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Document 62018TJ0248

Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 14. Juli 2021 (Auszüge).
Diosdado Cabello Rondón gegen Rat der Europäischen Union.
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela – Einfrieren von Geldern – Listen der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers in die Listen – Beibehaltung des Namens des Klägers auf den Listen – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Grundsatz der guten Verwaltung – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Beurteilungsfehler – Freiheit der Meinungsäußerung.
Rechtssache T-248/18.

ECLI identifier: ECLI:EU:T:2021:450

 URTEIL DES GERICHTS (Siebte Kammer)

vom 14. Juli 2021 ( *1 )

„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela – Einfrieren von Geldern – Listen der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers in die Listen – Beibehaltung des Namens des Klägers auf den Listen – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Grundsatz der guten Verwaltung – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Beurteilungsfehler – Freiheit der Meinungsäußerung“

In der Rechtssache T‑248/18,

Diosdado Cabello Rondón, wohnhaft in Caracas (Venezuela), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte L. Giuliano und F. Di Gianni,

Kläger,

gegen

Rat der Europäischen Union, vertreten durch S. Kyriakopoulou, P. Mahnič, V. Piessevaux und A. Antoniadis als Bevollmächtigte,

Beklagter,

betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung zum einen des Beschlusses (GASP) 2018/90 des Rates vom 22. Januar 2018 zur Änderung des Beschlusses (GASP) 2017/2074 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela (ABl. 2018, L 16 I, S. 14) und des Beschlusses (GASP) 2018/1656 des Rates vom 6. November 2018 zur Änderung des Beschlusses (GASP) 2017/2074 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela (ABl. 2018, L 276, S. 10), und zum anderen der Durchführungsverordnung (EU) 2018/88 des Rates vom 22. Januar 2018 zur Durchführung der Verordnung (EU) 2017/2063 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela (ABl. 2018, L 16 I, S. 6) und der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1653 des Rates vom 6. November 2018 zur Durchführung der Verordnung (EU) 2017/2063 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela (ABl. 2018, L 276, S. 1), soweit sie den Kläger betreffen,

erlässt

DAS GERICHT (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten R. da Silva Passos, der Richterin I. Reine (Berichterstatterin) und des Richters L. Truchot,

Kanzler: B. Lefebvre, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. September 2020

folgendes

Urteil ( 1 )

[nicht wiedergegeben]

Rechtliche Würdigung

[nicht wiedergegeben]

Zum dritten Klagegrund: Verletzung der Freiheit der Meinungsäußerung

[nicht wiedergegeben]

100

Wie sich aus den Art. 21 und 23 EUV ergibt, muss das Handeln der Union, auch im Bereich der GASP, die Grundrechte wahren (vgl. Urteil vom 27. September 2018, Ezz u. a./Rat, T‑288/15, EU:T:2018:619, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). Da die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit durch Art. 11 der Charta und unter den nachfolgenden Voraussetzungen durch Art. 10 EMRK gewährleistet werden, ist zu prüfen, ob die angefochtenen Rechtsakte diese Rechte wahren.

101

Zu Art. 10 EMRK ist festzustellen, dass die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, zwar kein Rechtsinstrument darstellt, das formal in die Unionsrechtsordnung übernommen worden ist. Die Gültigkeit eines Rechtsakts des abgeleiteten Unionsrechts ist somit allein anhand der durch die Charta garantierten Grundrechte zu prüfen. Allerdings sind zum einen nach Art. 6 Abs. 3 EUV die durch die EMRK anerkannten Grundrechte als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts, und zum anderen ergibt sich aus Art. 52 Abs. 3 der Charta, dass die in dieser enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Nach den Erläuterungen zu dieser Bestimmung, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind, werden die Bedeutung und Tragweite der garantierten Rechte nicht nur durch den Wortlaut der EMRK, sondern u. a. auch durch die Rechtsprechung des EGMR bestimmt. Aus diesen Erläuterungen ergibt sich weiter, dass durch Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten geschaffen werden soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird. Überdies ist darauf hinzuweisen, dass diese Gleichwertigkeit der durch die Charta und der durch die EMRK garantierten Rechte hinsichtlich der Freiheit der Meinungsäußerung förmlich festgestellt worden ist (vgl. Urteil vom 31. Mai 2018, Korwin‑Mikke/Parlament, T‑770/16, EU:T:2018:320, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

102

Nach dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 1 der Charta und Art. 10 Abs. 1 EMRK hat „[j]ede Person ... das Recht auf freie Meinungsäußerung“. Der EGMR hat bereits entschieden, dass die Freiheit der Meinungsäußerung eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft bildet und dass in dieser Vorschrift nicht nach dem angestrebten Zweck oder der Rolle unterschieden wird, die natürliche oder juristische Personen bei der Ausübung dieser Freiheit gespielt haben (EGMR, 28. September 1999, Öztürk/Türkei, CE:ECHR:1999:0928JUD002247993, Rn. 49).

103

Der EGMR misst der Rolle, die Journalisten als „Wachhunde“ der Gesellschaft im Allgemeinen und der Demokratie im Besonderen spielen, eine besondere Bedeutung bei. Er empfiehlt „größtmögliche Vorsicht“, wenn es um die Beurteilung der Gültigkeit von Einschränkungen ihrer Meinungsäußerungsfreiheit geht (vgl. in diesem Sinne EGMR, 24. Juni 2014, Roșiianu/Rumänien, CE:ECHR:2014:0624JUD002732906, Rn. 61). Er betont auch, dass die audiovisuellen Medien wie Rundfunk und Fernsehen in diesem Zusammenhang eine besonders wichtige Rolle spielen. Wegen ihrer Möglichkeit, Mitteilungen durch Ton und Bild zu verbreiten, haben sie eine unmittelbarere und stärkere Wirkung als die Printmedien. Die Aufgabe von Fernsehen und Rundfunk als vertraute Quellen der Unterhaltung im intimen Rahmen der Wohnung des Zuschauers oder Hörers verstärken diese Wirkung noch (EGMR, 17. September 2009, Manole u. a./Moldawien, CE:ECHR:2009:0917JUD001393602, Rn. 97).

104

Gleichwohl ist dem EGMR zufolge das Recht von Journalisten, Informationen zu Fragen von allgemeinem Interesse weiterzugeben, nur geschützt, wenn sie in gutem Glauben auf der Grundlage zutreffender Tatsachen handeln und „zuverlässige und genaue“ Informationen im Einklang mit der journalistischen Berufsethik liefern. Nach Art. 10 Abs. 2 EMRK ist die Ausübung der Meinungsfreiheit mit „Pflichten und Verantwortung“ verbunden, was auch für die Medien gilt, und zwar selbst dann, wenn es um Fragen von großem öffentlichen Interesse geht (vgl. EGMR, 17. Dezember 2004, Pedersen und Baadsgaard/Dänemark, CE:ECHR:2004:1217JUD004901799, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach der Rechtsprechung des EGMR ist bei der Beurteilung dieser „Pflichten und Verantwortung“ zu berücksichtigen, dass die audiovisuellen Medien häufig eine unmittelbarere und stärkere Wirkung haben als Printmedien (vgl. in diesem Sinne EGMR, 16. Juni 2015, Delfi AS/Estland, CE:ECHR:2015:0616JUD006456909, Rn. 134).

105

Außerdem hat der EGMR festgestellt, dass Art. 10 Abs. 2 EMRK im politischen Diskurs oder bei der Erörterung von Fragen von allgemeinem Interesse kaum Raum für Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit lässt. Äußerungen über solche Angelegenheiten von öffentlichem Interesse genießen grundsätzlich starken Schutz, während Äußerungen, die Gewalt, Hass, Fremdenfeindlichkeit oder andere Formen der Intoleranz verteidigen oder rechtfertigen, normalerweise keinen Schutz beanspruchen können. Es liegt in der Natur des politischen Diskurses, dass er kontrovers und oft heftig geführt wird, gleichwohl liegt er im öffentlichen Interesse, außer wenn die Grenze überschritten und zu Gewalt, Hass oder Intoleranz aufgerufen wird (EGMR, 15. Oktober 2015, Perinçek/Schweiz, CE:ECHR:2015:1015JUD002751008, Rn. 197, 230 und 231; vgl. in diesem Sinne auch EGMR, 8. Juli 1999, Sürek/Türkei (Nr. 1), CE:ECHR:1999:0708JUD002668295, Rn. 61 und 62). Bei der Prüfung der Frage, ob die Äußerungen in ihrer Gesamtheit als eine Aufstachelung zu Gewalt betrachtet werden können, ist auf die verwendeten Begriffe und den Kontext ihrer Verbreitung zu achten (vgl. in diesem Sinne EGMR, 6. Juli 2010, Gözel und Özer/Türkei, CE:ECHR:2010:0706JUD004345304, Rn. 52). Insbesondere dann, wenn diese Äußerungen in einem angespannten politischen oder sozialen Kontext getroffen wurden, erkennt der EGMR grundsätzlich an, dass eine gewisse Form des Eingriffs bei solchen Äußerungen gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein kann (vgl. in diesem Sinne EGMR, 15. Oktober 2015, Perinçek/Schweiz, CE:ECHR:2015:1015JUD002751008, Rn. 205).

106

Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ist der Kontext der vorliegenden Rechtssache zu berücksichtigen, die besondere Merkmale aufweist, die sie von jenen unterscheiden, im Rahmen derer der EGMR seine Rechtsprechung entwickelt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juni 2017, Kiselev/Rat, T‑262/15, EU:T:2017:392, Rn. 93).

107

Es ist zu betonen, dass die sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergebenden Grundsätze in Bezug auf Situationen aufgestellt worden sind, in denen ein der EMRK beigetretener Staat gegen eine in ihm ansässige Person, deren Äußerungen oder Handlungen dieser Staat für inakzeptabel erachtete, repressive Maßnahmen, oft strafrechtlicher Natur, ergriffen hatte und sich diese Person zu ihrer Verteidigung ihm gegenüber auf die Meinungsäußerungsfreiheit berief (Urteil vom 15. Juni 2017, Kiselev/Rat, T‑262/15, EU:T:2017:392, Rn. 94).

108

Im vorliegenden Fall ist der Kläger hingegen ein venezolanischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Venezuela, der in seinem eigenen Land politische Ämter ausübt und dort über einen umfassenden Zugang zu audiovisuellen Medien verfügt.

109

In diesem Kontext beruft sich der Kläger auf das Recht auf freie Meinungsäußerung. Er beruft sich auf dieses Recht daher nicht, um sich gegen den venezolanischen Staat zu verteidigen, sondern um sich gegen restriktive Maßnahmen – mit Sicherungscharakter und nicht strafrechtlicher Natur – zu schützen, die der Rat als Reaktion auf die Lage in Venezuela erlassen hat (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 15. Juni 2017, Kiselev/Rat, T‑262/15, EU:T:2017:392, Rn. 97).

110

Bei der Prüfung des vorliegenden Klagegrundes sind alle diese Grundsätze und Erwägungen zu berücksichtigen.

111

Der Kläger wurde als führender venezolanischer Politiker in die streitigen Listen aufgenommen und dort belassen, weil er die politische Opposition, Medien und die Zivilgesellschaft öffentlich angegriffen und bedroht hatte. Der Rat konnte sich daher auf das in Art. 6 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2017/2074 vorgesehene Kriterium für die Aufnahme von Namen natürlicher Personen stützen, deren Handlungen, politische Maßnahmen oder Tätigkeiten auf irgendeine Weise die Demokratie oder die Rechtsstaatlichkeit in Venezuela untergraben.

112

Die Medienauftritte des Klägers, mit denen der Rat die angefochtenen Rechtsakte gerechtfertigt hat, betreffen insbesondere seine politischen Handlungen und Äußerungen im Zusammenhang mit Mobilisierungen vor der Presse und im Rahmen von Pressekonferenzen.

113

Daraus folgt, dass die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen gegen den Kläger als Politiker verhängt wurden, der die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit durch öffentliche, gegen die politische Opposition, die Medien und die Zivilgesellschaft gerichtete Angriffe untergraben hat.

114

Zum Vorbringen des Klägers, er sei Kommentator, Journalist und Veranstalter unterhaltender Darbietungen, ist festzustellen, dass seine wöchentliche Fernsehsendung, die übrigens der einzige Beweis für den von ihm geltend gemachten Status als Journalist ist, als eine Weiterführung seiner politischen Tätigkeiten erscheint. Den Rn. 81 bis 83 oben lässt sich entnehmen, dass der Kläger seine Sendung dazu genutzt hat, seine politischen Gegner anzugreifen und Anweisungen für Aktionen gegen die Opposition zu erteilen. Im Übrigen stehen, wie oben in Rn. 112 festgestellt, die Handlungen des Klägers, auf die sich der Rat stützt, nicht ausschließlich im Zusammenhang mit seiner Fernsehsendung. Aus der Rechtsprechung des EGMR geht jedenfalls hervor, dass die Grundsätze zum guten Glauben und zu den ethischen Pflichten von Journalisten, die diese beachten müssen, um sich auf einen stärkeren Schutz vor Eingriffen in ihre Meinungsäußerungsfreiheit berufen zu können (siehe oben, Rn. 104), auch für andere Personen gelten, die sich an der öffentlichen Debatte beteiligen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 15. Februar 2005, Steel und Morris/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2005:0215JUD006841601, Rn. 90, und vom 29. November 2005, Urbino Rodrigues/Portugal, CE:ECHR:2005:1129JUD007508801, Rn. 25). Somit sind diese Grundsätze für die Situation des Klägers, der ohne jeden Zweifel an der laufenden öffentlichen Debatte in Venezuela teilgenommen hat, einschlägig.

115

Aus der Prüfung der Akten ergibt sich, dass der Kläger, ohne die „Pflichten und Verantwortung“ nach der Rechtsprechung des EGMR wahrgenommen zu haben, die Medien frei genutzt hat, um die politische Opposition, andere Medien und die Zivilgesellschaft öffentlich zu bedrohen und einzuschüchtern.

116

Der Kläger hat insbesondere Journalisten beschuldigt, an einem Bombenanschlag auf die Nationalgarde beteiligt gewesen zu sein. Außerdem hat er nicht bestritten, auf seiner Website Organisationen eingeschüchtert zu haben, die die Menschenrechtsverletzungen in Venezuela anprangerten, oder in seiner Fernsehsendung Informationen aus widerrechtlich aufgezeichneten Privatgesprächen verwendet zu haben, um politische Gegner anzugreifen. Ebenso wenig hat er den Informationen widersprochen, nach denen er durch hetzerische Rhetorik zu brutalen Repressionen angestiftet habe, Anweisungen für den Einsatz von Kampfeinheiten gegen Demonstrationen der Opposition erteilt habe, öffentlich Oppositionsführer bedroht habe, indem er erklärt habe, „wir wissen, wo Sie wohnen“, öffentlich ein „Handbuch für Revolutionskämpfer“ präsentiert habe, das persönliche Informationen über die Oppositionsführer, insbesondere deren Adressen, enthalten habe, um die Opposition einzuschüchtern. Auch die Angaben in einem Bericht der OAS vom 14. März 2017, dass er an Folter beteiligt gewesen sei, hat der Kläger nicht in Abrede gestellt.

117

Die vom Rat in seiner Akte geprüften Handlungen des Klägers stellen daher eine Aufstachelung zu Gewalt, Hass und Intoleranz im Sinne der oben in Rn. 105 angeführten Rechtsprechung dar, so dass sie nicht von der besonders ausgeprägten Meinungsäußerungsfreiheit erfasst werden, die grundsätzlich Äußerungen schützt, die im politischen Kontext getätigt werden. Bei diesen Handlungen handelt es sich nämlich um tatsächliche Angriffe, mit denen die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit in Venezuela untergraben werden sollten.

118

Folglich ist das Vorbringen des Klägers zu seiner Rolle als Journalist im Zusammenhang mit der Freiheit der Meinungsäußerung, die Journalisten genießen, zurückzuweisen.

119

Im Übrigen trifft es zu, dass, wie oben in Rn. 102 ausgeführt, „jede Person“ die Freiheit der Meinungsäußerung genießt. Zudem können im vorliegenden Fall die gegen den Kläger verhängten restriktiven Maßnahmen zu Einschränkungen seiner Meinungsäußerungsfreiheit führen, da sie vom Rat insbesondere wegen einiger seiner Äußerungen beschlossen wurden und ihn daher davon abhalten könnten, sich wieder in ähnlicher Weise zu äußern. Allerdings gilt das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht uneingeschränkt, sondern kann unter den in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden.

120

Um mit dem Unionsrecht vereinbar zu sein, muss ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung drei Voraussetzungen erfüllen. Erstens muss die betreffende Einschränkung „gesetzlich vorgesehen sein“. Anders ausgedrückt muss das Unionsorgan, das Maßnahmen erlässt, die die Meinungsäußerungsfreiheit einer Person beschränken können, dafür eine rechtliche Grundlage haben. Zweitens muss die Einschränkung ein dem Gemeinwohl dienendes Ziel, das als solches von der Union anerkannt wird, verfolgen. Drittens darf die Einschränkung nicht unverhältnismäßig sein (vgl. Urteil vom 15. Juni 2017, Kiselev/Rat, T‑262/15, EU:T:2017:392, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

121

Hinsichtlich der ersten Voraussetzung ist darauf hinzuweisen, dass die Einschränkung im vorliegenden Fall „gesetzlich vorgesehen“ ist, da sie in Rechtsakten festgelegt ist, die u. a. allgemeine Geltung haben und für die eine eindeutige Rechtsgrundlage im Unionsrecht, nämlich Art. 29 EUV und Art. 215 AEUV, besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juni 2017, Kiselev/Rat, T‑262/15, EU:T:2017:392, Rn. 72).

122

Zur zweiten Voraussetzung ist festzustellen, dass sich aus der Prüfung des zweiten Klagegrundes ergibt, dass die angefochtenen Rechtsakte in Bezug auf den Kläger mit dem in Art. 21 Abs. 2 Buchst. b EUV genannten Ziel, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit zu festigen und zu fördern, in Einklang stehen, da sie Teil einer Politik zur Förderung der Demokratie in Venezuela sind.

123

Die dritte Voraussetzung besteht aus zwei Komponenten: Zum einen müssen die Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit, die sich aus den in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen ergeben können, in Bezug auf das verfolgte Ziel erforderlich und angemessen sein, und zum anderen darf die Substanz dieser Freiheit nicht beeinträchtigt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Juni 2017, Kiselev/Rat, T‑262/15, EU:T:2017:392, Rn. 84). Zur ersten Komponente ist festzustellen, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteil vom 15. Juni 2017, Kiselev/Rat, T‑262/15, EU:T:2017:392, Rn. 87).

124

Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung zur gerichtlichen Kontrolle der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, dass der Unionsgesetzgeber über ein weites Ermessen in Bereichen verfügt, in denen er politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen treffen und komplexe Prüfungen vornehmen muss. Folglich ist eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist (Urteil vom 15. Juni 2017, Kiselev/Rat, T‑262/15, EU:T:2017:392, Rn. 88).

125

Was im vorliegenden Fall die Angemessenheit restriktiver Maßnahmen, wie sie gegen den Kläger verhängt wurden, angesichts eines für die Völkergemeinschaft derart grundlegenden Ziels wie des Schutzes der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit betrifft, kann das Einfrieren von Geldern, Finanzvermögen und anderen wirtschaftlichen Ressourcen von Personen, die als an der Untergrabung der Demokratie in Venezuela beteiligt identifiziert wurden, für sich genommen offensichtlich nicht als unangemessen angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom12. Februar 2020, Boshab/Rat, T‑171/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:55, Rn. 134 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie oben in Rn. 117 ausgeführt, ist der Kläger mit seinen Aufrufen zu Gewalt, Hass und Intoleranz an dieser Untergrabung beteiligt.

126

Zur Erforderlichkeit der betreffenden Beschränkungen ist festzustellen, dass alternative und weniger belastende restriktive Maßnahmen, z. B. ein System vorheriger Erlaubnis oder eine Verpflichtung, die Verwendung der gezahlten Beträge nachträglich zu belegen, es – namentlich in Anbetracht der Möglichkeit einer Umgehung der auferlegten Beschränkungen – nicht ermöglichen, die angestrebten Ziele, nämlich die Ausübung von Druck auf die für die Situation in Venezuela verantwortlichen venezolanischen Entscheidungsträger, ebenso wirksam zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juni 2017, Kiselev/Rat, T‑262/15, EU:T:2017:392, Rn. 85).

127

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 Abs. 4 des Beschlusses 2017/2074 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung 2017/2063 die Möglichkeit vorsehen, die Freigabe oder die Bereitstellung bestimmter eingefrorener Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen zu genehmigen, damit die betroffenen Personen Grundbedürfnisse befriedigen oder bestimmte Verpflichtungen erfüllen können.

128

Da die Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit des Klägers, die sich für diesen aus den betreffenden restriktiven Maßnahmen ergeben können, für die Erreichung des verfolgten Zieles erforderlich und insoweit verhältnismäßig sind, ist zu prüfen, ob sie die Substanz dieser Freiheit beeinträchtigen.

129

Diese restriktiven Maßnahmen sehen zum einen vor, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen müssen, um ihm die Einreise in oder die Durchreise durch ihr Hoheitsgebiet zu verweigern, und zum anderen, dass seine in der Union befindlichen Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen einzufrieren sind.

130

Der Kläger ist Angehöriger eines Drittstaats, Venezuelas, und wohnt in diesem Staat, in dem er seiner Berufstätigkeit als Politiker nachgeht und auch in den Medien dieses Landes aktiv ist. Daher greifen die betreffenden restriktiven Maßnahmen nicht in die Substanz des Rechts des Klägers ein, seine Meinungsäußerungsfreiheit insbesondere im Rahmen seiner Berufstätigkeit im Sektor der Medien in dem Land, in dem er wohnt und arbeitet, auszuüben (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Juni 2017, Kiselev/Rat, T‑262/15, EU:T:2017:392, Rn. 123).

131

Zudem sind diese Maßnahmen befristet und reversibel. Aus Art. 13 des Beschlusses 2017/2074 ergibt sich, dass dieser fortlaufend überprüft wird (siehe oben, Rn. 7).

132

Folglich wird die Meinungsäußerungsfreiheit des Klägers durch die gegen ihn verhängten restriktiven Maßnahmen nicht verletzt.

133

Nach alledem ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen.

[nicht wiedergegeben]

 

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Siebte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Klage wird abgewiesen.

 

2.

Herr Diosdado Cabello Rondón trägt die Kosten.

 

da Silva Passos

Reine

Truchot

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. Juli 2021.

Unterschriften‑


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

( 1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.

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