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Document 62020CJ0245

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 24. März 2022.
X und Z gegen Autoriteit Persoonsgegevens.
Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Midden-Nederland.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Zuständigkeit der Aufsichtsbehörde – Art. 55 Abs. 3 – Verarbeitungen, die von Gerichten im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit vorgenommen werden – Begriff – Bereitstellung von Unterlagen aus einem Gerichtsverfahren, die personenbezogene Daten enthalten, an einen Journalisten.
Rechtssache C-245/20.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:216

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

24. März 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Zuständigkeit der Aufsichtsbehörde – Art. 55 Abs. 3 – Verarbeitungen, die von Gerichten im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit vorgenommen werden – Begriff – Bereitstellung von Unterlagen aus einem Gerichtsverfahren, die personenbezogene Daten enthalten, an einen Journalisten“

In der Rechtssache C‑245/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Midden-Nederland (Bezirksgericht der zentralen Niederlande) mit Entscheidung vom 29. Mai 2020, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren

X,

Z

gegen

Autoriteit Persoonsgegevens

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen sowie der Richter N. Jääskinen, J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) und M. Safjan,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von X und Z, vertreten durch S. A. J. T. Hoogendoorn, Advocaat,

der Autoriteit Persoonsgegevens, vertreten durch G. Dictus und N. N. Bontje, Advocaten,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, P. Barros da Costa, L. Medeiros und I. Oliveira als Bevollmächtigte,

der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Erlbacher, H. Kranenborg und D. Nardi als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Oktober 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 55 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und Z auf der einen sowie der Autoriteit Persoonsgegevens (Datenschutzbehörde, Niederlande) (im Folgenden: AP) auf der anderen Seite. Gegenstand dieses Rechtsstreits ist, dass Journalisten in einer mündlichen Verhandlung, die vor der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) im Rahmen eines Gerichtsverfahrens stattfand, in dem Z Partei war und durch X vertreten wurde, Zugang zu personenbezogenen Daten hatten, die X und Z betrafen und in einer Gerichtsakte enthalten waren.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der 20. Erwägungsgrund der Verordnung 2016/679 lautet:

„Diese Verordnung gilt zwar unter anderem für die Tätigkeiten der Gerichte und anderer Justizbehörden, doch könnte im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten festgelegt werden, wie die Verarbeitungsvorgänge und Verarbeitungsverfahren bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte und andere Justizbehörden im Einzelnen auszusehen haben. Damit die Unabhängigkeit der Justiz bei der Ausübung ihrer gerichtlichen Aufgaben einschließlich ihrer Beschlussfassung unangetastet bleibt, sollten die Aufsichtsbehörden nicht für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit zuständig sein. Mit der Aufsicht über diese Datenverarbeitungsvorgänge sollten besondere Stellen im Justizsystem des Mitgliedstaats betraut werden können, die insbesondere die Einhaltung der Vorschriften dieser Verordnung sicherstellen, Richter und Staatsanwälte besser für ihre Pflichten aus dieser Verordnung sensibilisieren und Beschwerden in Bezug auf derartige Datenverarbeitungsvorgänge bearbeiten sollten.“

4

In Art. 2 der Verordnung heißt es:

„(1)   Diese Verordnung gilt für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.

(2)   Diese Verordnung findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten

a)

im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt,

b)

durch die Mitgliedstaaten im Rahmen von Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich von Titel V Kapitel 2 EUV fallen,

c)

durch natürliche Personen zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten,

d)

durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit.

(3)   Für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der Union gilt die Verordnung (EG) Nr. 45/2001 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr (ABl. 2001, L 8, S. 1)]. Die Verordnung … Nr. 45/2001 und sonstige Rechtsakte der Union, die diese Verarbeitung personenbezogener Daten regeln, werden im Einklang mit Artikel 98 an die Grundsätze und Vorschriften der vorliegenden Verordnung angepasst.

…“

5

Art. 4 Nr. 2 der Verordnung definiert den Begriff „Verarbeitung“ als

„jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung.“

6

Art. 51 Abs. 1 der Verordnung lautet:

„Jeder Mitgliedstaat sieht vor, dass eine oder mehrere unabhängige Behörden für die Überwachung der Anwendung dieser Verordnung zuständig sind, damit die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung geschützt werden und der freie Verkehr personenbezogener Daten in der Union erleichtert wird (im Folgenden ‚Aufsichtsbehörde‘).“

7

Schließlich bestimmt Art. 55 der Verordnung 2016/679:

„(1)   Jede Aufsichtsbehörde ist für die Erfüllung der Aufgaben und die Ausübung der Befugnisse, die ihr mit dieser Verordnung übertragen wurden, im Hoheitsgebiet ihres eigenen Mitgliedstaats zuständig.

(2)   Erfolgt die Verarbeitung durch Behörden oder private Stellen auf der Grundlage von Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe c oder e, so ist die Aufsichtsbehörde des betroffenen Mitgliedstaats zuständig. In diesem Fall findet Artikel 56 keine Anwendung.

(3)   Die Aufsichtsbehörden sind nicht zuständig für die Aufsicht über die von Gerichten im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit vorgenommenen Verarbeitungen.“

Niederländisches Recht

8

Das Königreich der Niederlande erließ zur Durchführung der Verordnung 2016/679 die Wet houdende regels ter uitvoering van Verordening (EU) 2016/679 van het Europees Parlement en de Raad van 27 april 2016 betreffende de bescherming van natuurlijke personen in verband met de verwerking van persoonsgegevens en betreffende het vrije verkeer van die gegevens en tot intrekking van Richtlijn 95/46/EG (algemene verordening gegevensbescherming) (PbEU 2016, L 119) (Uitvoeringswet Algemene verordening gegevensbescherming) (Gesetz mit Vorschriften zur Durchführung der Verordnung 2016/679 [Gesetz zur Durchführung der Datenschutz-Grundverordnung]) vom 16. Mai 2018 (Stb. 2018, Nr. 144). Art. 6 dieses Gesetzes überträgt der AP die Aufgabe, die Einhaltung der Verordnung 2016/679 in den Niederlanden zu beaufsichtigen. Die in Art. 55 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 vorgesehene Ausnahme wurde nicht in die Bestimmungen des Gesetzes übernommen.

9

Am 31. Mai 2018 erließen der Vorsitzende der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Raad van State (Staatsrat), die Gerichtsleitung des Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande) sowie das College van Beroep voor het bedrijfsleven (Obergericht für Wirtschaftsverwaltungssachen, Niederlande) die Regeling verwerking Persoonsgegevens bestuursrechtelijke colleges (Verordnung über die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Verwaltungsgerichte). Mit dieser Verordnung wurde die AVG-commissie bestuursrechtelijke colleges (Kommission zum Schutz personenbezogener Daten für Verwaltungsgerichte, Niederlande) eingerichtet. Diese ist damit beauftragt, den Vorsitzenden der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Raad van State (Staatsrat), die Gerichtsleitung des Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes) sowie das College van Beroep voor het bedrijfsleven (Obergericht für Wirtschaftsverwaltungssachen) im Hinblick auf die Bearbeitung von Beschwerden zu beraten, die die Einhaltung der durch die Verordnung 2016/679 garantierten Rechte betreffen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

10

In der mündlichen Verhandlung, die am 30. Oktober 2018 vor der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Raad van State (Staatsrat) im Rahmen eines Gerichtsverfahrens stattfand, an dem Z als Partei beteiligt und von X vertreten war, wurden Z und X von einem Journalisten angesprochen. Bei ihrem Gespräch stellte X fest, dass der Journalist über Unterlagen aus der Verfahrensakte verfügte, einschließlich von X selbst verfasster Dokumente, denen insbesondere sein Name und seine Anschrift sowie die nationale Kennnummer von Z zu entnehmen waren. Der Journalist teilte ihm mit, dass ihm diese Informationen im Rahmen des Rechts auf Einsicht in Verfahrensakten, das die Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Raad van State (Staatsrat) Journalisten gewähre, bereitgestellt worden seien.

11

Mit Schreiben vom 21. November 2018 bestätigte der Vorsitzende der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Raad van State (Staatsrat) dem X, dass diese Abteilung die Medien mit bestimmten Informationen über laufende Verfahren versorge. Die Kommunikationsabteilung des Raad van State (Staatsrat) stelle am Tag der Sitzung den anwesenden Journalisten Unterlagen zur Verfügung, die es ihnen ermöglichen sollten, der Sitzung zu folgen, nämlich eine Kopie des verfahrenseinleitenden Schriftsatzes, der Erwiderung auf den verfahrenseinleitenden Schriftsatz und gegebenenfalls der angefochtenen Gerichtsentscheidung. Diese Dokumente würden am Ende des Tages vernichtet.

12

X und Z beantragten daraufhin bei der AP, gegenüber dem Raad van State (Staatsrat) „Maßnahmen zur Durchsetzung“ der Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten zu ergreifen. Mit ihren Anträgen, die Beschwerden gleichzusetzen sind, machten sie geltend, dass der Raad van State (Staatsrat) gegen die Verordnung 2016/679 verstoßen habe, indem er sie betreffende personenbezogene Daten aus Unterlagen einer Gerichtsakte Journalisten zugänglich gemacht habe.

13

Die AP beantwortete diese Anträge damit, dass sie gemäß Art. 55 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 nicht dafür zuständig sei, die Vorgänge der Verarbeitung der betreffenden personenbezogenen Daten durch den Raad van State (Staatsrat) zu kontrollieren. Sie habe die Anträge von X und Z anschließend an die Kommission zum Schutz personenbezogener Daten für Verwaltungsgerichte weitergeleitet, die diese wiederum an den Vorsitzenden der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Raad van State (Staatsrat) weitergeleitet habe.

14

Dieser prüfte die Anträge von X und Z als Beschwerden über sein Schreiben vom 21. November 2018. Nachdem er die Stellungnahme der Kommission zum Schutz personenbezogener Daten für Verwaltungsgerichte eingeholt hatte, legte er eine neue Regelung für den Zugang zu Aktenstücken aus Gerichtsakten fest, die auf der Website des Raad van State (Staatsrat) veröffentlicht wurde.

15

X und Z fochten beim vorlegenden Gericht, der Rechtbank Midden-Nederland (Bezirksgericht der zentralen Niederlande) die Entscheidung an, mit der sich die AP für die Entscheidung über ihre Anträge als nicht zuständig erklärt hatte.

16

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts stellt es eine „Verarbeitung“ personenbezogener Daten im Sinne von Art. 4 Nr. 2 der Verordnung 2016/679 dar, einem Journalisten Zugang zu Aktenstücken aus Gerichtsakten, die personenbezogene Daten enthalten, zu gewähren und ihm diese vorübergehend zur Verfügung zu stellen. Dieser Verarbeitung hätten X und Z vorliegend nicht zugestimmt. Um festzustellen, ob die AP tatsächlich nicht dafür zuständig war, über die Anträge von X und Z zu entscheiden, möchte das vorlegende Gericht jedoch wissen, wie Art. 55 Abs. 3 der Verordnung auszulegen ist, wonach die Aufsichtsbehörde für die Aufsicht über die von Gerichten „im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit“ vorgenommenen Verarbeitungen nicht zuständig ist.

17

Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank Midden-Nederland (Bezirksgericht der zentralen Niederlande) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 55 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 dahin auszulegen, dass unter der Wendung „die von Gerichten im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit vorgenommenen Verarbeitungen“ die Gewährung von Einsicht in Verfahrensunterlagen mit personenbezogenen Daten durch eine Justizbehörde verstanden werden kann, wobei diese Einsicht durch die Bereitstellung von Kopien dieser Verfahrensunterlagen an einen Journalisten, wie in der Vorlageentscheidung ausgeführt, gewährt wird?

Ist es für die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung, ob die Ausübung der Aufsicht über diese Art der Datenverarbeitung durch die nationale Aufsichtsbehörde das unabhängige richterliche Urteilen im Hinblick auf einzelne Rechtssachen beeinträchtigt?

Ist es für die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung, dass die Art und das Ziel der Datenverarbeitung der Justizbehörde zufolge darin besteht, einen Journalisten zu informieren und es ihm dadurch zu ermöglichen, besser über die öffentliche Sitzung in einem Gerichtsverfahren zu berichten, was dem Grundsatz der Öffentlichkeit und Transparenz von Gerichtsverfahren dienen soll?

Ist es für die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung, ob die Datenverarbeitung auf einer ausdrücklichen nationalen Rechtsgrundlage beruht?

Zur Vorlagefrage

18

Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 55 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, das Journalisten vorübergehend Unterlagen aus einem Gerichtsverfahren bereitstellt, die personenbezogene Daten enthalten, seine „justizielle Tätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmung ausübt. In diesem Kontext fragt es sich, ob bei der Beantwortung dieser Frage zu berücksichtigen ist, dass die Ausübung der Befugnisse der Aufsichtsbehörde die Unabhängigkeit der Richter bei der Urteilsfindung in bestimmten Rechtssachen beeinträchtigen könnte. Es fragt sich auch, ob Art und Ziel der Bereitstellung dieser Verfahrensunterlagen zu berücksichtigen sind, die darin bestünden, Journalisten in die Lage zu versetzen, besser über den Ablauf eines Gerichtsverfahrens zu berichten, oder die Frage, ob diese Bereitstellung auf einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht beruht.

19

Zunächst trägt Z zum einen vor, dass die Vorlagefrage hypothetisch und somit unzulässig sei. Entgegen den Ausführungen im Vorabentscheidungsersuchen erfolge die Verarbeitung der betreffenden Daten nämlich nicht durch die Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Raad van State (Staatsrat), sondern durch dessen Kommunikationsabteilung, die kein Gericht sei. Das Ersuchen weise zudem mehrere weitere Fehler oder Ungenauigkeiten auf, insbesondere in Bezug auf die Eigenschaft der Person, die X und Z nach der mündlichen Verhandlung angesprochen habe, und den genauen Inhalt der Anträge, die die AP dem Präsidenten der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Raad van State (Staatsrat) übermittelt habe.

20

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht spricht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn der Gerichtshof nicht über die rechtlichen und tatsächlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind, oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist (vgl. Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21

Zudem ist in einem Verfahren nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits zuständig (vgl. Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass das vorlegende Gericht zur Anwendung von Art. 55 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 auf die im Ausgangsverfahren fragliche Bereitstellung von Verfahrensunterlagen, die personenbezogene Daten enthalten, Stellung nehmen muss, um zu bestimmen, ob die Kontrolle der Rechtmäßigkeit dieser Bereitstellung der Zuständigkeit der AP unterfällt. Außerdem ergibt sich aus der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung, dass Z die Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Frage des vorlegenden Gerichts nicht widerlegen kann, indem er sich darauf beschränkt, Tatsachen zu bestreiten, die es in seinem Ersuchen festgestellt hat. Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, zu diesen Tatsachen Stellung zu nehmen. Folglich ist die von Z erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen.

23

Zum anderen macht Z geltend, dass der Gerichtshof Art. 55 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 für ungültig erklären müsse, da die in dieser Bestimmung vorgesehene Unzuständigkeit der betreffenden Aufsichtsbehörde für Verarbeitungen, die von Gerichten „im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit“ vorgenommen würden, nicht mit einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten verbunden sei, besondere Modalitäten für die Aufsicht über diese Verarbeitungen festzulegen, was gegen die Anforderungen verstoße, die sich aus dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ergäben.

24

Diesem Vorbringen kann jedoch nicht gefolgt werden, da der Unionsgesetzgeber, wie sich aus dem 20. Erwägungsgrund der Verordnung 2016/679 ergibt, mit dem Erlass von Art. 55 Abs. 3 der Verordnung nicht beabsichtigte, die Verarbeitungen, die von Gerichten „im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit“ vorgenommen werden, jeglicher Aufsicht zu entziehen, sondern nur ausschloss, dass die Aufsicht über diese Vorgänge einer externen Behörde übertragen wird.

25

Zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts, die in Rn. 18 des vorliegenden Urteils zusammengefasst wurde, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Verordnung 2016/679 nach ihrem Art. 2 Abs. 1 „für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen“, gilt, ohne anhand des Urhebers der betreffenden Verarbeitung zu unterscheiden. Daraus folgt, dass die Verordnung 2016/679 vorbehaltlich der in ihrem Art. 2 Abs. 2 und 3 genannten Fälle sowohl für Verarbeitungsvorgänge gilt, die von Privatpersonen vorgenommen werden, als auch für Verarbeitungsvorgänge, die durch Behörden erfolgen, einschließlich – wie aus dem 20. Erwägungsgrund der Verordnung hervorgeht – Justizbehörden wie Gerichten.

26

Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass mehrere Bestimmungen der Verordnung 2016/679 so ausgestaltet sind, dass den Besonderheiten der Verarbeitung durch Justizbehörden Rechnung getragen werden kann. Dies trifft insbesondere auf Art. 55 Abs. 3 der Verordnung zu, der jede Zuständigkeit der Aufsichtsbehörde für von Gerichten „im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit“ vorgenommenen Verarbeitungen ausschließt.

27

Die Verordnung 2016/679 unterscheidet sich insoweit von der Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates (ABl. 2003, L 41, S. 26), die nicht für Gerichte gilt (Urteil vom 15. April 2021, Friends of the Irish Environment, C‑470/19, EU:C:2021:271, Rn. 34 bis 40).

28

Zur Bestimmung der Tragweite des Begriffs der von Gerichten im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit vorgenommenen Verarbeitungen im Sinne von Art. 55 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 ist darauf hinzuweisen, dass bei der Auslegung einer Unionsrechtsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 6. Oktober 2020, Jobcenter Krefeld, C‑181/19, EU:C:2020:794, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Insoweit geht aus Art. 55 der Verordnung 2016/679 hervor, dass mit diesem Artikel die Zuständigkeit für die Aufsicht über die Verarbeitung personenbezogener Daten festgelegt und insbesondere die Zuständigkeit, die der nationalen Aufsichtsbehörde übertragen wird, begrenzt werden soll.

30

Art. 55 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 bestimmt daher, dass die nationalen Aufsichtsbehörden für die von Gerichten „im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit“ vorgenommenen Verarbeitungen nicht zuständig sind.

31

Nach dem 20. Erwägungsgrund der Verordnung 2016/679, in dessen Licht Art. 55 Abs. 3 der Verordnung auszulegen ist, sollten mit der Aufsicht über Verarbeitungsvorgänge, die von Gerichten „im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit“ vorgenommen werden, besondere Stellen im Justizsystem des betreffenden Mitgliedstaats betraut werden können, und nicht dessen Aufsichtsbehörde, damit „die Unabhängigkeit der Justiz bei der Ausübung ihrer gerichtlichen Aufgaben einschließlich ihrer Beschlussfassung unangetastet bleibt“.

32

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 80 und 81 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich schon aus dem Wortlaut des 20. Erwägungsgrundes der Verordnung 2016/679 und insbesondere aus der Verwendung des Wortes „einschließlich“, dass die Tragweite des mit Art. 55 Abs. 3 der Verordnung verfolgten Ziels, die Unabhängigkeit der Justiz bei der Ausübung ihrer gerichtlichen Aufgaben zu wahren, nicht allein auf die Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit im Rahmen des Erlasses einer bestimmten gerichtlichen Entscheidung beschränkt werden kann.

33

Die Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz setzt nämlich im Allgemeinen voraus, dass die richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausgeübt werden, ohne dass die Gerichte mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet sind und ohne dass sie von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Eingriffen oder Druck von außen geschützt sind, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Die Wahrung der nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die betreffenden Interessen auszuräumen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 44, vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 63, vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 72, sowie vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19, C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 225).

34

Folglich ist die Bezugnahme in Art. 55 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 auf die von Gerichten „im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit“ vorgenommenen Verarbeitungen im Kontext der Verordnung so zu verstehen, dass sie nicht auf die Verarbeitung personenbezogener Daten beschränkt ist, die von den Gerichten im Rahmen konkreter Rechtssachen durchgeführt wird, sondern in weiterem Sinn alle Verarbeitungsvorgänge erfasst, die von den Gerichten im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeiten vorgenommen werden, so dass Verarbeitungsvorgänge von der Zuständigkeit der Aufsichtsbehörde ausgeschlossen sind, deren Kontrolle durch diese Behörde mittelbar oder unmittelbar die Unabhängigkeit der Mitglieder oder der Entscheidungen der Gerichte beeinflussen könnte.

35

Art und Ziel der Verarbeitung, die durch ein Gericht erfolgt, stehen insoweit zwar in erster Linie mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Verarbeitung in Verbindung, können jedoch Hinweise darauf darstellen, dass die Verarbeitung durch dieses Gericht zu seiner „justiziellen Tätigkeit“ gehört.

36

Dagegen stehen die Fragen, ob die Verarbeitung auf einer ausdrücklichen innerstaatlichen Rechtsgrundlage beruht oder ob die verarbeiteten personenbezogenen Daten rechtmäßig an Dritte weitergegeben werden können, ausschließlich mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung in Verbindung. Denn diese Fragen sind nicht maßgeblich, um zu bestimmen, ob die Aufsichtsbehörde gemäß Art. 55 der Verordnung 2016/679 für die Gewährleistung der Aufsicht über diese Verarbeitung zuständig ist.

37

In Bezug auf eine Verarbeitung wie die im Ausgangsverfahren fragliche ist festzustellen, dass – unbeschadet der Einhaltung der in der Verordnung 2016/679 vorgesehenen materiellen Verpflichtungen – u. a. die Verarbeitung personenbezogener Daten, die von Gerichten im Rahmen ihrer Kommunikationspolitik zu Rechtssachen, über die sie zu entscheiden haben, vorgenommen wird, wie z. B. Journalisten vorübergehend Unterlagen aus einer Gerichtsakte bereitzustellen, damit sie die mediale Berichterstattung hierüber gewährleisten können, nicht unter die Zuständigkeit der Aufsichtsbehörde gemäß Art. 55 Abs. 3 der Verordnung fällt.

38

Mit Blick auf den Gegenstand und den Kontext einer bestimmten Rechtssache die Informationen aus einer Gerichtsakte festzulegen, die an Journalisten weitergegeben werden können, damit sie über den Ablauf eines Gerichtsverfahrens berichten oder diesen oder jenen Gesichtspunkt einer erlassenen Entscheidung erläutern können, steht nämlich klar in Verbindung mit der „justiziellen Tätigkeit“ dieser Gerichte. Hierüber mittels einer externen Behörde die Aufsicht zu führen, wäre im Allgemeinen geeignet, die richterliche Unabhängigkeit zu beeinträchtigen.

39

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 55 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, das Journalisten vorübergehend Unterlagen aus einem Gerichtsverfahren bereitstellt, die personenbezogene Daten enthalten, um sie in die Lage zu versetzen, besser über den Ablauf des Gerichtsverfahrens zu berichten, seine „justizielle Tätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmung ausübt.

Kosten

40

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 55 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ist dahin auszulegen, dass ein Gericht, das Journalisten vorübergehend Unterlagen aus einem Gerichtsverfahren bereitstellt, die personenbezogene Daten enthalten, um sie in die Lage zu versetzen, besser über den Ablauf des Gerichtsverfahrens zu berichten, seine „justizielle Tätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmung ausübt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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