf die am wenigsten intensiven Zwangsmaßnahmen zurückzugreifen, den im 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie formulierten Willen des Unionsgesetzgebers wieder, nämlich, dass die Fälle der Inhaftnahme strikt zu begrenzen sind ( 18 ). Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass „die Reihenfolge des Ablaufs des durch die Richtlinie 2008/115 geschaffenen Rückführungsverfahrens einer Abstufung der zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu treffenden Maßnahmen [entspricht], die von der die Freiheit des Betroffenen am wenigsten beschränkenden Maßnahme – der Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise – bis zu den diese Freiheit am stärksten beschränkenden Maßnahmen – der Inhaftnahme in einer speziellen Einrichtung – reichen, wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei all diesen Schritten gewahrt werden muss“ ( 19 ).

40.

Die Mitgliedstaaten dürfen der betreffenden Person folglich nur dann durch Inhaftnahme die Freiheit entziehen, wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung mittels Abschiebung durch das Verhalten des Betroffenen gefährdet zu werden droht, was für den konkreten Einzelfall zu beurteilen ist ( 20 ) und wobei sie sich auf objektive Kriterien stützen müssen ( 21 ).

41.

Insoweit hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass „die zur Abschiebung angeordnete Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen … nur zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens dient und keinerlei auf Bestrafung gerichtete Zielsetzung verfolgt“ ( 22 ).

42.

Zweitens müssen bei der Inhaftnahme, die einen schwerwiegenden Eingriff in das in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf Freiheit darstellt ( 23 ), strenge Garantien, nämlich Bestehen einer Rechtsgrundlage, Klarheit, Vorhersehbarkeit, Zugänglichkeit und Schutz vor Willkür, eingehalten werden ( 24 ). Die Vereinbarkeit der Durchführung einer freiheitsentziehenden Maßnahme mit diesem Ziel setzt daher u. a. voraus, dass sie frei von Elementen bösen Glaubens oder der Täuschung seitens der Behörden ist ( 25 ).

43.

Zur Fluchtgefahr hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass die objektiven Kriterien, die vom einzelstaatlichen Recht festzulegen sind, damit die betreffenden Behörden das Vorliegen von Fluchtgefahr beurteilen können, die erforderlichen Garantien bereitstellen, damit dieser Beurteilungsspielraum innerhalb bestimmter im Voraus abgesteckter Grenzen ausgeübt wird. Es ist somit unabdingbar, dass diese Kriterien in einem zwingenden, in seiner Anwendung vorhersehbaren Rechtsakt klar festgelegt werden ( 26 ).

44.

Drittens hat der Gerichtshof im Urteil vom 30. November 2009, Kadzoev ( 27 ) ausgeführt, dass die Möglichkeit, eine Person aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu inhaftieren, ihre Grundlage nicht in der Richtlinie 2008/115 finden kann ( 28 ).

45.

Zwar erfolgte diese Auslegung, wie die estnische Regierung hervorgehoben hat, im Rahmen eines besonders gelagerten Falls, der sich auf die Dauer der Inhaftnahme bezog, bei der keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung vorlag und der Inhaftnahmegrund somit entfiel. Jedoch war die Entscheidung der Großen Kammer des Gerichtshofs über den Ausschluss dieser Gründe allgemein formuliert. Sie beruht – im Einklang mit den anderen Bestimmungen der Richtlinie 2008/115, die im Unterschied zu Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie auch den Grund der öffentlichen Ordnung vorsehen – auf der strikten Begrenzung des Rückgriffs auf den Freiheitsentzug einer Person ( 29 ).

46.

Meines Erachtens kann aus dem zwingenden allgemeinen Rahmen, den ich gerade beschrieben habe, bereits der Schluss gezogen werden, dass die Mitgliedstaaten die Bestimmungen von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ergänzen können, indem sie andere gesetzlich genau festgelegte Inhaftnahmegründe vorsehen, die auf objektiven, konkreten, tatsächlichen und gegenwärtigen Grundlagen beruhen ( 30 ).

47.

Nach meiner Auffassung können diese Prüfungsanforderungen im Übrigen aus dem in Art. 15 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie genannten Inhaftnahmegrund, nämlich der Fluchtgefahr im Sinne ihrer Definition in Art. 3 Nr. 7 dieser Richtlinie, und dem in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b genannten Grund abgeleitet werden, nämlich dem Umstand, dass die betroffene Person die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren „umgeh[t]“ oder „behinder[t]“. Aus diesem Wortlaut ist zu schließen, dass diese Gefahren nachgewiesen und festgestellt werden müssen. Damit war es nicht die Zielsetzung, die bloße Absicht der betroffenen Person zu berücksichtigen, wenn greifbare Umstände nicht vorliegen.

48.

Es stünde nämlich nicht mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Einklang, wenn die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen auf der Grundlage unpräziser Gründe beschlossen werden könnte, die nicht auf objektiven, von einem zwingenden und in seiner Anwendung vorhersehbaren Rechtsakt vorher festgelegten Kriterien beruhen.

49.

Ich folge daher der Beurteilung der Kommission, wonach § 15 Abs. 2 Satz 1 VSS keine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Rechtfertigung einer Inhaftnahme darstellt.

50.

Denn diese Bestimmung hat folgenden Wortlaut: „Der Ausländer kann in Haft genommen werden, wenn die Vornahme der in diesem Gesetz vorgesehenen Überwachungsmaßnahmen keine wirksame Vollstreckung der Rückkehrentscheidung gewährleistet und insbesondere, wenn …“ ( 31 ). Bei dieser Bezugnahme auf die fehlende Gewährleistung der wirksamen Vollstreckung der Rückkehrentscheidung fehlt es also an der Bestimmung eines konkreten Inhaftnahmegrunds, wie der Fluchtgefahr oder der fehlenden Kooperation des Ausländers, die nach diesem Satz, nämlich in der Nr. 1 bzw. der Nr. 2, als Beispiele genannt werden. Diese Regelung beschränkt sich darauf, die wesentliche Voraussetzung des Rückgriffs auf eine Maßnahme der Inhaftnahme zu wiederholen, die bereits in § 15 Abs. 1 VSS enthalten ist, nämlich die Unwirksamkeit der Überwachungsmaßnahmen im Hinblick auf die Vollstreckung der Rückkehranordnung.

51.

Im Übrigen kann das Vorliegen einer ernsthaften Gefahr, dass die betreffende Person vor ihrer Abschiebung eine Straftat begeht, nicht die fehlende Präzision dieses allgemeinen Grunds für eine Inhaftnahme ausgleichen.

52.

Zum einen ermangelt dieses Kriterium einer Rechtsgrundlage. Der Auffassung, dass eine fallweise Prüfung genügen kann, um eine Inhaftnahme auf der Grundlage des verfolgten Ziels zu rechtfertigen, wie sie in der mündlichen Verhandlung von der spanischen Regierung zur Stützung des Vorbringens der estnischen Regierung vertreten wurde, kann nicht gefolgt werden, da auf diese Weise Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/115 unter Nichtbeachtung der Anforderung der Rechtssicherheit ein neuer Inhaftnahmegrund hinzugefügt würde ( 32 ).

53.

Zum anderen ist auch der Begriff der „Gefahr der Begehung einer Straftat“ vor der Abschiebung, mit dem die Inhaftnahme gerechtfertigt werden soll, ernsthaft zu hinterfragen.

54.

Meines Erachtens muss darauf hingewiesen werden, dass sich das Vorabentscheidungsersuchen nicht auf eine Straftat bezieht, die von der betreffenden Person begangen wurde oder begangen worden sein soll, sondern auf eine Straftat, die begangen werden könnte. Es geht also darum, ob es wahrscheinlich ist, dass in naher Zukunft mit der Begehung eines Verstoßes zu rechnen ist.

55.

Diese Fallgestaltung unterscheidet sich stark von jenen Fällen, in denen der Gerichtshof – im Übrigen unter Zugrundelegung strenger Anforderungen – während eines laufenden Strafverfahrens zu entscheiden hatte, das sich im Stadium der Untersuchung oder im Stadium der Entscheidung befand ( 33 ), und in denen davon auszugehen war, dass die Straftat bereits begangen worden war. Bei einer dieser Fallgestaltungen geht es nach meiner Beurteilung auch nicht darum, als Kriterium das Vorliegen von Handlungen zur Vorbereitung der Begehung einer Straftat oder von konkreten Hinweisen, dass die betreffende Person eine erhebliche Gefahr für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit Dritter oder für bestimmte Vermögensgegenstände darstellt, heranzuziehen ( 34 ).

56.

Ich weise zum Ersten darauf hin, dass der Grund, auf den sich die estnischen Behörden stützen, nicht verhindern soll, dass sich die betreffende Person der Abschiebemaßnahme entzieht, sondern nur, dass diese Maßnahme durch ein nach der Begehung der Straftat durchgeführtes Strafverfahren verzögert oder erschwert wird ( 35 ). Denn in diesem Fall wird die betroffene Person weiter der Kontrolle durch die zuständigen Behörden unterliegen. Im Übrigen erscheint es mir kaum vorstellbar, wenn auch nicht unmöglich, dass diese Person die Absicht äußert, eine Straftat zu begehen, allein mit dem Ziel, ihre Abschiebung zu behindern. Auch deshalb bin ich der Meinung, dass dem von der spanischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen vorgebrachten Vorschlag, Art. 15 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 heranzuziehen, nicht gefolgt werden kann.

57.

Zum Zweiten gibt es keinen subjektiveren Umstand als eine Gefahr der Überschreitung einer strafbewehrten sozialen Norm, die bei jedem Einzelnen gegeben sein kann, auch wenn eine vorangehende strafrechtliche Verurteilung erfolgte oder vollstreckt wurde. Meines Erachtens ist die Gefahr der Begehung einer Straftat, ja sogar die Gefahr der wiederholten Begehung, anders als z. B. die Gefahr der Flucht oder die Gefahr, sich der Abschiebung zu entziehen, ein kaum erfassbarer Umstand, solange er nicht mit tatsächlichen Umständen untermauert werden kann. Würde man sich, wie von der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen vorgeschlagen, auf die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der Begehung einer Straftat stützen, oder würde man, wie es von der spanischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vertreten worden ist, auf die Schwere der Straftat abstellen, so würde das meines Erachtens in beiden Fällen nicht den Anforderungen der Rechtssicherheit entsprechen und überdies auch nicht funktionieren, wenn diese Beurteilungen nicht auf konkreten Kriterien oder seriösen und übereinstimmenden Indizien beruhen.

58.

Anhand der mündlichen Antworten auf die Fragen des Gerichtshofs zur Bestimmung der Kriterien komme ich zu dem Schluss, dass es schwierig ist, Normen von allgemeiner Tragweite zu bestimmen. Unter diesen Umständen obliegt die Beurteilung eines gefährlichen Zustands oder der ernsthaften Gefahr der Rückfälligkeit im Stadium der Abschiebung meines Erachtens nicht der für die Vollstreckung der Rückführung, sondern der für die Durchführung von Strafverfahren zuständigen Behörde.

59.

Zum Dritten ist sorgsam darauf zu achten, dass der Ausschluss einer auf Gründe der öffentlichen Ordnung gestützten Rechtfertigung nicht umgangen wird, auch wenn diese Beurteilung im Übrigen im Stadium der Entscheidung über die Einräumung einer Frist für die freiwillige Ausreise erfolgt ( 36 ).

60.

Vorliegend war das bei I. L. der Fall. Seine besonders gelagerte Situation wirft auch ein Licht auf die mögliche Vermischung von Umständen, die im Rahmen des Verfahrens zur Inhaftnahme von Bedeutung sind, und Umständen, die im Strafverfahren eine Rolle spielen. Denn es sind die von I. L. gegenüber seiner Lebensgefährtin geäußerten Morddrohungen, die, auch wenn er wegen dieses Tatumstands nicht verurteilt wurde, die Grundlage des Antrags auf Inhaftnahme bildeten. Im Übrigen wurde auch nicht präzise geklärt, ob vom Strafgericht zugunsten des Opfers Maßnahmen zur Verhinderung einer Rückfälligkeit ergriffen wurden.

61.

In Anbetracht dieser Erwägungen bin ich der Auffassung, dass die vom vorlegenden Gericht in Betracht gezogene Auslegung von § 15 Abs. 2 VSS, soweit sie auf der Feststellung einer ernsthaften Gefahr beruht, dass ein Drittstaatsangehöriger vor seiner Abschiebung eine Straftat begeht, nicht mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Einklang steht.

62.

Nach Anhörung der von den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung geäußerten Bedenken bin ich mir ohne Weiteres bewusst, welche praktischen Folgen dieses Ergebnis, das sich auf das Erfordernis der gesetzlichen Festlegung von konkreten Kriterien stützt, haben kann, wenn es in Ermangelung einer Entscheidung eines Strafgerichts, die die Rückführung des betreffenden Drittstaatsangehörigen vorsieht oder eine solche Rückführung bewirkt ( 37 ), zu einer endlosen Wiederholung von Straftaten kommt. Nach meiner Einschätzung müsste es den Mitgliedstaaten möglich sein, diese Schwierigkeiten zu überwinden, indem sie sowohl auf strafrechtliche als auch auf soziale Regelungen zurückgreifen.

63.

Ich könnte mir zum einen vorstellen, dass im Bereich des Strafrechts Maßnahmen zum Schutz des Opfers oder der bedrohten Person den Straftäter abschrecken könnten, insbesondere in Fällen häuslicher Gewalt, gegen die in zahlreichen Mitgliedstaaten mit präventiven Maßnahmen vorgegangen wird.

64.

Zum anderen bieten diese Maßnahmen im Allgemeinen den Vorteil, dass sie mit unterschiedlichen sozialen Begleitmaßnahmen verbunden werden können, die allesamt Alternativen zu einer Inhaftnahme darstellen ( 38 ). Im Übrigen könnte eine solche Gestaltung gewährleisten, dass das Abschiebungsverfahren unter Bedingungen durchgeführt wird, die die Würde der betroffenen Personen achten ( 39 ), u. a. dann, wenn, wie im vorliegenden Fall, diese Person vorbringt, sie benötige ihre persönlichen Gegenstände und müsse rückständige Zahlungen des Arbeitsentgelts geltend machen.

V. Ergebnis

65.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage des Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) zu antworten:

Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er der Möglichkeit entgegensteht, die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen auf die Erforderlichkeit der Gewährleistung der wirksamen Durchführung der Abschiebung zu stützen, wenn keine gesetzliche Grundlage vorhanden ist, die den Anforderungen der Klarheit und Vorhersehbarkeit, der Zugänglichkeit und insbesondere des Schutzes gegen Willkür entspricht und die vorsieht, dass diese Inhaftnahme mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden kann, die Begehung einer Straftat zu verhindern.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

( 3 ) RT I 1998, 98, 1575, im Folgenden: VSS. Im Ausgangsverfahren ist die bis zum 14. Juli 2021 geltende Fassung vom 27. Juni 2020 (RT I, 17.06.2020, 3) anwendbar.

( 4 ) Die estnische Regierung vertritt die Auffassung, dass die Entscheidung des vorlegenden Gerichts hinsichtlich des Nichtvorliegens einer Fluchtgefahr der betreffenden Person nicht gerechtfertigt ist.

( 5 ) Die spanische Regierung hat darauf hingewiesen, dass aus ihrer Sicht der in Art.15 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 angeführte Grund unter den Umständen des vorliegenden Falls wirksam die Inhaftnahme erlaube.

( 6 ) Vgl. Urteil vom 10. Juni 2021, Ultimo Portfolio Investment (Luxembourg) (C‑303/20, EU:C:2021:479, Rn. 25).

( 7 ) Vgl. dagegen zu Art. 16 Abs. 1 Satz 1 dieser Richtlinie Urteil vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn (C‑519/20, im Folgenden: Urteil Landkreis Gifhorn, EU:C:2022:178, Rn. 100).

( 8 ) Vgl. Urteile vom 26. Februar 1986, Marshall (152/84, EU:C:1986:84, Rn. 48), und vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a. (C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 108).

( 9 ) Vgl. Urteile vom 5. Juli 2007, Kofoed (C‑321/05, EU:C:2007:408, Rn. 42 und 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 26. Februar 2019, N Luxembourg 1 u. a. (C‑115/16, C‑118/16, C‑119/16 und C‑299/16, EU:C:2019:134, Rn. 114 und 115).

( 10 ) Zur Übereinstimmung anderer Sprachfassungen mit der estnischen Sprachfassung vgl. u. a. die Fassungen in deutscher, spanischer, italienischer, polnischer und englischer Sprache, die ich prüfen konnte. Vgl. auch Empfehlung (EU) 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch“, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist (ABl. 2017, L 339, S. 83, insbesondere S. 140, Nr. 14.1 Abs. 1 und 2, im Folgenden: Rückkehr-Handbuch), wonach „diese beiden konkreten [von Art. 15 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 erfassten] Fallkonstellationen die wichtigsten in der Praxis auftretenden Szenarien ab[decken] und … als Begründung für die Inhaftnahme zur Vorbereitung und Organisation der Rückkehr und zur Durchführung der Abschiebung herangezogen werden [können]“.

( 11 ) Vgl. Urteil vom 24. Februar 2021, M u. a. (Transfert vers un État membre [Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat]) (C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 28).

( 12 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).

( 13 ) Vgl. Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Accueil des demandeurs de protection internationale [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen]) (C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 168 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 14 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31), weitere Bezeichnung: „Dublin-III-Verordnung“.

( 15 ) Vgl. Urteil vom 13. September 2017, Khir Amayry (C‑60/16, EU:C:2017:675, Rn. 25). Der Gerichtshof wies darauf hin, dass die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Gewährleistung der Überstellungsverfahren eine Person nicht allein deshalb in Haft nehmen können, weil sie dem durch diese Verordnung festgelegten Verfahren unterliegt.

( 16 ) Vgl. insbesondere Urteil Landkreis Gifhorn (Rn. 39) sowie meine Schlussanträge vom 3. März 2022 in der Rechtssache Sofiyska rayonna prokuratura u. a. (Procès d’un accusé éloigné du territoire [Verfahren gegen einen aus dem Hoheitsgebiet abgeschobenen Angeklagten]) (C‑420/20, EU:C:2022:157, Nrn. 80 und 81).

( 17 ) Vgl. Urteil Landkreis Gifhorn (Rn. 40).

( 18 ) Zum Grundsatz, wonach die Inhaftnahme grundsätzlich das letzte Mittel ist, vgl. die Verweise auf entsprechende Fundstellen auf europäischer Ebene in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Landkreis Gifhorn (C‑519/20, EU:C:2021:958, Nr. 34). Vgl. auch Anhang zur Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 74/195 vom 19. Dezember 2018, mit dem Titel „Globaler Pakt für sichere, geordnete und regelmäßige Migration“, weitere Bezeichnung „Pakt von Marrakesch über Migration“, der die Staaten dazu auffordert, „nicht auf die behördliche Inhaftnahme von Migranten als letztes Mittel zurückzugreifen und stattdessen nach alternativen Lösungen zu suchen“ (Ziel 13).

( 19 ) Urteil vom 28. April 2011, El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 41). Vgl. auch Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Accueil des demandeurs de protection internationale [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen]) (C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 248 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 20 ) Vgl. Urteil Landkreis Gifhorn (Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 21 ) Vgl. Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main (C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 38).

( 22 ) Urteil Landkreis Gifhorn (Rn. 38).

( 23 ) Vgl. Urteil Landkreis Gifhorn (Rn. 41).

( 24 ) Vgl. Urteile vom 15. März 2017, Al Chodor (C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 38 und 40), sowie vom 17. September 2020, JZ (Peine d’emprisonnement en cas d’interdiction d’entrée [Freiheitsstrafe im Fall eines Einreiseverbots]) (C‑806/18, EU:C:2020:724, Rn. 41), als jüngstes Urteil, in dem das Urteil des EGMR vom 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien (CE:ECHR:2013:1021JUD004275009, § 125), angeführt wird und auf das der Gerichtshof regelmäßig Bezug nimmt. Zum ständigen Hinweis in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Rückkehrverfahren Drittstaatsangehöriger auf die strikte Regelung der Inhaftnahme zur Sicherstellung der Beachtung ihrer Grundrechte vgl. insbesondere Urteile vom 28. April 2011, El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 42), vom 5. Juni 2014, Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 55), und vom 7. Juni 2016, Affum (C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 62), sowie Urteil Landkreis Gifhorn (Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 25 ) Vgl. insbesondere Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor (C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 39).

( 26 ) Vgl. Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor (C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 41 und 42), das eine Auslegung des Begriffs „Fluchtgefahr“ auf der Grundlage der Definition in dem – für die Festlegung der objektiven Kriterien für das Vorliegen von Fluchtgefahr auf das einzelstaatliche Recht verweisenden – Art. 2 Buchst. n der Verordnung Nr. 604/2013 enthält. Sein Wortlaut entspricht im Wesentlichen jenem der Definition in Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2008/115.

( 27 ) C‑357/09 PPU, EU:C:2009:741.

( 28 ) Vgl. Rn. 70 dieses Urteils.

( 29 ) In der Richtlinie 2008/115 wird in Art. 6 Abs. 2 zur Rückkehrentscheidung, in Art. 7 Abs. 4 zu den Voraussetzungen für eine Verweigerung der Gewährung einer Frist für eine freiwillige Ausreise oder für deren Verkürzung (vgl. Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C-554/13, EU:C:2015:377, Rn. 50 bis 52 sowie Rn. 60 und 62), und in Art. 11 Abs. 2 und 3 zu den Einreiseverboten ausdrücklich auf Erwägungen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit verwiesen.

( 30 ) Vgl. insoweit Rückkehr-Handbuch (S. 92 und 93), in dem die Kriterien angeführt werden, die möglicherweise auf das Bestehen von Fluchtgefahr schließen lassen, und in dem darauf hingewiesen wird, dass die Mitgliedstaaten in den nationalen Rechtsvorschriften bestimmte objektive Umstände als widerlegbare Annahme festlegen können.

( 31 ) Hervorhebung nur hier.

( 32 ) Auch wenn über eine Inhaftnahme von Fall zu Fall und je nach dem Verhalten der betroffenen Person entschieden werden muss, so müssen diese Entscheidungen dennoch anhand objektiver Kriterien getroffen werden. Vgl. Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 274 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie Urteil Landkreis Gifhorn (Rn. 37).

( 33 ) Vgl. Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 50 bis 52 sowie Rn. 60 und 62), zur Auslegung von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 über die Voraussetzungen für eine Verweigerung der Gewährung einer Frist für eine freiwillige Ausreise oder für deren Verkürzung, u. a. das Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Ordnung. Der Gerichtshof entschied, dass der Begriff „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ voraussetzt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Rn. 60). Ferner stellte er klar, dass im Fall eines Drittstaatsangehörigen, der verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht strafbare Handlung begangen zu haben, oder der wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde, die Art und die Schwere dieser Tat sowie der Zeitablauf seit ihrer Begehung zu den insoweit maßgeblichen Kriterien gehören (Rn. 62). Vgl. zur Anforderung des Vorliegens einer solchen Gefahr zur Rechtfertigung des Vollzugs der Abschiebungshaft in einer gewöhnlichen Haftanstalt Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main (C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 45 und 46).

( 34 ) Vgl. als Beispiel zu der im Stadium der Abschiebeentscheidung beurteilten Wahrscheinlichkeit der Begehung eines Terroranschlags Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main (C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 14 und 15).

( 35 ) Eine solche Logik könnte dazu führen, dass eine Inhaftnahme auch mit anderen wiederkehrenden Gründen, z. B. einer Selbstmordgefahr oder jeder anderen voraussehbaren ernsthaften Gefahr für die Gesundheit gerechtfertigt wird, die dazu führen könnte, dass die betroffene Person für eine mehr oder weniger lange Zeit in einem Krankenhaus behandelt wird und ihre Abschiebung auf diese Weise systematisch verzögert würde.

( 36 ) Vgl. Nrn. 44 und 45 der vorliegenden Schlussanträge. Im Übrigen behandelt auch die Kommission im Rückkehr-Handbuch diesen Aspekt der Frage (S. 140 Abs. 3). Sie stellt dort fest, dass „[e]s … nicht Ziel von Artikel 15 [der Richtlinie 2008/115] [ist], die Gesellschaft vor Personen zu schützen, die die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden. Das legitime Ziel des Schutzes der Gesellschaft sollte vielmehr in andere Rechtsvorschriften, insbesondere das Strafrecht, das Verwaltungsstrafrecht und die Rechtsvorschriften über die Beendigung des legalen Aufenthalts aus Gründen der öffentlichen Ordnung aufgenommen werden. … Legt [das] Verhalten [der betreffenden Person in der Vergangenheit] den Schluss nahe, dass die betreffende Person aller Wahrscheinlichkeit rechtswidrig handeln und die Rückkehr/Rückführung umgehen wird, kann dies die Entscheidung rechtfertigen, dass Fluchtgefahr besteht“.

( 37 ) Insoweit weise ich darauf hin, dass nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 die Mitgliedstaaten entscheiden können, diese Richtlinie auf Drittstaatsangehörige nicht anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist. In der mündlichen Verhandlung hat die estnische Regierung den Gerichtshof nicht darauf hingewiesen, dass sie von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hatte.

( 38 ) Auf eine entsprechende schriftliche Frage des Gerichtshofs hat die estnische Regierung jedoch keine Angaben gemacht. Das vorlegende Gericht hat lediglich darauf hingewiesen, dass „[es] [u]nter Berücksichtigung der Umstände, die die Person (Alter, Gesundheitszustand), das Verhalten und die Verhältnisse (Verbindung zu Estland, Fehlen eines festen Wohnsitzes) des Rechtsmittelführers charakterisieren, nicht möglich [war], die erfolgreiche Durchführung der Abschiebung mit anderen Überwachungsmaßnahmen (§ 10 Abs. 2 VSS) ebenso wirksam zu gewährleisten“.

( 39 ) Zu dieser Anforderung vgl. zweiter Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 sowie insbesondere Urteil Landkreis Gifhorn (Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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