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Document 62019CC0510

    Schlussanträge des Generalanwalts M. Campos Sánchez-Bordona vom 25. Juni 2020.
    Strafverfahren gegen AZ.
    Vorabentscheidungsersuchen des Hof van beroep te Brussel.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 6 Abs. 2 – Begriff ‚vollstreckende Justizbehörde‘ – Art. 27 Abs. 2 – Grundsatz der Spezialität – Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 – Ausnahme – Verfolgung wegen einer ‚anderen Handlung‘ als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt – Zustimmung der vollstreckenden Justizbehörde – Zustimmung der Staatsanwaltschaft des Vollstreckungsmitgliedstaats.
    Rechtssache C-510/19.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2020:494

     SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

    vom 25. Juni 2020 ( 1 )

    Rechtssache C510/19

    Openbaar Ministerie,

    YU,

    ZV

    gegen

    AZ

    (Vorabentscheidungsersuchen des Hof van beroep te Brussel [Appellationshof Brüssel, Belgien])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 6 Abs. 2 – Begriff der vollstreckenden Justizbehörde – Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 – Ersuchen um ergänzende Zustimmung an die Staatsanwaltschaft des Vollstreckungsmitgliedstaats“

    1. 

    Der Gerichtshof hat sich mehrfach zum Begriff der „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI ( 2 ) geäußert und die Bedingungen erläutert, die eine Behörde, die einen Europäischen Haftbefehl (EHB) ausstellt, erfüllen muss ( 3 ).

    2. 

    Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bietet dem Gerichtshof die Möglichkeit, den Begriff erneut auszulegen, und zwar diesmal in Bezug auf Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 27 des Rahmenbeschlusses. Das Vorabentscheidungsersuchen stammt von einem belgischen Gericht, das im Wesentlichen danach fragt, ob die niederländische Staatsanwaltschaft als „Justizbehörde“ bezeichnet werden kann, die der Ergänzung der in einem vorherigen, bereits vollstreckten Europäischen Haftbefehl genannten Straftaten zustimmt.

    I. Rechtlicher Rahmen

    A.   Unionsrecht. Rahmenbeschluss 2002/584

    3.

    In den Erwägungsgründen 5, 6 und 8 heißt es:

    „(5)

    Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

    (6)

    Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

    (8)

    Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.“

    4.

    Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) regelt:

    „(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

    (2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

    (3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

    5.

    Art. 6 („Bestimmung der zuständigen Behörden“) lautet:

    „(1)   Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.

    (2)   Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist.

    (3)   Jeder Mitgliedstaat unterrichtet das Generalsekretariat des Rates über die nach seinem Recht zuständige Justizbehörde.“

    6.

    Art. 14 („Vernehmung der gesuchten Person“) lautet:

    „Stimmt die festgenommene Person ihrer Übergabe nach Maßgabe des Artikels 13 nicht zu, hat sie das Recht, von der vollstreckenden Justizbehörde nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats vernommen zu werden.“

    7.

    In Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) heißt es:

    „(1)   Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.

    …“

    8.

    Art. 19 („Vernehmung der Person in Erwartung der Entscheidung“) bestimmt:

    „(1)   Die Vernehmung der gesuchten Person erfolgt durch eine Justizbehörde mit Unterstützung einer Person, die nach dem Recht des Mitgliedstaats der ersuchenden Justizbehörde bestimmt wird.

    (2)   Die Vernehmung der gesuchten Person erfolgt nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats und nach den im gegenseitigen Einvernehmen zwischen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde festgelegten Bedingungen.

    (3)   Die zuständige vollstreckende Justizbehörde kann eine andere Justizbehörde ihres Mitgliedstaats anweisen, an der Vernehmung der gesuchten Person teilzunehmen, um die ordnungsgemäße Anwendung dieses Artikels und der festgelegten Bedingungen zu gewährleisten.“

    9.

    In Art. 27 („Etwaige Strafverfolgung wegen anderer Straftaten“) heißt es:

    „(1)   Jeder Mitgliedstaat kann dem Generalsekretariat des Rates mitteilen, dass in seinen Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten, die die gleiche Mitteilung gemacht haben, die Zustimmung dazu, dass eine Person wegen einer anderen vor der Übergabe begangenen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in Haft gehalten wird, als erteilt gilt, sofern die vollstreckende Justizbehörde im Einzelfall in ihrer Übergabeentscheidung keine anders lautende Erklärung abgibt.

    (2)   Außer in den in den Absätzen 1 und 3 vorgesehenen Fällen dürfen Personen, die übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden.

    (3)   Absatz 2 findet in folgenden Fällen keine Anwendung:

    g)

    wenn die vollstreckende Justizbehörde, die die Person übergeben hat, ihre Zustimmung nach Absatz 4 gibt.

    (4)   Das Ersuchen um Zustimmung ist unter Beifügung der in Artikel 8 Absatz 1 erwähnten Angaben und einer Übersetzung gemäß Artikel 8 Absatz 2 an die vollstreckende Justizbehörde zu richten. Die Zustimmung wird erteilt, wenn die Straftat, derentwegen um Zustimmung ersucht wird, nach diesem Rahmenbeschluss der Verpflichtung zur Übergabe unterliegt. Die Zustimmung wird verweigert, wenn die in Artikel 3 genannten Gründe vorliegen; ansonsten kann sie nur aus den in Artikel 4 genannten Gründen verweigert werden. Die Entscheidung ist spätestens 30 Tage nach Eingang des Ersuchens zu treffen.

    …“

    B.   Nationales Recht

    1. Belgisches Recht. Gesetz über den Europäischen Haftbefehl ( 4 )

    10.

    Art. 37 bestimmt:

    „(1)   Personen, die auf der Grundlage eines von einer belgischen Justizbehörde ausgestellten Europäischen Haftbefehls übergeben wurden, dürfen wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden.

    (2)   Abs. 1 findet in folgenden Fällen keine Anwendung:

    Sollte, abgesehen von den im ersten Absatz vorgesehenen Fällen, der Untersuchungsrichter, die Staatsanwaltschaft oder das Gericht eine übergebene Person wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgen, verurteilen oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterwerfen wollen, müssen sie ein Ersuchen um Zustimmung unter Beifügung der in Art. 2 Abs. 4 erwähnten Angaben und gegebenenfalls einer Übersetzung an die vollstreckende Justizbehörde richten.“

    2. Niederländisches Recht

    a) Gesetz vom 29. April 2004 zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses ( 5 )

    11.

    Art. 14 sieht vor:

    „(1)   Die Übergabe wird nur unter der allgemeinen Bedingung gestattet, dass die gesuchte Person nicht wegen Taten verfolgt, bestraft oder auf andere Weise in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt wird, die vor dem Zeitpunkt ihrer Übergabe begangen wurden und deretwegen sie nicht übergeben wurde, es sei denn:

    f)

    dazu wird um die vorherige Zustimmung des Staatsanwalts nachgesucht, und diese wird erteilt.

    (3)   Auf Ersuchen der ausstellenden Justizbehörde und auf der Grundlage des übermittelten Europäischen Haftbefehls mit beigefügter Übersetzung erteilt der Staatsanwalt die Zustimmung im Sinne von Abs. 1 Buchst. f … in Bezug auf Taten, deretwegen die Übergabe nach diesem Gesetz hätte gestattet werden können ...“

    12.

    Art. 35 Abs. 1 bestimmt:

    „Die gesuchte Person wird so bald wie möglich nach der Entscheidung, mit der der Übergabe ganz oder teilweise zugestimmt wird, aber nicht später als zehn Tage nach dieser Entscheidung übergeben. Der Staatsanwalt bestimmt nach Absprache mit der ausstellenden Justizbehörde Zeit und Ort der Übergabe.“

    13.

    In seiner vor dem 13. Juli 2019 gültigen Fassung lautete Art. 44:

    „Der Staatsanwalt kann als ausstellende Justizbehörde handeln.“

    14.

    In der Fassung, die seit dem 13. Juli 2019 in Kraft ist, lautet Art. 44 wie folgt:

    „Der Untersuchungsrichter (rechter-commissaris) kann als ausstellende Justizbehörde handeln.“

    b) Richtergesetz ( 6 )

    15.

    Gemäß Art. 127 kann der Minister für Justiz und Sicherheit allgemeine und spezifische Weisungen bezüglich der Ausübung der Funktionen und Befugnisse der Staatsanwaltschaft erteilen.

    II. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

    16.

    Der Untersuchungsrichter bei der Rechtbank van eerste aanleg te Leuven (Gericht Erster Instanz Löwen, Belgien) stellte am 26. September 2017 gegen den belgischen Staatsangehörigen AZ einen EHB für ein Strafverfahren wegen Urkundenfälschungs- und Betrugshandlungen aus, die im Jahr 2017 in Belgien begangen wurden.

    17.

    AZ wurde auf der Grundlage dieses EHB in den Niederlanden festgenommen und gemäß der Entscheidung der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) am 13. Dezember 2017 an Belgien übergeben.

    18.

    Am 26. Januar 2018 erließ der Untersuchungsrichter in Löwen gegen AZ einen (zweiten) EHB mit einem Übergabeersuchen wegen zusätzlicher, im ersten Haftbefehl nicht aufgeführter Urkundenfälschungs- und Betrugshandlungen.

    19.

    Am 13. Februar 2018 erteilte der Officier van Justitie (Staatsanwalt) des Arrondissementsparket Amsterdam (Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam, Niederlande) seine Zustimmung, dass AZ wegen aller in den beiden EHB aufgeführten Straftaten strafrechtlich verfolgt werde.

    20.

    Schließlich wurde AZ zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.

    21.

    AZ legte gegen das Urteil Berufung beim Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel, Belgien) ein und führte zur Begründung aus, die niederländische Staatsanwaltschaft könne nicht als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses angesehen werden.

    22.

    Vor diesem Hintergrund legt der Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel) dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

    1.1.

    Handelt es sich bei dem Begriff „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses um einen autonomen Begriff des Unionsrechts?

    1.2.

    Sofern die Frage 1.1 bejaht wird: Anhand welcher Kriterien kann festgestellt werden, ob eine Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats eine solche Justizbehörde ist und der von ihr vollstreckte Europäische Haftbefehl folglich eine justizielle Entscheidung darstellt?

    1.3.

    Sofern die Frage 1.1 bejaht wird: Fällt das niederländische Openbaar Ministerie, genauer gesagt der Officier van Justitie (Staatsanwalt), unter den Begriff „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses, und ist der von dieser Behörde vollstreckte Europäische Haftbefehl folglich eine justizielle Entscheidung?

    1.4.

    Sofern die Frage 1.3 bejaht wird: Ist es zulässig, dass die ursprüngliche Übergabe von einer Justizbehörde, genauer gesagt der Overleveringskamer te Amsterdam (Übergabekammer Amsterdam, Niederlande), gemäß Art. 15 des Rahmenbeschlusses geprüft wird, wobei u. a. das Recht des Betroffenen auf Anhörung und auf Zugang zu den Gerichten gewahrt ist, während für die ergänzende Übergabe gemäß Art. 27 des Rahmenbeschlusses eine andere Behörde, und zwar der Staatsanwalt, zuständig ist, wobei kein Recht des Betroffenen auf Anhörung und auf Zugang zu den Gerichten gewährleistet ist, so dass ohne jeden triftigen Grund eine offensichtliche Inkohärenz innerhalb des Rahmenbeschlusses entsteht?

    1.5.

    Sofern die Fragen 1.3 und 1.4 bejaht werden: Sind die Art. 14, 19 und 27 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass eine Staatsanwaltschaft, die als vollstreckende Justizbehörde auftritt, vor allem das Recht des Betroffenen auf Anhörung und auf Zugang zu den Gerichten wahren muss, bevor sie die Zustimmung zur Verfolgung, Verurteilung oder Inhafthaltung einer Person im Hinblick auf die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung wegen einer Straftat erteilen kann, die vor ihrer Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls begangen wurde und auf die sich das Übergabeersuchen nicht erstreckt?

    2.

    Ist der Staatsanwalt beim Arrondissementsparket Amsterdam (Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam), der in Ausführung von Art. 14 OLW handelt, die vollstreckende Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses, die die gesuchte Person übergeben hat und die ihre Zustimmung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses erteilen kann?

    III. Verfahren vor dem Gerichtshof

    23.

    Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 4. Juli 2019 beim Gerichtshof eingegangen.

    24.

    AZ, das Openbaar Ministerie, die deutsche, die spanische, die ungarische und die niederländische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

    25.

    Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof nicht für erforderlich gehalten.

    IV. Würdigung

    A.   Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

    26.

    Die deutsche Regierung bezweifelt die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen (obwohl sie sich nicht formell gegen die Zulässigkeit ausspricht), da die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des vorlegenden Gerichts über das bei ihm anhängige Strafverfahren nicht relevant seien.

    27.

    Diese Fragen beträfen rechtskräftige, in den Niederlanden erlassene Rechtsakte (die Übergabe von AZ und die Zustimmung der niederländischen Staatsanwaltschaft zur strafrechtlichen Verfolgung wegen vor der Übergabe begangener Handlungen) und nicht das Verfahren vor dem belgischen vorlegenden Gericht. Das vorlegende Gericht könne die Übergabeentscheidung des niederländischen Gerichts (d. h. des Mitgliedstaats, der den EHB vollstreckt hat) nicht überprüfen.

    28.

    Zwar kann das vorlegende Gericht nicht über die Gültigkeit der Entscheidungen der niederländischen Behörden urteilen, da diese Frage im Rahmen des nationalen Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats (d. h. der Niederlande) und von dessen eigenen Gerichten zu klären ist.

    29.

    Das vorlegende Gericht ist jedoch für die Beurteilung der Auswirkungen zuständig, die die Entscheidungen der niederländischen Behörden bei der Vollstreckung des von den belgischen Behörden beantragten EHB nach belgischem Recht mit sich bringen. Ausgehend von der Gültigkeit dieser Entscheidungen – die es auf der Grundlage des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens für selbstverständlich ansehen muss – kann das vorlegende Gericht, wie ich hier wiederholen möchte, die Auswirkungen dieser Entscheidungen nach seinen nationalen Vorschriften abwägen.

    30.

    Die in Belgien gerichtlich verfolgte Person genießt das in Art. 27 des Rahmenbeschlusses verankerte Recht, „nur wegen der Handlung, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen zu werden“ ( 7 ).

    31.

    Folglich konnte AZ in Belgien nur dann für Handlungen verurteilt oder inhaftiert werden, die nicht unter den (ersten) vom Gericht in Amsterdam vollstreckten EHB fallen, wenn die niederländischen Behörden der Ergänzung zugestimmt haben, die im (zweiten) von den belgischen Behörden erlassenen EHB beantragt wurde.

    32.

    Als Rechtsinhaber ist AZ berechtigt, dieses durch den Rahmenbeschluss anerkannte Recht vor den belgischen Gerichten, die für seine Verfolgung, Verurteilung oder Inhaftierung zuständig sind, geltend zu machen. Er kann sich folglich zu seinen Gunsten auf die Auswirkungen berufen, die sich nach den belgischen Vorschriften aus einem Fehler ergeben, der der Entscheidung des Vollstreckungsmitgliedstaats, mit der der Ergänzung der im EHB genannten Straftaten zugestimmt wurde, möglicherweise anhaftet.

    33.

    AZ könnte die umstrittene Zustimmung ( 8 ) natürlich vor den niederländischen Behörden anfechten, die diese erteilt haben und daher auch in der Lage sind, sie aufzuheben. Da AZ bereits an die belgischen Behörden übergeben wurde, könnte jedoch die Verpflichtung, die Zustimmung vor den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats (Niederlande), den er bereits verlassen hat, anzufechten, die Ausübung seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz erschweren und zu einer Verzögerung des Strafverfahrens führen.

    34.

    Ohne die Gültigkeit der von den niederländischen Behörden erteilten Zustimmung beurteilen zu müssen, können die belgischen Gerichte diese Zustimmung vom Gesichtspunkt des Unionsrechts aus beurteilen und hierfür bei Zweifeln die Unterstützung des Gerichtshofs in Anspruch nehmen. Sie können mit anderen Worten diejenigen Aspekte der Zustimmung beurteilen, die ausschließlich durch den Rahmenbeschluss bedingt sind.

    35.

    Soweit hier von Interesse, kann das vorlegende Gericht insbesondere prüfen, ob die Zustimmung von einer „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 und Art. 27 des Rahmenbeschlusses erteilt wurde, da dieser Begriff (wie ich erläutern werde) ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist.

    36.

    Sollte als Ergebnis dieser Prüfung dem niederländischen Staatsanwalt nicht die Fähigkeit zuerkannt werden, als vollstreckende Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 2 und Art. 27 des Rahmenbeschlusses zu handeln, kann das vorlegende Gericht diesem Ergebnis gemäß den belgischen Vorschriften Rechnung tragen.

    37.

    Wird die Debatte somit darauf beschränkt, festzustellen, ob die niederländische Behörde, die auf Ersuchen der belgischen Behörden ihre Zustimmung erteilt hat, im Zusammenhang mit dem EHB und nach Unionsrecht als „Justizbehörde“ bezeichnet werden kann, ist das Vorabentscheidungsersuchen meiner Überzeugung nach zulässig.

    B.   Zur Beantwortung der Fragen

    1. Der autonome Begriff der „Justizbehörde“ (erster Teil der Vorlagefrage)

    38.

    Mit Ausnahme der ungarischen Regierung, die sich diesbezüglich nicht geäußert hat, sind sich die an dem Vorabentscheidungsverfahren Beteiligten einig, dass es sich bei dem Begriff „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handelt.

    39.

    Dem stimme ich vorbehaltlos zu. Obwohl der Gerichtshof über diesen Begriff bisher nur im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses (ausstellende Justizbehörde) entschieden hat, sind seine Argumente meiner Auffassung nach auf die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 (vollstreckende Justizbehörde) übertragbar.

    40.

    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können die Mitgliedstaaten zwar im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie in ihrem nationalen Recht die für die Ausstellung eines EHB zuständige „Justizbehörde“ bestimmen, nicht jedoch Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs, „da der genannte Begriff in der gesamten Union einer autonomen und einheitlichen Auslegung bedarf, die unter Berücksichtigung sowohl des Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ... als auch des Kontexts, in den er sich einfügt, und des mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziels zu ermitteln ist“ ( 9 ).

    41.

    Ähnliche Gründe gelten für den Begriff der für die Vollstreckung eines EHB zuständigen „Justizbehörde“ und folglich auch für den Begriff der für die Zustimmung gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses zuständigen „Justizbehörde“.

    42.

    Folglich ist die erste Vorlagefrage zu bejahen, was die Analyse der restlichen Fragen ermöglicht, die ich gemeinsam behandeln werde.

    2. Die Staatsanwaltschaft als vollstreckende Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses

    a) Die Staatsanwaltschaft als ausstellende Justizbehörde: die Rechtsprechung des Gerichtshofs

    43.

    Der Gerichtshof hat bereits die Bedingungen festgelegt, die von der zur Ausstellung eines EHB befugten Justizbehörde zu erfüllen sind. Diese Bedingungen beruhen auf einer Auslegung auf der Grundlage von drei Faktoren: a) dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses, b) dem Kontext, in den sich diese Bestimmung einfügt, und c) dem mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziel ( 10 ).

    44.

    Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass sich der Begriff „Justizbehörde“„nicht allein auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats beschränkt, sondern darüber hinaus die Behörden erfasst, die in der betreffenden Rechtsordnung zur Mitwirkung bei der Rechtspflege berufen sind“ ( 11 ).

    45.

    Bei der Festlegung, welche der zur Mitwirkung bei der Rechtspflege berufenen Behörden als „Justizbehörde“ gelten, hat der Gerichtshof berücksichtigt, dass der Rahmenbeschluss „ein Instrument der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ist, die die gegenseitige Anerkennung nicht nur rechtskräftiger Entscheidungen der Strafgerichte umfasst, sondern darüber hinaus von Entscheidungen der Justizbehörden der Mitgliedstaaten im Rahmen des Strafverfahrens, einschließlich der die Verfolgung von Straftaten betreffenden Phase dieses Verfahrens“ ( 12 ).

    46.

    Und weiter: „Der Begriff ‚Verfahren‘, der weit zu verstehen ist, kann sich auf das gesamte Strafverfahren erstrecken, d. h. auf die Phase vor dem Strafprozess, den Strafprozess selbst und die Phase der Vollstreckung der rechtskräftigen Entscheidung eines Strafgerichts, mit der eine Person einer Straftat für schuldig befunden wurde“ ( 13 ).

    47.

    Als Instrument im Dienste der justiziellen Zusammenarbeit können EHB in Strafverfahren im weitesten Sinne ausgestellt werden, d. h. auch in solchen, in denen die Staatsanwaltschaften „die Vorbedingungen für die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt durch die Strafgerichte ... zu schaffen haben“ ( 14 ).

    48.

    Der Begriff der „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses umfasst daher grundsätzlich auch die Staatsanwaltschaft.

    49.

    Da gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Anerkennung jedoch der Schlüssel zum System des Rahmenbeschlusses sind ( 15 ), „muss die ausstellende Justizbehörde der vollstreckenden Justizbehörde die Gewähr bieten können, dass sie angesichts der nach der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats bestehenden Garantien bei der Ausübung ihrer der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls innewohnenden Aufgaben unabhängig handelt“ ( 16 ).

    50.

    Folglich kann die Staatsanwaltschaft zum Zweck der Ausstellung eines EHB als „Justizbehörde“ angesehen werden, sofern sie eine Stellung innehat, die ihre Unabhängigkeit sicherstellt, wobei diese Unabhängigkeit nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht mit der richterlichen Unabhängigkeit identisch sein muss.

    51.

    Insoweit ist es ausreichend, „dass es Rechts- und Organisationsvorschriften gibt, die zu gewährleisten vermögen, dass die ausstellende Justizbehörde, wenn sie die Entscheidung trifft, einen solchen Haftbefehl auszustellen, nicht der Gefahr ausgesetzt ist, etwa einer Einzelweisung seitens der Exekutive unterworfen zu werden“ ( 17 ).

    52.

    Den beiden vorstehenden Bedingungen (Teilnahme an der Rechtspflege und Unabhängigkeit in Form eines Ausschlusses von Einzelweisungen seitens der Exekutive) fügt der Gerichtshof eine dritte Bedingung hinzu, die das Verfahren, in dem die Staatsanwaltschaft zur Ausstellung eines EHB befugt ist, betrifft: Die Ausstellung eines EHB durch die Staatsanwaltschaft muss einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen ( 18 ).

    53.

    Im Ergebnis wird die an der Rechtspflege mitwirkende Staatsanwaltschaft nur dann als „ausstellende Justizbehörde“ angesehen, wenn sie in der behördlichen Organisation über einen Status verfügt, der ausschließt, dass sie Einzelweisungen seitens der Exekutive erhält. Wenn dies der Fall ist, ist sie zum Erlass eines EHB befugt, vorausgesetzt, ihre Entscheidung kann vor einem Gericht angefochten werden ( 19 ).

    b) Die Übertragung dieser Rechtsprechung auf die Staatsanwaltschaft als die den Europäischen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde

    54.

    Können die oben beschriebenen Bedingungen, die sich auf die Staatsanwaltschaft als ausstellende Justizbehörde beziehen, auch herangezogen werden, um die Staatsanwaltschaft als eine einen EHB „vollstreckende Justizbehörde“ bezeichnen zu können?

    55.

    Während AZ sowie die deutsche und die spanische Regierung diese Frage bejahen, neigt die niederländische Regierung dazu, weniger strenge Anforderungen an die Voraussetzungen der Unabhängigkeit und der gerichtlichen Kontrolle zu stellen.

    56.

    Aus dem Vorlagebeschluss ergibt sich folgender Sachverhalt:

    AZ wurde aufgrund der Entscheidung eines Gerichts in Amsterdam übergeben, das gemäß Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses als „vollstreckende Justizbehörde“ handelte.

    Die Zustimmung gemäß Art. 27 des Rahmenbeschlusses hingegen wurde von einem Staatsanwalt, ebenfalls aus Amsterdam, erteilt, dessen Befugnis hierfür im Ausgangsverfahren streitig ist.

    57.

    Aufgrund dieses Sachverhalts fragt das vorlegende Gericht konkret, ob die niederländische Staatsanwaltschaft einen EHB vollstrecken, d. h. als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses handeln kann.

    58.

    Diese Frage ergibt Sinn, wenn davon ausgegangen wird, dass die „zustimmende Justizbehörde“ (Art. 27 des Rahmenbeschlusses) mit der „vollstreckenden Justizbehörde“ (Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses) identisch ist. Wie oben erläutert, ordnete im vorliegenden Fall ein niederländisches Gericht die Vollstreckung des EHB an, während die niederländische Staatsanwaltschaft erst im Nachhinein und auf Ersuchen der belgischen Behörden die Zustimmung zur Ergänzung der AZ vorgeworfenen Straftaten gegeben hat.

    59.

    Entscheidend ist hier also nicht, ob die niederländische Staatsanwaltschaft abstrakt als „vollstreckende Justizbehörde“ angesehen werden kann, sondern ob sie gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. g des Rahmenbeschlusses einer solchen Ergänzung des Straftatbestands zustimmen konnte.

    60.

    Eine am Wortlaut orientierte Auslegung von Art. 27 Abs. 3 Buchst. g des Rahmenbeschlusses ergibt, dass nur die Behörde zustimmen kann, die den EHB vollstreckt hat. Die in dieser Bestimmung genannte Zustimmung bezieht sich ausdrücklich auf „die vollstreckende Justizbehörde, die die Person übergeben hat“. Die Eindeutigkeit des Wortlauts lässt meiner Ansicht nach keine weitere Diskussion zu.

    61.

    Art. 27 des Rahmenbeschlusses schließt somit die Möglichkeit aus, dass der Staatsanwalt unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einer Ergänzung der Straftaten, die zur Übergabe von AZ geführt haben, zustimmt. Nach dieser Bestimmung ist für die Zustimmung die niederländische vollstreckende Justizbehörde (im vorliegenden Fall das Gericht in Amsterdam) zuständig, die AZ bereits an die belgischen Behörden übergeben hatte.

    62.

    Unter diesen Bedingungen stände somit die Frage des vorlegenden Gerichts in keiner Verbindung mit dem spezifischen Sachverhalt des Rechtsstreits. Unabhängig von ihrer abstrakten Stellung als vollstreckende Justizbehörde konnte die Staatsanwaltschaft in Amsterdam nämlich, da es sich im vorliegenden Fall um ein niederländisches Gericht handelte, das die gesuchte Person übergeben hat, die in Art. 27 Abs. 3 Buchst. g des Rahmenbeschlusses genannte Zustimmung gar nicht erteilen.

    63.

    Das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft) hingegen argumentiert, die Mitgliedstaaten könnten aufgrund ihrer Verfahrensautonomie über den Wortlaut von Art. 27 Abs. 3 Buchst. g des Rahmenbeschlusses hinaus eine andere „Justizbehörde“ als die vollstreckende Justizbehörde als „zustimmende Justizbehörde“ bestimmen.

    64.

    Ich bin der Ansicht, dass die Bestimmung eine solche Auslegung nicht zulässt, sondern sie vielmehr ausschließt.

    65.

    Natürlich steht es den Mitgliedstaaten frei, gesetzlich festzulegen, welche Justizbehörde für die Vollstreckung eines EHB zuständig ist. Sobald dies jedoch feststeht, kann die (durch Art. 27 Abs. 3 Buchst. g des Rahmenbeschlusses geschaffene) Verbindung zwischen dieser Behörde und der Behörde, die der Ergänzung des EHB zustimmt, nicht unter dem Vorwand des Grundsatzes der Verfahrensautonomie durchtrennt werden.

    66.

    Der Rahmenbeschluss stellt eine Identität zwischen den beiden Behörden her, die der nationale Gesetzgeber nicht abändern kann. Die Autonomie der nationalen Gesetzgeber bezieht sich ausschließlich auf die Bestimmung der vollstreckenden Justizbehörde, geht jedoch nicht so weit, dass sie die im Rahmenbeschluss festgelegte Regelung (d. h., dass die vollstreckende Justizbehörde auch diejenige sein muss, die zustimmt) aufheben können.

    67.

    Das Identitätsverhältnis besteht außerdem aus guten Gründen:

    Zum einen ist die Behörde, die den EHB bereits vollstreckt hat, am besten in der Lage, die Zweckmäßigkeit einer Ergänzung zu beurteilen, da sie sich bereits über die Einzelheiten informieren konnte.

    Zum anderen kann eine Entscheidung bei der Justizbehörde, die den EHB bereits vollstreckt hat und mit der Rechtssache vertraut ist, schneller ergehen als bei einer anderen Behörde, bei der dies nicht der Fall ist. Eine Verzögerung hingegen dürfte die Bearbeitung des Verfahrens zur Ergänzung und insoweit die rechtliche Situation der übergebenen Person, die per definitionem, was die tatsächliche Wahrnehmung ihrer Rechte anbelangt, als Ausnahmesituation anzusehen ist, unnötig verlängern ( 20 ).

    68.

    Obwohl ich im Ergebnis nicht die Auffassung des Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft) teile, werde ich seine Argumente hilfsweise prüfen, und zwar zuerst hinsichtlich der Bedingungen, die es für die Vollstreckung eines EHB erfüllen muss. Im Anschluss werde ich mich den Bedingungen zuwenden, die vorliegen müssen, damit das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft) einer Ergänzung der in einem bereits vollstreckten EHB aufgeführten Straftatbestände zustimmen kann.

    c) Notwendige Bedingungen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls und der Status der Staatsanwaltschaft in den Niederlanden

    69.

    Meiner Ansicht nach sind die drei oben genannten Bedingungen, unter denen die Staatsanwaltschaft einen EHB ausstellen kann (d. h. Teilnahme an der Rechtspflege, Unabhängigkeit und Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle) ( 21 ), auf die Vollstreckung eines EHB übertragbar.

    70.

    Ich erinnere daran, dass für den Gerichtshof „[b]ei einer Maßnahme, die – wie die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls – das in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf Freiheit des Betroffenen beeinträchtigen kann, … dieser Schutz [impliziert], dass ... eine Entscheidung erlassen wird, die den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen genügt“ ( 22 ).

    71.

    Dasselbe Kriterium muss auch für die Vollstreckung eines EHB gelten, da dem Betroffenen mit der Vollstreckung ebenfalls sein Recht auf persönliche Freiheit entzogen werden kann. Dies gilt natürlich insbesondere, wenn die Vollstreckung mittelbar nach dem gegen die übergebene Person geführten Verfahren zu einer Freiheitsstrafe führt, ist jedoch auch (und früher) bei einem (vorläufigen) Freiheitsentzug der Fall, den die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 12 des Rahmenbeschlusses anordnen kann, während sie über die Übergabe entscheidet.

    72.

    Anders als bei der Ausstellung eines EHB erfolgt bei der Vollstreckung der Rechtsschutz der betroffenen Person nicht in zwei Stufen: Bei der Vollstreckung des EHB fehlt nämlich das Gegenstück zum Verfahren des Erlasses des nationalen Haftbefehls ( 23 ). Jedoch muss auch hier auf der einzigen existierenden Stufe, d. h. der Stufe der Entscheidung über die Vollstreckung, die Garantie des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes respektiert werden.

    73.

    Folglich muss die „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses in der Lage sein, diese Funktion objektiv und unabhängig auszuüben. Ebenso wenig wie die „ausstellende Justizbehörde“ darf sie „Gefahr ... laufen, dass ihre Entscheidungsbefugnis Gegenstand externer Anordnungen oder Weisungen, insbesondere seitens der Exekutive, ist, so dass kein Zweifel daran besteht, dass die Entscheidung, den Europäischen Haftbefehl [zu vollstrecken], von dieser Behörde getroffen wurde und nicht letzten Endes von der Exekutive“ ( 24 ).

    74.

    Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Staatsanwaltschaft in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht nur dann befugt ist, einen EHB zu vollstrecken, wenn sie keinen Anordnungen oder Weisungen der Exekutive unterliegt. Dies war in den Niederlanden zum Zeitpunkt des Sachverhalts nicht der Fall, da die niederländische Staatsanwaltschaft gemäß Art. 127 des Richtergesetzes Einzelweisungen der Exekutive unterliegen konnte.

    75.

    An dieser Stelle wäre es somit nicht erforderlich, auch noch zu prüfen, ob im Rahmen des Verfahrens zur Vollstreckung des EHB durch die niederländische Staatsanwaltschaft ein Rechtsbehelf vorgesehen ist, der mit dem Rechtsbehelf vergleichbar ist, der vom Gerichtshof für die Ausstellung eines EHB durch die Staatsanwaltschaft, vorausgesetzt sie ist von der Exekutive unabhängig, gefordert wird ( 25 ).

    76.

    In diesem Fall würde die gleiche Voraussetzung für die Vollstreckung eines EHB durch die Staatsanwaltschaft gelten. Auch der Rechtsbehelf gegen ihre Entscheidungen bei einem Gericht „soll sicherstellen, dass die Einhaltung der für [die Vollstreckung] eines Europäischen Haftbefehls … erforderlichen Voraussetzungen ... im Rahmen eines Verfahrens geprüft wird, das die Anforderungen erfüllt, die sich aus einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz ergeben“ ( 26 ).

    d) Bedingungen, unter denen die niederländische Staatsanwaltschaft einer Ergänzung der in einem bereits vollstreckten Europäischen Haftbefehl aufgeführten Straftatbestände zustimmen kann

    77.

    Nach meiner Überzeugung sollten für die Zustimmung nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. g des Rahmenbeschlusses die gleichen Bedingungen gelten wie für die Vollstreckung des EHB. Von diesen Bedingungen erfüllt die niederländische Staatsanwaltschaft die zweite (volle Unabhängigkeit von der Exekutive) nicht.

    78.

    Die niederländische Staatsanwaltschaft konnte daher auch keine Zustimmung erteilen, ohne das Erfordernis der Unabhängigkeit weiter zu relativieren, als es sich bereits aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ergibt ( 27 ).

    79.

    Das Erfordernis eines gerichtlichen Rechtsbehelfs sollte auch dann nicht außer Acht gelassen werden, wenn die Zustimmung von einer Staatsanwaltschaft erteilt wird, die von der Exekutive unabhängig ist.

    80.

    Mit dem Ersuchen an die vollstreckende Justizbehörde auf Zustimmung, dass eine bereits übergebene Person wegen einer anderen Handlung als der Handlung, die im der Übergabe zugrunde liegenden EHB genannt wird, verfolgt, verurteilt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden kann, erlässt die Justizbehörde aus materiell-rechtlicher Sicht einen neuen EHB.

    81.

    Diese Zustimmung wird in Verbindung mit einer „anderen Handlung“ beantragt (d. h. einer Handlung, die aus welchen Gründen auch immer im EHB, der der Übergabe der gesuchten Person zugrunde lag, nicht berücksichtigt wurde) und kann daher nur in einem Verfahren erteilt werden, das dem Verfahren zur Vollstreckung jenes EHB entspricht.

    82.

    Unter diesen Umständen wird die Zustimmung tatsächlich für eine (weitreichende) ( 28 ) Ergänzung der dieser Person vorgeworfenen Straftaten erteilt. Logischerweise muss die Staatsanwaltschaft für die Erteilung ihrer Zustimmung die gleichen Voraussetzungen erfüllen wie in Bezug auf den ursprünglichen EHB, einschließlich der Möglichkeit zur Anfechtung ihrer Entscheidung ( 29 ).

    83.

    Obwohl die niederländische Staatsanwaltschaft an der Rechtspflege mitwirkt und ihre Entscheidungen einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen, führt die Gefahr, Anordnungen oder Einzelweisungen der Exekutive unterworfen zu werden, im Ergebnis dazu, dass sie weder als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses angesehen werden noch die in Art. 27 Abs. 3 Buchst. g genannte Zustimmung erteilen kann.

    3. Das Recht auf Vernehmung bei der Erteilung der Zustimmung nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. g des Rahmenbeschlusses

    84.

    Aufgrund der Antwort, die ich für die vorhergehenden Fragen vorschlage, ist eine Beantwortung dieser Frage nicht länger erforderlich. Der Vollständigkeit halber werde ich jedoch auch auf die letzte Frage des vorlegenden Gerichts eingehen.

    85.

    Nach Auffassung des Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft) und der niederländischen Regierung gibt der Rahmenbeschluss der bereits übergebenen Person keinen Anspruch darauf, von der vollstreckenden Justizbehörde vernommen zu werden, bevor diese entscheidet, ob sie einer Ergänzung des Straftatbestands, dessentwegen die übergebene Person strafrechtlich verfolgt werden kann, zustimmt.

    86.

    Art. 14 des Rahmenbeschlusses sieht ein Recht auf Vernehmung vor, wenn „die festgenommene Person ihrer Übergabe ... nicht“ zustimmt. Zu diesem Zweck sieht Art. 19 ein Vernehmungsverfahren vor. In Bezug auf die Zustimmung einer bereits übergebenen Person zu dem Ersuchen um Ergänzung der Straftaten sieht der Rahmenbeschluss jedoch keine Bestimmungen vor. Da ein solches Ersuchen an die vollstreckende Justizbehörde gerichtet wird, könnte davon ausgegangen werden, dass es allein der Zustimmung dieser Behörde bedarf.

    87.

    Meiner Ansicht nach darf das Fehlen einer entsprechenden Bestimmung im Rahmenbeschluss der übergebenen Person nicht das Recht nehmen (das Bestandteil des dem effektiven gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Verteidigungsrechts ist), vor einer Ergänzung der im ursprünglichen EHB genannten Straftaten gehört zu werden.

    88.

    Diese Ergänzung kann, wenn ihr zugestimmt wird, dazu führen, dass die betreffende Person wegen einer anderen Straftat als derjenigen, wegen der sie sich in der Vergangenheit verteidigen konnte, verfolgt, verurteilt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen wird. Hier geht es somit um nicht weniger als um die Entscheidung darüber, für welche Straftaten diese Person schließlich vor Gericht gestellt werden kann, was die Dringlichkeit eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zeigt.

    89.

    Ich sehe keinen Grund, warum dieses Recht auf Verteidigung im zweiten Verfahren nicht gewährt werden sollte, das, wie ich noch einmal betonen möchte, genauso schwere oder noch schwerere Nachteile mit sich bringen kann als das erste Verfahren (das dem ersten EHB zugrunde liegt).

    90.

    Das Recht auf Verteidigung könnte im Verfahren zur Ergänzung der Straftaten in einer der folgenden Formen gewahrt werden:

    Entweder wird, wie die deutsche Regierung vorschlägt, im Verfahren nach Art. 27 des Rahmenbeschlusses eine Vernehmung vorgenommen,

    oder der bereits übergebenen Person wird die Möglichkeit gegeben, bei der ausstellenden Justizbehörde Widerspruch gegen die Ergänzung der Straftaten einzulegen, bevor die ausstellende Justizbehörde das Ersuchen um Ergänzung an die vollstreckende Justizbehörde weiterleitet.

    C.   Die zeitliche Begrenzung der Wirkung des Urteils des Gerichtshofs

    91.

    Das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft) beantragt für den Fall, dass der Gerichtshof der Überzeugung sein sollte, dass es nicht als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses angesehen werden könne, dem Urteil, das das Vorlageverfahren beendet, keine unmittelbare Wirkung zukommen zu lassen.

    92.

    Nur ganz ausnahmsweise kann der Gerichtshof aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit die für die Betroffenen bestehende Möglichkeit beschränken, sich auf die Auslegung, die er einer Bestimmung gegeben hat, zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen. Eine solche Beschränkung ist nur dann zulässig, wenn guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen vorliegen ( 30 ).

    93.

    Der gute Glaube der niederländischen Behörden, die nicht gezögert haben, ihre Rechtsvorschriften an die Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses anzupassen, kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Dies gilt jedoch nicht für die Gefahr einer schwerwiegenden Störung: Eine sofortige Anwendung der hier vorgeschlagenen Auslegung von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses muss nicht unbedingt zu einer solchen Störung führen, und das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft) hat eine solche Störung auch nicht präzise dargelegt.

    V. Ergebnis

    94.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel, Belgien) wie folgt zu antworten:

    Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Begriff der „vollstreckenden Justizbehörde“ als autonomer Begriff des Unionsrechts eine Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats, die unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen der Exekutive unterworfen werden kann, nicht umfasst.

    Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI ist dahin auszulegen, dass eine Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats, die unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen der Exekutive unterworfen werden kann, die in dieser Vorschrift genannte Zustimmung nicht erteilen kann.


    ( 1 ) Originalsprache: Spanisch.

    ( 2 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).

    ( 3 ) Vgl. statt aller Urteil vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaften Lyon und Tours) (C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, im Folgenden: Urteil Staatsanwaltschaften Lyon und Tours), und die dort angeführte Rechtsprechung.

    ( 4 ) Wet betreffende het Europees aanhoudingsbevel vom 19. Dezember 2003 (Belgisch Staatsblad, 22. Dezember 2003, S. 60075).

    ( 5 ) Wet van 29 april 2004 tot implementatie van het kaderbesluit van de Raad van de Europese Unie betreffende det Europees aanhoudingsbevel en de procedures van overlevering tussen de lidstaten van de Europese Unie (Stb. 2004, Nr. 195, im Folgenden: OLW). Das Gesetz ist zum 13. Juli 2019 geändert worden.

    ( 6 ) Wet op de Rechterlijke Organisatie vom 18. April 1827 (im Folgenden: Richtergesetz).

    ( 7 ) Urteil vom 1. Dezember 2008, Leymann und Pustovarov (C‑388/08 PPU, EU:C:2008:669, im Folgenden: Urteil Leymann und Pustovarov, Rn. 44).

    ( 8 ) Mit dem Begriff „Zustimmung“ beziehe ich mich auf die Zustimmung, die die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats nach Art. 27 des Rahmenbeschlusses erteilen kann, damit eine bereits übergebene Person wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden kann.

    ( 9 ) Urteil Staatsanwaltschaften Lyon und Tours, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung.

    ( 10 ) Vgl. statt aller Urteil vom 27. Mai 2019, PF (Generalstaatsanwalt von Litauen), (C‑509/18, EU:C:2019:457, im Folgenden: Urteil Generalstaatsanwalt von Litauen, Rn. 28).

    ( 11 ) Urteil vom 10. November 2016, Poltorak (C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, im Folgenden: Urteil Poltorak, Rn. 33).

    ( 12 ) Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, im Folgenden: Urteil Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau, Rn. 52); Hervorhebung nur hier.

    ( 13 ) Ebd., Rn. 54.

    ( 14 ) Ebd., Rn. 62.

    ( 15 ) Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas (C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, im Folgenden: Urteil Kovalkovas, Rn. 27): Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ermöglichen „die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ... Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten“.

    ( 16 ) Urteil Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau, Rn. 74; Hervorhebung nur hier.

    ( 17 ) Ebd., Rn. 74.

    ( 18 ) Dieses Erfordernis stellt „keine Voraussetzung dafür [dar], dass diese Behörde als ausstellende Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ... angesehen werden kann, [und] fällt nicht unter die Rechts- und Organisationsvorschriften dieser Behörde, sondern betrifft das Verfahren der Ausstellung eines solchen Haftbefehls“. Urteil Staatsanwaltschaften Lyon und Tours, Rn. 48.

    ( 19 ) Dies gilt ausschließlich für die Ausstellung eines EHB zum Zweck der Strafverfolgung. Für den Erlass eines EHB zur Strafvollstreckung ist es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht erforderlich, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Urteil vom 12. Dezember 2019, Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft Brüssel) (C‑627/19 PPU, EU:C:2019:1079, im Folgenden: Urteil Staatsanwaltschaft Brüssel, Rn. 39).

    ( 20 ) In seinem Urteil vom 9. Oktober 2019, NJ (Staatsanwaltschaft Wien) (C‑489/19 PPU, EU:C:2019:849), hat der Gerichtshof zugelassen, dass ein Gericht einen von einer der Exekutive untergeordneten Staatsanwaltschaft ausgestellten EHB „bewilligt“. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für die Ausstellung eines EHB auf zwei Behörden aufteilen können, sondern nur, dass ausstellende Behörde allein die Behörde sein kann, die die Entscheidung der Staatsanwaltschaft „bewilligt“ hat. Unter den gleichen Bedingungen können die Mitgliedstaaten eine andere Behörde als diejenige, die den EHB vollstreckt hat, in das Verfahren zur Erteilung der Zustimmung nach Art. 27 des Rahmenbeschlusses einbeziehen, jedoch muss die Zustimmung formell von der vollstreckenden Justizbehörde kommen.

    ( 21 ) Siehe Nrn. 43 bis 53 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 22 ) Urteil Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau, Rn. 68.

    ( 23 ) Urteil vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi (C‑241/15, EU:C:2016:385, Rn. 55 bis 57). Genau genommen könnte der Eindruck entstehen, das Verfahren der Vollstreckung des EHB verfüge über einen dreistufigen Schutz: die beiden Stufen des Verfahrens der Ausstellung des EHB und die Stufe des Vollstreckungsverfahrens.

    ( 24 ) Urteil Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau, Rn. 73.

    ( 25 ) Urteil Staatsanwaltschaften Lyon und Tours, Rn. 62: „Außerdem müssen, wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist, in dem Mitgliedstaat die Entscheidung über die Ausstellung eines solchen Haftbefehls und insbesondere ihre Verhältnismäßigkeit in einer Weise gerichtlich überprüfbar sein, die den Erfordernissen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes voll und ganz genügt.“

    ( 26 ) Ebd., Rn. 63.

    ( 27 ) Andernfalls wäre das Modell des Rahmenbeschlusses als ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden ohne Beteiligung der Regierungsbehörden (außerhalb eines rein instrumentellen und administrativen Rahmens) nicht mehr wiederzuerkennen (Urteil vom 28. Juni 2012, West, C‑192/12 PPU, EU:C:2012:404, Rn. 54).

    ( 28 ) Ein solches Ersuchen darf nicht mit einem Ersuchen auf bloße Änderungen der Beschreibungen oder Umstände des im bereits vollstreckten EHB beschriebenen Sachverhalts verwechselt werden. Der Gerichtshof lässt Änderungen zu, die nicht die Art der ursprünglichen Straftat verändern und keine Gründe für das Absehen von der Vollstreckung zur Folge haben (Urteil Leymann und Pustovarov, Rn. 57).

    ( 29 ) Die niederländische Regierung macht geltend, dass das nationale Recht einen solchen Rechtsbehelf vorsehe, dieser jedoch von AZ nicht eingelegt worden sei.

    ( 30 ) Urteil Kovalkovas, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung.

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