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Document 62020CJ0462

Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 28. Oktober 2021.
Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione (ASGI) u. a. gegen Presidenza del Consiglio dei Ministri – Dipartimento per le politiche della famiglia und Ministero dell'Economia e delle Finanze.
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Milano.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/109/EG – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Art. 11 – Richtlinie 2011/98/EU – Rechte von Arbeitnehmern aus Drittländern, die Inhaber einer kombinierten Erlaubnis sind – Art. 12 – Richtlinie 2009/50/EG – Rechte von Drittstaatsangehörigen, die Inhaber einer ‚Blauen Karte EU‘ sind – Art. 14 – Richtlinie 2011/95/EU – Rechte von Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz – Art. 29 – Gleichbehandlung – Soziale Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Art. 3 – Familienleistungen – Sozialhilfe – Sozialschutz – Zugang zu Waren und Dienstleistungen – Regelung eines Mitgliedstaats, die Drittstaatsangehörige vom Anspruch auf die ‚Familienkarte‘ ausschließt.
Rechtssache C-462/20.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:894

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

28. Oktober 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/109/EG – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Art. 11 – Richtlinie 2011/98/EU – Rechte von Arbeitnehmern aus Drittländern, die Inhaber einer kombinierten Erlaubnis sind – Art. 12 – Richtlinie 2009/50/EG – Rechte von Drittstaatsangehörigen, die Inhaber einer ‚Blauen Karte EU‘ sind – Art. 14 – Richtlinie 2011/95/EU – Rechte von Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz – Art. 29 – Gleichbehandlung – Soziale Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Art. 3 – Familienleistungen – Sozialhilfe – Sozialschutz – Zugang zu Waren und Dienstleistungen – Regelung eines Mitgliedstaats, die Drittstaatsangehörige vom Anspruch auf die ‚Familienkarte‘ ausschließt“

In der Rechtssache C‑462/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Milano (erstinstanzliches Gericht Mailand, Italien) mit Entscheidung vom 14. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 25. September 2020, in dem Verfahren

Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione (ASGI),

Avvocati per niente onlus (APN),

Associazione NAGA – Organizzazione di volontariato per l’Assistenza Socio-Sanitaria e per i Diritti di Cittadini Stranieri, Rom e Sinti

gegen

Presidenza del Consiglio dei Ministri – Dipartimento per le politiche della famiglia,

Ministero dell’Economia e delle Finanze

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zehnten Kammer sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter) und M. Ilešič,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione (ASGI), der Avvocati per niente onlus (APN) und der Associazone NAGA – Organizzazione di volontariato per l’Assistenza Socio-Sanitaria e per i Diritti di Cittadini Stranieri, Rom e Sinti, vertreten durch A. Guariso, L. Neri und I. Traina, avvocati,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und D. Martin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. d und f der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44), Art. 12 Abs. 1 Buchst. e und g der Richtlinie 2011/98/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über ein einheitliches Verfahren zur Beantragung einer kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten und zu arbeiten, sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsarbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten (ABl. 2011, L 343, S. 1), Art. 14 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung (ABl. 2009, L 155, S. 17) und Art. 29 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione (ASGI), den Avvocati per niente onlus (APN) und der Associazione NAGA – Organizzazione di volontariato per l’Assistenza Socio-Sanitaria e per i Diritti di Cittadini Stranieri, Rom e Sinti auf der einen und der Presidenza del Consiglio dei Ministri – Dipartimento per le politiche della famiglia (Präsidium des Ministerrats – Abteilung für Familienpolitik, Italien) sowie dem Ministero dell’Economia e delle Finanze (Ministerium für Wirtschaft und Finanzen, Italien) auf der anderen Seite wegen des Ausschlusses Drittstaatsangehöriger vom Anspruch auf eine Karte, die Familien gewährt wird und ihnen Preisnachlässe oder Tarifermäßigungen beim Erwerb von Waren und Dienstleistungen verschafft (im Folgenden: Familienkarte).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2003/109

3

Art. 11 („Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2003/109 bestimmt:

„(1)   Langfristig Aufenthaltsberechtigte werden auf folgenden Gebieten wie eigene Staatsangehörige behandelt:

d)

soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz im Sinn des nationalen Rechts;

f)

Zugang zu Waren und Dienstleistungen sowie zur Lieferung von Waren und Erbringung von Dienstleistungen für die Öffentlichkeit und zu Verfahren für den Erhalt von Wohnraum;

(2)   In Bezug auf Absatz 1 Buchstaben b), d), e), f) und g) kann der betreffende Mitgliedstaat die Gleichbehandlung auf die Fälle beschränken, in denen der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des langfristig Aufenthaltsberechtigten oder seiner Familienangehörigen, für die er Leistungen beansprucht, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats liegt.

…“

Richtlinie 2009/50

4

Art. 14 („Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2009/50 sieht in Abs. 1 vor:

„Die Inhaber einer Blauen Karte EU werden von dem Mitgliedstaat, der die Blaue Karte ausstellt, auf folgenden Gebieten wie eigene Staatsangehörige behandelt:

e)

einzelstaatliches Recht der Zweige der sozialen Sicherheit nach der Definition in der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 [des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1971, L 149, S. 2)]. Die Sonderbestimmungen im Anhang der Verordnung (EG) Nr. 859/2003 [des Rates vom14. Mai 2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen (ABl. 2003, L 124, S. 1)] gelten entsprechend;

g)

Zugang zu Waren und Dienstleistungen sowie zur Lieferung von Waren und Erbringung von Dienstleistungen für die Öffentlichkeit, einschließlich der Verfahren zur Erlangung von Wohnraum sowie der Informations- und Beratungsdienste der Arbeitsämter;

…“

Richtlinie 2011/95

5

Art. 29 („Sozialhilfeleistungen“) Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt hat, die notwendige Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats erhalten.“

Richtlinie 2011/98

6

Art. 12 („Recht auf Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2011/98 sieht vor:

„(1)   Drittstaatsarbeitnehmer im Sinne des Artikels 3 Absatz 1 Buchstaben b und c haben ein Recht auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhalten, in Bezug auf

e)

Zweige der sozialen Sicherheit nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, Berichtigung im ABl. 2004, L 200, S. 1)];

g)

den Zugang zu Waren und Dienstleistungen sowie zur Lieferung von Waren und Erbringung von Dienstleistungen für die Öffentlichkeit einschließlich Verfahren für die Erlangung von Wohnraum gemäß einzelstaatlichem Recht, unbeschadet der Vertragsfreiheit gemäß dem Unionsrecht und dem einzelstaatlichen Recht;

(2)   Die Mitgliedstaaten können die Gleichbehandlung wie folgt einschränken:

d)

hinsichtlich Absatz 1 Buchstabe g können sie

i)

dessen Anwendung auf diejenigen Drittstaatsarbeitnehmer beschränken, die einen Arbeitsplatz haben;

…“

Verordnung Nr. 883/2004

7

Art. 1 („Definitionen“) der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

z)

‚Familienleistungen‘ alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I.“

8

Art. 3 („Sachlicher Geltungsbereich“) der Verordnung sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:

j) Familienleistungen.“

Italienisches Recht

9

Art. 1 Abs. 391 der Legge n. 208/2015 – Disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato (legge di stabilità 2016) (Gesetz Nr. 208/2015 mit Bestimmungen zur Festlegung des jährlichen und mehrjährigen Staatshaushalts [Stabilitätsgesetz 2016]) vom 28. Dezember 2015 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 302 vom 30. Dezember 2015) in der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Fassung bestimmt:

„Ab dem Jahr 2016 wird die Familienkarte eingeführt, die für Familien bestimmt ist, die aus italienischen Staatsangehörigen oder Angehörigen von Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit regelmäßigem Wohnsitz im italienischen Hoheitsgebiet bestehen, die mit mindestens drei Kindern zusammenleben, die nicht älter als 26 Jahre sind. Die Karte wird Familien, die sie beantragen, nach den Kriterien und Modalitäten ausgestellt, die mit Dekret des Präsidenten des Ministerrats oder des Ministers für Familie und Behinderung, das innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten dieser Bestimmung zu erlassen ist, im Einvernehmen mit dem Minister für Wirtschaft und Finanzen festgelegt werden. Die Karte ermöglicht den Zugang zu Preisnachlässen beim Erwerb von Waren oder Dienstleistungen oder zu Tarifermäßigungen, die von Personen des öffentlichen oder des privaten Rechts gewährt werden, die an der Initiative teilnehmen. Die an der Initiative teilnehmenden Personen, die größere Preisnachlässe oder Ermäßigungen als die marktüblichen gewähren, können ihre Teilnahme an der Initiative zu Werbezwecken hervorheben.“

10

Art. 1 Abs. 391 dieses Gesetzes wurde durch das Decreto della Presidenza del Consiglio dei Ministri – Dipartimento per le politiche della famiglia – Rilascio della Carta della famiglia (Dekret des Präsidiums des Ministerrats – Abteilung für Familienpolitik über die Ausstellung der Familienkarte) vom 27. Juni 2019 (GURI Nr. 203 vom 30. August 2019) umgesetzt. Das Dekret sieht vor, dass die betroffenen Personen die Familienkarte von der Abteilung für Familienpolitik des Präsidiums des Ministerrats auf entsprechenden Antrag erhalten. Der Antrag ist über eine Website einzureichen; der Antragsteller hat darin zu erklären, dass er die gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen, insbesondere die italienische Staatsangehörigkeit oder Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Union mit regelmäßigem Wohnsitz in Italien, erfüllt. Öffentliche oder private Anbieter von Waren und Dienstleistungen (zum Beispiel Händler) können freiwillig an der Initiative teilnehmen. Hierzu können sie mit der Abteilung für Familienpolitik des Präsidiums des Ministerrats eine Vereinbarung treffen. Sie müssen sich verpflichten, für bestimmte, von den Anbietern selbst ausgewählte Waren oder Dienstleistungen einen Nachlass von mindestens 5 % auf den Endpreis zugunsten der Karteninhaber zu garantieren. Die Namen der teilnehmenden Anbieter werden auf der Website bekannt gegeben.

11

Mit Art. 90a des Decreto-legge n. 18/2020 – Misure di potenziamento del Servizio sanitario nazionale e di sostegno economico per famiglie, lavoratori e imprese connesse all’emergenza epidemiologica da COVID-19 (Gesetzesdekret Nr. 18/2020 über Maßnahmen zur Stärkung des nationalen Gesundheitsdienstes und zur wirtschaftlichen Unterstützung für Familien, Arbeitnehmer und Unternehmen im Zusammenhang mit der durch Covid-19 ausgelösten epidemiologischen Krise) vom 17. März 2020 (GURI Nr. 70 vom 17. März 2020), umgesetzt durch die Legge di conversione n. 27/2020 (Umsetzungsgesetz Nr. 27/2020) vom 24. April 2020 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 110 vom 29. April 2020), wurde die für den Anspruch auf die Familienkarte erforderliche Anzahl der unterhaltsberechtigten Kinder auf ein Kind reduziert.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12

Mit Schreiben vom 31. März 2020 beantragten die ASGI und zwei weitere, im Ausgangsverfahren nicht klagende Vereinigungen bei der Abteilung für Familienpolitik des Präsidiums des Ministerrats, die Regelung über die Familienkarte unangewendet zu lassen, soweit diese Drittstaatsangehörigen mit einer durch das Unionsrecht geschützten Rechtsposition nicht ausgestellt werden könne.

13

Da dieser Antrag unbeantwortet blieb, leiteten die Klägerinnen beim Tribunale di Milano (erstinstanzliches Gericht Mailand, Italien), dem vorlegenden Gericht, das besondere Verfahren für Diskriminierungsstreitigkeiten ein, damit diese Regelung insoweit aufgehoben und ihre Änderung angeordnet werde.

14

Die Klägerinnen machen vor diesem Gericht u. a. geltend, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 zuwiderlaufe, da die Familienkarte unter die Begriffe „soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz“ im Sinne dieser Bestimmung falle. Diese Regelung verstoße auch gegen Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98 in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z und Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004, da die Familienkarte unter den Begriff der „Familienleistungen“ falle, wie sie in der Verordnung Nr. 883/2004 definiert seien. Schließlich verstoße diese Regelung gegen Art. 14 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2009/50 in Verbindung mit denselben Bestimmungen der Verordnung Nr. 883/2004 und mit Art. 29 der Richtlinie 2011/95, da die Familienkarte unter den dort verwendeten Begriff „Sozialhilfe“ falle.

15

Im Übrigen verstieße die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung auch dann gegen das Unionsrecht, wenn die Ausstellung der Familienkarte als Dienstleistung im Sinne von Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2003/109, Art. 12 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2011/98 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2009/50 anzusehen wäre.

16

Die Beklagten des Ausgangsverfahrens beantragen, die Klage abzuweisen, und machen in Bezug auf die Richtlinie 2003/109 geltend, dass die Familienkarte nicht unter die Begriffe „Sozialhilfe“ oder „Sozialschutz“ falle, sondern eine Maßnahme zur Unterstützung der Familie und zur Verringerung der Kosten von Dienstleistungen für die Familie darstelle. Die Ausstellung dieser Karte erfolge unabhängig vom Einkommen der Empfänger und die Karte werde nicht von der öffentlichen Verwaltung finanziert, da die Preisnachlässe von den die Vereinbarung treffenden Anbietern von Waren und Dienstleistungen gewährt würden. Aus ähnlichen Gründen verstoße die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung weder gegen die Richtlinie 2011/98, da es sich bei der Familienkarte nicht um Familienleistungen handele, noch gegen die Richtlinie 2009/50 oder die Richtlinie 2011/95.

17

Das vorlegende Gericht führt aus, dass für den Ausgangsrechtsstreit in erster Linie entscheidend sei, ob die Familienkarte unter einen der Begriffe „soziale Sicherheit“, „Sozialhilfe“, „Sozialschutz“, „Zugang zu Waren und Dienstleistungen“ oder „Familienleistung“ im Sinne der genannten Richtlinien und der Verordnung Nr. 883/2004 falle.

18

Zwar gehe der geringere Gewinn, der sich aus den Ermäßigungen ergebe, in deren Genuss Familien gelangten, die die Familienkarte erhielten, zu Lasten der öffentlichen oder privaten Anbieter von Waren und Dienstleistungen, die beschlössen, die Vereinbarung mit der Abteilung für Familienpolitik des Präsidiums des Ministerrats zu treffen, doch sei es diese Abteilung, die auf Kosten des öffentlichen Haushalts tätig sei, die die Anträge auf Ausstellung der Familienkarte bearbeite, die Ausstellung vornehme und die Namen der Personen des öffentlichen oder des privaten Rechts, die eine solche Vereinbarung träfen, bekannt mache.

19

Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die von den Parteien aufgeworfenen Rechtsfragen unter Vornahme einer autonomen Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden seien.

20

Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Milano (erstinstanzliches Gericht Mailand) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Steht Art. 11 Abs. 1 Buchst. d oder f der Richtlinie 2003/109 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegen, die vorsieht, dass die Regierung eines Mitgliedstaats nur Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats und der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter Ausschluss langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger ein Dokument ausstellt, das zu einem Preisnachlass bei der Lieferung von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen durch Personen des öffentlichen und des privaten Rechts berechtigt, die mit der Regierung des betreffenden Mitgliedstaats eine Vereinbarung getroffen haben?

2.

Steht Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98, der auf Art. 1 Buchst. z und Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 Bezug nimmt, oder Art. 12 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2011/98 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegen, die vorsieht, dass die Regierung eines Mitgliedstaats nur Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats und der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter Ausschluss der Drittstaatsangehörigen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b und c der Richtlinie 2011/98 ein Dokument ausstellt, das zu einem Preisnachlass bei der Lieferung von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen durch Personen des öffentlichen und des privaten Rechts berechtigt, die mit der Regierung des betreffenden Mitgliedstaats eine Vereinbarung getroffen haben?

3.

Steht Art. 14 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2009/50, der auf Art. 1 Buchst. z und Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 Bezug nimmt, oder Art. 14 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2009/50 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegen, die vorsieht, dass die Regierung eines Mitgliedstaats nur Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats und der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter Ausschluss der Drittstaatsangehörigen, die Inhaber einer „Blauen Karte EU“ im Sinne der Richtlinie 2009/50 sind, ein Dokument ausstellt, das zu einem Preisnachlass bei der Lieferung von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen durch Personen des öffentlichen und des privaten Rechts berechtigt, die mit der Regierung des betreffenden Mitgliedstaats eine Vereinbarung getroffen haben?

4.

Steht Art. 29 der Richtlinie 2011/95 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegen, die vorsieht, dass die Regierung eines Mitgliedstaats nur Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats und der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter Ausschluss der Drittstaatsangehörigen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ein Dokument ausstellt, das zu einem Preisnachlass bei der Lieferung von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen durch Personen des öffentlichen und des privaten Rechts berechtigt, die mit der Regierung des betreffenden Mitgliedstaats eine Vereinbarung getroffen haben?

Zu den Vorlagefragen

21

Mit seinen vier Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 11 Abs. 1 Buchst. d oder Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2003/109, Art. 12 Abs. 1 Buchst. e oder Art. 12 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2011/98, Art. 14 Abs. 1 Buchst. e oder Art. 14 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2009/50 und Art. 29 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, durch die Drittstaatsangehörige im Sinne dieser Richtlinien vom Anspruch auf eine Familienkarte ausgeschlossen werden, die Zugang zu Preisnachlässen oder zu Tarifermäßigungen beim Erwerb von Waren und Dienstleistungen bietet, die von Personen des öffentlichen und des privaten Rechts geliefert bzw. erbracht werden, die mit der Regierung dieses Mitgliedstaats eine Vereinbarung getroffen haben.

22

Um als Erstes zu ermitteln, ob dieser Ausschluss in Bezug auf die von diesen Richtlinien erfassten Leistungen gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt, ist zu prüfen, ob die Familienkarte unter eine dieser Leistungen fällt.

23

Hierzu ist zunächst festzustellen, dass es sich bei den Leistungen nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2009/50 um Leistungen handelt, die Teil verschiedener Zweige der sozialen Sicherheit im Sinne ihrer unionsrechtlichen Definition, und zwar durch die Verordnung Nr. 883/2004, sind.

24

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hängt die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 erfasst sind, und solchen, die von ihm ausgeschlossen sind, im Wesentlichen von den grundlegenden Merkmalen der jeweiligen Leistung ab, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird (Urteile vom 21. Juni 2017, Martinez Silva, C‑449/16, EU:C:2017:485, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass eine Leistung dann als eine Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden kann, wenn sie den Begünstigten unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird und sie sich auf eines der in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (Urteile vom 21. Juni 2017, Martinez Silva, C‑449/16, EU:C:2017:485, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

So sind Leistungen, die unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit ohne Weiteres solchen Familien gewährt werden, die bestimmte objektive Kriterien insbesondere hinsichtlich ihrer Größe, ihres Einkommens und ihrer Kapitalrücklagen erfüllen, und die dem Ausgleich von Familienlasten dienen, als Leistungen der sozialen Sicherheit anzusehen (Urteile vom 21. Juni 2017, Martinez Silva, C‑449/16, EU:C:2017:485, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 37).

27

Zu der Frage, ob eine bestimmte Leistung unter Familienleistungen nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 fällt, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 1 Buchst. z dieser Verordnung der Ausdruck „Familienleistungen“ alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I dieser Verordnung, bezeichnet. Die Familienleistungen sollen also dazu dienen, Arbeitnehmer mit Familienlasten dadurch sozial zu unterstützen, dass sich die Allgemeinheit an diesen Lasten beteiligt. Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass der Ausdruck „Ausgleich von Familienlasten“ dahin auszulegen ist, dass er u. a. einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget erfassen soll, der die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Oktober 2013, Lachheb, C‑177/12, EU:C:2013:689, Rn. 34 und 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, vom 21. Juni 2017, Martinez Silva, C‑449/16, EU:C:2017:485, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 38).

28

Zwar ist die Familienkarte, wie die Klägerinnen geltend machen, für Familien bestimmt und wurde vom italienischen Gesetzgeber als „Maßnahme zur Unterstützung für kinderreiche Familien“ eingestuft und werden ihre Ausstellung, der Abschluss der Vereinbarungen mit interessierten Anbietern von Waren oder Dienstleistungen und die Veröffentlichung der Namen der Anbieter vom Staat gewährleistet und finanziert, doch besteht ihr Zweck offenbar darin, von diesen Anbietern, die die entsprechenden Kosten tragen und die freiwillig an dieser Aktion zugunsten der Familien teilnehmen, Zugang zu Preisnachlässen oder Tarifermäßigungen zu erhalten. Daher stellt die Familienkarte, wie die italienische Regierung und die Europäische Kommission geltend machen, keine Leistung dar, die ihrer Art nach ein öffentlicher Beitrag ist, der die Allgemeinheit an den Familienlasten beteiligt, weshalb sie nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fällt.

29

Daraus folgt, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2009/50 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen.

30

Sodann verweist die Richtlinie 2003/109 im Unterschied zu den Richtlinien 2011/98 und 2009/50 für die Feststellung, ob eine bestimmte Sozialleistung unter die von ihr erfassten Leistungen fällt, auf das nationale Recht, denn Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 sieht vor, dass langfristig Aufenthaltsberechtigte auf den Gebieten soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz „im Sinn des nationalen Rechts“ wie eigene Staatsangehörige behandelt werden.

31

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es, wenn der Unionsgesetzgeber, wie in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109, ausdrücklich auf das nationale Recht verweist, nicht Sache des Gerichtshofs ist, den betreffenden Begriffen eine autonome und einheitliche unionsrechtliche Definition zu geben. Das Fehlen einer autonomen und einheitlichen unionsrechtlichen Definition der Begriffe „soziale Sicherheit“, „Sozialhilfe“ und „Sozialschutz“ im Sinne dieser Richtlinie und die Verweisung auf das nationale Recht bedeuten jedoch nicht, dass die Mitgliedstaaten die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie bei der Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Gleichbehandlungsgrundsatzes beeinträchtigen dürften (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj, C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 77 und 78).

32

Im vorliegenden Fall ist allerdings nicht ersichtlich, dass der Ausschluss langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger nach der Richtlinie 2003/109 vom Anspruch auf die Familienkarte geeignet wäre, die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie in Bezug auf die Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit, der Sozialhilfe und des Sozialschutzes zu beeinträchtigen. Soweit diese Karte nach den italienischen Rechtsvorschriften nicht unter die Begriffe „soziale Sicherheit“, „Sozialhilfe“ oder „Sozialschutz“ fällt, was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird, steht Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 folglich einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegen.

33

Was die Richtlinie 2011/95 betrifft, sieht ihr Art. 29 vor, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt hat, die notwendige Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats erhalten. So muss nach dieser Richtlinie ein Mitgliedstaat Personen, denen er internationalen Schutz gewährt hat, Sozialleistungen in gleicher Höhe gewähren wie seinen eigenen Staatsangehörigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2018, Ayubi, C‑713/17, EU:C:2018:929, Rn. 25).

34

Zwar enthält die Richtlinie 2011/95 keine näheren Angaben zu den Leistungen, die die Empfänger der Sozialhilfe nach Art. 29 erhalten sollten, doch bezieht sich der Begriff der „Sozialhilfeleistungen“ nach ständiger Rechtsprechung auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt (vgl. entsprechend Urteile vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 63, und vom 15. September 2015, Alimanovic, C‑67/14, EU:C:2015:597, Rn. 44).

35

Im vorliegenden Fall wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob die Familienkarte in Anbetracht dieser Definition eine Sozialhilfeleistung im Sinne von Art. 29 der Richtlinie 2011/95 darstellt.

36

Was als Zweites die Frage betrifft, ob der Ausschluss von Drittstaatsangehörigen im Sinne der Richtlinien 2003/109, 2011/98 und 2009/50 vom Anspruch auf die Familienkarte mit der Gleichbehandlung nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2003/109, Art. 12 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2011/98 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2009/50 vereinbar ist, ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmungen die Gleichbehandlung der Drittstaatsangehörigen im Sinne dieser Richtlinien und der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats in Bezug auf den Zugang zu Waren und Dienstleistungen sowie die Lieferung von Waren und die Erbringung von Dienstleistungen für die Öffentlichkeit vorsehen.

37

Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts geht hervor, dass der Zweck der Familienkarte darin besteht, den Zugang zu Waren und Dienstleistungen sowie die Lieferung von Waren und die Erbringung von Dienstleistungen für die Öffentlichkeit zu ermöglichen, und dabei einen Preisnachlass oder eine Tarifermäßigung zu gewähren.

38

Daher stellt der Ausschluss der von diesen Richtlinien erfassten Drittstaatsangehörigen vom Anspruch auf die Familienkarte, dadurch, dass ihnen der Zugang zu Waren und Dienstleistungen sowie deren Lieferung bzw. Erbringung unter den gleichen Bedingungen, die für italienische Staatsbürger gelten, versagt wird, eine Ungleichbehandlung dar, die gegen Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2003/109, Art. 12 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2011/98 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2009/50 verstößt.

39

Hierzu ist festzustellen, dass aus dem Akteninhalt, und insbesondere aus den schriftlichen Erklärungen der italienischen Regierung, nicht hervorgeht, dass diese eindeutig zum Ausdruck gebracht hätte, dass sie die Ausnahmen nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 und Art. 12 Abs. 2 Buchst. d Ziff. i der Richtlinie 2011/98 in Anspruch nehmen wolle (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2017, Martinez Silva, C‑449/16, EU:C:2017:485, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass

Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2009/50 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die unter diese Richtlinien fallende Drittstaatsangehörige vom Anspruch auf eine Familien gewährte Karte ausschließt, die Zugang zu Preisnachlässen und zu Tarifermäßigungen beim Erwerb von Waren und Dienstleistungen bietet, die von Personen des öffentlichen oder des privaten Rechts geliefert bzw. erbracht werden, die mit der Regierung dieses Mitgliedstaats eine Vereinbarung getroffen haben;

Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass auch er einer solchen Regelung nicht entgegensteht, sofern diese Karte nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats nicht unter die Begriffe „soziale Sicherheit“, „Sozialhilfe“ oder „Sozialschutz“ fällt;

Art. 29 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er einer solchen Regelung entgegensteht, wenn die Familienkarte unter ein von öffentlichen Stellen eingerichtetes Hilfssystem fällt, das ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt;

Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2003/109, Art. 12 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2011/98 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2009/50 dahin auszulegen sind, dass sie einer solchen Regelung entgegenstehen.

Kosten

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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über ein einheitliches Verfahren zur Beantragung einer kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten und zu arbeiten, sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsarbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten und Art. 14 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die unter diese Richtlinien fallende Drittstaatsangehörige vom Anspruch auf eine Familien gewährte Karte ausschließt, die Zugang zu Preisnachlässen und zu Tarifermäßigungen beim Erwerb von Waren und Dienstleistungen bietet, die von Personen des öffentlichen oder des privaten Rechts geliefert bzw. erbracht werden, die mit der Regierung dieses Mitgliedstaats eine Vereinbarung getroffen haben.

 

Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ist dahin auszulegen, dass er einer solchen Regelung ebenfalls nicht entgegensteht, sofern diese Karte nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats nicht unter die Begriffe „soziale Sicherheit“, „Sozialhilfe“ oder „Sozialschutz“ fällt.

 

Art. 29 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass er einer solchen Regelung entgegensteht, wenn die Familienkarte unter ein von öffentlichen Stellen eingerichtetes Hilfssystem fällt, das ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt.

 

Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2003/109, Art. 12 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2011/98 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2009/50 sind dahin auszulegen, dass sie einer solchen Regelung entgegenstehen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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