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Document 62020CC0560

Schlussanträge des Generalanwalts A. M. Collins vom 4. Mai 2023.
CR u. a. gegen Landeshauptmann von Wien.
Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Wien.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 10 Abs. 3 Buchst. a – Familienzusammenführung eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades – Art. 2 Buchst. f – Begriff ,unbegleiteter Minderjähriger‘ – Zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriger Zusammenführender, der aber während des Familienzusammenführungsverfahrens volljährig geworden ist – Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit – Frist für die Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung – Volljährige Schwester des Zusammenführenden, die aufgrund einer schweren Krankheit die dauerhafte Unterstützung ihrer Eltern benötigt – Praktische Wirksamkeit des Rechts eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings auf Familienzusammenführung – Art. 7 Abs. 1 – Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 und 3 – Möglichkeit, die Familienzusammenführung von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig zu machen.
Rechtssache C-560/20.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:375

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY COLLINS

vom 4. Mai 2023 ( 1 )

Rechtssache C‑560/20

CR,

GF,

TY,

Belangte Behörde:

Landeshauptmann von Wien

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Wien [Österreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Familienzusammenführung von Flüchtlingen – Unbegleiteter Minderjähriger – Art. 10 Abs. 3 Buchst. a – Eltern, die die Familienzusammenführung mit einem als Flüchtling anerkanntem unbegleiteten Minderjährigen gemeinsam mit der behinderten volljährigen Schwester des Flüchtlings beantragen – In Art. 10 Abs. 2 und 3 nicht genannter Familienangehöriger des Flüchtlings – Art. 3 Abs. 5 – Recht der Mitgliedstaaten, günstigere Regelungen zu treffen – Art. 4 Abs. 2 Buchst. b – Familienzusammenführung mit volljährigen unverheirateten Kindern des Zusammenführenden, die aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können – Art. 17 – Einzelfallprüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung – Ausgewogene und sachgerechte Würdigung aller zu berücksichtigenden Interessen – Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

I. Einleitung

1.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Wien (Österreich) betrifft den Zugang zum Recht auf Familienzusammenführung für die Eltern und die volljährige behinderte Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings ( 2 ). Das vorlegende Gericht möchte insoweit geklärt wissen, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit des Flüchtlings maßgebend ist. Es fragt ferner, ob der behinderten volljährigen Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings nach dem Unionsrecht ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss, wenn eine Verweigerung dazu führen würde, dass die Eltern ihr Recht auf Familienzusammenführung nicht in Anspruch nehmen könnten.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

2.

Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 definiert den Begriff „Zusammenführender“ als „den sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, der oder dessen Familienangehörige einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihm stellt bzw. stellen“.

3.

Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 definiert den Begriff „unbegleiteter Minderjähriger“ als „einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.“

4.

Nach Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 berührt diese nicht das Recht der Mitgliedstaaten, günstigere Regelungen zu treffen oder beizubehalten.

5.

Nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 können die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie vorbehaltlich der in Kapitel IV der Richtlinie genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt den volljährigen, unverheirateten Kindern des Zusammenführenden oder seines Ehegatten gestatten, wenn sie aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können.

6.

Art. 10 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

„…

(2)   Die Mitgliedstaaten können weiteren, in Artikel 4 nicht genannten Familienangehörigen die Familienzusammenführung gestatten, sofern der zusammenführende Flüchtling für ihren Unterhalt aufkommt.

(3)   Handelt es sich bei einem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen, so

a)

gestatten die Mitgliedstaaten ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung;

…“

7.

Art. 12 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

„(1)   Abweichend von Artikel 7 verlangen die Mitgliedstaaten in Bezug auf Anträge betreffend die in Artikel 4 Absatz 1 genannten Familienangehörigen von einem Flüchtling und/oder einem (den) Familienangehörigen keinen Nachweis, dass der Flüchtling die in Artikel 7 genannten Bedingungen erfüllt.

Die Mitgliedstaaten können von dem Flüchtling die Erfüllung der in Artikel 7 Absatz 1 genannten Voraussetzungen verlangen, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde.

…“

B.   Österreichisches Recht

8.

Die einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts sind die §§ 11 und 46 des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, im Folgenden: NAG) vom 16. August 2005 ( 3 ) und die §§ 34 und 35 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005, im Folgenden: AsylG 2005) vom 16. August 2005 ( 4 ).

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

9.

RI ist ein am 1. September 1999 geborener syrischer Staatsangehöriger. Er kam am 31. Dezember 2015 als unbegleiteter Minderjähriger nach Österreich und stellte am 8. Jänner 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) erkannte RI die Flüchtlingseigenschaft zu einem Zeitpunkt zu, als er minderjährig war, und teilte ihm diese Entscheidung am 5. Jänner 2017 mit. Am 6. April 2017, drei Monate und einen Tag später, wurde von RIs Eltern, CR und GF, sowie seiner volljährigen Schwester, TY ( 5 ), bei der Österreichischen Botschaft in Syrien beantragt ( 6 ), ihnen zum Zweck der Familienzusammenführung die Einreise nach und den Aufenthalt bei RI in Österreich zu gestatten. RI war zum Zeitpunkt der Stellung dieser Anträge minderjährig. Diese wurden von der Österreichischen Botschaft mit der Begründung abgelehnt ( 7 ), dass RI während des Verfahrens der Familienzusammenführung volljährig geworden sei. Gegen diesen Bescheid wurde kein Rechtsmittel eingelegt; er wurde am 26. Juni 2018 rechtskräftig.

10.

Am 11. Juli 2018 beantragten CR, GF und TY beim Landeshauptmann von Wien einen Aufenthaltstitel zum Zweck der Familienzusammenführung nach § 46 Abs. 1 Z 2 NAG. CR und GF machten ihre Rechte nach der Richtlinie 2003/86 geltend. TY stützte ihren Antrag auf Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Diese Anträge wurden am 20. April 2020 vom Landeshauptmann von Wien abgewiesen, weil sie nicht innerhalb von drei Monaten ab dem Zeitpunkt, zu dem RI der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden sei, gestellt worden seien.

11.

Gegen diese Bescheide erhoben CR, GF und TY (im Folgenden: Kläger) Beschwerde beim Verwaltungsgericht Wien. Das vorgenannte Gericht stellt u. a. die Frage, ob die Kläger ein Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 haben, wenn RI während des Verfahrens der Familienzusammenführung volljährig geworden ist. Sollte dies nicht der Fall sein, möchte es wissen, zu welchem Zeitpunkt dieser Antrag auf Familienzusammenführung hätte gestellt werden müssen, damit dieses Recht besteht.

12.

Das Verwaltungsgericht Wien hat nach einer mündlichen Verhandlung festgestellt, dass die Kläger keinen Anspruch auf als „üblich“ anzusehenden Wohnraum hätten ( 8 ), nicht über eine „Krankenversicherung“ verfügten ( 9 ), und keine festen und regelmäßigen Einkünfte hätten ( 10 ). Sie erfüllten daher nicht die Voraussetzungen von Art. 7 der Richtlinie 2003/86. Das vorlegende Gericht hat ferner festgestellt, dass TY, die in Syrien bei ihren Eltern lebe, an Zerebralparese leide und daher auf einen Rollstuhl sowie auf tägliche persönliche Pflege, einschließlich Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme, angewiesen sei. Diese Betreuung werde von ihrer Mutter, CR, erbracht. Die Eltern von TY könnten sie nicht allein lassen, da die von ihrer Mutter geleistete Betreuung in Syrien nicht anderweitig verfügbar sei und dort keine sonstigen Familienangehörigen lebten.

13.

Das Verwaltungsgericht Wien hat entschieden, dass TY, aufgrund des Umstands, dass die Möglichkeit von Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 in der Republik Österreich keine Anwendung finde, vom österreichischen Recht für die Zwecke der Familienzusammenführung nicht als Familienangehörige erfasst werde. Das vorlegende Gericht geht daher davon aus, dass die Eltern von RI gezwungen wären, auf ihr Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 zu verzichten, wenn der Schwester von RI, TY, nicht zeitgleich mit ihnen ein Aufenthaltstitel erteilt würde. Es möchte wissen, ob die Auslegung von Art. 20 AEUV in den Urteilen Ruiz Zambrano ( 11 ) und Dereci u. a. ( 12 ) auf die Inanspruchnahme des Rechts auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 in der Weise übertragbar ist, dass der Anwendungsbereich dieser Richtlinie über den dort ausdrücklich geregelten Personenkreis hinaus erweitert wird. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach der österreichischen Rechtslage die Erteilung eines Aufenthaltstitels an TY aus zwingenden Gründen ihres Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK in Betracht komme. Ein unionsrechtlicher Anspruch auf einen Aufenthaltstitel könne jedoch einen weiter gehenden Schutz gewähren als bei Anwendung von Art. 8 EMRK durch die österreichischen Behörden.

14.

Vor diesem Hintergrund hat das Verwaltungsgericht Wien beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Können sich die drittstaatsangehörigen Eltern eines Flüchtlings, welcher als unbegleiteter Minderjähriger seinen Asylantrag gestellt hat und dem noch als Minderjähriger Asyl zuerkannt wurde, weiterhin auf Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 berufen, wenn der Flüchtling nach der Zuerkennung von Asyl, aber während des Verfahrens zur Erteilung eines Aufenthaltstitels an seine Eltern, volljährig geworden ist?

2.

Wenn die Frage 1 mit Ja zu beantworten ist: Ist in einem solchen Fall erforderlich, dass die Eltern des Drittstaatsangehörigen die im Urteil des Gerichtshofs vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 61), erwähnte Frist zur Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung „grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag …, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden ist“, einhalten?

3.

Wenn die Frage 1 mit Ja zu beantworten ist: Ist der volljährigen drittstaatsangehörigen Schwester eines anerkannten Flüchtlings unmittelbar aufgrund des Unionsrechts ein Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn die Eltern des Flüchtlings bei Verweigerung des Aufenthaltstitels an die volljährige Schwester des Flüchtlings de facto gezwungen wären, auf ihr Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 zu verzichten, weil diese volljährige Schwester des Flüchtlings aufgrund ihres Gesundheitszustands unbedingt der dauernden Pflege ihrer Eltern bedarf und deshalb nicht allein im Herkunftsstaat zurückbleiben kann?

4.

Wenn die Frage 2 mit Ja zu beantworten ist: Welche Kriterien sind bei der Beurteilung der Rechtzeitigkeit heranzuziehen, ob ein solcher Antrag auf Familienzusammenführung „grundsätzlich“ innerhalb von drei Monaten im Sinne der Ausführungen im Urteil des Gerichtshofs vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 61), gestellt wurde?

5.

Wenn die Frage 2 mit Ja zu beantworten ist: Können sich die Eltern des Flüchtlings weiterhin auf ihr Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 berufen, wenn zwischen dem Tag, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden ist, und ihrem Antrag auf Familienzusammenführung drei Monate und ein Tag vergangen sind?

6.

Kann ein Mitgliedstaat in einem Verfahren auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 von den Eltern des Flüchtlings grundsätzlich verlangen, dass sie die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 erfüllen?

7.

Ist das Verlangen auf Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 genannten Voraussetzungen im Zuge einer Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 davon abhängig, ob im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/86 der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde?

IV. Verfahren vor dem Gerichtshof

15.

Der Präsident des Gerichtshofs hat das Verfahren der vorliegenden Rechtssache am 9. Juli 2021 bis zur Verkündung des Endurteils in der Rechtssache C‑279/20 und den verbundenen Rechtssachen C‑273/20 und C‑355/20 ausgesetzt. Der Präsident des Gerichtshofs hat am 8. August 2022 an das vorlegende Gericht die Frage gerichtet, ob es sein Vorabentscheidungsersuchen in Anbetracht der in den vorgenannten Rechtssachen ergangenen Urteile ganz oder teilweise aufrechterhalte ( 13 ). Das vorlegende Gericht hat am 6. September 2022 die erste Frage seines Vorabentscheidungsersuchens zurückgezogen, sein Ersuchen jedoch in Bezug auf die Fragen 2bis 7 aufrechterhalten.

16.

Die Kläger, die niederländische und die österreichische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Beteiligten haben in der Sitzung vom 14. Februar 2023 mündliche Ausführungen gemacht und Fragen des Gerichtshofs beantwortet.

V. Würdigung

17.

Dem Ersuchen des Gerichtshofs entsprechend beschränke ich meine Schlussanträge auf die Würdigung der dritten Frage ( 14 ).

18.

Das Verwaltungsgericht Wien fragt im Wesentlichen, ob eine drittstaatsangehörige volljährige Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, für deren Unterhalt aufgrund ihres Gesundheitszustands vollständig ihre Eltern aufkommen, nach dem Unionsrecht Anspruch auf einen Aufenthaltstitel hat, wenn eine Verweigerung dazu führen würde, dass ihre Eltern ihr Recht auf Familienzusammenführung nicht in Anspruch nehmen könnten ( 15 ). Nach Ansicht der Kläger und der Kommission ist diese Frage zu bejahen. Nach Ansicht der niederländischen und der österreichischen Regierung ist sie zu verneinen.

19.

Die Kläger bringen vor, dass angesichts des Gesundheitszustands von TY eine Weigerung, ihr die Familienzusammenführung zu gewähren, dazu führen würde, dass es ihren Eltern, CR und GF, unmöglich wäre, ihr Recht auf Familienzusammenführung mit ihrem Sohn RI in Anspruch zu nehmen, wodurch diesem Recht seine praktische Wirksamkeit genommen würde. Dieses Ergebnis widerspreche dem Ziel der Richtlinie 2003/86, die Familienzusammenführung zu fördern, und dem Erfordernis, die Lage von Flüchtlingen besonders zu berücksichtigen. Es verstoße ferner gegen den Effektivitätsgrundsatz, wonach nationale Rechtsvorschriften die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürften. Die Kommission ist ferner der Ansicht, dass Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen sei, dass die volljährige behinderte Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings in seinen Anwendungsbereich einbezogen sei, damit Letzterer in den Genuss der Zusammenführung mit seinen Eltern kommen könne.

20.

Nach Ansicht der niederländischen Regierung würde die Erweiterung des Anwendungsbereichs von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 auf die volljährige behinderte Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings denjenigen Bestimmungen dieser Richtlinie ihre praktische Wirksamkeit nehmen, die den Mitgliedstaaten ausdrücklich die Möglichkeit vorbehielten, den Kreis der Berechtigten, die für eine Familienzusammenführung in Frage kommen könnten, zu erweitern. Nach Ansicht der österreichischen Regierung widerspricht eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2003/86 dem ausdrücklichen Willen des Unionsgesetzgebers, da diese Maßnahme den Personenkreis, dem sie ein Recht auf Familienzusammenführung zuerkenne, abschließend definiere.

21.

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist die Inanspruchnahme des Rechts von RI auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern davon abhängig, dass TY gleichzeitig mit ihren Eltern ein Aufenthaltsrecht gewährt werde ( 16 ). Ich werde daher zunächst prüfen, ob RI nach dem Unionsrecht ein Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern hat, und anschließend erörtern, ob TY danach Anspruch auf einen Aufenthaltstitel hat.

A.   Recht eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern, Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86

22.

In dem Bestreben, die Integration Drittstaatsangehöriger im Mitgliedstaat dadurch zu erleichtern, dass durch Zusammenführung ein Familienleben ermöglicht wird, legt die Richtlinie 2003/86 die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, fest ( 17 ). Nach Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohles betroffener minderjähriger Kinder und im Hinblick auf die Förderung des Familienlebens zu prüfen ( 18 ). Die Richtlinie 2003/86 ist insbesondere im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) auszulegen und anzuwenden ( 19 ). In Art. 7 der Charta wird das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens anerkannt ( 20 ). Diese Bestimmung ist in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 der Charta zu lesen. Zu berücksichtigen ist auch das in Art. 24 Abs. 3 der Charta zum Ausdruck kommende Erfordernis, dass ein Kind Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen zu beiden Elternteilen hat ( 21 ).

23.

In Art. 4 der Richtlinie 2003/86 sind die Familienangehörigen eines Drittstaatsangehörigen definiert, denen die Mitgliedstaaten ein Recht auf Familienzusammenführung im Sinne dieser Richtlinie entweder zuerkennen müssen oder können ( 22 ). Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 regelt das Recht auf Familienzusammenführung der Mitglieder der Kernfamilie des Zusammenführenden, nämlich seines Ehegatten und seiner minderjährigen Kinder ( 23 ). Nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 können die Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen eine Familienzusammenführung mit Eltern des Zusammenführenden oder seines Ehegatten gestatten. Die Möglichkeit einer Familienzusammenführung mit Eltern ist somit grundsätzlich Sache der Regelung durch jeden einzelnen Mitgliedstaat nach dieser Bestimmung. Ihre Inanspruchnahme hängt insbesondere von der Voraussetzung ab, dass der Zusammenführende für den Unterhalt der Eltern aufkommt und die Eltern in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben ( 24 ). Die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 gilt ferner „[v]orbehaltlich der in Kapitel IV [der Richtlinie 2003/86] genannten Bedingungen“.

24.

Nach Art. 7 Abs. 1 in Kapitel IV der Richtlinie 2003/86 können die Mitgliedstaaten den Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende über Folgendes verfügt: a) Wohnraum, der für eine vergleichbar große Familie in dem betreffenden Staat als üblich angesehen wird, b) eine Krankenversicherung für ihn selbst und seine Familienangehörigen und c) feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen dieses Staates für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen. Da in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 das Wort „kann“ verwendet wird, können die Mitgliedstaaten auf die in dieser Bestimmung vorgesehenen Anforderungen verzichten.

25.

In bestimmten Fällen gelten für Flüchtlinge günstigere Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung ( 25 ). Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 betrifft konkret die Lage unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Er gewährt ihnen eine Vorzugsbehandlung ( 26 ), indem er eine Familienzusammenführung u. a. mit ihren Eltern ( 27 ) oder gesetzlichen Vormündern ( 28 ) gewährleistet, ohne dies an bestimmte, nach dieser Richtlinie ansonsten geltende Voraussetzungen zu knüpfen. Nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 sind die Mitgliedstaaten somit verpflichtet ( 29 ), die Familienzusammenführung eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings mit seinen Eltern „ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) [dieser Richtlinie] genannten Bedingungen“ zu gestatten.

26.

Da Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ausdrücklich auf die in Kapitel IV genannten Bedingungen Bezug nimmt, dürfen die Mitgliedstaaten von einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling oder von seinen Eltern im Rahmen eines Verfahrens der Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 nicht verlangen, dass er/sie die Anforderungen nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 erfüllt/erfüllen ( 30 ). Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 stellt klar, dass der Unionsgesetzgeber insbesondere u. a. das Erfordernis ausgeschlossen hat, dass die Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings für seinen Unterhalt aufkommen ( 31 ), und dass er die Voraussetzungen nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 erfüllt ( 32 ). Dieses Verständnis von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 steht im Einklang sowohl mit dem Kontext, in dem er steht, als auch mit dem Ziel der Richtlinie 2003/86, Flüchtlingen bevorzugt Schutz zu gewähren und die Schutzbedürftigkeit von Minderjährigen, insbesondere von unbegleiteten Minderjährigen, zu berücksichtigen. Müssten die Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 erfüllen, würde die wirksame Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie und die Vorzugsbehandlung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge beeinträchtigt.

B.   Recht eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings auf Familienzusammenführung mit anderen Familienangehörigen, Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86

27.

Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Schwester eines Flüchtlings nicht zu den in Art. 4 der Richtlinie 2003/86 genannten Familienangehörigen des Zusammenführenden gehört ( 33 ). RI hat auch nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 kein Recht auf Familienzusammenführung mit seiner Schwester, TY. Der Wortlaut dieser Vorschrift ist eindeutig: Sie gilt nur für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und ihre Eltern ( 34 ).

28.

Nach ständiger Rechtsprechung dürfen die nationalen Behörden einem Drittstaatsangehörigen, der die in dieser Richtlinie hierfür vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt, keinen Aufenthaltstitel auf der Grundlage der Richtlinie 2003/86 ausstellen. Der Gerichtshof hat sogar festgestellt, dass eine nationale Regelung, die die Ausstellung eines auf der Richtlinie 2003/86 beruhenden Aufenthaltstitels an eine Person erlaubt, die die darin enthaltenen Voraussetzungen nicht erfüllt, die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beeinträchtigt und den mit ihr verfolgten Zielen widerspricht ( 35 ).

29.

Der Unionsgesetzgeber wollte mit dem Erlass der Richtlinie 2003/86, die für alle Mitgliedstaaten – mit Ausnahme des Königreichs Dänemark und Irlands – gilt, nicht alle Fragen im Zusammenhang mit der Familienzusammenführung erschöpfend regeln ( 36 ), sondern hat vielmehr auf der Grundlage der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eine Reihe gemeinsamer Mindestvorschriften festgelegt ( 37 ). Die Richtlinie 2003/86 nimmt somit eine Mindestharmonisierung vor und schließt das Recht der Mitgliedstaaten nicht aus, nationale Rechtsvorschriften über die Familienzusammenführung in Fällen anzuwenden, in denen diese Richtlinie keine Anwendung findet ( 38 ). Die Voraussetzungen der Richtlinie 2003/86 gelten somit unbeschadet der Möglichkeit der Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie, auf der Grundlage ihrer jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften ein Recht auf Einreise und Aufenthalt unter günstigeren Bedingungen zu gewähren ( 39 ). Sieht ein Mitgliedstaat solche günstigen Bedingungen vor, unterliegt ihre Ausübung dem nationalen Recht und nicht der Richtlinie 2003/86 ( 40 ), so dass die Anwendung der Charta ausgeschlossen ist ( 41 ).

30.

Die österreichische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass sie zwar der Ansicht sei, dass TY kein Recht auf Familienzusammenführung mit RI nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 habe, diesen Personen von der Republik Österreich jedoch nach nationalem Recht ein Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 8 EMRK gewährt werde. Diese Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten komme sowohl im klaren Wortlaut der Richtlinie 2003/86 als auch in der kohärenten Auslegung ihrer Bestimmungen durch den Gerichtshof zum Ausdruck.

31.

Nach Ansicht der Kläger und der Kommission soll gleichwohl zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Rechts eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 diese Bestimmung dahin auszulegen sein, dass sie dieses Recht auch behinderten Geschwistern des Flüchtlings zuerkenne. Dies soll sich aus einer Auslegung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 im Licht der Art. 7 und 24 der Charta dahin ergeben, dass das Recht von RI auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern sowie, in entsprechender Erweiterung, mit seiner Schwester zu gewährleisten sei ( 42 ).

32.

Bei der Umsetzung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 müssen die Mitgliedstaaten die in der Charta verankerten Grundrechte, hier die Art. 7 und 24, beachten. Das Bestehen dieser Verpflichtung kann jedoch nicht für eine Auslegung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 oder einer anderen Bestimmung dieser Richtlinie sprechen, die im Widerspruch zu ihrem ausdrücklichen Wortlaut stünde. Eine solche Auslegung contra legem, sei es auf der Grundlage der Bestimmungen der Charta oder des Effektivitätsgrundsatzes, ist auch deshalb ausgeschlossen, weil sie gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen würde ( 43 ). Auch kann der Umstand, dass in Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 keine sonstigen Familienangehörigen genannt sind, nicht einem Versehen des Unionsgesetzgebers zugeschrieben werden, da er konkret Sachverhalte der der vorliegenden Rechtssache entsprechenden Art regeln wollte; dies wird durch Art. 4 Abs. 2 Buchst. b und Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie eindeutig belegt.

33.

Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 gestattet den Mitgliedstaaten ausdrücklich, das Recht auf Familienzusammenführung anderen als den in Art. 4 der Richtlinie genannten Familienangehörigen eines Flüchtlings zuzuerkennen, wenn der Flüchtling für ihren Unterhalt aufkommt ( 44 ). Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 räumt jedem einzelnen Mitgliedstaat die Wahlmöglichkeit ein, darüber zu entscheiden, ob der Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/86 insoweit ausgeweitet werden soll. Darüber hinaus räumt er jedem einzelnen Mitgliedstaat einen weiten Ermessensspielraum dahin ein, die weiteren, in Art. 4 der Richtlinie 2003/86 nicht genannten Familienangehörigen des Flüchtlings zu bestimmen, denen eine solche Ausweitung zugutekommen kann ( 45 ).

34.

Den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ist eindeutig zu entnehmen, dass die Republik Österreich sich dafür entschieden hat, von der Wahlmöglichkeit nach Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 keinen Gebrauch zu machen. Jedenfalls kommen für den Unterhalt von TY ihre Eltern, und nicht ihr Bruder RI, auf ( 46 ). Der Gerichtshof hat festgestellt, dass eine nationale Regelung, die das Merkmal „für ihren Unterhalt aufkommt“ nach Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 nicht beachtet, den Zielen dieser Richtlinie zuwiderläuft, da sie es ermöglicht, Personen, die nicht die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen, die sich aus dieser Richtlinie ergebende Rechtsstellung zuzuerkennen ( 47 ).

35.

Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass den Mitgliedstaaten durch die Charta nicht ihre Befugnis genommen wird, sich dafür zu entscheiden, Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 umzusetzen, und danach gestellte Anträge auf Familienzusammenführung zu prüfen ( 48 ). Folglich steht es dem Gerichtshof nicht frei, den Wortlaut und Anwendungsbereich von Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 auf der Grundlage von Art. 7 oder Art. 24 der Charta zu ändern oder zu erweitern ( 49 ).

36.

Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass RI nach Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 in ihrer Auslegung im Licht der Art. 7 und 24 der Charta kein Recht auf Familienzusammenführung mit seiner Schwester TY hat. Eine unangemessene Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Bestimmungen würde der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs widersprechen, die Wirksamkeit der Richtlinie 2003/86 beeinträchtigen und das sorgfältig ausgestaltete gesetzgeberische Gleichgewicht stören, zu dem die Europäische Union und die Mitgliedstaaten gelangt sind.

37.

Eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2003/86 kann auch nicht durch eine Übertragung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 20 AEUV und zur Unionsbürgerschaft gerechtfertigt werden, die das vorlegende Gericht anführt ( 50 ). In seinem Urteil Ruiz-Zambrano ( 51 ) hat der Gerichtshof u. a. entschieden, dass Art. 20 AEUV einem Mitgliedstaat verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen mit minderjährigen Kindern, die Unionsbürger sind und denen er Unterhalt gewährt, den Aufenthalt im Wohnsitzmitgliedstaat der Kinder, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, zu verweigern, wenn diese Entscheidung diesen Kindern den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehren würde. In dieser Entscheidung hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass der Unionsbürgerstatus „der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten“ ist ( 52 ). Der Status von Drittstaatsangehörigen, einschließlich Flüchtlingen, ist nur dann mit demjenigen von Unionsbürgern vergleichbar, wenn das Unionsrecht Drittstaatsangehörigen konkret vergleichbare Rechte und Pflichten gewährt ( 53 ).

C.   Recht auf Familienzusammenführung volljähriger unverheirateter Kinder, die aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können, Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/86

38.

Nach Art. 4 Abs. 2 Buchstabe b der Richtlinie 2003/86 können die Mitgliedstaaten den volljährigen unverheirateten Kindern des Zusammenführenden oder seines Ehegatten die Einreise und den Aufenthalt gestatten, wenn die betreffenden Kinder aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Hierfür gelten die in Kapitel IV der Richtlinie 2003/86 genannten Bedingungen.

39.

Abgesehen davon, dass unklar ist, ob die Republik Österreich sich dafür entschieden hat, von der Wahlmöglichkeit nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 Gebrauch zu machen ( 54 ), bezieht sich diese Bestimmung auf die Kernfamilie des Zusammenführenden und nicht auf seine Brüder und Schwestern. Auf ihren Wortlaut kann TY daher ein Recht auf Familienzusammenführung mit RI nicht stützen. Wie in den Nrn. 36 und 37 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, widerspricht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Ausweitung des Schutzes, den Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie anderen Personen zuerkennt, den Zielen der Richtlinie 2003/86. Auch kann sich aus der Charta keine Einschränkung der Wahlentscheidung der Mitgliedstaaten ergeben, ob sie diese Bestimmung anwenden ( 55 ).

40.

Während RI und seine Schwester, TY, kein Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 haben, haben seine Eltern, CR und GF, ein Recht auf Familienzusammenführung mit RI nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie. Sobald ihrem Antrag auf Familienzusammenführung stattgegeben wurde, haben CR und GF auch einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Republik Österreich nach Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86. Im Urteil O u. a. ( 56 ) hat der Gerichtshof festgestellt, dass Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten und die die Familienzusammenführung in Anspruch nehmen wollen, als „Zusammenführende“ im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 anzusehen sind. CR und GF haben nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 Anspruch auf Familienzusammenführung mit TY, sofern die Republik Österreich von dieser Wahlmöglichkeit Gebrauch gemacht hat. Sobald die Mitgliedstaaten diese Befugnis wahrnehmen, führen sie das Unionsrecht durch. Eine hierüber getroffene nationale Regelung muss daher sowohl die in der Charta garantierten Grundrechte als auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren ( 57 ).

41.

CR, GF und TY haben gemeinsam die Familienzusammenführung mit RI beantragt. In Anbetracht der Art ihrer familiären Bindungen und der ernsthaften Behinderung von TY sollten ihre Anträge zeitgleich geprüft werden ( 58 ), um alle ihre Rechte und Pflichten nach dem Unionsrecht, insbesondere nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b, Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 13 der Richtlinie 2003/86 in ihrer Auslegung im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta, festzustellen ( 59 ). Nach ständiger Rechtsprechung verlangt Art. 17 der Richtlinie 2003/86 eine individualisierte Prüfung der Anträge auf Familienzusammenführung. Die zuständigen nationalen Behörden müssen bei der Umsetzung der Richtlinie 2003/86 und bei der Prüfung dieser Anträge alle zu berücksichtigenden Interessen ausgewogen und sachgerecht bewerten ( 60 ). Zu berücksichtigen sind auch das Wohl minderjähriger Kinder und die besondere Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ( 61 ).

42.

Es widerspricht daher den Zielen der Richtlinie 2003/86 sowie der Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta, wenn von Antragstellern wie CR und/oder GF verlangt wird ( 62 ), dass sie vor der nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie vorzunehmenden Prüfung des Antrags von TY auf Familienzusammenführung mit ihren Eltern über einen Aufenthaltstitel nach Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie verfügen. Ein derart fragmentarischer Ansatz würde zudem das Recht von RI auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 beeinträchtigen.

43.

Die Republik Österreich kann die Familienzusammenführung nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 von der Erfüllung der Voraussetzungen nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie abhängig machen. Diese Voraussetzungen gelten nur für TY, da CR und GF hiervon nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 befreit sind ( 63 ). Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt und die durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 verliehene Befugnis daher eng auszulegen ist. Die Mitgliedstaaten dürfen von ihrem Ermessensspielraum nicht in einer Weise Gebrauch machen, die das Ziel beeinträchtigt, die Familienzusammenführung zu fördern ( 64 ). Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die Einhaltung der Voraussetzungen nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 und der dazu ergangenen Rechtsprechung durch die zuständigen Behörden zu prüfen.

VI. Ergebnis

44.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die dritte Vorlagefrage des Verwaltungsgerichts Wien (Österreich) wie folgt zu beantworten:

Art. 4 Abs. 2 Buchst. b, Art. 10 Abs. 3 Buchst. a, Art. 13 Abs. 2 und Art. 17 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung sowie Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass volljährige behinderte Geschwister eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, für deren Unterhalt aufgrund ihres Gesundheitszustands vollständig ihre Eltern aufkommen, nach dem Unionsrecht ein Recht auf Familienzusammenführung mit ihren Eltern und ihrem minderjährigen Geschwisterteil haben, sofern der betreffende Mitgliedstaat von der Wahlmöglichkeit nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 Gebrauch gemacht hat.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Im Sinne von Art. 2 Buchst. b und f der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).

( 3 ) BGBl. I 100/2005. Auf das vorliegende Verfahren findet die Fassung vom 14. August 2018 Anwendung. BGBl. I 56/2018.

( 4 ) BGB1. I 100/2005. Auf das vorliegende Verfahren findet die Fassung vom 18. Oktober 2017 Anwendung. BGB1. I 145/2017.

( 5 ) Geboren am 15. August 1988. CR, GF und TY sind syrische Staatsangehörige.

( 6 ) Nach § 35 AsylG 2005.

( 7 ) Der Bescheid, mit dem diese Anträge abgelehnt wurden, wurde am 29. Mai 2018 zugestellt.

( 8 ) Vgl. Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/86.

( 9 ) Vgl. Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86.

( 10 ) Vgl. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86.

( 11 ) Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124).

( 12 ) Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a. (C‑256/11, EU:C:2011:734).

( 13 ) Urteile vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland (Nachzug eines volljährig gewordenen Kindes) (C‑279/20, EU:C:2022:618) und vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland (Familienzusammenführung mit einem minderjährigen Flüchtling) (C‑273/20 und C‑355/20, EU:C:2022:617).

( 14 ) Da die dritte und die sechste Frage sich teilweise überschneiden, werde ich auf die sechste Frage des vorlegenden Gerichts eingehen, soweit dies erforderlich ist, um den Gerichtshof bei seiner Entscheidung zu unterstützen.

( 15 ) Die dritte Frage geht von der Prämisse aus, dass drittstaatsangehörige Eltern (CR und GF) eines Flüchtlings (RI), der vor Eintritt der Volljährigkeit als unbegleiteter Minderjähriger Asyl beantragt und erhalten hat, sich auf Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 berufen können, auch wenn dieser Flüchtling nach der Gewährung von Asyl, aber während des Verfahrens der Familienzusammenführung volljährig geworden ist.

( 16 ) Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 bestimmt, dass sobald dem Antrag auf Familienzusammenführung stattgegeben wurde, „[d]er betreffende Mitgliedstaat … den Familienangehörigen einen ersten Aufenthaltstitel mit mindestens einjähriger Gültigkeitsdauer [erteilt]. Dieser Aufenthaltstitel ist verlängerbar“. Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 bestimmt ferner, dass, sobald er dem Antrag auf Familienzusammenführung stattgibt, „der betreffende Mitgliedstaat die Einreise des oder der Familienangehörigen [genehmigt]“.

( 17 ) Vgl. vierter Erwägungsgrund und Art. 1 der Richtlinie 2003/86.

( 18 ) Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland (Familienzusammenführung mit einem minderjährigen Flüchtling) (C‑273/20 und C‑355/20, EU:C:2022:617, Rn. 35 und 39).

( 19 ) Vgl. zweiter Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86.

( 20 ) Soweit Art. 7 der Charta Rechte enthält, die den in Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite wie diese (Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 21 ) Urteil vom 13. März 2019, E. (C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 55 und 56 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 22 ) Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings) (C‑519/18, EU:C:2019:1070, Rn. 35). Art. 4 der Richtlinie 2003/86 ist nicht abschließend. Vgl. z. B. Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86.

( 23 ) Vgl. neunter Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86. Im Urteil vom 6. Dezember 2012, O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 64 und 65), hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 ein weites Verständnis der „Kernfamilie“ zugrunde liegt. Nach ständiger Rechtsprechung gibt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da sie den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie 2003/86 festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei über einen Ermessensspielraum verfügen (Urteil vom 20. November 2019, Belgische Staat [Regelung über die stillschweigende Stattgabe], C‑706/18, EU:C:2019:993, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 24 ) Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 34).

( 25 ) Vgl. Kapitel V („Familienzusammenführung von Flüchtlingen“) der Richtlinie 2003/86. Nach dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 „[sollte d]er Lage von Flüchtlingen … wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden.“

( 26 ) Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 44).

( 27 ) Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 bezieht sich auf Verwandte in gerader aufsteigender Linie ersten Grades.

( 28 ) Art. 10 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2003/86.

( 29 ) In dieser Bestimmung wird die Formulierung „gestatten die Mitgliedstaaten“ verwendet. Das Recht auf Familienzusammenführung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge mit ihren Eltern nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 unterliegt daher keinem Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten (Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 43).

( 30 ) Nach Ansicht der österreichischen Regierung sollen die Voraussetzungen in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 auf eine Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie anwendbar sein. Sie betont, dass in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86 konkret auf die Anwendung der in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie geregelten Voraussetzungen Bezug genommen und diese ausgeschlossen werde. In Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 werde nicht ausdrücklich auf die Anwendung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie Bezug genommen und diese ausgeschlossen.

( 31 ) Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 34).

( 32 ) Nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 verlangen die Mitgliedstaaten nicht, dass der Flüchtling und/oder der/die Angehörige/n seiner Kernfamilie die in Art. 7 der Richtlinie genannten Bedingungen erfüllt/erfüllen. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 gewährt somit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen einen weiter reichenden Schutz als Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86, dessen Anwendung auf Flüchtlinge und die Angehörigen ihrer Kernfamilie beschränkt ist.

( 33 ) Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings) (C‑519/18, EU:C:2019:1070, Rn. 69).

( 34 ) Diese Vorschrift ist untrennbar mit dem Begriff „Kernfamilie“ im Sinne der Richtlinie 2003/86 verbunden.

( 35 ) Urteil vom 20. November 2019, Belgische Staat (Regelung über die stillschweigende Stattgabe) (C‑706/18, EU:C:2019:993, Rn. 35 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 36 ) Vgl. Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86.

( 37 ) Vgl. 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86.

( 38 ) Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Pikamäe in der Rechtssache Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Familienverband – Bereits gewährter Schutz) (C‑483/20, EU:C:2021:780, Nr. 53) und des Generalanwalts Hogan in dem Gutachtenverfahren 1/19 (Übereinkommen von Istanbul) (EU:C:2021:198, Fn. 81).

( 39 ) Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings) (C‑519/18, EU:C:2019:1070, Rn. 43). Vgl. entsprechend Urteil vom 13. März 2019, E. (C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 32 bis 43), in dem Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin ausgelegt wird, dass drittstaatsangehörige Familienangehörige eines subsidiär Schutzberechtigten von ihrem Anwendungsbereich ausgeschlossen sind. Auch wenn diese Familienangehörigen nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, kann ein Mitgliedstaat ihnen nach nationalem Recht eine günstigere Behandlung gewähren (Urteil vom 7. November 2018, K und B, C‑380/17, EU:C:2018:877, Rn. 34 und 37).

( 40 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 19. November 2019, TSN und AKT (C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 34 und 49). Vgl. entsprechend auch Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland (C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 82 und 83), zur Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).

( 41 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 10. Juni 2021, Land Oberösterreich (Wohnbeihilfe) (C‑94/20, EU:C:2021:477, Rn. 60 bis 63).

( 42 ) Vgl. auch zweiter Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86.

( 43 ) Vgl. entsprechend zur Auslegung contra legem des nationalen Rechts Urteil vom 19. April 2016, DI (C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die in dieser Rechtsprechung dargestellten Grundsätze gelten für die Auslegung des Unionsrechts und des nationalen Rechts. Vgl. entsprechend auch Lenaerts, K., und Gutiérrez-Fons, J., To Say What the Law of the EU is: Methods of Interpretation and the European Court of Justice, European University Institute (EUI), Academy of European Law (AEL), 2013/9, S. 16, wo die Verfasser ausführen: „Bei verschiedenen möglichen Auslegungen einer Vorschrift des Unionsrechts ist derjenigen der Vorzug zu geben, die die praktische Wirksamkeit der Vorschrift zu wahren geeignet ist. … Dieser allgemeine Auslegungsgrundsatz darf selbstverständlich die Grenze des ‚contra legem‘ nicht überschreiten.“

( 44 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 13. März 2019, E. (C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 48).

( 45 ) Vgl. Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings) (C‑519/18, EU:C:2019:1070, Rn. 39 und 40). Nach dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 „ist [es] Sache der Mitgliedstaaten zu entscheiden, ob sie die Familienzusammenführung von Verwandten in gerader aufsteigender Linie, volljährigen unverheirateten Kindern … zulassen möchten.“

( 46 ) Auch wenn die Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt haben, dass RI seiner Familie in Syrien etwa 100 Euro pro Monat übermittle, gibt es keinen Beleg dafür, dass RI für den Unterhalt von TY aufkommt.

( 47 ) Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings) (C‑519/18, EU:C:2019:1070, Rn. 42). Nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 „[sollen] die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung nach gemeinsamen Kriterien bestimmt werden“. Vgl. entsprechend auch Urteil vom 7. November 2018, K und B (C‑380/17, EU:C:2018:877, Rn. 44, 48 und 49), wonach Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/86 seiner Wirksamkeit und seiner Klarheit beraubt würde, wenn ein Mitgliedstaat davon absehen könnte, eine Frist für die Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung nach dieser Bestimmung vorzuschreiben.

( 48 ) Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings) (C‑519/18, EU:C:2019:1070, Rn. 65).

( 49 ) Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach Art. 51 Abs. 2 der Charta dehnt diese den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben. Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland (C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 85).

( 50 ) Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), vom 15. November 2011, Dereci u. a. (C‑256/11, EU:C:2011:734), und vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354). Vgl. auch Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland (C‑709/20, EU:C:2021:602).

( 51 ) Urteil vom 8. März 2011 (C‑34/09, EU:C:2011:124).

( 52 ) Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 53 ) Vgl. z. B. dritter Erwägungsgrund und Art. 13 der Richtlinie 2003/86. Vgl. entsprechend auch Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44). Die durch die in den Nrn. 36 und 37 der vorliegenden Schlussanträge angeführte Rechtsprechung bestätigten Einschränkungen, die einer Ausweitung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2003/86 entgegenstehen, gelten entsprechend für die Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86.

( 54 ) Die niederländische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung, von der österreichischen Regierung unwidersprochen, vorgetragen, dass die Republik Österreich von der Wahlmöglichkeit nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 Gebrauch gemacht habe.

( 55 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings) (C‑519/18, EU:C:2019:1070, Rn. 42 und 65).

( 56 ) Urteil vom 6. Dezember 2012, O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 68).

( 57 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings) (C‑519/18, EU:C:2019:1070, Rn. 61 bis 67).

( 58 ) Die österreichische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass alle in Rede stehenden Anträge zeitgleich geprüft würden.

( 59 ) Vgl. entsprechend Art. 16 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) (ABl. 2013, L 180, S. 31). Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 bestimmt u. a., dass ein Mitgliedstaat dann, wenn ein Antragsteller mit einer ernsthaften Behinderung auf die Unterstützung eines Elternteils, der sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, angewiesen ist, in der Regel entscheidet, den Antragsteller und diesen Elternteil nicht zu trennen bzw. sie zusammenzuführen. Nach dem 17. Erwägungsgrund dieser Verordnung soll diese Bestimmung den Mitgliedstaaten ermöglichen, „Familienangehörige“ zusammenzuführen, wenn dies aus humanitären Gründen erforderlich ist. Vgl. entsprechend auch Urteil vom 6. November 2012, K (C‑245/11, EU:C:2012:685, Rn. 26 bis 54).

( 60 ) Urteil vom 21. April 2016, Khachab (C‑558/14, EU:C:2016:285, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 61 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 7. November 2018, K und B (C‑380/17, EU:C:2018:877, Rn. 26 bis 36).

( 62 ) CR und GF haben nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ein Recht auf Familienzusammenführung mit RI und daher nach Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.

( 63 ) Siehe Nr. 26 der vorliegenden Schlussanträge.

( 64 ) Urteil vom 4. März 2010, Chakroun (C‑578/08, EU:C:2010:117, Rn. 43).

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