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Document 62020CJ0708

    Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 9. Dezember 2021.
    BT gegen Seguros Catalana Occidente und EB.
    Vorabentscheidungsersuchen des County Court at Birkenhead.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Zuständigkeit für Versicherungssachen – Klage auf Ersatz eines Schadens, den ein Einzelner mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat durch einen Unfall in einer in einem anderen Mitgliedstaat gemieteten Wohnung erlitten hat – Klage der geschädigten Person zum einen gegen den Versicherer und zum anderen gegen den versicherten Eigentümer der Wohnung – Anwendbarkeit von Art. 13 Abs. 3 dieser Verordnung.
    Rechtssache C-708/20.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:986

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

    9. Dezember 2021 ( *1 ) ( i )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Zuständigkeit für Versicherungssachen – Klage auf Ersatz eines Schadens, den ein Einzelner mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat durch einen Unfall in einer in einem anderen Mitgliedstaat gemieteten Wohnung erlitten hat – Klage der geschädigten Person zum einen gegen den Versicherer und zum anderen gegen den versicherten Eigentümer der Wohnung – Anwendbarkeit von Art. 13 Abs. 3 dieser Verordnung“

    In der Rechtssache C‑708/20

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom County Court at Birkenhead (Bezirksgericht Birkenhead, Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 30. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren

    BT

    gegen

    Seguros Catalana Occidente,

    EB

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und M. Gavalec,

    Generalanwältin: T. Ćapeta,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von EB,

    der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und U. Bartl als Bevollmächtigte,

    der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Peluso, avvocato dello Stato,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Ladenburger, X. Lewis und S. Noë als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BT auf der einen und Seguros Catalana Occidente und EB auf der anderen Seite über eine Klage von BT auf Ersatz des Schadens, der aufgrund eines Unfalls in einer Liegenschaft von EB entstanden ist.

    Rechtlicher Rahmen

    3

    Die Erwägungsgründe 16, 18 und 34 der Verordnung Nr. 1215/2012 lauten wie folgt:

    „(16)

    Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten sollte durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind. Das Erfordernis der engen Verbindung soll Rechtssicherheit schaffen und verhindern, dass die Gegenpartei vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verklagt werden kann, mit dem sie vernünftigerweise nicht rechnen konnte. Dies ist besonders wichtig bei Rechtsstreitigkeiten, die außervertragliche Schuldverhältnisse infolge der Verletzung der Privatsphäre oder der Persönlichkeitsrechte einschließlich Verleumdung betreffen.

    (18)

    Bei Versicherungs‑, Verbraucher- und Arbeitsverträgen sollte die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden, die für sie günstiger sind als die allgemeine Regelung.

    (34)

    Um die Kontinuität zwischen dem … Übereinkommen [vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen)], der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 [des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)] und dieser Verordnung zu wahren, sollten Übergangsvorschriften vorgesehen werden. Dies gilt auch für die Auslegung des Brüsseler Übereinkommens … und der es ersetzenden Verordnungen durch den Gerichtshof der Europäischen Union.“

    4

    Abschnitt 3 („Zuständigkeit für Versicherungssachen“) des Kapitels II der Verordnung Nr. 1215/2012 enthält deren Art. 10 bis 16.

    5

    Art. 10 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

    „Für Klagen in Versicherungssachen bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 6 und des Artikels 7 Nummer 5 nach diesem Abschnitt.“

    6

    Art. 11 der Verordnung Nr. 1215/2012 lautet:

    „(1)   Ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden:

    a)

    vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat,

    b)

    in einem anderen Mitgliedstaat bei Klagen des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten vor dem Gericht des Ortes, an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat, oder

    c)

    falls es sich um einen Mitversicherer handelt, vor dem Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem der federführende Versicherer verklagt wird.

    (2)   Hat der Versicherer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats keinen Wohnsitz, besitzt er aber in einem Mitgliedstaat eine Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung, so wird er für Streitigkeiten aus ihrem Betrieb so behandelt, wie wenn er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hätte.“

    7

    Art. 13 der Verordnung Nr. 1215/2012 lautet:

    „(1)   Bei der Haftpflichtversicherung kann der Versicherer auch vor das Gericht, bei dem die Klage des Geschädigten gegen den Versicherten anhängig ist, geladen werden, sofern dies nach dem Recht des angerufenen Gerichts zulässig ist.

    (2)   Auf eine Klage, die der Geschädigte unmittelbar gegen den Versicherer erhebt, sind die Artikel 10, 11 und 12 anzuwenden, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist.

    (3)   Sieht das für die unmittelbare Klage maßgebliche Recht die Streitverkündung gegen den Versicherungsnehmer oder den Versicherten vor, so ist dasselbe Gericht auch für diese Personen zuständig.“

    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

    8

    BT, die ihren Wohnsitz im Vereinigten Königreich hat, hatte einen Unfall, als sie sich im Jahr 2018 in Spanien im Urlaub befand. Dieser Unfall ereignete sich in einer Liegenschaft von EB, die ihren Wohnsitz in Irland hat.

    9

    Seguros Catalana Occidente ist der Haftpflichtversicherer von EB für diese Liegenschaft. Sie hat ihren Sitz in Spanien.

    10

    BT trägt vor, gemäß einem Vertrag, den ein Familienangehöriger für sie abgeschlossen habe, habe sich EB bereit erklärt, sie mit ihrer Familie in der fraglichen Liegenschaft ab dem 31. März 2018 zu beherbergen.

    11

    Am 3. April 2018 habe sie sich, so BT, infolge eines Sturzes in einem Patio, der zu der Liegenschaft gehöre, verletzt.

    12

    BT beschloss, gegen EB und Seguros Catalana Occidente eine Klage auf Ersatz des infolge dieses Sturzes erlittenen Schadens zu erheben. Sie macht geltend, dass EB ihr gegenüber eine Verpflichtung aus dem Vertrag und nach Deliktsrecht („duty in contract and tort“) oblegen habe, mit angemessener Sorgfalt und Sachkenntnis vorzugehen, um sicherzustellen, dass die Liegenschaft hinreichend sicher genutzt werden könne. Diese Pflicht habe EB verletzt. EB hätte einen Handlauf oder ein Warnschild in unmittelbarer Nähe der Stufe anbringen oder sie auf die eine oder andere Weise kennzeichnen müssen.

    13

    Das Verfahren wurde am 14. April 2019 beim County Court Money Claims Centre (England & Wales) (Zentralstelle für Geldforderungen der Bezirksgerichte [England & Wales], Vereinigtes Königreich) eingeleitet. Sodann erging eine Zustellung an die Beklagten, d. h. Seguros Catalana Occidente und EB, und im Anschluss daran wurde das Verfahren an den County Court at Birkenhead (Bezirksgericht Birkenhead, Vereinigtes Königreich) abgegeben.

    14

    BT macht geltend, dass die Gerichte von England und Wales nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. b und Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 gegenüber Seguros Catalana Occidente international zuständig seien.

    15

    In Bezug auf EB trägt BT vor, ein Kläger könne nach Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 einen im Ausland ansässigen Versicherten im Rahmen einer Klage gegen einen im Ausland niedergelassenen Versicherer in Anspruch nehmen. Ein „Streit“ zwischen dem Versicherer und dem Versicherten bezüglich der Gültigkeit oder der Wirkung des Versicherungsvertrags sei insoweit nicht erforderlich. Die einzige Voraussetzung, die nach Art. 13 Abs. 3 erfüllt sein müsse, bestehe darin, dass das für die unmittelbare Klage gegen den Versicherer maßgebliche Recht, im vorliegenden Fall das spanische Recht, die Streitverkündung gegen den Versicherten vorsehe.

    16

    Seguros Catalana Occidente hat die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts nicht bestritten und ihre Verteidigung eingereicht.

    17

    Am 29. Januar 2020 machte EB geltend, die Gerichte von England und Wales seien nicht dafür zuständig, auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 über die von BT gegen sie geltend gemachten Ansprüche zu entscheiden.

    18

    EB ist der Ansicht, dass diese Bestimmung nur auf Ansprüche in Versicherungssachen anwendbar sei. Die Ansprüche von BT richteten sich indessen auf den Ersatz des Schadens, einschließlich der Folgeschäden, der ihr durch eine angebliche Fahrlässigkeit bei der Bereitstellung einer Ferienunterkunft entstanden sei. Es handele sich nicht um Ansprüche in einer Versicherungssache, und sie seien auch nicht allein deshalb als solche anzusehen, weil sie gleichzeitig mit den unmittelbaren Ansprüchen gegen den Versicherer geltend gemacht würden.

    19

    Bevor diese Einwände von EB gegen die Zuständigkeit der Gerichte von England und Wales erörtert werden konnten, präzisierte Seguros Catalana Occidente ihren Standpunkt in der Sache und machte geltend, dass die in dem Versicherungsvertrag vorgesehenen Begrenzungen und Beschränkungen bedeuteten, dass dieser sich nicht auf die Nutzung der Liegenschaft durch EB als entgeltliche Ferienunterkunft für Dritte erstrecke. Seguros Catalana Occidente machte daher geltend, dass sie nicht verpflichtet sei, EB in Bezug auf den fraglichen Unfall schadlos zu halten, und beantragte sodann, den von BT gegen sie gestellten Klageantrag abzuweisen. Das vorlegende Gericht setzte das Verfahren über den Antrag von Seguros Catalana Occidente auf Abweisung des Klageantrags von BT bis zur Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen aus.

    20

    Das vorlegende Gericht meint, dass es zunächst die Einwände von EB gegen seine internationale Zuständigkeit prüfen müsse. Es weist darauf hin, dass Seguros Catalana Occidente in Bezug auf diesen Aspekt nicht an dem Verfahren beteiligt sei.

    21

    Unter diesen Umständen hat der County Court at Birkenhead (Bezirksgericht Birkenhead) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Setzt Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 voraus, dass der Anspruch, auf den sich der Geschädigte bei der Erhebung einer Klage gegen den Versicherungsnehmer/Versicherten stützt, eine Versicherungssache betrifft?

    2.

    Falls die erste Frage zu bejahen ist, reicht dann die Tatsache, dass die Klage, die der Geschädigte gegen den Versicherungsnehmer/Versicherten erheben will, auf demselben Sachverhalt beruht und im Rahmen desselben Verfahrens erhoben wird wie die unmittelbare Klage gegen den Versicherer, für den Schluss aus, dass es sich bei der Klage des Geschädigten um eine Klage in Versicherungssachen handelt, obwohl der Anspruch im Verhältnis zwischen dem Geschädigten und dem Versicherungsnehmer/Versicherten keine Versicherung betrifft?

    3.

    Darüber hinaus und hilfsweise für den Fall, dass die erste Frage zu bejahen ist, reicht dann der Umstand, dass ein Streit zwischen dem Versicherer und dem Geschädigten in Bezug auf die Gültigkeit oder die Wirkung des Versicherungsvertrags besteht, für die Annahme aus, dass die Klage des Geschädigten eine Versicherungssache ist?

    4.

    Falls die erste Frage zu verneinen ist, genügt es dann, dass die Streitverkündung gegenüber dem Versicherungsnehmer/Versicherten im Fall einer unmittelbaren Klage gegen den Versicherer nach dem auf die unmittelbare Klage gegen den Versicherer anwendbaren Recht zulässig ist?

    Zu den Vorlagefragen

    Zu den ersten drei Fragen

    22

    Mit seinen ersten drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass im Fall einer von dem Geschädigten gemäß Art. 13 Abs. 2 unmittelbar gegen einen Versicherer erhobenen Klage das Gericht des Mitgliedstaats, in dem der Geschädigte seinen Wohnsitz hat, sich auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 3 auch für die Entscheidung über eine von dem Geschädigten gleichzeitig erhobene Schadensersatzklage gegen den in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Versicherungsnehmer oder Versicherten, dem der Versicherer nicht den Streit erklärt hat, für zuständig erklären kann.

    23

    Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass, da die Verordnung Nr. 1215/2012 gemäß ihrem 34. Erwägungsgrund die Verordnung Nr. 44/2001 aufhebt und ersetzt, die ihrerseits das Brüsseler Übereinkommen ersetzt hat, die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung der Bestimmungen der letztgenannten Rechtsinstrumente nach ständiger Rechtsprechung auch für die Verordnung Nr. 1215/2012 gilt, soweit die betreffenden Bestimmungen als „gleichwertig“ angesehen werden können (Urteil vom 9. Juli 2020, Verein für Konsumenteninformation, C‑343/19, EU:C:2020:534, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies ist bei Art. 10 Abs. 3 des Brüsseler Übereinkommens und Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 einerseits und Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 andererseits der Fall.

    24

    Bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts muss der Gerichtshof nach seiner ständigen Rechtsprechung nicht nur ihren Wortlaut, sondern auch ihren Zusammenhang und die Ziele berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 24. März 2021, MCP, C‑603/20 PPU, EU:C:2021:231, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    25

    Was erstens den Wortlaut von Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 in Verbindung mit Abs. 2 dieses Artikels betrifft, so heißt es dort, dass, wenn das für die unmittelbare Klage des Geschädigten gegen den Versicherer maßgebliche Recht die Streitverkündung gegen den Versicherungsnehmer oder den Versicherten vorsieht, dasselbe Gericht auch für diese Personen zuständig ist. Es ist festzustellen, dass dieser Wortlaut für sich genommen keine Antwort auf die ersten drei in der vorliegenden Rechtssache gestellten Fragen gibt.

    26

    Was zweitens die allgemeine Systematik der Verordnung Nr. 1215/2012 betrifft, ist festzustellen, dass Art. 13 Abs. 3 dieser Verordnung zu Abschnitt 3 ihres Kapitels II gehört. Mit diesem Abschnitt, der nach seiner Überschrift und Art. 10 der Verordnung die Zuständigkeit für „Versicherungssachen“ regelt, wird ein eigenständiges System der Verteilung gerichtlicher Zuständigkeiten in Versicherungssachen errichtet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juli 2017, MMA IARD, C‑340/16, EU:C:2017:576, Rn. 27).

    27

    Hierzu ist festzustellen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Tragweite des Begriffs „Versicherungssachen“ die Natur der unmittelbaren Klage des Geschädigten gegen den Versicherer nach nationalem Recht für die Anwendung der Vorschriften von Kapitel II Abschnitt 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 unerheblich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2007, FBTO Schadeverzekeringen, C‑463/06, EU:C:2007:792, Rn. 30).

    28

    In diesem Zusammenhang tragen EB, die deutsche Regierung und die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen vor, dass eine Schadensersatzklage eines Geschädigten gegen einen Versicherten nicht unter Art. 13 Abs. 3 dieser Verordnung fallen könne, da sie sich nicht aus einem „Versicherungsverhältnis“ ergebe, sondern im Wesentlichen deliktische Ansprüche betreffe.

    29

    Wie aus Art. 10 der Verordnung Nr. 1215/2012 hervorgeht, erlaubt der autonome Begriff „Versicherungssachen“ eine Unterscheidung zwischen der in Kapitel II Abschnitt 3 dieser Verordnung vorgesehenen Zuständigkeit für diese Sachen und den in Abschnitt 2 dieses Kapitels vorgesehenen besonderen Zuständigkeiten für Verträge oder unerlaubte Handlungen betreffende Sachen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2007, FBTO Schadeverzekeringen, C‑463/06, EU:C:2007:792, Rn. 30).

    30

    Um die Anwendung der in diesem Abschnitt 3 vorgesehenen besonderen Zuständigkeitsregeln zu rechtfertigen, muss die Klage, mit der das Gericht befasst ist, daher zwangsläufig eine Frage nach Rechten und Pflichten aus einem Versicherungsverhältnis zwischen den Parteien dieser Klage aufwerfen.

    31

    Diese Auslegung des Begriffs „Versicherungssachen“ impliziert, dass nicht allein deshalb davon ausgegangen werden kann, dass ein Anspruch, den der Geschädigte gegen den Versicherungsnehmer oder den Versicherten geltend macht, einen Anspruch in einer Versicherungssache darstellt, weil er und der unmittelbar gegen den Versicherer geltend gemachte Anspruch auf denselben Sachverhalt zurückgehen oder zwischen dem Versicherer und dem Geschädigten Streit über die Gültigkeit oder die Wirkung des Versicherungsvertrags besteht.

    32

    Was drittens die teleologische Auslegung betrifft, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aus dem 18. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 hervorgeht, dass Klagen in Versicherungssachen durch ein gewisses Ungleichgewicht zwischen den Parteien gekennzeichnet sind, das durch die Bestimmungen von Kapitel II Abschnitt 3 dieser Verordnung ausgeglichen werden soll, indem sie Zuständigkeitsvorschriften vorsehen, die für die schwächere Partei günstiger sind als die allgemeinen Regeln (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Juli 2017, MMA IARD, C‑340/16, EU:C:2017:576, Rn. 28, und vom 27. Februar 2020, Balta, C‑803/18, EU:C:2020:123, Rn. 27 und 44).

    33

    Dieses Ungleichgewicht liegt im Allgemeinen nicht vor, wenn die Klage nicht den Versicherer betrifft, gegenüber dem sowohl der Versicherte als auch der Geschädigte als die schwächere Partei angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Mai 2005, GIE Réunion européenne u. a., C‑77/04, EU:C:2005:327, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 17. September 2009, Vorarlberger Gebietskrankenkasse, C‑347/08, EU:C:2009:561, Rn. 44).

    34

    Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1215/2012, wie sich aus S. 32 des Berichts von P. Jenard zum Brüsseler Übereinkommen (ABl. 1979, C 59, S. 1) ergibt, dem Versicherer das Recht einräumen soll, dem Versicherten als dritter Partei in dem Verfahren zwischen ihm und dem Geschädigten den Streit zu verkünden, um ihn vor betrügerischen Machenschaften zu schützen und um zu verhindern, dass durch verschiedene Gerichte Urteile ergehen, die miteinander nicht vereinbar sind. Daraus folgt, dass sich das angerufene Gericht, wenn der Geschädigte unmittelbar gegen einen Versicherer eine Schadensersatzklage erhoben hat und dieser dem betreffenden Versicherten nicht den Streit verkündet hat, nicht auf diese Bestimmung stützen kann, um sich gegenüber dem Versicherten für zuständig zu erklären.

    35

    Zum anderen trifft es zwar zu, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1215/2012 im Einklang mit dem 16. Erwägungsgrund dieser Verordnung unter Berücksichtigung des Ziels auszulegen sind, eine geordnete Rechtspflege zu erleichtern, und dass es die Gefahr von zwei parallelen Verfahren vermeiden könnte, wenn der Geschädigte den Versicherten als dritte Partei des Verfahrens vor dem angerufenen Gericht in Anspruch nimmt.

    36

    Es ist jedoch hervorzuheben, dass es auf eine Umgehung der Vorschriften der Verordnung Nr. 1215/2012 über die Zuständigkeit im Bereich der Haftung aus unerlaubter Handlung, wie sie in Kapitel II Abschnitt 2 dieser Verordnung festgelegt sind, hinausliefe, wenn es dem Geschädigten gestattet würde, den Versicherten auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 in Anspruch zu nehmen. Jeder Geschädigte könnte dann nämlich auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 2 dieser Verordnung Klage gegen den Versicherer erheben, um in den Genuss der günstigeren Bestimmungen ihrer Art. 10 bis 12 zu kommen und in der Folge den Versicherten als dritte Partei dieses Verfahren auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 3 der Verordnung in Anspruch zu nehmen.

    37

    Jedenfalls ist das Ziel einer geordneten Rechtspflege im Allgemeinen hinreichend erreicht, da der Versicherte den Versicherer nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 vor das Gericht laden lassen kann, vor dem der Geschädigte gegen den Versicherten klagt, sofern dies nach dem Recht des Mitgliedstaats dieses Gerichts zulässig ist.

    38

    Nach alledem ist auf die ersten drei Fragen zu antworten, dass Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass im Fall einer von dem Geschädigten gemäß Art. 13 Abs. 2 unmittelbar gegen einen Versicherer erhobenen Klage das Gericht des Mitgliedstaats, in dem der Geschädigte seinen Wohnsitz hat, sich nicht auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 3 auch für die Entscheidung über eine von dem Geschädigten gleichzeitig erhobene Schadensersatzklage gegen den in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Versicherungsnehmer oder Versicherten, dem der Versicherer nicht den Streit erklärt hat, für zuständig erklären kann.

    Zur vierten Frage

    39

    Angesichts der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils gegebenen Antwort ist die vierte Frage nicht zu beantworten.

    Kosten

    40

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 13 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass im Fall einer von dem Geschädigten gemäß Art. 13 Abs. 2 unmittelbar gegen einen Versicherer erhobenen Klage das Gericht des Mitgliedstaats, in dem der Geschädigte seinen Wohnsitz hat, sich nicht auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 3 auch für die Entscheidung über eine von dem Geschädigten gleichzeitig erhobene Schadensersatzklage gegen den in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Versicherungsnehmer oder Versicherten, dem der Versicherer nicht den Streit erklärt hat, für zuständig erklären kann.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

    ( i ) Die vorliegende Sprachfassung ist in Rn. 32 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.

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