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Document 62019CJ0879

Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 20. Mai 2021.
FORMAT Urządzenia i Montaże Przemysłowe gegen Zakład Ubezpieczeń Społecznych I Oddział w Warszawie.
Vorabentscheidungsersuchen dersSąd Najwyższy.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit – Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 13 Abs. 2 Buchst. a – Art. 14 Abs. 2 – Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist – Einziger Arbeitsvertrag – Im Wohnsitzstaat des Arbeitnehmers niedergelassener Arbeitgeber – Ausschließlich in anderen Mitgliedstaaten ausgeübte abhängige Beschäftigung – In aufeinanderfolgenden Zeiträumen in verschiedenen Mitgliedstaaten ausgeführte Arbeit – Voraussetzungen.
Rechtssache C-879/19.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:409

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

20. Mai 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit – Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 13 Abs. 2 Buchst. a – Art. 14 Abs. 2 – Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist – Einziger Arbeitsvertrag – Im Wohnsitzstaat des Arbeitnehmers niedergelassener Arbeitgeber – Ausschließlich in anderen Mitgliedstaaten ausgeübte abhängige Beschäftigung – In aufeinanderfolgenden Zeiträumen in verschiedenen Mitgliedstaaten ausgeführte Arbeit – Voraussetzungen“

In der Rechtssache C‑879/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) mit Entscheidung vom 19. September 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Dezember 2019, in dem Verfahren

FORMAT Urządzenia i Montaże Przemysłowe

gegen

Zakład Ubezpieczeń Społecznych I Oddział w Warszawie,

Beteiligter:

UA,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Wahl, des Richters F. Biltgen (Berichterstatter) und der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der FORMAT Urządzenia i Montaże Przemysłowe, vertreten durch W. Barański, adwokat,

des Zakład Ubezpieczeń Społecznych I Oddział w Warszawie, vertreten durch M. Drewnowski, radca prawny,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und S. Baeyens als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und A. Szmytkowska als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1), in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998 (ABl. 1998, L 209, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft FORMAT Urządzenia i Montaże Przemysłowe (im Folgenden: Format) und dem Zakład Ubezpieczeń Społecznych I Oddział w Warszawie (Sozialversicherungsanstalt, I. Abteilung, Warschau, Polen) über die Bestimmung der auf UA, einen Arbeitnehmer von Format (im Folgenden: Betroffener) im Bereich der sozialen Sicherheit anzuwendenden Rechtsvorschriften.

Rechtlicher Rahmen

3

Nach dem sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1408/71 sollen die Koordinierungsregeln Arbeitnehmern und Selbständigen, die innerhalb der Union zu- und abwandern, sowie ihren Angehörigen und Hinterbliebenen die Wahrung erworbener Ansprüche und Vorteile sowie der Anwartschaften ermöglichen.

4

Nach dem achten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1408/71 zielen ihre Bestimmungen darauf ab, dass für die Betroffenen grundsätzlich jeweils das System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats gelten soll, um eine Kumulierung anzuwendender innerstaatlicher Rechtsvorschriften und die sich daraus möglicherweise ergebenden Komplikationen zu vermeiden.

5

Nach Art. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 wird für die Anwendung dieser Verordnung der Begriff „Wohnort“ als der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts definiert.

6

In Titel II („Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“) der Verordnung Nr. 1408/71 sieht Art. 13 („Allgemeine Regelung“) vor:

„(1)   Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2)   Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:

a)

Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;

…“

7

Im selben Titel sieht Art. 14 („Sonderregelung für andere Personen als Seeleute, die eine abhängige Beschäftigung ausüben“) der Verordnung Nr. 1408/71 vor:

„Vom Grundsatz des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe a) gelten folgende Ausnahmen und Besonderheiten:

1.

a)

Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, abhängig beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist.

2.

Eine Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist, unterliegt den wie folgt bestimmten Rechtsvorschriften:

a)

Eine Person, die als Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals eines Unternehmens beschäftigt wird, das für Rechnung Dritter oder für eigene Rechnung im internationalen Verkehrswesen die Beförderung von Personen oder Gütern im Schienen‑, Straßen‑, Luft- oder Binnenschifffahrtsverkehr durchführt und seinen Sitz im Gebiet des Mitgliedstaats hat, unterliegt den Rechtsvorschriften des letzten Mitgliedstaats …

b)

eine Person, die nicht unter Buchstabe a) fällt, unterliegt:

i)

den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, wenn sie ihre Tätigkeit zum Teil im Gebiet dieses Staates ausübt oder wenn sie für mehrere Unternehmen oder mehrere Arbeitgeber [tätig] ist, die ihren Sitz oder Wohnsitz im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten haben;

ii)

den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet das Unternehmen oder der Arbeitgeber, das bzw. der sie beschäftigt, seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie nicht im Gebiet eines der Mitgliedstaaten wohnt, in denen sie ihre Tätigkeit ausübt.

…“

8

Nach Art. 12a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. 1972, L 74, S. 1), geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1), in der durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. 2005, L 117, S. 1) geänderten Fassung haben die Behörden des im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 zuständigen Mitgliedstaats einer Person, die im Sinne von Art. 14 Abs. 2 Buchst. b der letztgenannten Verordnung gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten beschäftigt ist, eine Bescheinigung darüber auszustellen, dass die Rechtsvorschriften dieses zuständigen Mitgliedstaats für sie gelten.

9

Diese Bescheinigung, deren Muster im Beschluss Nr. 202 der Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 17. März 2005 über die Muster der zur Durchführung der Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 574/72 des Rates erforderlichen Vordrucke (E 001, E 101, E 102, E 103, E 104, E 106, E 107, E 108, E 109, E 112, E 115, E 116, E 117, E 118, E 120, E 121, E 123, E 124, E 125, E 126 und E 127) (ABl. 2006, L 77, S. 1) vorgesehen ist, wird allgemein als „E‑101‑Vordruck“ oder „E‑101‑Bescheinigung“ bezeichnet.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10

Der Betroffene, ein in Polen wohnhafter polnischer Staatsangehöriger, arbeitete für Format, die ihren Sitz in Polen hat, im Rahmen eines befristeten Arbeitsvertrags für den Zeitraum vom 20. Oktober 2006 bis zum 31. Dezember 2009. In diesem Zeitraum arbeitete er ab dem 23. Oktober 2006 in Frankreich, vom 5. November 2007 bis zum 6. Januar 2008 im Vereinigten Königreich und danach ab dem 7. Januar 2008 erneut in Frankreich.

11

Mit Bescheid vom 13. Februar 2008 lehnte es die Sozialversicherungsanstalt, I. Abteilung, Warschau, auf der Grundlage von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 ab, für den Betroffenen eine Bescheinigung E 101 auszustellen, mit der bestätigt wird, dass er vom 23. Dezember 2007 bis zum 31. Dezember 2009 aufgrund der für Rechnung von Format verrichteten Arbeit dem polnischen System der sozialen Sicherheit unterlag.

12

Format und der Betroffene erhoben gegen diesen Bescheid Klage beim Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau, Polen), die abgewiesen wurde. Dieses Gericht war der Auffassung, dass der Betroffene, da er für Rechnung von Format mehrere Monate lang nacheinander im Gebiet von zwei Mitgliedstaaten gearbeitet habe, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 14 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 falle, sondern in den von Art. 13 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung.

13

Format legte gegen die Entscheidung dieses Gerichts beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) Berufung ein, die mit Entscheidung vom 23. Januar 2018 zurückgewiesen wurde.

14

Dieses Gericht wies darauf hin, dass aus dem Urteil vom 4. Oktober 2012, Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe (C‑115/11, EU:C:2012:606), hervorgehe, dass der Begriff „Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist“ im Sinne von Art. 14 Abs. 2 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung Nr. 1408/71 nicht die Fälle erfasse, in denen die Ausübung einer abhängigen Beschäftigung im Gebiet nur eines Mitgliedstaats für den Betroffenen den Regelfall darstelle. In Anbetracht dessen, dass die Arbeit, die der Betroffene in jedem Mitgliedstaat verrichtet habe, mehrere Monate gedauert habe, und angesichts der Art seiner Arbeit, d. h. Bauarbeiten, sowie des Tätigkeitsprofils von Format, d. h. Durchführung von Bauvorhaben in mehreren Mitgliedstaaten, habe er in Wirklichkeit regelmäßig im Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats gearbeitet und falle daher in den Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung.

15

Format legte gegen diese Entscheidung Kassationsbeschwerde bei dem vorlegenden Gericht ein.

16

Dieses Gericht ist der Ansicht, dass das Urteil vom 4. Oktober 2012, Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe (C‑115/11, EU:C:2012:606), in dem es um eine Ausgangsrechtssache gegangen sei, die ebenfalls Format betroffen und sich auf einen Sachverhalt bezogen habe, der sich in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraum ereignet habe, die durch die vorliegende Rechtssache aufgeworfenen Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht ausräume. Denn der Gerichtshof habe in jenem Urteil zwar für Recht erkannt, dass diese Bestimmung dahin auszulegen sei, dass eine Person, die im Rahmen von aufeinanderfolgenden Arbeitsverträgen, in denen als Arbeitsort das Gebiet mehrerer Mitgliedstaaten angegeben sei, für die Dauer der einzelnen Verträge tatsächlich jeweils nur im Gebiet eines einzigen dieser Staaten arbeite, nicht unter den Begriff „Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist“ im Sinne dieser Bestimmung falle. Der Sachverhalt der Ausgangsrechtssache, die zu jenem Urteil geführt habe – der Betroffene habe auf der Grundlage aufeinanderfolgender Arbeitsverträge in mehreren Mitgliedstaaten gearbeitet und während der Dauer jedes dieser Verträge seine abhängige Beschäftigung ausschließlich im Gebiet eines dieser Mitgliedstaaten ausgeübt – unterscheide sich jedoch von dem Sachverhalt, um den es in der vorliegenden Ausgangsrechtssache gehe, da der Betroffene auf der Grundlage eines einzigen Arbeitsvertrags in zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Zeiträumen im Gebiet von zwei verschiedenen Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt gewesen sei.

17

Außerdem ergebe sich aus dem Urteil vom 12. Juli 1973, Hakenberg (13/73, EU:C:1973:92, Rn. 19), dass der Begriff „Person, die gewöhnlich … abhängig beschäftigt ist“ im Sinne von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 Personen erfasse, die in einem in sich zusammenhängenden und ununterbrochenen Arbeitsverhältnis stünden, das gleichzeitig oder im Rahmen aufeinanderfolgender Zeiträume das Gebiet mehrerer Mitgliedstaaten umfasse, nicht aber Personen, die während des fraglichen Zeitraums auf der Grundlage eines Arbeitsvertrags tatsächlich eine Beschäftigung in einem einzigen Mitgliedstaat ausübten und im folgenden Jahr auf der Grundlage eines anderen Arbeitsvertrags eine Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat verrichteten.

18

Das vorlegende Gericht, das angibt, dass es diesen Begriff in zwei Rechtssachen, mit denen es befasst gewesen sei, unterschiedlich ausgelegt habe, hält es für erforderlich, den Gerichtshof zu befragen, um die insoweit bestehenden Zweifel auszuräumen.

19

Daher hat der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist der in Art. 14 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 verwendete Begriff einer Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist, dahin auszulegen, dass er eine Person erfasst, die im Rahmen eines und desselben Arbeitsvertrags, der mit einem und demselben Arbeitgeber geschlossen wurde, und während eines von diesem Vertrag umfassten Zeitraums eine Arbeit im Gebiet jedes von zumindest zwei Mitgliedstaaten nicht gleichzeitig oder parallel, sondern im Rahmen von unmittelbar aufeinanderfolgenden mehrmonatigen Zeiträumen verrichtet?

Zur Vorlagefrage

20

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Person anwendbar ist, die im Rahmen eines einzigen, mit einem einzigen Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsvertrags, der die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten vorsieht, während mehrerer aufeinanderfolgender Monate ausschließlich im Gebiet jedes dieser Mitgliedstaaten arbeitet.

21

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Person nur dann unter Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 fäll, wenn sie gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist (Urteil vom 4. Oktober 2012, Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe,C‑115/11, EU:C:2012:606, Rn. 39).

22

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Beurteilung der Frage, ob eine Person als gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt anzusehen ist oder ob es sich vielmehr um Tätigkeiten handelt, die nur punktuell auf das Gebiet mehrerer Mitgliedstaaten verteilt sind, insbesondere auf die Dauer der Beschäftigungszeiten und das Wesen der unselbständig verrichteten Arbeit, wie sie in den Vertragsunterlagen festgelegt sind, sowie gegebenenfalls die tatsächlich verrichtete Tätigkeit abzustellen, d. h. insbesondere auf die praktische Durchführung von Arbeitsverträgen zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer in der Vergangenheit, die Umstände beim Abschluss dieser Verträge und ganz allgemein die Merkmale und Modalitäten der von dem betreffenden Unternehmen ausgeübten Tätigkeiten (Urteil vom 13. September 2017, X,C‑570/15, EU:C:2017:674, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Im vorliegenden Fall wird in der Vorlageentscheidung nicht näher ausgeführt, welche Angaben in dem zwischen dem Betroffenen und Format geschlossenen Arbeitsvertrag u. a. zu den Orten, an denen die Arbeit des Betroffenen verrichtet wird, und zur Dauer dieser Arbeit enthalten sind.

24

Aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte ergibt sich jedoch, dass der Betroffene im Rahmen des zwischen Format und ihm für den Zeitraum vom 20. Oktober 2006 bis zum 31. Dezember 2009 geschlossenen Arbeitsvertrags ab dem 23. Oktober 2006 in Frankreich, danach vom 5. November 2007 bis zum 6. Januar 2008 im Vereinigten Königreich und ab dem 7. Januar 2008 erneut in Frankreich gearbeitet haben soll.

25

Wenn dies tatsächlich der Fall ist, was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat, wäre davon auszugehen, dass der Betroffene seine abhängige Beschäftigung nacheinander in zwei Mitgliedstaaten ausgeübt hat, dass aber die ununterbrochenen Beschäftigungszeiten im ersten Mitgliedstaat ungefähr 13 Monate bzw. fast zwei Jahre betrugen, wobei zwischen ihnen eine Beschäftigungszeit von ungefähr zwei Monaten in dem zweiten Mitgliedstaat lag. Daher wäre davon auszugehen, dass der Betroffene im Rahmen seines für den Zeitraum vom 20. Oktober 2006 bis zum 31. Dezember 2009 geschlossenen Arbeitsvertrags nahezu seine gesamte abhängige Beschäftigung im Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats ausgeübt hat.

26

Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 legt zwar für etwaige aufeinanderfolgende Beschäftigungszeiträume im Gebiet von mehr als einem Mitgliedstaat keine zeitlichen Grenzen fest.

27

Allerdings geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass der Betroffene nicht in den Anwendungsbereich von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 fallen kann, wenn die Ausübung einer abhängigen Beschäftigung im Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats für ihn den Regelfall darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2012, Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe,C‑115/11, EU:C:2012:606, Rn. 40).

28

Daher kann nicht angenommen werden, dass eine unter Bedingungen, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen und in den Rn. 24 und 25 des vorliegenden Urteils beschrieben werden, abhängig beschäftigte Person unter den Begriff „Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist“ im Sinne von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 fällt.

29

Eine solche Auslegung würde nämlich dazu führen, dass der Anwendungsbereich dieser Bestimmung auf Fälle ausgedehnt würde, in denen der Zeitraum, in dem die betreffende Person im Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, in Wirklichkeit so lang ist, dass diese Beschäftigung in Bezug auf die Beschäftigung der betreffenden Person als der Regelfall anzusehen wäre.

30

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71, zu dem ihr Art. 14 gehört, nach ständiger Rechtsprechung ein vollständiges und einheitliches System von Kollisionsnormen bilden, das bezweckt, die Erwerbstätigen, die innerhalb der Union zu- und abwandern, dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats zu unterwerfen, so dass die Kumulierung anzuwendender innerstaatlicher Rechtsvorschriften und die sich daraus möglicherweise ergebenden Komplikationen vermieden werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Februar 1995, Calle Grenzshop Andresen,C‑425/93, EU:C:1995:37, Rn. 9, vom 13. September 2017, X,C‑570/15, EU:C:2017:674, Rn. 14, und vom 8. Mai 2019, Inspecteur van de Belastingdienst,C‑631/17, EU:C:2019:381, Rn. 33).

31

Zu diesem Zweck wird in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 der Grundsatz aufgestellt, dass ein Arbeitnehmer auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem er beschäftigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2017, X,C‑570/15, EU:C:2017:674, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Dieser Grundsatz gilt jedoch nur, „[s]oweit nicht die Artikel 14 bis 17 [der Verordnung Nr. 1408/71] etwas anderes bestimmen“. In der Tat könnte die ausnahmslose Anwendung des in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung aufgestellten allgemeinen Grundsatzes in bestimmten Sonderfällen sowohl für den Arbeitnehmer als auch für den Arbeitgeber und die Sozialversicherungseinrichtungen zur Schaffung statt zur Vermeidung administrativer Schwierigkeiten führen, die eine Beeinträchtigung der Freizügigkeit der Personen bewirken würden, die unter die genannte Verordnung fallen (Urteil vom 4. Oktober 2012, Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe,C‑115/11, EU:C:2012:606, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

So stellt Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 ebenso wie Abs. 1 Buchst. a dieses Artikels eine Ausnahme von dem in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung vorgesehenen allgemeinen Grundsatz dar. Art. 14 Abs. 2 dieser Verordnung ist daher eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2007, Perez Naranjo,C‑265/05, EU:C:2007:26, Rn. 29).

34

Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Unionsgesetzgeber für die Zwecke der in Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Ausnahme offensichtlich davon ausgegangen ist, dass die vorübergehende und kurzfristige Entsendung eines Arbeitnehmers in einen anderen Mitgliedstaat für eine Dauer von höchstens zwölf Monaten eine Ausnahme von der in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung vorgesehenen Regel des Mitgliedstaats, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird, rechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Mazák in der Rechtssache Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe, C‑115/11, EU:C:2012:267, Nr. 55).

35

Um eine kohärente Auslegung der Bestimmungen von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 zu gewährleisten, ist folglich davon auszugehen, dass eine Person, die während aufeinanderfolgender Beschäftigungszeiträume in verschiedenen Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist, als im Sinne von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt anzusehen ist, sofern die Dauer der ununterbrochenen Beschäftigungszeiten in jedem dieser Mitgliedstaaten zwölf Monate nicht überschreitet. Nur eine solche Auslegung kann eine Umgehung des in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung vorgesehenen Grundsatzes verhindern.

36

Daher ist festzustellen, dass Art. 14 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 vorbehaltlich der Überprüfung durch das nationale Gericht auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar ist.

37

Zu ergänzen ist, dass eine solche Situation a priori auch nicht von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 erfasst wird. Denn die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme kann nur einem Unternehmen, das im Mitgliedstaat seiner Betriebsstätte gewöhnlich eine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausübt, zugutekommen (Urteil vom 10. Februar 2000, FTS,C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 40). Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung jedoch nicht hervor, ob Format in der Zeit vom 20. Oktober 2006 bis zum 31. Dezember 2009 in Polen, dem Mitgliedstaat, in dem sie ansässig ist, gewöhnlich nennenswerte Tätigkeiten ausgeübt hat. Außerdem ergibt sich aus dem Urteil vom 4. Oktober 2012, Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe (C‑115/11, EU:C:2012:606, Rn. 32), in dem es um eine Ausgangsrechtssache ging, die ebenfalls Format betraf und sich auf einen Sachverhalt in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraum bezog, dass dieses Unternehmen in Polen gewöhnlich keine nennenswerten Tätigkeiten ausübt. Es ist daher a priori nicht ersichtlich, dass diese Voraussetzung im vorliegenden Fall erfüllt ist, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist.

38

Dagegen kann eine solche Situation unter den in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 aufgestellten Grundsatz fallen.

39

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass er nicht auf eine Person anwendbar ist, die im Rahmen eines einzigen, mit einem einzigen Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsvertrags, der die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten vorsieht, während mehrerer aufeinanderfolgender Monate ausschließlich im Gebiet jedes dieser Mitgliedstaaten arbeitet, wenn die Dauer der von dieser Person in jedem dieser Mitgliedstaaten zurückgelegten ununterbrochenen Beschäftigungszeiten zwölf Monate überschreitet, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

Kosten

40

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 14 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er nicht auf eine Person anwendbar ist, die im Rahmen eines einzigen, mit einem einzigen Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsvertrags, der die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten vorsieht, während mehrerer aufeinanderfolgender Monate ausschließlich im Gebiet jedes dieser Mitgliedstaaten arbeitet, wenn die Dauer der von dieser Person in jedem dieser Mitgliedstaaten zurückgelegten ununterbrochenen Beschäftigungszeiten zwölf Monate überschreitet, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

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