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Document 62019CJ0182

Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 26. März 2020.
Pfizer Consumer Healthcare Ltd gegen Commissioners for Her Majesty's Revenue and Customs.
Vorabentscheidungsersuchen des First-tier Tribunal (Tax Chamber).
Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsamer Zolltarif – Kombinierte Nomenklatur – Zolltarifliche Einreihung – Positionen 3005 und 3824 – Wärme erzeugende Auflagen und Gürtel, um Schmerzen zu lindern – Durchführungsverordnung (EU) 2016/1140 – Ungültigkeit.
Rechtssache C-182/19.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2020:243

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

26. März 2020 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsamer Zolltarif – Kombinierte Nomenklatur – Zolltarifliche Einreihung – Positionen 3005 und 3824 – Wärme erzeugende Auflagen und Gürtel, um Schmerzen zu lindern – Durchführungsverordnung (EU) 2016/1140 – Ungültigkeit“

In der Rechtssache C‑182/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Kammer für Steuersachen], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 21. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Februar 2019, in dem Verfahren

Pfizer Consumer Healthcare Ltd

gegen

Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb sowie der Richter T. von Danwitz und A. Kumin (Berichterstatter),

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Pfizer Consumer Healthcare Ltd, vertreten durch V. Sloane, QC, L. Catrain González, abogada, E. Wright, Barrister, und R. Shiers, Solicitor,

der Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs, vertreten durch H. Watkinson, Barrister, und A. Beegun, Solicitor,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon als Bevollmächtigten im Beistand von H. Watkinson, Barrister,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Caeiros, J. Hradil und M. Salyková als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsverfahren betrifft die Gültigkeit der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1140 der Kommission vom 8. Juli 2016 zur Einreihung bestimmter Waren in die Kombinierte Nomenklatur (ABl. 2016, L 189, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Pfizer Consumer Healthcare Ltd (im Folgenden: Pfizer) und den Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs (Steuer- und Zollverwaltung des Vereinigten Königreichs, im Folgenden: Finanzverwaltung) über die Einreihung von Wärme erzeugenden Auflagen und Gürteln zur Schmerzlinderung.

Rechtlicher Rahmen

Die KN

3

Die mit der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. 1987, L 256, S. 1) eingeführte Kombinierte Nomenklatur (im Folgenden: KN) beruht auf dem Harmonisierten System zur Bezeichnung und Codierung der Waren, das vom Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens, jetzt Weltzollorganisation (WZO), ausgearbeitet und durch das am 14. Juni 1983 in Brüssel geschlossene Internationale Übereinkommen über das Harmonisierte System eingeführt wurde. Dieses Übereinkommen wurde mit dem dazugehörigen Änderungsprotokoll vom 24. Juni 1986 durch den Beschluss 87/369/EWG des Rates vom 7. April 1987 (ABl. 1987, L 198, S. 1) im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft genehmigt.

4

Die Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der KN, die in deren Teil I Titel I Buchst. A enthalten sind, bestimmen u. a.:

„Für die Einreihung von Waren in die [KN] gelten folgende Grundsätze:

1.

Die Überschriften der Abschnitte, Kapitel und Teilkapitel sind nur Hinweise. Maßgebend für die Einreihung sind der Wortlaut der Positionen und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln und – soweit in den Positionen oder in den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln nichts anderes bestimmt ist – die nachstehenden Allgemeinen Vorschriften.

2.

b)

Jede Anführung eines Stoffes in einer Position gilt für diesen Stoff sowohl in reinem Zustand als auch gemischt oder in Verbindung mit anderen Stoffen. Jede Anführung von Waren aus einem bestimmten Stoff gilt für Waren, die ganz oder teilweise aus diesem Stoff bestehen. Solche Mischungen oder aus mehr als einem Stoff bestehende Waren werden nach den Grundsätzen der Allgemeinen Vorschrift 3 eingereiht.

3.

Kommen für die Einreihung von Waren bei Anwendung der Allgemeinen Vorschrift 2 b) oder in irgendeinem anderen Fall zwei oder mehr Positionen in Betracht, so wird wie folgt verfahren:

a)

Die Position mit der genaueren Warenbezeichnung geht den Positionen mit allgemeiner Warenbezeichnung vor. Zwei oder mehr Positionen, von denen sich jede nur auf einen Teil der in einer gemischten oder zusammengesetzten Ware enthaltenen Stoffe oder nur auf einen oder mehrere Bestandteile einer für den Einzelverkauf aufgemachten Warenzusammenstellung bezieht, werden im Hinblick auf diese Waren als gleich genau betrachtet, selbst wenn eine von ihnen eine genauere oder vollständigere Warenbezeichnung enthält.

b)

Mischungen, Waren, die aus verschiedenen Stoffen oder Bestandteilen bestehen, und für den Einzelverkauf aufgemachte Warenzusammenstellungen, die nach der Allgemeinen Vorschrift 3 a nicht eingereiht werden können, werden nach dem Stoff oder Bestandteil eingereiht, der ihnen ihren wesentlichen Charakter verleiht, wenn dieser Stoff oder Bestandteil ermittelt werden kann.

6.

Maßgebend für die Einreihung von Waren in die Unterpositionen einer Position sind der Wortlaut dieser Unterpositionen, die Anmerkungen zu den Unterpositionen und – sinngemäß – die vorstehenden Allgemeinen Vorschriften. Einander vergleichbar sind dabei nur Unterpositionen der gleichen Gliederungsstufe. Soweit nichts anderes bestimmt ist, gelten bei Anwendung dieser Allgemeinen Vorschrift auch die Anmerkungen zu den Abschnitten und Kapiteln.“

5

Teil II („Zolltarif“) der KN enthält einen Abschnitt VI („Erzeugnisse der chemischen Industrie und verwandter Industrien“).

6

Zu Abschnitt VI der KN gehören u. a. Kapitel 30 („Pharmazeutische Erzeugnisse“) sowie Kapitel 38 („Verschiedene Erzeugnisse der chemischen Industrie“).

7

Zu Kapitel 30 der KN gehört die Position 3005, die lautet:

„Watte, Gaze, Binden und ähnliche Erzeugnisse (z. B. Verbandzeug, Pflaster zum Heilgebrauch, Senfpflaster), mit medikamentösen Stoffen getränkt oder überzogen oder in Aufmachungen für den Einzelverkauf zu medizinischen, chirurgischen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Zwecken“.

8

Kapitel 38 der KN enthält die Position 3824, die folgendermaßen lautet:

„Zubereitete Bindemittel für Gießereiformen oder ‑kerne; chemische Erzeugnisse und Zubereitungen der chemischen Industrie oder verwandter Industrien (einschließlich Mischungen von Naturprodukten), anderweit weder genannt noch inbegriffen“.

9

Kapitel 30 Position 3824 in der Fassung, die auf die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Durchführungsverordnung 2016/1140 geltende Durchführungsverordnung (EU) 2015/1754 der Kommission vom 6. Oktober 2015 (ABl. 2015, L 285, S. 1) zurückgeht, umfasste folgende Unterpositionen:

3824 90

– andere:

 

– – andere:

 

– – – Erzeugnisse und Zubereitungen zu pharmazeutischen oder chirurgischen Zwecken:

 

– – – andere:

 

– – – – chemische Erzeugnisse oder Zubereitungen, überwiegend aus organischen Verbindungen bestehend, anderweit weder genannt noch inbegriffen:

3824 90 96

– – – – andere.

Verordnung (EU) Nr. 952/2013

10

Art. 57 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, im Folgenden: Zollkodex) lautet:

„(1)   Für die Anwendung des Gemeinsamen Zolltarifs gilt als zolltarifliche Einreihung von Waren die Bestimmung der Unterposition oder der weiteren Unterteilung der Kombinierten Nomenklatur, der diese Waren zugewiesen werden.

(2)   Für die Anwendung nichttarifärer Maßnahmen gilt als zolltarifliche Einreihung von Waren die Bestimmung der Unterposition oder der weiteren Unterteilung der Kombinierten Nomenklatur oder jeder sonstigen durch Unionsvorschriften erstellten, ganz oder teilweise auf der Kombinierten Nomenklatur beruhenden Nomenklatur, der diese Waren zugewiesen werden.

(4)   Die [Europäische] Kommission kann Vorschriften zur Festlegung der zolltariflichen Einreihung von Waren gemäß den Absätzen 1 und 2 erlassen.“

11

Art. 58 Abs. 2 Unterabs. 1 des Zollkodex bestimmt:

„Die Kommission erlässt im Wege von Durchführungsrechtsakten die in Artikel 57 Absatz 4 genannten Vorschriften.“

12

In Art. 285 Abs. 1 des Zollkodex heißt es:

„Die Kommission wird von dem Ausschuss für den Zollkodex unterstützt. …“

Durchführungsverordnung 2016/1140

13

Die Durchführungsverordnung 2016/1140 wurde von der Kommission auf der Grundlage von Art. 57 Abs. 4 und von Art. 58 Abs. 2 Unterabs. 1 des Zollkodex erlassen.

14

Art. 1 dieser Durchführungsverordnung sieht vor:

„Die in Spalte 1 der Tabelle im Anhang beschriebenen Waren werden in die [KN] in den in Spalte 2 der Tabelle genannten KN‑Code eingereiht.“

15

Der Anhang der Durchführungsverordnung lautet wie folgt:

„Warenbezeichnung

Einreihung (KN‑Code)

Begründung

(1)

(2)

(3)

1.

Eine Ware in Form einer Wärme erzeugenden Auflage, um Schmerzen zu lindern.

Die Auflage besteht aus haftendem Material zur Befestigung auf der Haut (Nacken, Handgelenk oder Schulter).

Die Ware besteht aus einem weichen synthetischen Material, das sich der Körperform anpasst und eine Reihe von Zellen enthält, die beim Kontakt mit Luft Wärme erzeugen.

Die Zellen enthalten Eisenpulver, Holzkohle, Salz und Wasser. Wenn die Einzelpackungen, die die Auflage enthalten, geöffnet und der Luft ausgesetzt werden, erfolgt eine exotherme Reaktion.

3824 90 96

Die Einreihung erfolgt gemäß den Allgemeinen Vorschriften 1, 3 b) und 6 für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur sowie nach dem Wortlaut der KN‑Codes 3824, 3824 90und 3824 90 96.

Die in der Ware enthaltenen Zellen werden aufgrund der exothermen Reaktion als Wärmequelle genutzt. Dies verleiht der Ware ihren wesentlichen Charakter als Zubereitung der Position 3824.

Daher kann die Ware nicht als Binden und ähnliche Erzeugnisse der Position 3005 angesehen werden.

Somit ist die Ware in den KN‑Code 3824 90 96einzureihen.

2.

Eine Ware in Form eines Wärme erzeugenden Gürtels, um Schmerzen zu lindern.

Der Gürtel besteht aus nicht haftendem Material, das mit einem selbstklebenden Streifen befestigt wird.

Die Ware besteht aus einem weichen synthetischen Material, das sich der Körperform anpasst und eine Reihe von Zellen enthält, die beim Kontakt mit Luft Wärme erzeugen.

Die Zellen enthalten Eisenpulver, Holzkohle, Salz und Wasser. Wenn die Einzelpackungen, die den Gürtel enthalten, geöffnet und der Luft ausgesetzt werden, erfolgt eine exotherme Reaktion.

3824 90 96

Die Einreihung erfolgt gemäß den Allgemeinen Vorschriften 1, 3 b) und 6 für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur sowie nach dem Wortlaut der KN‑Codes 3824, 3824 90und 3824 90 96.

Die in der Ware enthaltenen Zellen werden aufgrund der exothermen Reaktion als Wärmequelle genutzt. Dies verleiht der Ware ihren wesentlichen Charakter als Zubereitung der Position 3824.

Somit ist die Ware in den KN‑Code 3824 90 96einzureihen.“

Richtlinie 93/42/EWG

16

Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte (ABl. 1993, L 169, S. 1) in der durch die Richtlinie 2007/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007 (ABl. 2007, L 247, S. 21) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 93/42) definiert die unter diese Richtlinie fallenden Medizinprodukte wie folgt:

Medizinprodukt: alle einzeln oder miteinander verbunden verwendeten Instrumente, Apparate, Vorrichtungen, Software, Stoffe oder anderen Gegenstände, einschließlich der vom Hersteller speziell zur Anwendung für diagnostische und/oder therapeutische Zwecke bestimmten und für ein einwandfreies Funktionieren des Medizinprodukts eingesetzten Software, die vom Hersteller zur Anwendung für Menschen für folgende Zwecke bestimmt sind:

Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten;

Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen;

Untersuchung, Ersatz oder Veränderung des anatomischen Aufbaus oder eines physiologischen Vorgangs;

Empfängnisregelung,

und deren bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper weder durch pharmakologische oder immunologische Mittel noch metabolisch erreicht wird, deren Wirkungsweise aber durch solche Mittel unterstützt werden kann.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

17

Pfizer führt ins Vereinigte Königreich Einwegprodukte unter der eingetragenen Handelsmarke ThermaCare ein. Diese Produkte werden für wärmetherapeutische Zwecke etwa zur Schmerzlinderung, Verringerung von Steifigkeit und Beschleunigung der Gewebsheilung angeboten und vermarktet.

18

Die Produktpalette umfasst Wärme erzeugende Auflagen, die zum überwiegenden Teil in mehreren Größen erhältlich und für einen spezifischen Bereich des Körpers gedacht sind. Diese Auflagen sind alle biegsam, damit sie fest auf dem jeweiligen Körperteil befestigt werden können und entweder mit Hilfe von Klebestreifen oder mit Hilfe von selbstklebenden Haltevorrichtungen, je nach Produktvariante, an Ort und Stelle bleiben.

19

Diese Auflagen bestehen im Wesentlichen aus einem Gewebe, das Wärmezellen umhüllt. Dabei handelt es sich um eine Art synthetisches Gewebe mit mehreren übereinander gelagerten Schichten, das die Hitzezellen nicht verrutschen lässt und den Benutzer im Fall des Austretens von Hitzezellen schützt. Eine Hitzezelle besteht aus einem durchlässigen synthetischen Material, das als Hülle dient, und einer Mischung von Materialien im Inneren (darunter Eisenpulver, Kohlenstoff, Salz und Wasser).

20

Diese Auflagen werden in geschlossenen Beuteln verkauft. Sobald sie aus dem Beutel genommen und der Luft ausgesetzt werden, beginnen sie sich zu erwärmen. Genauer gesagt findet aufgrund der durchlässigen Hülle der Hitzezelle eine exothermische Reaktion statt, wenn die Mischung von Materialien mit Luft in Kontakt kommt. Eine konstante Temperatur von 40 Grad Celsius wird für die Dauer von acht bis zwölf Stunden, je nach Produktvariante, aufrechterhalten.

21

Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts, des First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Kammer für Steuersachen], Vereinigtes Königreich), zeigen zahlreiche klinische Studien, dass die Wärmebehandlung nachweisbaren physiologischen und medizinischen Nutzen bringt. Die therapeutischen Wirkungen der Wärme würden durch die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte Internationale Klassifikation der Krankheiten, 9. Revision, clinical modification (ICD‑9‑CM) bestätigt. Wärmetherapie werde auch in mehreren von anerkannten nationalen Behörden veröffentlichten Leitlinien als Behandlung anerkannt und empfohlen. Was im Einzelnen die betreffenden Waren anbelange, so seien diese als „aktive Medizinprodukte“ nach der Richtlinie 93/42 klassifiziert und von einer benannten Stelle mit einer CE‑Kennzeichnung genehmigt und zertifiziert worden.

22

Im Jahr 2012 erteilte die Finanzverwaltung zwei verbindliche Zolltarifauskünfte (im Folgenden: vZTA) und reihte wie die deutschen und slowakischen Zollbehörden bestimmte ThermaCare-Produkte in die KN‑Position 3005 ein.

23

Auf der Grundlage dieser vZTA führte Pfizer in den Jahren 2012 und 2013 dreimal ThermaCare-Produkte in Frankreich ein. Bei einer Kontrolle dieser Einfuhren kamen die französischen Zollbehörden zum Ergebnis, dass diese Waren in die KN‑Position 3824 eingereiht werden müssten und dass für sie ein Zollsatz von 6,5 % gelten müsse. Sie ersuchten die Kommission im Jahr 2015, die Einreihung der ThermaCare-Produkte zu prüfen, die diese Frage dem Ausschuss für den Zollkodex der Union vorlegte.

24

Nach einer nicht einhelligen Entscheidung dieses Ausschusses erließ die Kommission die Durchführungsverordnung 2016/1140. Deren Anhang ist zu entnehmen, dass eine Ware in Form einer Wärme erzeugenden Auflage zur Schmerzlinderung, die aus haftendem Material besteht, oder eine Ware in Form eines Wärme erzeugenden Gürtels zur Schmerzlinderung, der aus nicht haftendem Material besteht, in die KN‑Unterposition 38249096 eingereiht wird.

25

Folglich hob die Finanzverwaltung mit Schreiben vom 3. August 2016 die vZTA, die sie Pfizer im Jahr 2012 erteilt hatte und welche die ThermaCare-Produkte in die KN‑Position 3005 einreihten, auf.

26

Am 12. September 2017 beantragte Pfizer eine neuerliche vZTA mit dem Ziel der Einreihung der ThermaCare-Produkte in die KN‑Position 3005.

27

Am 10. November 2017 erteilte die Finanzverwaltung unter Berufung auf die Durchführungsverordnung 2016/1140 eine vZTA, die diese Waren in die KN‑Position 3824 einreihte.

28

Mit einer am 8. Dezember 2017 beim vorlegenden Gericht eingereichten Klage focht Pfizer diese Entscheidung an. Die Durchführungsverordnung 2016/1140 sei ungültig, soweit sie die Einreihung der ThermaCare-Produkte in die KN‑Position 3824 zur Folge habe.

29

Der Wortlaut der KN‑Position 3005 erfasse die Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140. Es handle sich um „ähnliche Erzeugnisse“ wie Watte, Binden, Pflaster zum Heilgebrauch und Senfpflaster im Sinne dieser Position, da diese dafür konzipiert seien, zu medizinischen Zwecken auf der Haut angebracht zu werden, und eine ähnliche Funktion wie Senfpflaster hätten, insbesondere Schmerzlinderung. Zudem seien sie in ihrer Aufmachung für den Einzelverkauf gedacht.

30

Folglich dürften diese Waren nicht in die KN‑Position 3824 eingereiht werden, da diese nur für Erzeugnisse gelte, die „anderweit weder genannt noch inbegriffen“ seien. Daher müssten die ThermaCare-Produkte gemäß der Allgemeinen Vorschrift 1 für die Auslegung der KN in die Position 3005 eingereiht werden. Da die Durchführungsverordnung 2016/1140 zu Unrecht den Anwendungsbereich dieser Position eingeschränkt habe, habe die Kommission ihre Befugnisse überschritten.

31

Im Übrigen sei die Durchführungsverordnung 2016/1140, soweit die Einreihung der Waren im Sinne dieser Verordnung in die KN‑Position 3824 angeblich gemäß der Allgemeinen Vorschrift 1, der Allgemeinen Vorschrift 3 Buchst. b und der Allgemeinen Vorschrift 6 für die Auslegung der KN erfolgt sei, unangemessen und falsch begründet.

32

Da das First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Kammer für Steuersachen]) die Argumente von Pfizer, mit denen die Gültigkeit der Durchführungsverordnung 2016/1140 in Zweifel gezogen wird, für stichhaltig befindet, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist die Durchführungsverordnung 2016/1140 insoweit ungültig, als sie Produkte, die

i)

aus einem verbandartigen Material bestehen, das „Hitzezellen“ einschließlich Chemikalien enthält,

ii)

in ähnlicher Weise wie ein Senfpflaster funktionieren, aber zusätzliche Vorteile bieten,

iii)

durch eine exotherme chemische Reaktion Schmerzen lindern, Steifigkeit verringern und Heilung von Gewebe fördern (wie in zahlreichen klinischen Prüfungen bestätigt wurde),

iv)

in ihren Aufmachungen für den Einzelverkauf gedacht sind und

v)

ausdrücklich für medizinische Zwecke und mit der Angabe, dass sie die unter Ziff. iii genannten Wirkungen erzeugen, angeboten und vermarktet werden,

auf der Grundlage der Chemikalien, die den Stoff oder Bestandteil bilden, der ihnen den wesentlichen Charakter verleiht, in den KN‑Code Position 3824, speziell in Unterposition 38249096, einreiht und nicht in die Position 3005 (auf der Grundlage des Wortlauts der jeweiligen Positionen, der jeweiligen Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln und der Erläuterungen im Rahmen der Allgemeinen Vorschrift für die Auslegung 1, der Anwendung der Allgemeinen Vorschrift für die Auslegung 3 Buchst. a, die die Einreihung gemäß der genaueren Warenbezeichnung oder auf andere Weise verlangt)?

Zur Vorlagefrage

33

Mit seiner Frage zweifelt das vorlegende Gericht an der Gültigkeit der Durchführungsverordnung 2016/1140.

34

Vorweg ist darauf hinzuweisen, dass die von Pfizer eingeführten Waren, um die es im Ausgangsverfahren geht, wie sie in der Vorlageentscheidung beschrieben werden, mit den beiden Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 identisch oder diesen zumindest hinreichend ähnlich sind und die Durchführungsverordnung daher anwendbar ist.

35

Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union haben der Kommission, die mit den Zollsachverständigen der Mitgliedstaaten zusammenarbeitet, bei der näheren Bestimmung des Inhalts der Tarifpositionen, die für die Einreihung einer bestimmten Ware in Frage kommen, ein weites Ermessen eingeräumt. Die Kommission hat jedoch aufgrund ihrer Befugnis zum Erlass von Maßnahmen gemäß Art. 57 Abs. 4 des Zollkodex nicht das Recht, den Inhalt oder die Tragweite der Tarifpositionen zu ändern (Urteil vom 19. Dezember 2019, Amoena, C‑677/18, EU:C:2019:1142, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Daher ist zu prüfen, ob die Kommission dadurch, dass sie die Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 in die KN‑Unterposition 38249096 und nicht in die Position 3005 eingereiht hat, den Inhalt oder die Tragweite dieser Tarifpositionen verändert hat.

37

Hierzu ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass im Interesse der Rechtssicherheit und der leichten Nachprüfbarkeit das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen ist, wie sie im Wortlaut der Position der KN und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind (Urteil vom 22. Februar 2018, Kubota [UK] und EP Barrus, C‑545/16, EU:C:2018:101, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Zudem kann der Verwendungszweck der Ware ein objektives Tarifierungskriterium sein, sofern er dieser Ware innewohnt, was sich anhand der objektiven Merkmale und Eigenschaften der Ware beurteilen lassen muss (Urteil vom 22. Februar 2018, Kubota [UK] und EP Barrus, C‑545/16, EU:C:2018:101, Rn. 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Im vorliegenden Fall handelt es sich bei den Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140, wie sich aus dem Wortlaut der Spalte 1 der Tabelle im Anhang dieser Verordnung ergibt, um Wärme erzeugende Auflagen oder Gürtel zur Schmerzlinderung. Diese Auflagen bestehen aus einem haftenden Material, mit dem sie auf der Haut befestigt werden können, während die Gürtel aus nicht haftendem Material bestehen, das mit einem selbstklebenden Streifen befestigt wird. Diese Waren sind aus einem weichen synthetischen Material, das sich der Körperform anpasst und eine Reihe von mit Eisenpulver, Holzkohle, Salz und Wasser gefüllte Zellen enthält, die bei Kontakt mit der Luft aufgrund einer exothermischen Reaktion Wärme erzeugen.

40

Nach dem Wortlaut der KN‑Position 3824 sind die unter diese Position fallenden Waren Erzeugnisse, die „anderweit weder genannt noch inbegriffen“ sind.

41

Daher ist vorweg zu prüfen, ob die Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 unter die KN‑Position 3005 fallen.

42

Bei den Waren, die zur KN‑Position 3005 gehören, handelt es sich nach deren Wortlaut um „Watte, Gaze, Binden und ähnliche Erzeugnisse (z. B. Verbandzeug, Pflaster zum Heilgebrauch, Senfpflaster), mit medikamentösen Stoffen getränkt oder überzogen oder in Aufmachungen für den Einzelverkauf zu medizinischen, chirurgischen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Zwecken“.

43

Insoweit trägt Pfizer vor, dass die in Rede stehenden Waren als „ähnliche Erzeugnisse“ im Sinne dieser Position, die in ihrer Aufmachung für den Einzelverkauf zu medizinischen Zwecken gedacht seien, anzusehen seien.

44

Was als Erstes das Kriterium der Aufmachung für den Einzelverkauf betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass zwar in Spalte 1 der Tabelle im Anhang der Durchführungsverordnung 2016/1140 die Aufmachung der Waren im Sinne dieser Durchführungsverordnung nicht näher erläutert wird.

45

Unbestritten ist jedoch, dass diese Waren in ihrer Aufmachung für den Einzelverkauf gedacht sind, wofür im Übrigen auch die Entstehungsgeschichte dieser Durchführungsverordnung spricht.

46

Was als Zweites den Ausdruck „zu medizinischen … Zwecken“ im Sinne der Position 3005 der KN anbelangt, wird dieser weder in der KN noch in ihren Erläuterungen definiert.

47

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Prüfung der Frage, ob eine Ware für medizinische Zwecke bestimmt ist, jedoch alle relevanten Aspekte des konkreten Falles zu berücksichtigen, soweit es sich dabei um dieser Ware innewohnende objektive Merkmale und Eigenschaften handelt. Als solche relevanten Aspekte sind die Verwendung, die der Hersteller für die betreffende Ware vorgesehen hat, sowie die Art und Weise und der Ort der Verwendung dieser Ware zu prüfen (vgl. entsprechend Urteil vom 4. März 2015, Oliver Medical, C‑547/13, EU:C:2015:139, Rn. 51 und 52). Genauer gesagt muss die betreffende Ware eigens zum Gebrauch für solche Zwecke hergestellt sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 1982, Nederlandsch Bevrachtingskantoor, 37/82, EU:C:1982:340, Rn. 11).

48

Es ist auch darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, anhand ihres Sinns nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen sind (vgl. Urteil vom 6. September 2018, Kreyenhop & Kluge, C‑471/17, EU:C:2018:681, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Daher ist, da zum einen das Adjektiv „medizinisch“ auf den Begriff „Medizin“ Bezug nimmt und zum anderen dieser allgemein als namentlich Wissenschaft der Vorbeugung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten oder Verletzungen verstanden werden kann, davon auszugehen, dass eine Ware, die speziell zur Vorbeugung, Diagnose oder Behandlung von Krankheiten oder Verletzungen hergestellt wird, „medizinische Zwecke“ im Sinne der KN‑Position 3005 verfolgt.

50

Im vorliegenden Fall trifft das auf die Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 zu. Wie sich aus ihrer Bezeichnung im Anhang dieser Durchführungsverordnung ergibt, sind diese Waren nämlich zur Schmerzlinderung mittels Wärmeerzeugung durch exothermische Reaktion bestimmt, sobald die in ihnen enthaltenen Zellen der Luft ausgesetzt werden. Somit handelt es sich um eine Form der Wärmebehandlung durch Hyperthermie, die in Anbetracht der so verschafften physiologischen Vorteile als Behandlung anerkannt ist.

51

Im Übrigen stellt der Umstand, dass diese Waren gemäß der Richtlinie 93/42 als „aktive Medizinprodukte“ eingestuft werden, insoweit ein zusätzliches Indiz dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. März 2015, Oliver Medical, C‑547/13, EU:C:2015:139, Rn. 53).

52

Hingegen deutet nichts darauf hin, dass diese Waren in erster Linie darauf abzielen würden, ästhetische Verbesserungen vorzunehmen, was ein Indiz wäre, mit dem widerlegt werden könnte, dass sie für medizinische Zwecke bestimmt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. März 2015, Oliver Medical, C‑547/13, EU:C:2015:139, Rn. 52).

53

Was als Drittes die Frage angeht, ob die Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 als „ähnliche Erzeugnisse“ wie „Watte, Gaze [oder] Binden“ im Sinne der KN‑Position 3005 angesehen werden können, so bestreitet dies die Kommission, indem sie geltend macht, dass der allgemeine Zweck der zu dieser Position gehörenden Waren darin bestehe, Schmerzen oder Verletzungen zu behandeln, während auf den in Rede stehenden Waren selbst vor deren Anbringung auf der Haut zum Verbinden von Verletzungen, Prellungen oder Ödemen gewarnt werde.

54

Dem kann nicht gefolgt werden. Durch den Umstand, dass diese Waren in bestimmten Fällen nicht verwendet werden sollten, lässt sich nämlich nicht in Zweifel ziehen, dass sie zur Behandlung von Schmerzen und Verletzungen dienen.

55

Folglich gehören die Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 zur KN‑Position 3005 und können daher, wie sich aus Rn. 40 des vorliegenden Urteils ergibt, nicht unter die KN‑Position 3824 fallen.

56

Mithin sind diese Erzeugnisse in die KN‑Position 3005 einzureihen.

57

Demnach hat die Kommission durch die zolltarifliche Einreihung dieser Waren in die KN‑Unterposition 38249096 und nicht in die Position 3005 den Inhalt dieser Tarifpositionen verändert und die ihr durch Art. 57 Abs. 4 des Zollkodex eingeräumten Befugnisse überschritten.

58

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Durchführungsverordnung 2016/1140 ungültig ist.

Kosten

59

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Durchführungsverordnung (EU) 2016/1140 der Kommission vom 8. Juli 2016 zur Einreihung bestimmter Waren in die Kombinierte Nomenklatur ist ungültig.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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