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Document 62020CJ0420

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 15. September 2022.
Strafverfahren gegen HN.
Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski rayonen sad.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – Art. 6 – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 8 – Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung – Mit einem fünfjährigen Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung – Voraussetzungen für die Durchführung einer Verhandlung in Abwesenheit der betroffenen Person – Im nationalen Recht vorgesehene Pflicht zur Anwesenheit in der Verhandlung.
Rechtssache C-420/20.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:679

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

15. September 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – Art. 6 – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 8 – Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung – Mit einem fünfjährigen Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung – Voraussetzungen für die Durchführung einer Verhandlung in Abwesenheit der betroffenen Person – Im nationalen Recht vorgesehene Pflicht zur Anwesenheit in der Verhandlung“

In der Rechtssache C‑420/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski Rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 7. August 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 9. September 2020, in dem Strafverfahren gegen

HN,

Beteiligte:

Sofiyska rayonna prokuratura,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin I. Ziemele sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: M. Longar, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Dezember 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von HN, vertreten durch N. Nikolova, Advokat,

der deutschen Regierung, vertreten durch F. Halabi, M. Hellmann, R. Kanitz und J. Möller als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. März 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen (ABl. 2016, L 65, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen HN, der wegen Urkundenfälschung verfolgt wird.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2008/115/EG

3

Art. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des [Unions‑] und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

4

Art. 11 Abs. 1 und 3 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,

a)

falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder

b)

falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde.

In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.

(3)   Die Mitgliedstaaten prüfen die Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots, wenn Drittstaatsangehörige, gegen die ein Einreiseverbot nach Absatz 1 Unterabsatz 2 verhängt wurde, nachweisen können, dass sie das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter uneingeschränkter Einhaltung einer Rückkehrentscheidung verlassen haben.

Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen aus humanitären Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen oder ein Einreiseverbot aufheben oder aussetzen.

Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen oder bestimmten Kategorien von Fällen ein Einreiseverbot aus sonstigen Gründen aufheben oder aussetzen.“

Richtlinie 2016/343

5

In den Erwägungsgründen 9, 10, 35, 36 und 48 der Richtlinie 2016/343 heißt es:

„(9)

Mit dieser Richtlinie soll das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden, indem gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden.

(10)

Durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften zum Schutz der Verfahrensrechte Verdächtiger und beschuldigter Personen zielt diese Richtlinie darauf ab, das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege zu stärken und auf diese Weise die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern. Auch können durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften Hindernisse für die Freizügigkeit der Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beseitigt werden.

(35)

Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen auf Anwesenheit in der Verhandlung gilt nicht absolut. Unter bestimmten Voraussetzungen sollten Verdächtige und beschuldigte Personen ausdrücklich oder stillschweigend, aber unmissverständlich erklären können, auf dieses Recht zu verzichten.

(36)

Unter bestimmten Umständen sollte es möglich sein, dass eine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person selbst dann ergeht, wenn die betreffende Person bei der Verhandlung nicht anwesend ist. Dies kann der Fall sein, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person, obgleich er bzw. sie rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde, der Verhandlung fernbleibt. Die Unterrichtung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person über die Verhandlung sollte dahin gehend verstanden werden, dass diese Person persönlich geladen wird oder auf anderem Wege amtlich über den Termin und Ort der Verhandlung in einer Weise unterrichtet wird, dass sie von der Verhandlung Kenntnis nehmen kann. Die Unterrichtung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person über die Folgen des Nichterscheinens sollte insbesondere dahin gehend verstanden werden, dass diese Person darüber unterrichtet wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie der Verhandlung fernbleibt.

(48)

Da mit dieser Richtlinie Mindestvorschriften festgelegt werden, sollten die Mitgliedstaaten die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten können, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Das durch die Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau sollte nie unter den Standards der Charta [der Grundrechte der Europäischen Union] oder der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten], wie sie vom Gerichtshof der Europäischen Union und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt werden, liegen.“

6

Art. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Mindestvorschriften für

a)

bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung in Strafverfahren,

b)

das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren.“

7

Art. 8 Abs. 1 bis 4 dieser Richtlinie lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

(2)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern

a)

der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder

b)

der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.

(3)   Eine Entscheidung, die im Einklang mit Absatz 2 getroffen wurde, kann gegen die betreffende Person vollstreckt werden.

(4)   Wenn Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Absatz 2 dieses Artikels genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann. In einem solchen Fall stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie über die Entscheidung unterrichtet werden, insbesondere wenn sie festgenommen werden, auch über die Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, gemäß Artikel 9 eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet werden.“

Bulgarisches Recht

8

Art. 93 des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: NK) lautet:

„Im vorliegenden Gesetzbuch werden die untenstehenden Begriffe und Ausdrücke im folgenden Sinn verwendet:

7)

‚Schwere Straftat‘: eine Straftat, für die das Gesetz eine Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren, eine lebenslange Freiheitsstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit der Umwandlung [in eine befristete Freiheitsstrafe] vorsieht.

…“

9

Art. 308 NK sieht vor:

„(1)   Wer eine unechte amtliche Urkunde herstellt oder eine amtliche Urkunde verfälscht, um diese zu benutzen, wird wegen Urkundenfälschung mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft.

(2)   Handelt es sich bei dem Objekt der Tat nach Abs. 1 … um bulgarische oder ausländische Ausweispapiere …, beträgt die Freiheitsstrafe bis zu acht Jahren.“

10

Art. 316 NK bestimmt:

„Die Strafe, die in den vorangehenden Artikeln dieses Kapitels vorgesehen ist, gilt auch für die Person, die bewusst eine unechte oder gefälschte Urkunde, eine Urkunde mit falschen Angaben oder eine Urkunde im Sinne des vorstehenden Artikels verwendet, wenn sie für die eigentliche Herstellung der Urkunde nicht strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann.“

11

Art. 269 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: NPK) lautet:

„(1)   In Strafsachen, in denen dem Angeklagten eine schwere Straftat vorgeworfen wird, ist dessen Anwesenheit in der Verhandlung zwingend.

(2)   Das Gericht kann anordnen, dass der Angeklagte auch in Rechtssachen erscheint, in denen seine Anwesenheit nicht zwingend vorgeschrieben ist, wenn dies für die Ermittlung der objektiven Wahrheit erforderlich ist.

(3)   Sofern es der Ermittlung der objektiven Wahrheit nicht entgegensteht, kann die Sache in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt werden, wenn

1.

sich dieser nicht an der von ihm angegebenen Adresse befindet oder diese Adresse geändert hat, ohne die zuständige Behörde darüber zu unterrichten;

2.

sein Aufenthaltsort in Bulgarien nicht bekannt ist und auch nach gründlicher Nachforschung nicht zu ermitteln ist;

3.

er ordnungsgemäß geladen wurde, keine triftigen Gründe für sein Nichterscheinen angegeben hat und das in Art. 247b Abs. 1 geregelte Verfahren eingehalten wurde;

4.

er sich außerhalb des Hoheitsgebiets der Republik Bulgarien aufhält und

a)

sein Wohnsitz unbekannt ist;

b)

er aus anderen Gründen nicht vorgeladen werden kann;

c)

er ordnungsgemäß geladen wurde und keine triftigen Gründe für sein Nichterscheinen angegeben hat.“

12

Art. 10 Abs. 1 des Zakon za chuzhdentsite v Republika Bulgaria (Gesetz über die Ausländer in der Republik Bulgarien) (DV Nr. 153 vom 23. Dezember 1998) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung lautet:

„Die Ausstellung eines Visums oder die Einreise eines Ausländers ist zu verweigern, wenn

7.

dieser die Ein- oder Durchreise unter Verwendung unechter oder gefälschter Urkunden bzw. eines unechten oder gefälschten Visums oder Aufenthaltstitels versucht hat;

…“

13

Art. 41 dieses Gesetzes bestimmt:

„Die Rückführung ist anzuordnen, wenn

5.

festgestellt wird, dass der Ausländer über die Landesgrenze rechtmäßig eingereist ist, aber an einer dafür nicht zugelassenen Übergangsstelle oder mit einem unechten oder gefälschten Pass oder Passersatz auszureisen versucht.“

14

Art. 42h Abs. 1 dieses Gesetzes lautet:

„Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für das Staatsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird angeordnet, wenn:

1.

die Voraussetzungen nach Art. 10 Abs. 1 vorliegen;

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15

HN, ein albanischer Staatsangehöriger, wird verdächtigt, am 11. März 2020 einen unechten Pass und einen unechten Personalausweis, die den Anschein erweckten, als seien sie von den zuständigen griechischen Behörden ausgestellt worden, bei der Grenzkontrollstelle des Flughafens Sofia (Bulgarien) vorgelegt zu haben, um einen Flug nach Bristol (Vereinigtes Königreich) zu nehmen.

16

Nachdem er am selben Tag von Polizeikräften festgenommen worden war, wurde bei der Sofiyska rayonna prokuratura (Rayonstaatsanwaltschaft Sofia, Bulgarien) ein Ermittlungsverfahren wegen Urkundenfälschung eingeleitet.

17

Am darauffolgenden Tag erließ der Leiter des Granichno politseysko upravlenie – Sofia (Grenzpolizeibehörde Sofia, Bulgarien) gegen HN eine mit einem fünfjährigen Einreiseverbot ab dem 12. März 2020 bis zum 11. März 2025 einhergehende Rückkehrentscheidung.

18

Am 23. April 2020 wurde HN mit Verfügung der Ermittlungsbehörde förmlich der Urkundenfälschung beschuldigt. Diese Verfügung wurde HN und seiner Verteidigerin am 27. April 2020 vorgelegt. Bei dieser Gelegenheit wurde HN über seine Rechte unterrichtet, insbesondere über jene, die sich aus Art. 269 NPK ableiten und die Durchführung einer Verhandlung in Abwesenheit betreffen, sowie über die Folgen einer solchen Verhandlung.

19

In der am selben Tag erfolgten Vernehmung erklärte HN, dass er die ihm erläuterten Rechte verstehe, dass er in der Verhandlung nicht erscheinen wolle, weil ihm dies unnötige Kosten aufbürde, und dass er seiner Verteidigerin vollumfänglich vertraue, ihn bei einer Verhandlung in Abwesenheit zu vertreten.

20

Am 27. Mai 2020 ging bei dem vorlegenden Gericht, dem Sofiyski Rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien), die Anklageschrift gegen HN wegen der Straftat gemäß Art. 316 NK in Verbindung mit Art. 308 NK ein.

21

Mit Verfügung vom 24. Juni 2020 beraumte dieses Gericht einen Termin zur Vorverhandlung am 23. Juli 2020 an und der Berichterstatter ordnete an, HN über das bulgarische Innenministerium eine Übersetzung der Verfügung und der Anklageschrift in die albanische Sprache zuzustellen. In der Verfügung wurde auch darauf hingewiesen, dass die Anwesenheit des Angeklagten in der Gerichtsverhandlung gemäß Art. 269 Abs. 1 NPK zwingend sei und das Verfahren nur unter den Voraussetzungen des Art. 269 Abs. 3 NPK in dessen Abwesenheit durchgeführt werden könne.

22

Am 16. Juli 2020 wurde dem vorlegenden Gericht vom Innenministerium mitgeteilt, dass HN am 16. Juni 2020 zwecks Vollstreckung der gegen ihn von der Grenzpolizeiverwaltung verhängten Rückführungsentscheidung an die Staatsgrenze der Republik Bulgarien gebracht worden sei, was eine ordnungsgemäße Unterrichtung von HN über das gegen ihn eingeleitete Gerichtsverfahren verhindert habe.

23

Vor diesem Hintergrund hat der Sofiyski Rayonen sad (Rayongericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist eine Einschränkung des in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 vorgesehenen Rechts der beschuldigten Personen, in der sie betreffenden Verhandlung persönlich anwesend zu sein, durch nationale Rechtsvorschriften, wonach gegen förmlich beschuldigte Ausländer ein verwaltungsrechtliches Einreise- und Aufenthaltsverbot für das Land, in dem das Strafverfahren durchgeführt wird, verhängt werden darf, zulässig?

2.

Falls die erste Frage bejaht werden sollte, wären die Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 Buchst. а und/oder b der Richtlinie 2016/343 für die Durchführung der Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten ausländischen Person erfüllt, wenn diese ordnungsgemäß über die Strafsache und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde und von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde, ihrem persönlichen Erscheinen aber ein im Verwaltungsverfahren erlassenes Einreise- und Aufenthaltsverbot für das Land, in dem das Strafverfahren durchgeführt wird, entgegensteht?

3.

Ist es zulässig, das Recht der beschuldigten Person gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein, durch nationale Rechtsvorschriften in eine verfahrensrechtliche Pflicht dieser Person umzuwandeln? Konkret: Gewährleisten die Mitgliedstaaten auf diese Weise ein höheres Schutzniveau im Sinne des 48. Erwägungsgrundes oder ist vielmehr ein solches Vorgehen mit dem 35. Erwägungsgrund der Richtlinie, in dem es heißt, dass das Recht des Beschuldigten nicht absolut gilt und darauf verzichtet werden kann, unvereinbar?

4.

Ist ein Vorabverzicht des Beschuldigten auf das Recht gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343, in der ihn betreffenden Verhandlung persönlich anwesend zu sein, der im Lauf des Ermittlungsverfahrens unmissverständlich erklärt wurde, zulässig, sofern der Beschuldigte über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde?

Zu den Vorlagefragen

Zur dritten Frage

24

Mit seiner dritten Frage, die als Erstes zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die Verdächtige und beschuldigte Personen verpflichtet, in Strafverfahren in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

Zulässigkeit

25

Die Kommission bezweifelt die Zulässigkeit der dritten Frage, die in der vorliegenden Rechtssache von eher theoretischer Bedeutung sei, da es der beschuldigten Person nicht möglich sei, sich in den Mitgliedstaat zu begeben, in dem die Verhandlung stattfinde.

26

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 28. April 2022, Caruter, C‑642/20, EU:C:2022:308, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28

Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass das bulgarische Recht eine Pflicht zur Anwesenheit in der Verhandlung für Personen vorsieht, die einer schweren Straftat beschuldigt werden, wie sie HN im vorliegenden Fall vorgeworfen wird, und dass HN daher nach bulgarischem Recht dieser Verpflichtung unterliegt.

29

In diesem Zusammenhang reicht der Umstand, dass sich HN außerhalb des bulgarischen Hoheitsgebiets befindet und nicht einreisen darf, nicht für die Feststellung, dass die dritte Frage, die sich auf die Vereinbarkeit einer solchen Verpflichtung mit dem Unionsrecht bezieht, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, und genügt somit nicht, um die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit dieser Frage zu widerlegen.

30

Folglich ist die dritte Frage zulässig.

Zur Beantwortung der Frage

31

Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

32

Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht klar hervor, dass die Mitgliedstaaten Verdächtigen und beschuldigten Personen ermöglichen müssen, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

33

Dagegen enthält diese Bestimmung keine Angaben zu der Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, vorzusehen, dass eine solche Anwesenheit zwingend ist.

34

Außerdem deuten andere Bestimmungen dieser Richtlinie darauf hin, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, eine Verhandlung in Abwesenheit der betroffenen Person durchzuführen.

35

So können die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

36

Der Kontext, in den diese Voraussetzungen eingebettet sind, wird im 35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 erläutert, der den in deren Art. 8 Abs. 2 verfolgten Grundgedanken erkennen lässt, wonach bestimmte eindeutige Verhaltensweisen, die den Willen der Verdächtigen oder beschuldigten Personen zum Ausdruck bringen, auf ihr Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung zu verzichten, die Durchführung einer Verhandlung in ihrer Abwesenheit ermöglichen sollen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 35).

37

Diese Bestimmung erlaubt es den Mitgliedstaaten somit unter bestimmten Voraussetzungen zwar vorzusehen, dass eine Verhandlung in Strafsachen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durchgeführt werden kann, doch verpflichtet sie die Mitgliedstaaten keineswegs dazu, eine solche Möglichkeit in ihrem nationalen Recht vorzusehen.

38

Ebenso heißt es in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Abs. 2 dieses Artikels genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann, vorsehen können, dass gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann.

39

Aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie, insbesondere aus der Verwendung des Wortes „wenn“, geht somit hervor, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit einräumen wollte, die Durchführung einer Verhandlung in Abwesenheit der betroffenen Person vorzusehen.

40

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 8 der Richtlinie 2016/343 lediglich das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen auf Anwesenheit in der sie betreffenden Verhandlung sowie Ausnahmen von diesem Recht vorsieht und begrenzt, ohne jedoch den Mitgliedstaaten vorzuschreiben oder ihnen zu verbieten, eine Verpflichtung für alle Verdächtigen oder beschuldigten Personen vorzusehen, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

41

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie nach ihrem Art. 1 zum Gegenstand hat, gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung in Strafverfahren sowie das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren festzulegen, nicht aber, eine abschließende Harmonisierung des Strafverfahrens vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Angesichts des begrenzten Umfangs der mit dieser Richtlinie vorgenommenen Harmonisierung und des Umstands, dass diese nicht die Frage regelt, ob die Mitgliedstaaten das Erscheinen der Verdächtigen oder beschuldigten Personen in der sie betreffenden Verhandlung verlangen können, ist eine solche Frage daher allein Sache des nationalen Rechts.

43

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die Verdächtige und beschuldigte Personen verpflichtet, in Strafverfahren in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

Zur vierten Frage

44

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die vierte Frage für den Fall der Beantwortung der dritten Frage dahin gestellt wird, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Pflicht zur Anwesenheit in der Verhandlung vorsieht.

45

Aufgrund der Antwort auf die dritte Frage ist die vierte Frage daher nicht zu beantworten.

Zur ersten und zur zweiten Frage

46

Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die es zulässt, eine Verhandlung in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durchzuführen, obwohl sich diese Person außerhalb dieses Mitgliedstaats befindet und es ihr aufgrund eines von den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats gegen sie verhängten Einreiseverbots unmöglich ist, in dessen Hoheitsgebiet einzureisen.

47

Wie in den Rn. 32 und 40 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sieht Art. 8 der Richtlinie 2016/343 die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten vor, Verdächtigen und beschuldigten Personen die Anwesenheit in der sie betreffenden Verhandlung zu ermöglichen, und begrenzt diese Verpflichtungen.

48

Nach Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern diese Person rechtzeitig über die Verhandlung und die Folgen des Nichterscheinens zu dieser Verhandlung unterrichtet wurde oder, nachdem sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von ihr oder vom Staat bestellt wurde.

49

Freilich betrifft keine der in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen ausdrücklich die Möglichkeit für die betreffende Person, sich physisch in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem die sie betreffende Verhandlung stattfindet, zu begeben, um dort anwesend zu sein.

50

Wie in den Rn. 35 und 36 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sollen die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen die Ausübung dieser den Mitgliedstaaten eingeräumten Befugnis jedoch auf Fälle beschränken, in denen davon auszugehen ist, dass die betreffende Person freiwillig und unmissverständlich darauf verzichtet hat, in der Verhandlung anwesend zu sein.

51

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 der Unterrichtung der betroffenen Person besondere Bedeutung beimisst, da er die Möglichkeit, eine Verhandlung in Abwesenheit anzuberaumen, ausdrücklich davon abhängig macht, dass diese Person über die Verhandlung unterrichtet wurde.

52

So erläutert der 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343, dass die Unterrichtung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person über die Verhandlung dahin verstanden werden sollte, dass diese Person persönlich geladen wird oder auf anderem Wege amtlich über den Termin und Ort der Verhandlung in einer Weise unterrichtet wird, dass sie von der Verhandlung Kenntnis nehmen kann.

53

Außerdem besteht das Ziel dieser Richtlinie, wie es in deren Erwägungsgründen 9 und 10 heißt, darin, das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren zu stärken, um das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege zu erhöhen und damit die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern (Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 36).

54

Insoweit stellt das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren ein wesentliches Element des Rechts auf ein faires Verfahren dar, wie es in Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie in Art. 48 der Grundrechtecharta verankert ist, die, wie in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) klargestellt wird, Art. 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Mai 2016, Dworzecki, C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346, Rn. 42, und vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 51).

55

Der Gerichtshof hat daher darauf zu achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie von Art. 48 der Grundrechtecharta ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Schutzniveau zurückbleibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 101).

56

Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geht aber hervor, dass das Erscheinen eines Angeklagten im Interesse eines fairen und gerechten Strafverfahrens von entscheidender Bedeutung ist und dass die Verpflichtung, dem Angeklagten das Recht zu gewährleisten, im Gerichtssaal anwesend zu sein, eines der wesentlichen Merkmale von Art. 6 EMRK darstellt (EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006, Hermi/Italien, CE:ECHR:2006:1018JUD001811402, § 58).

57

Nach dieser Rechtsprechung hindert weder der Wortlaut noch der Grundgedanke von Art. 6 EMRK eine Person daran, freiwillig auf die Garantien eines fairen Verfahrens ausdrücklich oder stillschweigend zu verzichten. Allerdings muss der Verzicht auf das Recht auf Teilnahme an der Verhandlung eindeutig festgestellt worden sein und mit Mindestgarantien einhergehen, die dem schwerwiegenden Charakter dieses Verzichts Rechnung tragen (EGMR, Urteile vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien, CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 86, sowie vom 13. März 2018, Vilches Coronado u. a./Spanien, CE:ECHR:2018:0313JUD005551714, § 36).

58

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Voraussetzungen, von denen Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 die Ausübung der den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung eingeräumten Befugnis, die Durchführung einer Verhandlung in Abwesenheit der betroffenen Person vorzusehen, abhängig macht, insbesondere die Voraussetzung der Unterrichtung dieser Person, die Ausübung dieser Befugnis auf Fälle beschränken sollen, in denen diese Person tatsächlich die Möglichkeit hatte, in der Verhandlung anwesend zu sein, und freiwillig und unmissverständlich darauf verzichtet hat.

59

Ein Mitgliedstaat, der sich darauf beschränken würde, die betroffene Person, der er die Einreise in sein Hoheitsgebiet verbietet, über die sie betreffende Verhandlung zu unterrichten, ohne unter solchen Umständen Maßnahmen vorzusehen, die es erlauben würden, ihre Einreise trotz dieses Verbots zu gestatten, würde dieser Person die tatsächliche Möglichkeit entziehen, ihr Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung wirksam auszuüben, und damit den in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen jede praktische Wirksamkeit nehmen.

60

Ein solcher Fall unterscheidet sich nämlich von dem, in dem die betreffende Person freiwillig und unmissverständlich auf ihr Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung verzichtet.

61

Nach alledem ist davon auszugehen, dass Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 einem Mitgliedstaat implizit verwehrt, eine Verhandlung in Abwesenheit der betreffenden Person durchzuführen, der er die Einreise in sein Hoheitsgebiet verbietet, ohne Maßnahmen vorzusehen, die es ermöglichen, ihre Einreise trotz dieses Verbots zu gestatten.

62

Da der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, dass im vorliegenden Fall der Betroffene aufgrund eines von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem die ihn betreffende Verhandlung stattfindet, gegen ihn verhängten Einreiseverbots an der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats gehindert ist, ist noch zu prüfen, ob die Richtlinie 2008/115 dem entgegensteht, dass der betreffende Mitgliedstaat in einem solchen Fall das gegen diese Person verhängte Einreiseverbot aufhebt oder aussetzt.

63

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie, die gemeinsame Normen und Verfahren enthält, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden sind, es den Mitgliedstaaten, wie in Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie vorgesehen, gestattet, in Fällen, in denen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergeht, ein solches Verbot aufzuheben oder auszusetzen.

64

So heißt es in Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 4 der Richtlinie 2008/115, dass die Mitgliedstaaten in Einzelfällen oder bestimmten Kategorien von Fällen ein Einreiseverbot aus sonstigen Gründen aufheben oder aussetzen können.

65

Wie der Generalanwalt in Nr. 87 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, räumt diese Bestimmung den Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum ein, um Situationen festzulegen, in denen sie beschließen können, ein mit einer Rückkehrentscheidung einhergehendes Einreiseverbot aufzuheben oder auszusetzen, und erlaubt ihnen daher ein solches Einreiseverbot aufzuheben oder auszusetzen, um Verdächtigen oder beschuldigten Personen zu ermöglichen, sich in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu begeben, um in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

66

Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die es zulässt, eine Verhandlung in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durchzuführen, wenn sich diese Person außerhalb dieses Mitgliedstaats befindet und es ihr aufgrund eines von den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats gegen sie verhängten Einreiseverbots unmöglich ist, in dessen Hoheitsgebiet einzureisen.

Kosten

67

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die Verdächtige und beschuldigte Personen verpflichtet, in Strafverfahren in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

 

2.

Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343

ist dahin auszulegen, dass

er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die es zulässt, eine Verhandlung in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durchzuführen, wenn sich diese Person außerhalb dieses Mitgliedstaats befindet und es ihr aufgrund eines von den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats gegen sie verhängten Einreiseverbots unmöglich ist, in dessen Hoheitsgebiet einzureisen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.

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