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Document 62020CJ0152

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 15. Juli 2021.
DG und EH gegen SC Gruber Logistics SRL und Sindicatul Lucratorilor din Transporturi gegen SC Samidani Trans SRL.
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Mureş.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendendes Recht – Verordnung (EG) Nr. 593/2008 – Art. 3 und 8 – Von den Parteien gewähltes Recht – Individualarbeitsverträge – Arbeitnehmer, die ihre Arbeit in mehreren Mitgliedstaaten verrichten – Bestehen einer engeren Verbindung zu einem anderen Staat als demjenigen, in dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat – Begriff ‚Bestimmungen, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf‘ – Mindestlohn.
Verbundene Rechtssachen C-152/20 und C-218/20.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:600

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

15. Juli 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendendes Recht – Verordnung (EG) Nr. 593/2008 – Art. 3 und 8 – Von den Parteien gewähltes Recht – Individualarbeitsverträge – Arbeitnehmer, die ihre Arbeit in mehreren Mitgliedstaaten verrichten – Bestehen einer engeren Verbindung zu einem anderen Staat als demjenigen, in dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat – Begriff ‚Bestimmungen, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf‘ – Mindestlohn“

In den verbundenen Rechtssachen C‑152/20 und C‑218/20

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunalul Mureș (Landgericht Mureș, Rumänien) mit Entscheidungen vom 1. Oktober 2019 und 10. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 30. März 2020 und 27. Mai 2020, in den Verfahren

DG,

EH

gegen

SC Gruber Logistics SRL (C‑152/20)

und

Sindicatul Lucrătorilor din Transporturi, TD

gegen

SC Samidani Trans SRL (C‑218/20)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und N. Jääskinen,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und L. Liţu als Bevollmächtigte,

der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch M. Wilderspin und M. Carpus Carcea, dann durch Letztere, als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. April 2021

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 3 und 8 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. 2008, L 177, S. 6, im Folgenden: Rom‑I-Verordnung).

2

Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen rumänischen Lastkraftwagenfahrern und ihren Arbeitgebern, Handelsgesellschaften mit Sitz in Rumänien, über die Höhe ihres Lohns.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 11, 23 und 35 der Rom‑I-Verordnung heißt es:

„(11)

Die freie Rechtswahl der Parteien sollte einer der Ecksteine des Systems der Kollisionsnormen im Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse sein.

(23)

Bei Verträgen, bei denen die eine Partei als schwächer angesehen wird, sollte die schwächere Partei durch Kollisionsnormen geschützt werden, die für sie günstiger sind als die allgemeinen Regeln.

(35)

Den Arbeitnehmern sollte nicht der Schutz entzogen werden, der ihnen durch Bestimmungen gewährt wird, von denen nicht oder nur zu ihrem Vorteil durch Vereinbarung abgewichen werden darf.“

4

Art. 3 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)   Der Vertrag unterliegt dem von den Parteien gewählten Recht. Die Rechtswahl muss ausdrücklich erfolgen oder sich eindeutig aus den Bestimmungen des Vertrags oder aus den Umständen des Falles ergeben. Die Parteien können die Rechtswahl für ihren ganzen Vertrag oder nur für einen Teil desselben treffen.

(2)   Die Parteien können jederzeit vereinbaren, dass der Vertrag nach einem anderen Recht zu beurteilen ist als dem, das zuvor entweder aufgrund einer früheren Rechtswahl nach diesem Artikel oder aufgrund anderer Vorschriften dieser Verordnung für ihn maßgebend war. Die Formgültigkeit des Vertrags im Sinne des Artikels 11 und Rechte Dritter werden durch eine nach Vertragsschluss erfolgende Änderung der Bestimmung des anzuwendenden Rechts nicht berührt.

(3)   Sind alle anderen Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt der Rechtswahl in einem anderen als demjenigen Staat belegen, dessen Recht gewählt wurde, so berührt die Rechtswahl der Parteien nicht die Anwendung derjenigen Bestimmungen des Rechts dieses anderen Staates, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann.

(4)   Sind alle anderen Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt der Rechtswahl in einem oder mehreren Mitgliedstaaten belegen, so berührt die Wahl des Rechts eines Drittstaats durch die Parteien nicht die Anwendung der Bestimmungen des [Union]srechts – gegebenenfalls in der von dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts umgesetzten Form –, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann.

(5)   Auf das Zustandekommen und die Wirksamkeit der Einigung der Parteien über das anzuwendende Recht finden die Artikel 10, 11 und 13 Anwendung.“

5

In Art. 8 dieser Verordnung heißt es:

„(1)   Individualarbeitsverträge unterliegen dem von den Parteien nach Artikel 3 gewählten Recht. Die Rechtswahl der Parteien darf jedoch nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das nach den Absätzen 2, 3 und 4 des vorliegenden Artikels mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf.

(2)   Soweit das auf den Arbeitsvertrag anzuwendende Recht nicht durch Rechtswahl bestimmt ist, unterliegt der Arbeitsvertrag dem Recht des Staates, in dem oder andernfalls von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Der Staat, in dem die Arbeit gewöhnlich verrichtet wird, wechselt nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit vorübergehend in einem anderen Staat verrichtet.

(3)   Kann das anzuwendende Recht nicht nach Absatz 2 bestimmt werden, so unterliegt der Vertrag dem Recht des Staates, in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat.

(4)   Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dass der Vertrag eine engere Verbindung zu einem anderen als dem in Absatz 2 oder 3 bezeichneten Staat aufweist, ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden.“

Rumänisches Recht

6

Art. 2 Abs. 1 des Ordinul ministrului muncii și solidarității sociale nr. 64 pentru aprobarea modelului-cadru al contractului individual de muncă (Erlass Nr. 64 des Ministers für Arbeit und soziale Solidarität zur Billigung des Rahmenmodells des Individualarbeitsvertrags) vom 28. Februar 2003 (Monitorul Oficial al României, Nr. 139 vom 4. März 2003, im Folgenden: Erlass Nr. 64/2003) lautete:

„Der zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer geschlossene Individualarbeitsvertrag muss die Angaben des Rahmenmodells enthalten.“

7

Das Rahmenmodell nach Art. 2 Abs. 1 des Erlasses, das diesem als Anhang beigefügt war, sah in Abschnitt N vor:

„Die Bestimmungen des vorliegenden Individualarbeitsvertrags werden durch die Vorschriften der [Legea nr. 53/2003 – Codul muncii (Gesetz Nr. 53/2003 über das Arbeitsgesetzbuch) vom 24. Januar 2003 (Monitorul Oficial al României, Nr. 72 vom 5. Februar 2003)] und des anwendbaren Tarifvertrags … ergänzt.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssache C‑152/20

8

Der Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑152/20 betrifft die Entlohnung zweier rumänischer Lastkraftwagenfahrer, DG und EH, die bei der Gesellschaft SC Gruber Logistics SRL beschäftigt waren. Ihre Individualarbeitsverträge, die sowohl in rumänischer als auch in italienischer Sprache abgefasst waren, sahen vor, dass die in diesen Verträgen enthaltenen Klauseln durch die Bestimmungen des Gesetzes Nr. 53/2003 ergänzt werden. Außerdem sahen diese Verträge vor, dass diesbezügliche Rechtsstreitigkeiten von dem sachlich und örtlich zuständigen Gericht zu entscheiden sind. In Bezug auf den Arbeitsort sahen die Verträge vor, dass „[d]ie Arbeiten (in der Abteilung/in der Werkstatt/im Büro/in der Dienststelle) der Garage der Gesellschaft/des Ortes der Ausübung der Tätigkeit/eines sonstigen Tätigkeitsortes in der Gemeinde Oradea [(Rumänien)] und entsprechend den Abordnungen/Entsendungen in den Büros oder an den Orten der Ausübung der Tätigkeit der Kunden, der gegenwärtigen und künftigen Lieferanten, an jedem Ort im In- und Ausland, an dem das Fahrzeug, das der Arbeitnehmer bei der Ausübung seiner Tätigkeit benutzt, ebenfalls erforderlich ist, oder an jedem sonstigen Ort der Ausübung seiner Transporttätigkeiten ausgeführt werden“.

9

DG und EH erhoben beim Tribunalul Mureș (Landgericht Mureș, Rumänien) Klage gegen SC Gruber Logistics auf Zahlung der Differenz zwischen den tatsächlich bezogenen Löhnen und den Mindestlöhnen, auf die sie nach den italienischen Rechtsvorschriften über den Mindestlohn im Straßenverkehrssektor Anspruch gehabt hätten, der im Tarifvertrag für den Verkehrssektor in Italien festgelegt sei.

10

DG und EH tragen vor, dass die italienischen Rechtsvorschriften über den Mindestlohn gemäß Art. 8 der Rom‑I-Verordnung auf ihre Individualarbeitsverträge anzuwenden seien. Obwohl diese Verträge in Rumänien geschlossen worden seien, hätten sie ihre Tätigkeit gewöhnlich in Italien ausgeübt. Der Ort, von dem aus sie ihre Aufgaben erfüllt hätten, von dem aus sie ihre Anweisungen erhalten hätten und an den sie nach Erledigung ihrer Aufgaben zurückgekehrt seien, habe sich in Italien befunden. Außerdem seien die meisten ihrer Transportaufgaben in Italien durchgeführt worden. In Anbetracht des Urteils vom 15. März 2011, Koelzsch (C‑29/10, EU:C:2011:151), machen DG und EH geltend, dass sie Anspruch auf den in Italien geltenden Mindestlohn hätten.

11

Nach Angaben von SC Gruber Logistics arbeiteten DG und EH auf eigene Rechnung mit in Rumänien zugelassenen Lastkraftwagen und auf der Grundlage von nach den einschlägigen rumänischen Rechtsvorschriften erteilten Transportgenehmigungen, wobei alle Anweisungen von SC Gruber Logistics erteilt worden seien und die Tätigkeit von DG und EH in Rumänien organisiert worden sei. Diese Gesellschaft vertritt daher die Auffassung, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitsverträge rumänischem Recht unterlägen.

12

Unter diesen Umständen hat das Tribunal Mureș (Landgericht Mureș) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 8 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen, dass die Wahl des auf einen Individualarbeitsvertrag anwendbaren Rechts die Anwendung des Rechts des Staates ausschließt, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Tätigkeit verrichtet hat, oder dahin, dass das Vorliegen einer Rechtswahl die Anwendung von Art. 8 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ausschließt?

2.

Ist Art. 8 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen, dass der Mindestlohn, der in dem Staat gilt, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Tätigkeit ausgeübt hat, ein Recht darstellt, das im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung in den Anwendungsbereich der „Bestimmungen …, von denen nach dem Recht, das … mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf“, fällt?

3.

Ist Art. 3 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen, dass er es nicht zulässt, dass die Nennung der Vorschriften des rumänischen Arbeitsgesetzbuchs im Individualarbeitsvertrag der Wahl des rumänischen Rechts gleichkommt, wobei in Rumänien bekannt ist, dass die gesetzliche Verpflichtung besteht, diese Klausel über die Wahl des rumänischen Rechts in den Individualarbeitsvertrag aufzunehmen? Mit anderen Worten, ist Art. 3 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen, dass er innerstaatlichen nationalen Vorschriften und Praktiken entgegensteht, nach denen obligatorisch in Individualarbeitsverträgen die Klausel über die Wahl des nationalen Rechts aufzunehmen ist?

Rechtssache C‑218/20

13

Der Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑218/20 betrifft das Recht, das auf die Entlohnung eines rumänischen Lastkraftwagenfahrers, DT, anzuwenden ist, der bei der rumänischen Gesellschaft SC Samidani Trans SRL beschäftigt ist. DT habe seine Tätigkeit ausschließlich in Deutschland ausgeübt.

14

Der Individualarbeitsvertrag von DT enthielt eine Klausel, die vorsah, dass die Bestimmungen dieses Vertrags durch die Bestimmungen des Gesetzes Nr. 53/2003 ergänzt werden. Er enthielt außerdem eine Klausel, nach der Streitigkeiten im Zusammenhang mit diesem Arbeitsvertrag von dem sachlich und örtlich zuständigen Gericht zu entscheiden sind.

15

In diesem Arbeitsvertrag war der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine Tätigkeit ausüben sollte, nicht ausdrücklich genannt. DT macht geltend, der Ort, von dem aus er seine Aufgaben erfüllt und seine Anweisungen erhalten habe, sei Deutschland gewesen. Darüber hinaus hätten die eingesetzten Lastkraftwagen ihren Standort in Deutschland gehabt, und die Transportaufträge seien innerhalb der deutschen Grenzen durchgeführt worden.

16

Mit einer beim vorlegenden Gericht erhobenen Klage beantragte der Sindicatul Lucrătorilor din Transporturi (Gewerkschaft der Arbeitnehmer des Transportsektors, Rumänien), eine Gewerkschaft, der DT angehört, im Namen und für Rechnung von DT, SC Samidani Trans zu verurteilen, an DT die Differenz zwischen den tatsächlich bezogenen Löhnen und dem Mindestlohn zu zahlen, auf den er nach den deutschen Rechtsvorschriften über den Mindestlohn Anspruch gehabt hätte. Außerdem habe DT Anspruch auf Zahlung des im deutschen Recht vorgesehenen „dreizehnten“ und „vierzehnten“ Monatslohns.

17

Diese Gewerkschaft macht geltend, dass das deutsche Mindestlohngesetz gemäß Art. 8 der Rom‑I-Verordnung auf den Arbeitsvertrag von DT anzuwenden sei. Obwohl DT seinen Individualarbeitsvertrag in Rumänien geschlossen habe, habe er seine Aufgaben gewöhnlich in Deutschland erfüllt. In Anbetracht des Urteils vom 15. März 2011, Koelzsch (C‑29/10, EU:C:2011:151), habe DT daher Anspruch auf den nach deutschem Recht vorgesehenen Mindestlohn.

18

SC Samidani Trans tritt diesem Vorbringen entgegen und trägt vor, die Parteien des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitsvertrags hätten ausdrücklich vereinbart, dass auf den Individualarbeitsvertrag rumänisches Arbeitsrecht anzuwenden sei.

19

Unter diesen Umständen hat das Tribunal Mureș (Landgericht Mureș) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Auslegung von Art. 8 der Rom‑I-Verordnung: Schließt die Wahl des auf einen Individualarbeitsvertrag anwendbaren Rechts die Anwendung des Rechts des Staates aus, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Tätigkeit verrichtet hat, bzw. schließt das Vorliegen einer Rechtswahl die Anwendung von Art. 8 Abs. 1 Satz 2 der Rom‑I-Verordnung aus?

2.

Auslegung von Art. 8 der Rom‑I-Verordnung: Stellt der Mindestlohn, der in dem Staat gilt, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Tätigkeit ausgeübt hat, ein Recht dar, das im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Satz 2 der Rom‑I-Verordnung in den Anwendungsbereich der „Bestimmungen …, von denen nach dem Recht, das … mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf“, fällt?

3.

Auslegung von Art. 3 der Rom‑I-Verordnung: Kommt die Nennung der Vorschriften des rumänischen Arbeitsgesetzbuchs im Individualarbeitsvertrag der Wahl des rumänischen Rechts gleich, wobei in Rumänien bekannt ist, dass der Arbeitgeber den Inhalt des Individualarbeitsvertrags vorgibt?

Zu den Vorlagefragen

Zur jeweils ersten und zweiten Frage in den Rechtssachen C‑152/20 und C‑218/20

20

Mit seiner jeweils ersten und zweiten Frage in den Rechtssachen C‑152/20 und C‑218/20, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 8 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen ist, dass, wenn das für den Individualarbeitsvertrag geltende Recht von den Vertragsparteien gewählt wurde und es sich von dem nach Art. 8 Abs. 2, 3 oder 4 anzuwendenden Recht unterscheidet, letzteres Recht unanwendbar ist, und wenn ja, in welchem Umfang.

21

Einleitend ist festzustellen, dass den Vorlageentscheidungen nicht zu entnehmen ist, ob es sich bei den Lastkraftwagenfahrern in den Ausgangsverfahren um entsandte Arbeitnehmer im Sinne der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) oder um Arbeitnehmer handelt, die ihre Tätigkeit gewöhnlich in einem anderen Land als dem des Sitzes des Arbeitgebers verrichten, ohne entsandt zu sein. Da es Sache des vorlegenden Gerichts ist, die Sachverhalte der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten festzustellen, sind die Fragen dieses Gerichts ausschließlich anhand der Rom‑I-Verordnung zu prüfen.

22

Art. 8 der Rom‑I-Verordnung enthält für Individualarbeitsverträge besondere Kollisionsnormen, die zur Anwendung kommen, wenn die Arbeit in Erfüllung eines solchen Vertrags in mindestens einem anderen Staat als dem des gewählten Rechts verrichtet wird.

23

Nach Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung unterliegen Individualarbeitsverträge dem von den Parteien nach Art. 3 gewählten Recht und darf die Rechtswahl der Parteien nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das nach den Abs. 2, 3 und 4 dieses Artikels mangels einer Rechtswahl auf den Vertrag anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf.

24

Wenn diese Bestimmungen dem betroffenen Arbeitnehmer einen weitergehenden Schutz gewähren als die des gewählten Rechts, haben Erstere Vorrang vor Letzteren, während – wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – auf den Rest des Vertragsverhältnisses das gewählte Recht anwendbar bleibt.

25

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 Abs. 2 der Rom‑I-Verordnung auf das Recht des Staates verweist, in dem oder andernfalls von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung des Arbeitsvertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet.

26

Art. 8 dieser Verordnung zielt somit darauf ab, die Einhaltung der Bestimmungen zum Schutz des Arbeitnehmers, die das Recht des Staates vorsieht, in dem der Arbeitnehmer seine berufliche Tätigkeit ausübt, so weit wie möglich zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2016, Nikiforidis, C‑135/15, EU:C:2016:774, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, erfordert daher die korrekte Anwendung von Art. 8 der Rom‑I-Verordnung in einem ersten Schritt, dass das nationale Gericht das mangels einer Rechtswahl anzuwendende Recht und die Vorschriften, von denen nach diesem Recht nicht abgewichen werden darf, ermittelt, und in einem zweiten Schritt, dass das nationale Gericht das Schutzniveau, das dem Arbeitnehmer nach diesen Vorschriften zukommt, mit dem des von den Parteien gewählten Rechts vergleicht. Wenn das in diesen Vorschriften vorgesehene Schutzniveau einen besseren Schutz gewährleistet, sind diese Vorschriften anzuwenden.

28

Im vorliegenden Fall scheint das vorlegende Gericht die Ansicht zu vertreten, dass aufgrund der Orte, an denen die Fahrer in den Ausgangsverfahren gewöhnlich ihre Arbeit verrichteten, bestimmte italienische und deutsche Mindestlohnvorschriften nach Art. 8 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung anstelle des von den Parteien der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitsverträge gewählten rumänischen Rechts Anwendung finden könnten.

29

Zur Frage, ob solche Vorschriften Bestimmungen im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung darstellen, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 1, dass diese Frage nach dem Recht zu beurteilen ist, das mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre. Das vorlegende Gericht wird die betreffende nationale Vorschrift daher selbst auszulegen haben.

30

Weiter ist darauf hinzuweisen, dass – da die Rom‑I-Verordnung keine Kriterien für die Feststellung enthält, ob eine nationale Vorschrift eine Bestimmung oder ein Recht im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung darstellt – das Gericht zu beachten hat, wenn sich aus einem nationalen Recht ergibt, dass Vorschriften in Vereinbarungen, die nicht zwangsläufig zum Bereich des Rechts gehören, zwingend sind, auch wenn sein eigenes nationales Recht dies anders geregelt hat.

31

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 72 und 107 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, können konkret die Mindestlohnvorschriften des Staates, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Tätigkeit ausgeübt hat, grundsätzlich als „Bestimmungen …, von denen nach dem Recht, das … mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf“, im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung angesehen werden.

32

Nach alledem ist auf die jeweils erste und zweite Frage in den Rechtssachen C‑152/20 und C‑218/20 zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen ist, dass, wenn das für den Individualarbeitsvertrag geltende Recht von den Vertragsparteien gewählt wurde und es sich von dem nach Art. 8 Abs. 2, 3 oder 4 anzuwendenden Recht unterscheidet, letzteres Recht unanwendbar ist, mit Ausnahme der „Bestimmungen …, von denen [nach letzterem Recht] nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf“, im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung, zu denen Mindestlohnvorschriften grundsätzlich gehören können.

Zur jeweils dritten Frage in den Rechtssachen C‑152/20 und C‑218/20

33

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof befugt ist, aus dem gesamten vom vorlegenden Gericht übermittelten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2021, Profi Credit Slovakia, C‑485/19, EU:C:2021:313, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung), weshalb die jeweils dritte Frage in den vorliegenden Rechtssachen so zu verstehen ist, dass sie sich auf Art. 8 der Rom‑I-Verordnung bezieht.

34

Auch wenn das vorlegende Gericht in diesen Fragen auf die allgemeine Regel in Art. 3 dieser Verordnung Bezug nimmt, enthält nämlich Art. 8 besondere Kollisionsnormen für Arbeitsverträge (siehe oben, Rn. 22).

35

Folglich ist die jeweils dritte Frage in den Rechtssachen C‑152/20 und C‑218/20, die in diesen beiden Rechtssachen leicht unterschiedlich formuliert ist, dahin zu verstehen, dass mit ihr geklärt werden soll, ob Art. 8 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen ist, dass

die Parteien eines Individualarbeitsvertrags zum einen auch dann als frei in der Wahl des auf diesen Vertrag anzuwendenden Rechts anzusehen sind, wenn eine nationale Vorschrift verlangt, in den Vertrag eine Klausel aufzunehmen, nach der die Vertragsbestimmungen durch das nationale Arbeitsrecht ergänzt werden, und

die Parteien eines Individualarbeitsvertrags zum anderen auch dann als frei in der Wahl des auf diesen Vertrag anzuwendenden Rechts anzusehen sind, wenn die Vertragsklausel über diese Wahl vom Arbeitgeber abgefasst wird und sich der Arbeitnehmer darauf beschränkt, sie zu akzeptieren.

36

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 3 der Rom‑I-Verordnung, auf den ihr Art. 8 verweist, der Grundsatz der Vertragsautonomie im Kollisionsrecht verankert ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Oktober 2016, Nikiforidis, C‑135/15, EU:C:2016:774, Rn. 42, und vom 17. Oktober 2013, Unamar, C‑184/12, EU:C:2013:663, Rn. 49). Diese Bestimmung erlaubt es den Parteien eines Vertrags, das auf ihren Vertrag anzuwendende Recht frei zu wählen. Nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung kann die Wahl des anzuwendenden Rechts ausdrücklich erfolgen oder sich eindeutig aus den Bestimmungen des Vertrags oder aus den Umständen des Falles ergeben. Diese Wahl muss unmissverständlich aus den vertraglichen Bestimmungen oder den Umständen des Falles hervorgehen.

37

Was sodann das Erfordernis betrifft, dass die Wahl des anzuwendenden Rechts im Sinne von Art. 3 der Rom‑I-Verordnung frei sein muss, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass eine Zusammenschau von Art. 2 Abs. 1 des Erlasses Nr. 64/2003 und dem diesem angehängten Rahmenmodell des Individualarbeitsvertrags nahelege, dass die Parteien der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge entgegen diesem Erfordernis verpflichtet seien, rumänisches Recht zu wählen.

38

Demgegenüber macht die rumänische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, dass das nationale Recht keine Verpflichtung vorsehe, das rumänische Recht als das auf den Vertrag anzuwendende Recht zu wählen. Nur wenn die Parteien diese Wahl aus eigenem Antrieb träfen, müssten sie sich an den Erlass Nr. 64/2003 halten und ihren Vertrag nach dem diesem Erlass angehängten Rahmenmodell abfassen, was die ergänzende Anwendung des rumänischen Arbeitsgesetzbuchs impliziere. Die Aufnahme einer Klausel wie der vom vorlegenden Gericht genannten sei daher eine Folge der Wahl des auf den Vertrag anzuwendenden Rechts durch die Parteien.

39

Es ist allein Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob diese letztgenannte Lesart des nationalen Rechts zutreffend ist, und somit zu prüfen, ob das Vorhandensein einer Vertragsklausel, die die Anwendung des rumänischen Arbeitsgesetzbuchs vorsieht, nicht auf einer Verpflichtung der Parteien beruht, das rumänische Recht zu wählen, sondern die stillschweigende und freie Wahl dieses Rechts durch die Parteien gemäß Art. 3 der Rom‑I-Verordnung bestätigt.

40

Was schließlich die Frage betrifft, ob der Umstand, dass der Arbeitgeber in einen vorformulierten Arbeitsvertrag eine Klausel aufnimmt, die die Wahl des anzuwendenden Rechts vorsieht, die Feststellung zulässt, dass es unter Verstoß gegen Art. 3 der Rom‑I-Verordnung an einer freien Wahl fehlt, ist festzustellen, dass diese Verordnung nicht die Verwendung von vom Arbeitgeber vorformulierten Standardklauseln verbietet. Die Wahlfreiheit im Sinne dieser Bestimmung kann durch die Zustimmung zu einer solchen Klausel ausgeübt werden und wird nicht allein dadurch in Frage gestellt, dass diese Wahl auf der Grundlage einer Klausel getroffen wird, die der Arbeitgeber abgefasst und in den Vertrag eingefügt hat.

41

Nach alledem ist auf die jeweils dritte Frage in den Rechtssachen C‑152/20 und C‑218/20 zu antworten, dass Art. 8 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen ist, dass

die Parteien eines Individualarbeitsvertrags zum einen auch dann als frei in der Wahl des auf diesen Vertrag anzuwendenden Rechts anzusehen sind, wenn die Vertragsbestimmungen aufgrund einer nationalen Vorschrift durch das nationale Arbeitsrecht ergänzt werden, sofern die fragliche nationale Vorschrift die Parteien nicht dazu verpflichtet, das nationale Recht als das auf den Vertrag anzuwendende Recht zu wählen, und

die Parteien eines Individualarbeitsvertrags zum anderen grundsätzlich auch dann als frei in der Wahl des auf diesen Vertrag anzuwendenden Rechts anzusehen sind, wenn die Vertragsklausel über diese Wahl vom Arbeitgeber abgefasst wird und sich der Arbeitnehmer darauf beschränkt, sie zu akzeptieren.

Kosten

42

Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) ist dahin auszulegen, dass, wenn das für den Individualarbeitsvertrag geltende Recht von den Vertragsparteien gewählt wurde und es sich von dem nach Art. 8 Abs. 2, 3 oder 4 anzuwendenden Recht unterscheidet, letzteres Recht unanwendbar ist, mit Ausnahme der „Bestimmungen …, von denen [nach letzterem Recht] nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf“, im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung, zu denen Mindestlohnvorschriften grundsätzlich gehören können.

 

2.

Art. 8 der Verordnung Nr. 593/2008 ist dahin auszulegen, dass

die Parteien eines Individualarbeitsvertrags zum einen auch dann als frei in der Wahl des diesen Vertrag anzuwendenden Rechts anzusehen sind, wenn die Vertragsbestimmungen aufgrund einer nationalen Vorschrift durch das nationale Arbeitsrecht ergänzt werden, sofern die fragliche nationale Vorschrift die Parteien nicht dazu verpflichtet, das nationale Recht als das auf den Vertrag anzuwendende Recht zu wählen, und

die Parteien eines Individualarbeitsvertrags zum anderen grundsätzlich auch dann als frei in der Wahl des auf diesen Vertrag anzuwendenden Rechts anzusehen sind, wenn die Vertragsklausel über diese Wahl vom Arbeitgeber abgefasst wird und sich der Arbeitnehmer darauf beschränkt, sie zu akzeptieren.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Rumänisch.

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