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Document 62020CC0013

Schlussanträge des Generalanwalts M. Szpunar vom 10. März 2021.
Top System SA gegen État belge.
Vorabentscheidungsersuchen der Cour d'appel de Bruxelles.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Rechtsschutz von Computerprogrammen – Richtlinie 91/250/EWG – Art. 5 – Ausnahmen von den zustimmungsbedürftigen Handlungen – Handlungen, die zur Fehlerberichtigung durch den rechtmäßigen Erwerber notwendig sind – Begriff – Art. 6 – Dekompilierung – Voraussetzungen.
Rechtssache C-13/20.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:193

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 10. März 2021 ( 1 )

Rechtssache C-13/20

Top System SA

gegen

Belgischer Staat

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour d’appel de Bruxelles [Appellationshof Brüssel, Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Richtlinie 91/250/EWG – Rechtsschutz von Computerprogrammen – Art. 5 Abs. 1 – Ausnahmen von den zustimmungsbedürftigen Handlungen – Zur Fehlerberichtigung notwendige Handlungen – Art. 6 – Dekompilierung eines Computerprogramms“

Einleitung

1.

Mit der vorliegenden Rechtssache wird dem Gerichtshof erneut Gelegenheit gegeben, sich mit den Besonderheiten des Rechtsschutzes von Computerprogrammen zu befassen. Obwohl sowohl im Unionsrecht ( 2 ) als auch im internationalen Recht ( 3 ) anerkannt ist, dass Computerprogramme urheberrechtlich als literarische Werke geschützt sind, unterscheiden sie sich von diesen doch in mehrfacher Hinsicht. Ihr spezifischer Charakter als Schutzobjekte spiegelt sich in den Mechanismen dieses Schutzes wider, die sich so sehr von den allgemeinen Regeln des Urheberrechts unterscheiden, dass einige Autoren von einem De-facto-Schutzsystem sui generis sprechen ( 4 ).

2.

Zunächst dienen Computerprogramme nicht nur einem praktischen Zweck, sondern dieser Nutzzweck hat einen sehr speziellen Charakter: den Betrieb von Computern. Ein solches Programm besteht nämlich aus einer Folge von Befehlen, deren Ausführung durch einen Computer diesem die Durchführung bestimmter Aufgaben ermöglicht ( 5 ). Daraus folgt, dass Computerprogramme im Gegensatz zu allen anderen Kategorien urheberrechtlich geschützter Gegenstände nicht dazu bestimmt sind, im Wege der menschlichen Wahrnehmung genutzt zu werden. Die ersten Computerprogramme wurden im Übrigen als Zubehör der Maschine selbst angesehen, und die Software hat erst nach und nach ihre Selbständigkeit gegenüber der Hardware erlangt ( 6 ).

3.

Zwar kann in bestimmten Situationen, die urheberrechtlich relevant sein können, die Kenntnisnahme des Menschen von einem Computerprogramm nützlich sein, z. B. um ein konkurrierendes oder ergänzendes Programm zu entwickeln. Grundsätzlich ist es jedoch nicht der Nutzer, sondern der Computer, der von dem Programm „Kenntnis nimmt“ und es ausführt. Der Nutzen für den Anwender liegt somit nicht im Computerprogramm als solchem, sondern in den Funktionen, deren Durchführung dem Computer durch dieses Programm ermöglicht wird. Insoweit stehen die Computerprogramme eher den patentrechtlich geschützten Erfindungen nahe als den „klassischen“ urheberrechtlich geschützten Werken.

4.

Aus diesem ersten Merkmal von Computerprogrammen ergibt sich das zweite, d. h. ihre Ausdrucksform. Wenn nämlich das Computerprogramm nicht für die menschliche Wahrnehmung, sondern für die Wahrnehmung durch die Maschine bestimmt ist, muss es in einer für diese verständlichen Weise ausgedrückt werden. Dieses Ausdrucksmittel ist der Binärcode, eine „Schrift“, die sich mit zwei Zeichen begnügt, die üblicherweise als 0 und 1 dargestellt werden, wobei es sich bei dieser Darstellung wiederum um eine Konvention für den menschlichen Gebrauch handelt. Der Prozessor des Computers „liest“ diese Zeichen als unterschiedliche Werte der elektrischen Spannung.

5.

Während Programme für die sogenannte „erste Generation“ von Computern oft direkt in binärer Form kodiert wurden, sind moderne Programme viel zu komplex, um in dieser Form entwickelt oder auch nur gelesen zu werden. Es gibt daher Programmiersprachen, die sogenannten „höheren Programmiersprachen“, die die verschiedenen Befehle für Computer enthalten, wobei diese in Form von der natürlichen Sprache nahestehenden und daher für den Menschen wahrnehmbaren und für diejenigen, die mit diesen Sprachen vertraut sind, verständlichen Begriffen kodiert sind. Ein in einer solchen Programmiersprache entwickeltes Computerprogramm stellt seinen „Quellcode“ dar. Dieser Quellcode wird sodann mit Hilfe einer speziellen, als „Compiler“ bezeichneten Software in einen „Objektcode“ oder „Maschinencode“, d. h. in die Form, die von einem Computer ( 7 ) verstanden und ausgeführt werden kann, „kompiliert“.

6.

Gleichwohl werden Computerprogramme in der Praxis den Nutzern normalerweise nur in Form des Objektcodes mitgeteilt. Dies erlaubt die Nutzung dieser Programme durch deren Ausführung auf dem Computer, ermöglicht aber nicht die Kenntnisnahme von ihrem Inhalt, was für ein urheberrechtlich geschütztes Werk ungewöhnlich ist. Die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit der Nutzer eines Computerprogramms das Recht hat, den Objektcode dieses Programms in den Quellcode zu übersetzen (ein solcher Vorgang wird als „Dekompilierung“ bezeichnet), um von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen, steht gerade im Mittelpunkt des vorliegenden Falls.

7.

Diese Frage führt uns zur dritten Besonderheit der Computerprogramme als Schutzgegenstände des Urheberrechts: dem Verhältnis zwischen diesem Schutz und dem klassischen Grundsatz des Urheberrechts, wonach dieses nicht Ideen schützt, sondern nur deren Ausdrucksform. Dieser Grundsatz spiegelt die Daseinsberechtigung des Urheberrechts wider, die darin besteht, nicht nur zur Schöpfung beizutragen, indem die schöpferische Arbeit der Urheber geschützt wird, sondern auch zur Verbreitung von und zum Zugang zu Ideen, indem ihre Monopolisierung verhindert wird, so dass sie die Quelle für weitere Schöpfungen bilden können. Der Umstand, dass die Ausdrucksform der Computerprogramme, so wie sie üblicherweise offengelegt werden, nicht für den Menschen wahrnehmbar ist, ermöglicht es indessen, die diesen Programmen zugrunde liegenden Ideen zu verbergen, wodurch deren Urhebern ein Schutz verliehen wird, der über das, was durch die Ziele des Urheberrechts gerechtfertigt ist, hinausgeht ( 8 ). Computerprogramme sind somit die einzige Kategorie geschützter Werke, für die kein Zugang zu den zugrunde liegenden Ideen im Wege einer einfachen sensorischen Analyse ohne Vornahme von unter das Ausschließlichkeitsrecht des Urhebers fallenden Handlungen möglich ist ( 9 ).

8.

Diese einleitenden Ausführungen schienen mir notwendig, um den vorliegenden Fall in den spezifischen Kontext des urheberrechtlichen Schutzes von Computerprogrammen einzuordnen. Das Schlüsselproblem dieser Rechtssache, d. h. das Problem des Rechts auf Dekompilierung eines Programms, kann sich nämlich für keine andere Kategorie von Schutzgegenständen stellen, aus dem einfachen Grund, dass für den Zugang zum Inhalt von Werken, die zu anderen Kategorien als der der Computerprogramme gehören, weder das Dekompilierungsverfahren noch ein ähnliches Verfahren erforderlich ist.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

9.

Art. 1 der Richtlinie 91/250/EWG des Rates vom 14. Mai 1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen ( 10 ) bestimmt:

„(1)   Gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie schützen die Mitgliedstaaten Computerprogramme urheberrechtlich als literarische Werke im Sinne der Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und der Kunst. Im Sinne dieser Richtlinie umfasst der Begriff ‚Computerprogramm‘ auch das Entwurfsmaterial zu ihrer Vorbereitung.

(2)   Der gemäß dieser Richtlinie gewährte Schutz gilt für alle Ausdrucksformen von Computerprogrammen. Ideen und Grundsätze, die irgendeinem Element eines Computerprogramms zugrunde liegen, einschließlich der den Schnittstellen zugrunde liegenden Ideen und Grundsätze, sind nicht im Sinne dieser Richtlinie urheberrechtlich geschützt.

(3)   Computerprogramme werden geschützt, wenn sie individuelle Werke in dem Sinne darstellen, dass sie das Ergebnis der eigenen geistigen Schöpfung ihres Urhebers sind. Zur Bestimmung ihrer Schutzfähigkeit sind keine anderen Kriterien anzuwenden.“

10.

In Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie 91/250 heißt es:

„Vorbehaltlich der Bestimmungen der Artikel 5 und 6 umfassen die Ausschließlichkeitsrechte des Rechtsinhabers im Sinne des Artikels 2 das Recht, folgende Handlungen vorzunehmen oder zu gestatten:

a)

die dauerhafte oder vorübergehende Vervielfältigung, ganz oder teilweise, eines Computerprogramms mit jedem Mittel und in jeder Form. Soweit das Laden, Anzeigen, Ablaufen, Übertragen oder Speichern des Computerprogramms eine Vervielfältigung erforderlich macht, bedürfen diese Handlungen der Zustimmung des Rechtsinhabers;

b)

die Übersetzung, die Bearbeitung, das Arrangement und andere Umarbeitungen eines Computerprogramms sowie die Vervielfältigung der erzielten Ergebnisse, unbeschadet der Rechte der Person, die das Programm umarbeitet“.

11.

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 bestimmt:

„In Ermangelung spezifischer vertraglicher Bestimmungen bedürfen die in Artikel 4 Buchstaben a) und b) genannten Handlungen nicht der Zustimmung des Rechtsinhabers, wenn sie für eine bestimmungsgemäße Benutzung des Computerprogramms einschließlich der Fehlerberichtigung durch den rechtmäßigen Erwerber notwendig sind.“

12.

Schließlich sieht Art. 6 („Dekompilierung“) der Richtlinie 91/250 vor:

„(1)   Die Zustimmung des Rechtsinhabers ist nicht erforderlich, wenn die Vervielfältigung des Codes oder die Übersetzung der Codeform im Sinne des Artikels 4 Buchstaben a) und b) unerlässlich ist, um die erforderlichen Informationen zur Herstellung der Interoperabilität eines unabhängig geschaffenen Computerprogramms mit anderen Programmen zu erhalten, sofern folgende Bedingungen erfüllt sind:

a)

Die Handlungen werden von dem Lizenznehmer oder von einer anderen zur Verwendung einer Programmkopie berechtigten Person oder in deren Namen von einer hierzu ermächtigten Person vorgenommen;

b)

die für die Herstellung der Interoperabilität notwendigen Informationen sind für die unter Buchstabe a) genannten Personen noch nicht ohne weiteres zugänglich gemacht; und

c)

die Handlungen beschränken sich auf die Teile des ursprünglichen Programms, die zur Herstellung der Interoperabilität notwendig sind.

(2)   Die Bestimmungen von Absatz 1 erlauben nicht, dass die im Rahmen ihrer Anwendung gewonnenen Informationen

a)

zu anderen Zwecken als zur Herstellung der Interoperabilität des unabhängig geschaffenen Programms verwendet werden;

b)

an Dritte weitergegeben werden, es sei denn, dass dies für die Interoperabilität des unabhängig geschaffenen Programms notwendig ist;

c)

für die Entwicklung, Herstellung oder Vermarktung eines Programms mit im Wesentlichen ähnlicher Ausdrucksform oder für irgendwelche anderen, das Urheberrecht verletzenden Handlungen verwendet werden.

(3)   Zur Wahrung der Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und der Kunst können die Bestimmungen dieses Artikels nicht dahin gehend ausgelegt werden, dass dieser Artikel in einer Weise angewendet werden kann, die die rechtmäßigen Interessen des Rechtsinhabers in unvertretbarer Weise beeinträchtigt oder im Widerspruch zur normalen Nutzung des Computerprogramms steht.“

13.

Die Richtlinie 91/250 wurde mit Wirkung vom 24. Mai 2009 durch Art. 10 der Richtlinie 2009/24/EG ( 11 ) aufgehoben. Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens fällt jedoch in zeitlicher Hinsicht weiterhin unter die Richtlinie 91/250. Im Übrigen wurden die einschlägigen Bestimmungen der genannten Richtlinie nicht geändert.

Belgisches Recht

14.

Die Art. 4, 5 und 6 der Richtlinie 91/250 wurden, im Wesentlichen wörtlich, durch die Art. 5, 6 und 7 des Gesetzes vom 30. Juni 1994 zur Umsetzung der Richtlinie 91/250/EWG des Rates vom 14. Mai 1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen in belgisches Recht umgesetzt ( 12 ).

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

15.

Der Selor (Auswahlbüro der föderalen Verwaltung) ist eine belgische öffentliche Einrichtung, die in den Föderalen Öffentlichen Dienst „Politik und Unterstützung“ eingegliedert wurde und für die Auswahl und Orientierung zukünftiger Mitarbeiter der verschiedenen öffentlichen Dienste der Verwaltung zuständig ist. Im Ausgangsverfahren wird der belgische Staat als Partei bezeichnet.

16.

Die Top System SA, eine Gesellschaft belgischen Rechts, entwickelt Computerprogramme und erbringt verschiedene IT-Dienstleistungen für ihre Kunden. Sie arbeitet seit mehreren Jahren mit dem Selor zusammen.

17.

Top System ist u. a. Urheber mehrerer auf Anfrage des Selor entwickelter Anwendungen, darunter „SWA“ (Selor Web Access), auch als „eRecruiting“ bezeichnet. Diese Anwendungen setzen sich zum einen aus Elementen, die „maßgeschneidert“ wurden, um dem Bedarf und den spezifischen Anforderungen des Selor zu genügen, und zum anderen aus Elementen zusammen, die von Top System dem „TSF“ (Top System Framework), einem Programm, dessen Urheber sie ist, entnommen wurden. Eine der Komponenten des TSF ist der „DGE“ (DataGridEditor). Der Selor besitzt eine Lizenz zur Nutzung der von Top System entwickelten Anwendungen.

18.

Am 6. Februar 2008 schlossen der Selor und Top System Dienstleistungsverträge ab, von denen einer die Installation und die Konfiguration einer neuen Entwicklungsumgebung sowie die Integration und die Migration der Quellen der Selor-Anwendungen in diese neue Umgebung betraf. In der Zeit von Juni bis Oktober 2008 wurden E‑Mails wegen Problemen bei bestimmten Anwendungen, u. a. bei der Anwendung eRecruiting, ausgetauscht.

19.

Dies führte zu einem Rechtsstreit vor den Brüsseler Handelsgerichten (Belgien). Insbesondere erhob Top System am 6. Juli 2009 vor dem Tribunal de Commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel, Belgien) Klage gegen den Selor und den belgischen Staat, um im Wesentlichen die Feststellung der Dekompilierung der TSF-Rahmensoftware durch den Selor zu erwirken. Top System machte u. a. eine Verletzung ihrer ausschließlichen Rechte am TSF geltend und beantragte, den Selor und den belgischen Staat zur Zahlung von Schadensersatz zu verurteilen. Die Rechtssache wurde an das Tribunal de première instance de Bruxelles (Gericht erster Instanz Brüssel, Belgien) verwiesen, das den Schadensersatzantrag für unbegründet erklärte.

20.

Top System legte gegen dieses Urteil bei dem vorlegenden Gericht Berufung ein. Vor diesem Gericht räumt der Selor ein, eine Dekompilierung eines Teils des TSF, dessen Funktionalitäten in die Selor-Anwendungen integriert worden seien, vorgenommen zu haben, um eine fehlerhafte Funktion zu desaktivieren. Der Selor macht geltend, dass er zu dieser Dekompilierung berechtigt sei, und zwar erstens vertraglich, was das vorlegende Gericht als unbegründet zurückweist, und zweitens aufgrund der Bestimmungen zur Umsetzung von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250. Top System dagegen bestreitet das Vorhandensein von Fehlern in ihrer Software und macht zugleich geltend, dass die Dekompilierung eines Computerprogramms außerhalb des vertraglichen Rahmens nur nach Art. 6 dieser Richtlinie und nicht zur Fehlerberichtigung, sondern zur Herstellung der Interoperabilität unabhängiger Software erlaubt sei.

21.

Vor diesem Hintergrund hat die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 dahin auszulegen, dass er es dem rechtmäßigen Erwerber eines Computerprogramms erlaubt, dieses ganz oder teilweise zu dekompilieren, wenn diese Dekompilierung notwendig ist, um es ihm zu ermöglichen, Fehler, die das Funktionieren dieses Programms beeinträchtigen, zu berichtigen, einschließlich in dem Fall, dass die Berichtigung darin besteht, eine Funktion zu desaktivieren, die das ordnungsgemäße Funktionieren der Anwendung, zu der dieses Programm gehört, beeinträchtigt?

2.

Wird dies bejaht, müssen dann außerdem die Bedingungen des Art. 6 der Richtlinie 91/250 oder andere Bedingungen erfüllt sein?

22.

Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 14. Januar 2020 beim Gerichtshof eingegangen. Die Parteien des Ausgangsverfahrens und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In Anbetracht der aktuellen Umstände im Zusammenhang mit der Gesundheitskrise hat der Gerichtshof beschlossen, die mündliche Verhandlung aufzuheben. Die Parteien haben die Fragen des Gerichtshofs schriftlich beantwortet.

Würdigung

Zur ersten Vorlagefrage

23.

Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 es einem rechtmäßigen Erwerber eines Computerprogramms erlaubt, dieses Programm zu dekompilieren, wenn diese Dekompilierung notwendig ist, um Fehler zu berichtigen, die sein Funktionieren beeinträchtigen. Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, beruhen die Zweifel dieses Gerichts insbesondere auf dem von Top System vorgetragenen Argument, dass die Dekompilierung eines Computerprogramms nur unter den in Art. 6 der Richtlinie vorgesehenen Umständen ( 13 ) zulässig und daher unter den von Art. 5 der Richtlinie erfassten Umständen ausgeschlossen sei. Zur Beantwortung dieser Frage ist es erforderlich, die Vorrechte des Inhabers der Urheberrechte an einem Computerprogramm gegenüber einem rechtmäßigen Erwerber dieses Programms zu prüfen.

Zum Verhältnis zwischen dem Rechtsinhaber und dem rechtmäßigen Erwerber eines Computerprogramms

24.

Art. 4 der Richtlinie 91/250 räumt dem Inhaber der Urheberrechte ausschließliche Rechte mit präventivem Charakter ( 14 ) an seinem Computerprogramm ein. Das erste dieser Rechte ist das Vervielfältigungsrecht, das besonders weit gefasst ist, da es nicht nur jede – dauerhafte oder vorübergehende – Form der Vervielfältigung, sondern auch die für die Nutzung eines Programms erforderlichen Vervielfältigungshandlungen umfasst. Im Gegensatz zu anderen Kategorien von Werken, jedenfalls denjenigen, die auf einem eigenen Träger öffentlich verbreitet werden, erfordert ein Computerprogramm für seine Nutzung jedoch immer eine – wenn auch nur vorübergehende – Vervielfältigung im Speicher des Computers. Die Ausschließlichkeitsrechte des Inhabers stellen daher im Hinblick auf Computerprogramme einen tieferen Eingriff in die Privatsphäre des Nutzers dar als bei anderen Kategorien von Schutzgegenständen, da sie de facto auch für die bloße Nutzung des Programms eine Zustimmung des Rechtsinhabers erfordern. Die Richtlinie 91/250 enthält jedoch keine den Ausnahmen gemäß Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29/EG ( 15 ) entsprechenden Ausnahmen.

25.

Sodann unterstellt die Richtlinie 91/250 eine ganze Reihe von Handlungen im Zusammenhang mit der Umarbeitung eines Computerprogramms, einschließlich der „Vervielfältigung der erzielten Ergebnisse“, dem Monopol des Inhabers. Auch in diesem Fall sind die Rechte des Inhabers im Vergleich zu den klassischen urheberrechtlichen Lösungen, wonach Umarbeitungen des Werks nur im Wege der öffentlichen Verbreitung des Ergebnisses der Umarbeitung in die ausschließliche Sphäre des Urhebers gelangen können, besonders weitreichend.

26.

Das Monopol des Inhabers der Urheberrechte an einem Computerprogramm erstreckt sich somit nicht nur auf die klassischen urheberrechtlichen Verwertungshandlungen, sondern auch auf den Genuss des Werks in der Privatsphäre des Nutzers.

27.

Schließlich ist in der Richtlinie 91/250 das von der vorliegenden Rechtssache nicht betroffene Verbreitungsrecht verankert.

28.

Diese weit gefasste Definition der Vorrechte des Rechtsinhabers ist jedoch im Hinblick auf seine Beziehung zu einem rechtmäßigen Erwerber seines Computerprogramms eingeschränkt. Nach dem Einleitungssatz von Art. 4 der Richtlinie 91/250 werden dem Rechtsinhaber die Ausschließlichkeitsrechte nämlich „[v]orbehaltlich der Bestimmungen der Artikel 5 und 6“ dieser Richtlinie gewährt. Somit stellen diese Artikel, auch wenn sie als Ausnahmen von den ausschließlichen Rechten dargestellt werden ( 16 ), in Wirklichkeit eine diesen Rechten innewohnende Beschränkung dar. Nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie bedürfen die in Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie genannten Handlungen – nämlich die Vervielfältigung und alle Formen der Umarbeitung des Programms – nicht der Zustimmung des Rechtsinhabers, wenn sie für die Benutzung des Computerprogramms einschließlich der Fehlerberichtigung durch dessen rechtmäßigen Erwerber notwendig sind.

29.

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 enthält jedoch seinen eigenen Vorbehalt, nämlich den, dass die Handlungen des rechtmäßigen Erwerbers eines Computerprogramms, die im Rahmen der Benutzung dieses Programms vorgenommen werden, „[i]n Ermangelung spezifischer vertraglicher Bestimmungen“ nicht dem Monopol des Rechtsinhabers unterliegen.

30.

Letztlich besteht die eigentliche Folge von Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie 91/250 darin, es dem Inhaber der Urheberrechte an einem Computerprogramm in seinen Beziehungen zu einem rechtmäßigen Erwerber seines Programms zu ermöglichen, die Modalitäten der Nutzung dieses Programms durch diesen Erwerber vertraglich im Einzelnen festzulegen. In Ermangelung solcher vertraglichen Regelungen steht es dem Erwerber jedoch frei, Handlungen vorzunehmen, die grundsätzlich dem Monopol des Rechtsinhabers unterliegen, sofern die Nutzung des betreffenden Programms im Rahmen seiner bestimmungsgemäßen Verwendung bleibt, wozu auch die Fehlerberichtigung gehört.

31.

Im Übrigen trifft es zu, dass nach dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 91/250 „das Laden und Ablaufen, sofern es für die Benutzung einer Kopie eines rechtmäßig erworbenen Computerprogramms erforderlich ist, sowie die Fehlerberichtigung nicht vertraglich untersagt werden dürfen“. Es ist jedoch festzustellen, dass die Analyse des normativen Teils dieser Richtlinie zum gegenteiligen Ergebnis führt. Die Richtlinie enthält nämlich nicht nur keine ausdrückliche Bestimmung im Sinne dieses Erwägungsgrundes, sondern lässt eine solche Auslegung nicht einmal zu. Die einzige Bestimmung der Richtlinie 91/250, die relevant sein könnte, nämlich Art. 5 Abs. 1, behandelt alle in Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie aufgezählten Handlungen in gleicher Weise. Diese Bestimmung lässt somit keinen Auslegungsspielraum, der es erlaubte, bestimmte Handlungen, nämlich das Laden und Ablaufen des Computerprogramms sowie die Fehlerberichtigung, von dem in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 enthaltenen Vorbehalt betreffend spezifische vertragliche Bestimmungen auszunehmen. Die Erwägungsgründe einer Richtlinie können zwar für die Auslegung der die betreffenden Erwägungsgründe widerspiegelnden Bestimmungen maßgeblich sein, haben jedoch keinen normativen Wert, der es ermöglichen würde, dass sie nicht existierende Bestimmungen ersetzen oder zu einer Auslegung contra legem führen.

32.

Dies gilt umso mehr, als Art. 9 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 91/250 ausdrücklich bestimmt, dass vertragliche Bestimmungen, die im Widerspruch zu Art. 6 sowie zu Art. 5 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie stehen, unwirksam sind. Der Umstand, dass der Unionsgesetzgeber Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie dort nicht erwähnt hat, kann daher nur als gewollt angesehen werden.

33.

Wie die Kommission in ihrer Antwort auf eine entsprechende Frage des Gerichtshofs geltend macht, ist es denkbar, dass der 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 91/250 den Wortlaut des ursprünglichen Vorschlags für diese Richtlinie widerspiegelt ( 17 ). In Art. 5 Abs. 1 des Vorschlags wurde nämlich zwischen von den Parteien ausgehandelten Lizenzverträgen und sogenannten „vorformulierten Standardverträgen“ unterschieden, bei denen sich die Vertragsfreiheit des Erwerbers eines Computerprogramms darauf beschränkt, den Vertrag abzuschließen oder nicht. Nach Ansicht der Kommission betrifft das im 17. Erwägungsgrund genannte Verbot nur diese zweite Kategorie von Verträgen. Im schließlich verabschiedeten Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 wird jedoch keine solche Unterscheidung getroffen. Daher können die Bedingungen eines Lizenzvertrags für die Nutzung eines Computerprogramms alle Aspekte einer solchen Nutzung regeln, einschließlich des Ladens und Ablaufens sowie der Fehlerberichtigung.

34.

Dies ist nicht so irrational, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Selbstverständlich ist es schwierig, sich eine Lizenz zur Nutzung eines Programms vorzustellen, die diese Nutzung vollständig verbieten würde. Die Nutzung des Programms kann jedoch eingeschränkt werden, z. B. hinsichtlich der Anzahl der Computer, auf denen das Programm installiert und genutzt werden kann, so dass das Laden und Ablaufen des Programms auf weiteren Computern, auch durch denselben Erwerber ( 18 ), verboten wäre. Dies gilt umso mehr für die Fehlerberichtigung, die normalerweise nicht zu den Handlungen gehört, die für die bestimmungsgemäße Benutzung eines Computerprogramms erforderlich sind. Die Fehlerberichtigung kann daher dem Inhaber der Urheberrechte vorbehalten werden, ohne dadurch die Kohärenz einer Nutzungslizenz für das Programm zu beeinträchtigen ( 19 ).

35.

Ich verstehe daher die Feststellung des Gerichtshofs im Urteil SAS Institute ( 20 ), dass nach dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 91/250 das für die Benutzung eines Computerprogramms erforderliche Laden und Ablaufen vertraglich nicht untersagt werden darf, in dem Sinne, dass eine Nutzungslizenz, die die für diese Nutzung erforderlichen Handlungen vollständig verbietet, ein Widerspruch in sich wäre ( 21 ). Dagegen kann diese Feststellung meines Erachtens nicht dahin ausgelegt werden, dass sie diesem Erwägungsgrund einen eigenständigen normativen Wert einräumt.

36.

Was insbesondere die Fehlerberichtigung betrifft, so würde eine Auslegung, nach der die Möglichkeit des Erwerbers des Programms, eine solche Berichtigung vorzunehmen, vertraglich nicht ausgeschlossen werden könnte, zu einem Ungleichgewicht zum Nachteil der Urheberrechtsinhaber führen. Dieses Ungleichgewicht wäre umso erheblicher, wenn der Gerichtshof meinem Vorschlag für eine Antwort in der vorliegenden Rechtssache folgen und den Standpunkt einnehmen sollte, dass dem Erwerber das Recht einzuräumen ist, das Programm zum Zweck dieser Berichtigung zu dekompilieren, ohne zuvor die Erlaubnis des Rechtsinhabers einzuholen. Dadurch würde dem Rechtsinhaber nämlich jede Möglichkeit genommen, sich dieser Dekompilierung zu widersetzen ( 22 ).

37.

Diese Frage scheint jedoch unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht relevant zu sein. Aus den Verfahrensakten geht nämlich hervor, dass der Vertrag zwischen Top System und dem Selor keine Bestimmung enthält, die es dem Selor verbieten würde, Fehler in den Computerprogrammen von Top System zu berichtigen, oder dass sich diese Gesellschaft vor dem vorlegenden Gericht jedenfalls nicht auf solche Bestimmungen beruft. Der Selor ist daher nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 berechtigt, Fehler in den betreffenden Programmen zu berichtigen.

38.

Mithin ist nunmehr zu prüfen, ob diese Bestimmung es einem Erwerber eines Computerprogramms ermöglicht, dieses Programm zu dekompilieren, um dessen Fehler zu berichtigen. Ich werde diese Analyse mit einigen Klarstellungen zum Begriff der „Dekompilierung“ beginnen.

Zum Begriff der „Dekompilierung“

39.

Wie bereits dargelegt ( 23 ), muss ein vom Programmierer in einer für den Menschen verständlichen Programmiersprache geschriebenes Computerprogramm anschließend in eine für den Computer verständliche Form, d. h. in die Maschinensprache, umgewandelt werden. Dieser Vorgang wird mit einem speziellen Programm, dem Compiler, durchgeführt und wird als Kompilierung bezeichnet. Die Version des Programms in der Programmiersprache wird als „Quellcode“ und die Version in Maschinensprache als „Objektcode“ bezeichnet. Es handelt sich dabei nicht um eine einfache Transkription des Programms in den Binärcode, sondern um eine „Übersetzung“ der im Quellcode funktional und abstrakt formulierten Befehle in konkrete Befehle für die Komponenten eines Computerprozessors mit einer bestimmten Architektur. Bestimmte Programme, die in Programmiersprachen geschrieben sind, die der Maschinensprache näherstehen („niedrige Programmiersprachen“), werden nicht kompiliert, sondern assembliert. Dabei handelt es sich um einen der Kompilierung ähnlichen Vorgang, und da die Richtlinie 91/250 nicht zwischen diesen beiden Vorgängen unterscheidet, ist davon auszugehen, dass kompilierte Programme und assemblierte Programme aus rechtlicher Sicht gleich zu behandeln sind.

40.

Computerprogramme werden normalerweise nur in Form des Objektcodes vertrieben. Der Objektcode ist für den Menschen jedoch nicht verständlich. Daher muss der rechtmäßige Erwerber eines Computerprogramms, soweit er den Inhalt des Programms zur Kenntnis nehmen und Änderungen daran vornehmen möchte, insbesondere um Fehler zu berichtigen, den ihm vorliegenden Objektcode in eine für den Menschen verständliche, d. h. in einer Programmiersprache formulierte, Programmform umarbeiten. Dieser als Dekompilierung bezeichnete Vorgang besteht darin, aus den im Objektcode enthaltenen Befehlen für den Prozessor funktionale Befehle des Programms zu reproduzieren. Die Dekompilierung ist also eine Art „Rückentwicklung“ (reverse engineering), d. h. ein auf Computerprogramme angewandter Vorgang, durch den ausgehend vom fertigen Produkt die Konstruktion eines komplexen Instruments erschlossen werden kann.

41.

Dagegen ermöglicht die Dekompilierung keine Vervielfältigung des ursprünglichen Quellcodes des fraglichen Computerprogramms. Während des Kompilierungsvorgangs gehen nämlich bestimmte im Quellcode enthaltene Informationen, die für die Funktion des Computerprozessors nicht wesentlich sind, verloren und können durch den Dekompilierungsvorgang nicht wiederhergestellt werden. Außerdem kann derselbe Quellcode, je nach Parametrierung des Compilers, nach der Kompilierung unterschiedliche Ergebnisse liefern. Das Ergebnis der Dekompilierung stellt somit eine dritte, oftmals als „Quasi-Quellcode“ bezeichnete Version des Programms dar. Gleichwohl kann das so dekompilierte Programm erneut in einen funktionsfähigen Objektcode rekompiliert werden.

Zur Dekompilierung als Bestandteil des Urhebermonopols

42.

Auf die Frage, ob die Dekompilierung eines Computerprogramms unter die ausschließlichen Rechte des Urhebers im Sinne von Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie 91/250 fällt, haben die Beteiligten, die in der vorliegenden Rechtssache Erklärungen abgegeben haben, einstimmig mit „ja“ geantwortet. Die Kommission hat diesbezüglich eine ausführliche Antwort vorgelegt. Im Wesentlichen ist sie der Ansicht, dass die Dekompilierung als solche zwar nicht unmittelbar von diesen Bestimmungen erfasst werde, dass aber eine Reihe von Handlungen, die zusammen den Dekompilierungsvorgang ausmachten, wie z. B. die Vervielfältigung und Umarbeitung des Computerprogramms, eindeutig dem Monopol des Urhebers unterliege.

43.

Ich pflichte dem bei.

44.

Nach Art. 1 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 91/250 gilt der gemäß dieser Richtlinie gewährte Schutz nämlich für alle Ausdrucksformen von Computerprogrammen. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, stellen sowohl der Quellcode als auch der Objektcode zwei Ausdrucksformen desselben Computerprogramms dar, die beide geschützt sind ( 24 ). Der Übergang von einer Form zur anderen erfordert somit eine Vervielfältigung und eine Umarbeitung des Programms.

45.

Bei der Dekompilierung wird das Programm in Form des (geschützten) Objektcodes in den „Quasi-Quellcode“ umgearbeitet. Dieser stellt eine Vervielfältigung der aus der Umarbeitung des Programms erzielten Ergebnisse dar, wobei diese Umarbeitung in der Übersetzung der Maschinensprache in eine Programmiersprache besteht. Eine solche Vervielfältigung unterliegt gemäß Art. 4 Buchst. b der Richtlinie 91/250 ausdrücklich dem ausschließlichen Recht des Urhebers des Programms.

46.

Dies wird im Übrigen durch den 19. Erwägungsgrund dieser Richtlinie bestätigt, wonach „[d]ie nicht erlaubte Vervielfältigung, Übersetzung, Bearbeitung oder Änderung der Codeform einer Kopie eines Computerprogramms... eine Verletzung der Ausschließlichkeitsrechte des Urhebers dar[stellt]“.

47.

Eine endgültige Bestätigung dafür, dass die Dekompilierung in den Anwendungsbereich von Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie 91/250 fällt, findet sich schließlich in ihrem Art. 6 Abs. 1. Art. 6 („Dekompilierung“) der Richtlinie 91/250 bezieht sich nämlich auf die „Vervielfältigung des Codes oder die Übersetzung der Codeform im Sinne des Artikels 4 Buchstaben a) und b)“ ( 25 ) dieser Richtlinie. Es handelt sich somit um eine indirekte Definition des Begriffs der „Dekompilierung“ im Sinne der Richtlinie 91/250, die ausdrücklich auf die in Art. 4 Buchst. a und b dieser Richtlinie aufgezählten Ausschließlichkeitsrechte des Urhebers eines Computerprogramms verweist.

48.

Somit ist festzustellen, dass die Dekompilierung eines Computerprogramms unter die in Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie 91/250 vorgesehenen Ausschließlichkeitsrechte des Urhebers eines solchen Programms fällt.

Zur Einbeziehung der Dekompilierung in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250

49.

Die in der vorstehenden Nummer getroffene Feststellung impliziert, dass die Frage, ob die Dekompilierung unter die Ausnahme (oder, besser gesagt, die Beschränkung) nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 fällt, zu bejahen ist. Ich stimme der Kommission in diesem Punkt zu.

50.

Nach dieser Bestimmung ist der rechtmäßige Erwerber eines Computerprogramms nämlich berechtigt, alle in Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie 91/250 aufgeführten Handlungen vorzunehmen, sofern diese Handlungen für die Benutzung des Programms einschließlich der Fehlerberichtigung notwendig sind. Wenn die Dekompilierung oder die Handlungen, aus denen sie sich zusammensetzt, wie die Vervielfältigung und die Umarbeitung des Codes, in den gemäß Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie geschützten Bereich fallen, müssen diese Handlungen folgerichtigerweise zwangsläufig auch in den von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie erfassten Bereich fallen.

51.

Der von Top System vertretenen Auslegung dieser Bestimmungen, wonach die Dekompilierung in den Bereich des Urhebermonopols nach Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie 91/250 falle, aber von der in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahme ausgeschlossen sei, kann nicht gefolgt werden. Aus dem Aufbau und dem Wortlaut dieser Bestimmungen geht klar hervor, dass diese beiden Auslegungen nicht kumuliert werden können.

Zum Beitrag von Art. 6 der Richtlinie 91/250

52.

Top System ist jedoch der Ansicht, dass Art. 6 der Richtlinie 91/250 eine andere Auslegung von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie als die von mir oben vorgeschlagene gebiete. Art. 6 der Richtlinie stelle nämlich eine Art lex specialis dar und sei die einzige Bestimmung, die die Dekompilierung betreffe. Die Eigenschaft dieser Bestimmung als lex specialis schließe die Dekompilierung aus dem Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 aus. Da Art. 6 der Richtlinie die Dekompilierung allein zu dem Zweck zulasse, die Interoperabilität unabhängig geschaffener Computerprogramme zu gewährleisten, sei die ohne Zustimmung des Urheberrechtsinhabers vorgenommene Dekompilierung zur Berichtigung von Fehlern in einem Computerprogramm verboten.

53.

Dieses Vorbringen hält jedoch der Kritik nicht stand.

54.

Wie ich ausgeführt habe, zählt Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 nämlich die verschiedenen von ihm erfassten Handlungen nicht auf. Diese Bestimmung verweist lediglich auf Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie und nimmt die in diesem Art. 4 Buchst. a und b „genannten Handlungen“ von der Pflicht zur Einholung der Zustimmung des Urheberrechtsinhabers aus, soweit sie für die Benutzung eines Computerprogramms notwendig sind. Außerdem enthält diese Bestimmung keinen Vorbehalt im Hinblick auf Art. 6 der Richtlinie.

55.

Dagegen betrifft Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 zwei spezifische Kategorien der von Art. 4 Buchst. a und b dieser Richtlinie erfassten Handlungen, nämlich die „Vervielfältigung des Codes“ und die „Übersetzung der Codeform“, und zwar dann, wenn diese Handlungen unerlässlich sind, um die erforderlichen Informationen zur Herstellung der Interoperabilität eines unabhängig geschaffenen Computerprogramms mit anderen Programmen zu erhalten, d. h. zu einem anderen als dem in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Zweck.

56.

Nichts deutet daher darauf hin, dass Art. 6 der Richtlinie 91/250 lex specialis im Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie wäre. Die beiden Bestimmungen haben einen unterschiedlichen Anwendungsbereich, da sie zwei unterschiedliche Fallgestaltungen betreffen. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 betrifft die für die Benutzung eines Computerprogramms erforderlichen Handlungen einschließlich der Fehlerberichtigung, während Art. 6 dieser Richtlinie die Handlungen betrifft, die erforderlich sind, um die Interoperabilität unabhängig geschaffener Programme zu gewährleisten. Diese Bestimmungen sind daher unabhängig voneinander und stehen in keinem Lex-specialis/Lex-generalis-Verhältnis zueinander.

57.

Das Vorbringen von Top System, Art. 6 der Richtlinie 91/250 sei die einzige Bestimmung, die die Dekompilierung eines Computerprogramms zulasse, ist daher zurückzuweisen.

Einbeziehung der Vorarbeiten zur Richtlinie 91/250

58.

Die Schlussfolgerung, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 die Dekompilierung eines Computerprogramms zur Berichtigung von dessen Fehlern erfasst, wird entgegen dem Vorbringen von Top System nicht durch die Erkenntnisse aus den Vorarbeiten zu dieser Richtlinie entkräftet.

59.

Ich teile daher nicht das insbesondere in der Antwort auf die Fragen des Gerichtshofs entwickelte Vorbringen von Top System, die vorbereitenden Arbeiten zur Richtlinie 91/250 zeigten, dass die Dekompilierung eines geschützten Computerprogramms nur unter den in Art. 6 dieser Richtlinie definierten Umständen und zu den dort genannten Zwecken möglich sei. Aus den von Top System angeführten Unterlagen geht nämlich hervor, dass von Beginn der Arbeiten an klar war, dass die in Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie definierten Ausschließlichkeitsrechte der Urheber die Dekompilierung des geschützten Programms umfassen. Da Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 es einem rechtmäßigen Erwerber erlaubt, alle in Art. 4 Buchst. a und b dieser Richtlinie aufgeführten Handlungen vorzunehmen, soweit sie für die Benutzung des Programms, einschließlich der Fehlerberichtigung, notwendig sind, schließt dies zwangsläufig die Dekompilierung ein. So betraf die gesamte Erörterung im Gesetzgebungsverfahren der Richtlinie 91/250, die dazu geführt hat, dass dem ursprünglichen Entwurf der Kommission der heutige Art. 6 dieser Richtlinie hinzugefügt wurde, die Dekompilierung außerhalb der normalen Benutzung eines Computerprogramms und somit außerhalb des Rahmens von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie. Es handelte sich nämlich um die Dekompilierung zum Zweck der Interoperabilität von von unabhängigen Urhebern geschaffenen Programmen.

60.

Es ist also falsch, wie Top System zu behaupten, dass die Frage der Dekompilierung endgültig aus Art. 5 der Richtlinie 91/250 ausgeschlossen sei. Um die Dekompilierung von der Anwendung von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie auszunehmen, müsste sie nämlich auch von Art. 4 Buchst. a und b dieser Richtlinie ausgenommen werden, was sie – in Ermangelung einer anderen Bestimmung, die dem Urheberrechtsinhaber einen Schutz vor Dekompilierung gewährleisten könnte – vollständig aus dessen Ausschließlichkeitssphäre entfernen würde. Eine solche Schlussfolgerung wäre jedoch absurd.

61.

Die Vorarbeiten zur Richtlinie 91/250 zeigen nämlich nur, dass die ursprüngliche Idee, die Ausnahme für die Dekompilierung zum Zweck der Interoperabilität in einen eigenen Absatz von Art. 5 dieser Richtlinie (getrennt von dessen Abs. 1) aufzunehmen, zugunsten der Schaffung eines neuen, dieser Ausnahme gewidmeten und ausführlicheren Artikels aufgegeben wurde. Dies ändert jedoch nichts an der Tragweite von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie.

62.

Es trifft zu, dass der Rat den Umfang dieser neuen Ausnahme stark eingeschränkt hat. Insbesondere wurde die ursprünglich von der Kommission vorgebrachte Idee aufgegeben, die Dekompilierung zum Zweck der Wartung des neu geschaffenen, mit dem dekompilierten Programm interoperablen Programms zuzulassen. Dies erklärt sich meines Erachtens daraus, dass nach Art. 9 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 91/250 anders als bei Art. 5 Abs. 1 von dieser Ausnahme vertraglich nicht abgewichen werden kann. Ziel war es also, die Inhaber der Urheberrechte vor Missbrauch zu schützen. Gleichwohl wird in diesem Fall die Dekompilierung zu Zwecken vorgenommen, die in keinem Zusammenhang mit der normalen Benutzung des Programms stehen ( 26 ).

63.

Ich teile daher die Auffassung der Kommission, dass die Vorarbeiten zu der Richtlinie 91/250 keine anderen Schlussfolgerungen erlauben als diejenigen, die sich aus der wörtlichen und systematischen Auslegung von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie ergeben.

Vorgeschlagene Antwort

64.

Ich schlage daher vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 dahin auszulegen ist, dass er es einem rechtmäßigen Erwerber eines Computerprogramms erlaubt, dieses Programm zu dekompilieren, wenn diese Dekompilierung notwendig ist, um Fehler zu berichtigen, die sein Funktionieren beeinträchtigen.

Zur zweiten Vorlagefrage

65.

Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob, wenn Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 dahin auszulegen ist, dass er es dem rechtmäßigen Erwerber eines Computerprogramms erlaubt, dieses Programm zu dekompilieren, wenn diese Dekompilierung zur Fehlerberichtigung notwendig ist, diese Dekompilierung den Anforderungen des Art. 6 der Richtlinie oder anderen Anforderungen genügen muss.

Zur Anwendbarkeit der Anforderungen aus Art. 6 der Richtlinie 91/250

66.

Art. 6 der Richtlinie 91/250 führt eine Ausnahme von den Ausschließlichkeitsrechten des Inhabers des Urheberrechts an einem Computerprogramm ein, die dessen Dekompilierung ermöglicht, wenn dies notwendig ist, um die Kompatibilität eines anderen, unabhängig geschaffenen Programms mit diesem Programm sicherzustellen. Diese Ausnahme geht mit einer Reihe von in dieser Bestimmung aufgeführten Voraussetzungen und Verboten einher.

67.

Nach meiner Analyse ( 27 ) ist Art. 6 der Richtlinie 91/250 im Verhältnis zu Art. 5 dieser Richtlinie, insbesondere zu dessen Abs. 1, eigenständig. Die in Art. 6 dieser Richtlinie vorgesehene Ausnahme hat nämlich einen anderen Anwendungsbereich und andere Zwecke als die in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehene Ausnahme und definiert auch die Handlungen, die sie zulässt, in anderer Weise.

68.

Die in Art. 6 der Richtlinie 91/250 aufgestellten Anforderungen können daher weder unmittelbar noch analog auf die in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehene Ausnahme Anwendung finden.

69.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass für die Anwendung der letztgenannten Ausnahme keine Anforderung erfüllt werden muss.

Zu den weiteren anwendbaren Anforderungen

70.

In Anbetracht des Wortlauts von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 sind nämlich bestimmte Bedingungen und Beschränkungen der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahme von den Ausschließlichkeitsrechten inhärent ( 28 ).

71.

Zunächst kommt diese Ausnahme nur dem rechtmäßigen Erwerber eines Computerprogramms zugute. Dieser Punkt scheint im Ausgangsverfahren keine Probleme aufzuwerfen und bedarf daher keiner weiteren Ausführungen.

72.

Sodann müssen die vorgenommenen Handlungen, im vorliegenden Fall die Handlungen, die zusammen die Dekompilierung eines Computerprogramms darstellen ( 29 ), notwendig sein, um die bestimmungsgemäße Nutzung dieses Programms, genauer gesagt die Fehlerberichtigung, zu ermöglichen. Zu dieser Voraussetzung ist Folgendes zu bemerken.

73.

Erstens ist der Begriff „Fehler“ zu definieren. Die Frage, ob ein Fehler in einem Computerprogramm vorliegt, kann nämlich Anlass zu Streitigkeiten zwischen dem Urheber und dem Nutzer des Programms geben ( 30 ). Was aus Sicht des Nutzers einen Fehler darstellen kann, kann aus Sicht des Urhebers des Programms eine Funktion oder ein gewolltes Merkmal sein. Zwar enthält die Richtlinie 91/250 keine Definition dieses Begriffs, eine solche Definition kann jedoch aus dem Wortlaut und dem Zweck von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie abgeleitet werden.

74.

Nach dieser Bestimmung müssen die Handlungen des rechtmäßigen Erwerbers eines Computerprogramms diesem „eine bestimmungsgemäße Benutzung [dieses Programms] einschließlich der Fehlerberichtigung“ erlauben. Die Fehlerberichtigung gehört somit zur bestimmungsgemäßen Verwendung des Programms.

75.

Die Bestimmung des Computerprogramms ist die vom Urheber festgelegte oder gegebenenfalls zwischen dem Anbieter und dem Erwerber des Programms bei dessen Erwerb vereinbarte Bestimmung. Ein Fehler ist daher eine Funktionsstörung, die der Verwendung des Programms entsprechend dieser Bestimmung entgegensteht. Nur die Berichtigung solcher Fehler kann Handlungen des Nutzers, einschließlich der Dekompilierung, rechtfertigen, die ohne Zustimmung des Urheberrechtsinhabers vorgenommen werden.

76.

Dagegen stellen Änderungen oder Verbesserungen des Programms gegenüber seinem ursprünglichen Bestimmungszweck keine solche Handlungen rechtfertigende Fehlerberichtigung dar. Es handelt sich dabei insbesondere um die Aktualisierung des Programms im Zusammenhang mit dem technologischen Fortschritt. Die technische Veralterung des Computerprogramms stellt mit anderen Worten keinen Fehler im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 dar.

77.

Da Computerprogramme nämlich nicht nur eine Kategorie von Gebrauchsgegenständen darstellen, sondern auch zu einem Bereich mit besonders schneller technologischer Entwicklung gehören, ist es normal, dass sie mit der Zeit veralten. Die Behebung dieser Veralterung durch die Aktualisierung von Computerprogrammen oder sogar deren Ersetzung durch neue Programme gehört jedoch zur normalen Verwendung dieser Programme als urheberrechtlich geschützte Gegenstände und damit zu den Vorrechten der Urheberrechtsinhaber.

78.

Zweitens muss das Tätigwerden des Benutzers des Computerprogramms im Hinblick auf das verfolgte Ziel notwendig sein. Im vorliegenden Fall geht es um die Frage, ob und inwieweit die Dekompilierung eines Computerprogramms notwendig ist, um dessen Fehler zu berichtigen.

79.

Es gibt sicherlich Fehler, die ohne Zugriff auf den Quellcode des Programms korrigiert werden können, entweder „manuell“ durch den Nutzer oder mit Hilfe einer speziellen Software. Die Beteiligten, die in der vorliegenden Rechtssache Erklärungen abgegeben haben, scheinen jedoch darin übereinzustimmen, dass eine solche Berichtigung in der Regel Änderungen im Programmcode selbst erfordert. Da der Objektcode für Menschen nicht verständlich ist, verlangt eine solche Berichtigung den Zugriff auf den ursprünglichen Quellcode oder die Übersetzung des Objektcodes in den Quellcode („Quasi-Quellcode“ ( 31 )). Es stellt sich daher folgende Frage: Unter welchen Umständen rechtfertigt diese Notwendigkeit die Dekompilierung des Programms durch seinen rechtmäßigen Erwerber?

80.

Top System macht geltend, solche Fälle seien sehr selten und außergewöhnlich. In den meisten Fällen verfüge der rechtmäßige Erwerber eines Computerprogramms bereits über den Quellcode, oder der Inhaber der Urheberrechte könne ihm den Zugriff auf diesen eröffnen, oder der Rechtsinhaber sei aufgrund eines Wartungsvertrags mit der Fehlerberichtigung betraut.

81.

Ich klammere hier die Hypothese aus, dass der rechtmäßige Erwerber über die unkompilierte oder bereits dekompilierte Version des Programms verfügt, d. h. über den Zugriff auf den Quellcode. Es ist offensichtlich, dass in dieser Situation keine Dekompilierung erforderlich ist. Problematischer sind das Verhältnis zwischen diesem Erwerber und dem Inhaber der Urheberrechte an dem Computerprogramm sowie ihre wechselseitigen Verpflichtungen. Hier geht es jedoch nicht um die Notwendigkeit der Dekompilierung des Programms zur Fehlerberichtigung, sondern um die Voraussetzung für die Anwendung von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250, nämlich das Fehlen entgegenstehender vertraglicher Bestimmungen.

82.

Zur Erinnerung: Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 gilt „[i]n Ermangelung spezifischer vertraglicher Bestimmungen“. Mit anderen Worten kann der Vertrag über den Erwerb des Programms dessen Nutzung einschließlich der Fehlerberichtigung regeln, indem er die Möglichkeit des Erwerbers beschränkt, zum Zweck dieser Berichtigung dem Monopol des Rechtsinhabers unterliegende Handlungen vorzunehmen. Diese Beschränkung kann bis zu einem vollständigen Verbot der Fehlerberichtigung durch den Erwerber gehen ( 32 ). In einem solchen Fall findet die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme keine Anwendung, und die Handlungen des Käufers sind auf die nach dem Vertrag zulässigen Handlungen beschränkt.

83.

Enthält der Vertrag zwischen den Parteien hingegen keine solche Beschränkung, so steht es dem rechtmäßigen Erwerber eines Computerprogramms meines Erachtens frei, die in Art. 4 Buchst. a und b der Richtlinie 91/250 aufgeführten Handlungen vorzunehmen, einschließlich der Dekompilierung des Programms, wenn sich dies u. a. zur Fehlerberichtigung als notwendig erweist. Der Erwerber hat keine weiteren Verpflichtungen gegenüber dem Inhaber des Urheberrechts an dem Programm. Er ist daher nicht verpflichtet, den Rechtsinhaber zur Fehlerberichtigung aufzufordern oder Zugriff auf den Quellcode des Programms zu verlangen oder den Rechtsweg zu beschreiten, um den Rechtsinhaber zur Vornahme einer besonderen Handlung verurteilen zu lassen. Auch wenn sich aus Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie keine solchen Verpflichtungen ergeben, ist indessen zu berücksichtigen, dass es sich bei der Dekompilierung um einen aufwändigen und kostspieligen Vorgang mit ungewissen Auswirkungen handelt. In der Praxis werden die Nutzer auf diese Technik daher nur als letzte Möglichkeit zurückgreifen ( 33 ).

84.

Es ist selbstverständlich Sache des zuständigen Gerichts, im Streitfall den genauen Inhalt der vertraglichen Rechte und Pflichten der Parteien des Vertrags über den Erwerb eines Computerprogramms zu bestimmen.

85.

Auch wenn die Berichtigung eines Fehlers oft die Änderung eines sehr kleinen Codefragments eines Computerprogramms erfordert, kann das Auffinden dieses Fragments die Dekompilierung eines wesentlichen Teils oder sogar des gesamten Programms notwendig machen. Eine solche Dekompilierung kann daher nicht als für die Berichtigung des Fehlers nicht erforderlich angesehen werden, da dies die Berichtigung unmöglich machen und der in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 vorgesehenen Ausnahme ihre praktische Wirksamkeit nehmen würde. Der rechtmäßige Erwerber des Computerprogramms ist daher nach dieser Bestimmung berechtigt, das Programm so weit zu dekompilieren, wie dies nicht nur zur Berichtigung eines Fehlers im engeren Sinne, sondern auch zum Auffinden dieses Fehlers und des zu ändernden Teils des Programms notwendig ist.

86.

Schließlich ist festzustellen, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 keine Beschränkungen im Hinblick auf die Verwendung der durch die Dekompilierung eines Computerprogramms gewonnenen Informationen erwähnt, wie sie in Art. 6 Abs. 2 dieser Richtlinie enthalten sind. Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass der rechtmäßige Erwerber eines Computerprogramms, der das Programm dekompiliert hat, um dessen Fehler zu berichtigen, das Ergebnis dieser Dekompilierung für andere Zwecke verwenden darf.

87.

Art. 4 Buchst. b der Richtlinie 91/250 unterstellt nämlich nicht nur „die Übersetzung, die Bearbeitung, das Arrangement und andere Umarbeitungen eines Computerprogramms“ dem Monopol des Urhebers, sondern auch „die Vervielfältigung der erzielten Ergebnisse“, d. h. im Fall der Dekompilierung den sich aus der Dekompilierung ergebenden Quellcode. Jede Vervielfältigung des Quellcodes zu anderen Zwecken als der Fehlerberichtigung bedarf daher der Zustimmung des Urheberrechtsinhabers. Im Übrigen verbietet Art. 4 Buchst. c der Richtlinie die öffentliche Verbreitung einer Kopie eines Computerprogramms ohne Zustimmung des Inhabers der Urheberrechte an diesem Programm, was auch für die aus der Dekompilierung hervorgegangenen Kopien des Quellcodes gilt.

88.

Dagegen sind nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/250 Informationen, die nicht das Programm im eigentlichen Sinne, d. h. eine seiner Ausdrucksformen, darstellen, nicht geschützt ( 34 ).

89.

Ich schlage daher vor, auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 dahin auszulegen ist, dass die Dekompilierung eines Computerprogramms nach dieser Bestimmung durch einen rechtmäßigen Erwerber zur Berichtigung von Fehlern dieses Programms nicht den Anforderungen des Art. 6 dieser Richtlinie unterliegt. Dagegen darf eine solche Dekompilierung nur in dem für diese Berichtigung notwendigen Umfang und im Rahmen der vertraglichen Verpflichtungen des Erwerbers vorgenommen werden.

Ergebnis

90.

Nach alledem schlage ich vor, die Vorlagefragen der Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) wie folgt zu beantworten:

1.

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250/EWG des Rates vom 14. Mai 1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen ist dahin auszulegen, dass er es einem rechtmäßigen Erwerber eines Computerprogramms erlaubt, dieses Programm zu dekompilieren, wenn diese Dekompilierung notwendig ist, um Fehler zu berichtigen, die sein Funktionieren beeinträchtigen.

2.

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 ist dahin auszulegen, dass die Dekompilierung eines Computerprogramms nach dieser Bestimmung durch einen rechtmäßigen Erwerber zur Berichtigung von Fehlern dieses Programms nicht den Anforderungen des Art. 6 dieser Richtlinie unterliegt. Dagegen darf eine solche Dekompilierung nur in dem für diese Berichtigung notwendigen Umfang und im Rahmen der vertraglichen Verpflichtungen des Erwerbers vorgenommen werden.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Vgl. Nr. 9 der vorliegenden Schlussanträge.

( 3 ) Vgl. Art. 4 des am 20. Dezember 1996 in Genf angenommenen Urheberrechtsvertrags der WIPO.

( 4 ) Vgl. u. a. Markiewicz, R., Ilustrowane prawo autorskie, Wolters Kluwer, Warschau, 2018, S. 463. Andere Autoren stufen Computerprogramme als „Schriftwerke kraft Gesetzes“ ein, vgl. Vivant, M., Bruguière, J.‑M., Droit d’auteur et droits voisins, Dalloz, Paris, 2015, S. 183.

( 5 ) Janssens, M.‑Ch., „The Software Directive“, in Stamatoudi, I., und Torremans, P., EU Copyright Law. A Commentary, Edward Elgar Publishing, Cheltenham, 2014, S. 89 bis 148, insbesondere S. 93.

( 6 ) Bing, J., „Copyright Protection of Computer Programs“, in Derclaye, E. (Hrsg.), Research Handbook on the Future of EU Copyright, Edward Elgar Publishing, Cheltenham, 2009, S. 401 bis 425, insbesondere S. 401.

( 7 ) Oder, genauer gesagt, von einem Prozessor mit einer bestimmten Architektur, da die Befehle des Objektcodes für jeden Prozessortyp spezifisch sind und von einem Prozessor eines anderen Typs nicht ausgeführt werden.

( 8 ) Vgl. u. a. Karjala, D. S., „Copyright Protection of Computer Documents, Reverse Engeneering and Professor Miller“, University of Dayton Law Review, 1994, Nr. 19, S. 975 bis 1020.

( 9 ) Shemtov, N., Beyond the Code. Protection of Non-Textual Features of Software, Oxford University Press, Oxford, 2017, S. 28. Für weitere Ausführungen zur Dichotomie zwischen Idee und Ausdrucksform im Urheberrecht und ihre Anwendung auf Computerprogramme vgl. insbesondere S. 102 bis 127 dieses Werkes.

( 10 ) ABl. 1991, L 122, S. 42.

( 11 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen (ABl. 2009, L 111, S. 16).

( 12 ) Moniteur Belge vom 27. Juli 1994, S. 19315, deutsche Übersetzung: Belgisches Staatsblatt vom 29. Januar 2013, S. 4431.

( 13 ) Nämlich zur Gewährleistung der Interoperabilität eines unabhängig von dem dekompilierten Programm geschaffenen Computerprogramms.

( 14 ) Der Rechtsinhaber hat das Recht, „Handlungen vorzunehmen oder zu gestatten“.

( 15 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10).

( 16 ) Art. 5 der Richtlinie 91/250 trägt die Überschrift „Ausnahmen von den zustimmungsbedürftigen Handlungen“.

( 17 ) Vgl. den von der Kommission am 5. Januar 1989 vorgelegten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den Rechtsschutz von Computerprogrammen (KOM[88] 816 endg.).

( 18 ) Im Gegensatz zu Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 91/250 erwähnt Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht den Benutzer einer Programmkopie, sondern den Erwerber des Programms, unabhängig von der Anzahl der erworbenen Kopien.

( 19 ) Darüber hinaus unterliegen Verträge über die Nutzung von Computerprogrammen anderen Rechtsvorschriften, wie z. B. den Bestimmungen des Vertragsrechts, des Verbraucherschutzrechts oder des Wettbewerbsrechts. Diese Vorschriften schränken die Vertragsfreiheit der Parteien ein, indem sie die Erwerber von Computerprogrammen vor Missbrauch durch die Inhaber von Urheberrechten an solchen Programmen schützen.

( 20 ) Urteil vom 2. Mai 2012 (C-406/10, EU:C:2012:259, Rn. 58).

( 21 ) Da dies dem eigentlichen Zweck eines Vertrags über die Nutzung eines Computerprogramms zuwiderlaufen würde.

( 22 ) Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die Dekompilierung zu einem rechtswidrigen, nicht mit der Fehlerberichtigung verbundenen Zweck vorgenommen wird.

( 23 ) Vgl. Nr. 5 der vorliegenden Schlussanträge.

( 24 ) Urteil vom 2. Mai 2012, SAS Institute (C-406/10, EU:C:2012:259, Rn. 37 und 38).

( 25 ) Hervorhebung nur hier.

( 26 ) Im Übrigen erlaubt Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250, wie ich im Folgenden erläutern werde, meines Erachtens – außer zur Fehlerberichtigung im engeren Sinne – keine Dekompilierung eines Computerprogramms zum Zweck der Wartung des dekompilierten Programms (vgl. Nrn. 75 und 76 der vorliegenden Schlussanträge).

( 27 ) Vgl. insbesondere Nrn. 52 bis 56 der vorliegenden Schlussanträge.

( 28 ) Vgl. u. a. Janssens, M.‑Ch., a. a. O., S. 127.

( 29 ) Vgl. Nrn. 45 bis 47 der vorliegenden Schlussanträge.

( 30 ) Im Ausgangsverfahren bestreitet Top System das Vorliegen eines Fehlers in dem streitigen Programm, obwohl das vorlegende Gericht auf ein Sachverständigengutachten verweist, in dem das Vorliegen eines solchen Fehlers festgestellt wird.

( 31 ) Vgl. Nr. 41 der vorliegenden Schlussanträge.

( 32 ) Diese Möglichkeit besteht meines Erachtens trotz des Wortlauts des 17. Erwägungsgrundes der Richtlinie 91/250 (vgl. Nrn. 31 bis 34 der vorliegenden Schlussanträge).

( 33 ) Diese Eigenschaft der Dekompilierung wird von zahlreichen Autoren hervorgehoben. Vgl. u. a., Bing, J., a. a. O., S. 423 und 424.

( 34 ) Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Auslegung dem Inhaber des Urheberrechts an einem Computerprogramm meines Erachtens keinen geringeren Schutz gewährt als den, den Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 91/250 im Fall der Dekompilierung zum Zweck der Interoperabilität unabhängig geschaffener Programme gewährt. Im Licht von Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie kann ihr Art. 6 Abs. 2 nämlich nur dahin ausgelegt werden, dass der Begriff „Informationen“ nur die nach dieser Richtlinie geschützten Elemente eines Computerprogramms, d. h. seine Ausdrucksformen, bezeichnet und nicht die diesen Elementen zugrunde liegenden „Ideen und Grundsätze“. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass nach Art. 9 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 91/250 die Dekompilierung nach Art. 6 dieser Richtlinie im Gegensatz zur Dekompilierung zum Zweck der Fehlerberichtigung vertraglich nicht ausgeschlossen werden kann.

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