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Document 62018CO0530

Beschluss des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 10. Juli 2019.
EP gegen FO.
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Ilfov.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 15 – Verweisung der Sache an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das den Fall besser beurteilen kann – Ausnahme von der Regel der allgemeinen Zuständigkeit des Gerichts des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Kindes – Besondere Bindung zu einem anderen Mitgliedstaat – Gesichtspunkte, die die Bestimmung des Gerichts ermöglichen, das den Fall besser beurteilen kann – Vorliegen verschiedener Rechtsvorschriften – Wohl des Kindes.
Rechtssache C-530/18.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2019:583

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

10. Juli 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 15 – Verweisung der Sache an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das den Fall besser beurteilen kann – Ausnahme von der Regel der allgemeinen Zuständigkeit des Gerichts des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Kindes – Besondere Bindung zu einem anderen Mitgliedstaat – Gesichtspunkte, die die Bestimmung des Gerichts ermöglichen, das den Fall besser beurteilen kann – Vorliegen verschiedener Rechtsvorschriften – Wohl des Kindes“

In der Rechtssache C‑530/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunalul Ilfov (Landgericht Ilfov, Rumänien) mit Entscheidung vom 20. Juni 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 13. August 2018, in dem Verfahren

EP

gegen

FO

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen, des Richters C. G. Fernlund (Berichterstatter) und der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von EP, vertreten durch C. D. Giurgiu, avocat,

von FO, vertreten durch sich selbst,

der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, L. Liţu und C. Canţăr als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und A. Biolan als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen EP und FO wegen der Übertragung des Sorgerechts für ihr minderjähriges Kind und der Bestimmung von dessen gewöhnlichem Aufenthaltsort sowie wegen der Zahlung von Unterhalt für das Kind.

Rechtlicher Rahmen

3

Im 13. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„Nach dieser Verordnung kann das zuständige Gericht den Fall im Interesse des Kindes ausnahmsweise und unter bestimmten Umständen an das Gericht eines anderen Mitgliedstaats verweisen, wenn dieses den Fall besser beurteilen kann. …“

4

Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.“

5

Art. 15 („Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann“) der Verordnung bestimmt:

„(1)   In Ausnahmefällen und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann,

a)

die Prüfung des Falls oder des betreffenden Teils des Falls aussetzen und die Parteien einladen, beim Gericht dieses anderen Mitgliedstaats einen Antrag gemäß Absatz 4 zu stellen, oder

b)

ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen, sich gemäß Absatz 5 für zuständig zu erklären.

(2)   Absatz 1 findet Anwendung

a)

auf Antrag einer der Parteien oder

b)

von Amts wegen oder

c)

auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung gemäß Absatz 3 hat.

Die Verweisung von Amts wegen oder auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats erfolgt jedoch nur, wenn mindestens eine der Parteien ihr zustimmt.

(3)   Es wird davon ausgegangen, dass das Kind eine besondere Bindung im Sinne des Absatzes 1 zu dem Mitgliedstaat hat, wenn

a)

nach Anrufung des Gerichts im Sinne des Absatzes 1 das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erworben hat oder

b)

das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hatte oder

c)

das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt oder

d)

ein Träger der elterlichen Verantwortung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hat oder

e)

die Streitsache Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung oder der Erhaltung des Vermögens des Kindes oder der Verfügung über dieses Vermögen betrifft und sich dieses Vermögen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet.

(4)   Das Gericht des Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, setzt eine Frist, innerhalb deren die Gerichte des anderen Mitgliedstaats gemäß Absatz 1 angerufen werden müssen.

Werden die Gerichte innerhalb dieser Frist nicht angerufen, so ist das befasste Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(5)   Diese Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats können sich, wenn dies aufgrund der besonderen Umstände des Falls dem Wohl des Kindes entspricht, innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Anrufung gemäß Absatz 1 Buchstabe a) oder b) für zuständig erklären. In diesem Fall erklärt sich das zuerst angerufene Gericht für unzuständig. Anderenfalls ist das zuerst angerufene Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(6)   Die Gerichte arbeiten für die Zwecke dieses Artikels entweder direkt oder über die nach Artikel 53 bestimmten Zentralen Behörden zusammen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6

EP, eine rumänische Staatsangehörige, heiratete im Jahr 2005 FO, einen französischen Staatsangehörigen. Aus dieser Verbindung ging ein Kind hervor, das am 13. Oktober 2006 in Frankreich geboren wurde.

7

EP und FO leben seit dem Jahr 2013 getrennt und das Kind wohnt seither am Wohnsitz der Mutter in Rumänien.

8

Am 13. Januar 2014 beantragte EP, die Mutter des Kindes, bei der Judecătoria Buftea (Amtsgericht Buftea, Rumänien) die Auflösung der Ehe, die Übertragung des Sorgerechts für das Kind und die Zahlung von Unterhalt durch FO, den Vater des Kindes.

9

FO erhob eine Einrede der Unzuständigkeit der rumänischen Gerichte, da seiner Ansicht nach die russischen Gerichte zuständig sind, sowie eine Einrede der internationalen Rechtshängigkeit und eine Unzulässigkeitseinrede. Außerdem erhob er hilfsweise Widerklage auf Auflösung der Ehe wegen Verschuldens von EP, auf ausschließliche Ausübung der elterlichen Verantwortung, auf Übertragung des Sorgerechts für das Kind und auf Zahlung von Unterhalt für das Kind durch EP.

10

Mit Beschluss vom 10. Oktober 2014 wies die Judecătoria Buftea (Amtsgericht Buftea) die drei von FO erhobenen Einreden zurück und stellte mit Beschluss vom 12. Januar 2015 fest, dass rumänisches Recht auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar sei.

11

Am 8. Juni 2016 beantragten EP und FO schließlich einvernehmlich die Scheidung; jede Partei beantragte aber darüber hinaus das alleinige Sorgerecht, die Begründung des Wohnsitzes des minderjährigen Kindes an ihrem jeweiligen Wohnsitz und die Zahlung von Unterhalt für dieses Kind durch die Gegenpartei. Hilfsweise beantragte FO das abwechselnde Sorgerecht für das Kind.

12

Mit Urteil vom 4. Juli 2016 sprach die Judecătoria Buftea (Amtsgericht Buftea) die einvernehmliche Scheidung von EP und FO aus, ordnete die gemeinsame Ausübung der elterlichen Verantwortung an, bestimmte den Wohnsitz des Kindes bei der Mutter, legte eine Regelung für Besuche des Kindes durch den Vater fest und verpflichtete diesen zur Zahlung von Unterhalt für das Kind.

13

In Bezug auf den Antrag auf abwechselnden Wohnsitz, den FO, der sich auf die im französischen Recht vorgesehenen Möglichkeiten berief, gestellt hatte, wies dieses Gericht darauf hin, dass nach der Rechtsprechung der französischen Gerichte die Uneinigkeit zwischen den Parteien ein Hindernis bei der Errichtung eines derartigen Wohnsitzes darstellen könne.

14

Am 7. April 2017 legten FO und EP gegen das im ersten Rechtszug ergangene Urteil beim Tribunalul Ilfov (Landgericht Ilfov, Rumänien) Berufung ein.

15

FO machte geltend, die Judecătoria Buftea (Amtsgericht Buftea) sei für die Entscheidung über den bei ihr anhängigen Rechtsstreit nicht zuständig und beantragte die Aufhebung dieses Urteils.

16

Darüber hinaus vertrat jede Partei des Ausgangsverfahrens die Auffassung, dass dieses Urteil inhaltlich zu ihren Gunsten abzuändern sei.

17

Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Judecătoria Buftea (Amtsgericht Buftea) unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes festgestellt habe, dass dieses seit Ende 2013 mit seiner Mutter in Rumänien lebe, eine französische Schule besuche und in seinem Umfeld gut integriert sei. Das Kind habe sowohl sprachlich als auch kulturell zu Rumänien die stärksten Bindungen.

18

Hingegen sei die berufliche Situation von FO, der erklärt, seinen Hauptwohnsitz in Frankreich, Rumänien und Russland begründet zu haben, derzeit unsicher und die Art seiner Tätigkeiten ermögliche es ihm nicht, ausreichend Zeit mit seinem Kind zu verbringen. Die Behauptung von FO, dass er bereit sei, seine Karriere aufzugeben, um sich in Rumänien niederzulassen und bei seinem Kind zu leben, genüge nicht, um einen Antrag auf Bestimmung des Wohnsitzes des Kindes an seinem Wohnsitz zu begründen. Außerdem habe das Kind angegeben, dass es Zuneigung zu beiden Elternteilen habe, unter ihren ständigen Streitigkeiten leide und – ohne seinen Vater enttäuschen zu wollen – bei seiner Mutter leben möchte.

19

Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel hinsichtlich des von FO geltend gemachten Berufungsgrundes der Unzuständigkeit der rumänischen Gerichte, der auf das Argument gestützt wird, dass die französischen Gerichte die Anträge über die elterliche Verantwortung besser beurteilen könnten. Das Gericht hält es daher für erforderlich, seine Zuständigkeit unter Berücksichtigung von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu prüfen.

20

Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Ilfov (Landgericht Ilfov) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen, dass er eine Ausnahme von der Regel der Zuständigkeit des nationalen Gerichts begründet, in dessen Bezirk das Kind seinen tatsächlichen Wohnsitz hat?

2.

Ist Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen, dass er Kriterien aufstellt, die eine besondere Bindung des Kindes zu Frankreich aufzeigen (der Prozessführer führt die folgenden Kriterien an: Das Kind ist in Frankreich geboren, sein Vater ist französischer Staatsbürger, es hat Blutsverwandte in Frankreich, nämlich zwei Schwestern und einen Bruder, eine Nichte [die Tochter seiner Schwester], den Großvater väterlicherseits, die derzeitige Freundin des Vaters und die minderjährige Tochter dieser beiden, während es in Rumänien keine Verwandten mütterlicherseits hat, es besucht die französische Schule, die Erziehung und die Mentalität des Kindes waren stets französisch, die zuhause unter den Eltern sowie zwischen den Eltern und dem Kind gesprochene Sprache war stets Französisch), so dass das nationale Gericht festzustellen hat, dass das französische Gericht den Fall besser beurteilen kann?

3.

Ist Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen, dass Verfahrensunterschiede zwischen den Rechten der beiden genannten Länder wie die Entscheidung in einem nicht öffentlichen Verfahren durch Fachrichter dem Wohl des Kindes im Sinne dieser unionsrechtlichen Bestimmungen dienen?

Zu den Vorlagefragen

21

Gemäß Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn sie keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

22

Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

Zur ersten Frage

23

Die Antwort auf die erste Frage, ob Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine Ausnahme von der in Art. 8 dieser Verordnung vorgesehenen allgemeinen Zuständigkeitsregel begründet, wonach für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, kann bereits aus dem Wortlaut von Art. 15 abgeleitet werden.

24

Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht nämlich ausdrücklich vor, dass er nur in Ausnahmefällen gilt. Wie der Gerichtshof entschieden hat, stellt Art. 15 Abs. 1 eine besondere Zuständigkeitsvorschrift dar, die gegenüber der allgemeinen Zuständigkeitsregel des Art. 8 Abs. 1 der Verordnung eine Ausnahme bildet und daher eng auszulegen ist, und darf die Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann, nur ausnahmsweise erfolgen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 47 und 48, und vom 4. Oktober 2018, IQ, C‑478/17, EU:C:2018:812, Rn. 32).

25

Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass er eine Ausnahme von der in Art. 8 dieser Verordnung vorgesehenen allgemeinen Zuständigkeitsregel begründet, wonach die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten durch den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes zum Zeitpunkt der Anrufung der Gerichte bestimmt wird.

Zur zweiten Frage

26

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass er Kriterien aufstellt, die es ermöglichen, zu bestimmen, ob ein Kind eine besondere Bindung zu einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen hat, dessen Gerichtsbarkeit für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, ob diese Kriterien abschließend sind und ob, falls sie erfüllt sind, daraus folgt, dass die Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats den Fall besser beurteilen können.

27

Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass bereits aus dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 hervorgeht, dass dieser Artikel fünf alternative Kriterien vorsieht, anhand deren angenommen werden kann, dass ein Kind eine besondere Bindung zu einem Mitgliedstaat hat.

28

Sodann haben diese in den Buchst. a bis e dieser Bestimmung aufgeführten Kriterien, wie der Gerichtshof entschieden hat, abschließenden Charakter, so dass vom Verweisungsmechanismus von vornherein die Fälle ausgeschlossen sind, in denen es an diesen Gesichtspunkten fehlt (Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 51, und vom 4. Oktober 2018, IQ, C‑478/17, EU:C:2018:812, Rn. 35).

29

Hierzu ist festzustellen, dass, wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, sich die vom Vater des Kindes genannten und in der zweiten Vorlagefrage wiedergegebenen Umstände von diesen Kriterien unterscheiden und daher für die Bestimmung, ob eine besondere Bindung zwischen dem Kind und einem anderen Mitgliedstaat – vorliegend der Französischen Republik – besteht, nicht unmittelbar relevant sind. Allerdings können die beiden erstgenannten Umstände, nämlich dass das Kind in diesem Mitgliedstaat geboren ist und sein Vater dessen Staatsangehörigkeit besitzt, zum Nachweis dafür dienen, dass das Kind Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und daher das in Art. 15 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 2201/2003 genannte Kriterium erfüllt ist.

30

Schließlich ist zu betonen, dass nach Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 in Verbindung mit dem 13. Erwägungsgrund dieser Verordnung ein Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, den Fall an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das den Fall seines Erachtens besser beurteilen kann, verweisen „kann“, wenn die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllt sind, ohne dass es dazu verpflichtet wäre. Das normalerweise für einen Fall zuständige Gericht eines Mitgliedstaats muss, um eine Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats beantragen zu dürfen, die starke Vermutung widerlegen können, die für die Beibehaltung seiner eigenen Zuständigkeit nach der Verordnung spricht (Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 49).

31

Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist ferner daran zu erinnern, dass die Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 nur dann erfolgen kann, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich dass eine Bindung zwischen dem Kind und einem anderen Mitgliedstaat besteht, dass das Gericht, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, der Ansicht ist, dass ein Gericht dieses anderen Mitgliedstaats den Fall besser beurteilen kann, und dass die Verweisung dem Wohl des Kindes dient, in dem Sinne, dass sie nicht die Gefahr nachteiliger Auswirkungen auf die Lage des betroffenen Kindes birgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 50, 56 und 58).

32

Unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden kann es sein, dass das betroffene Kind eine besondere Bindung zu einem anderen Mitgliedstaat – im vorliegenden Fall aus dem in Rn. 29 des vorliegenden Beschlusses erwähnten Grund, dass es die Staatsangehörigkeit der Französischen Republik hat, zu diesem Mitgliedstaat – hat. Es kann auch sein, dass der Vater dieses Kindes, der einer der Träger der elterlichen Verantwortung ist, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hat.

33

Allerdings muss, wie der Gerichtshof bereits ausgeführt hat, das zuständige Gericht – im vorliegenden Fall das rumänische Gericht – das Gewicht und die Intensität der allgemeinen Nähebeziehung, die gemäß Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 das Kind mit dem Mitgliedstaat, zu dem dieses Gericht gehört, verbindet, noch mit dem Gewicht und der Intensität der besonderen Nähebeziehung vergleichen, die durch einen oder mehrere der in Art. 15 Abs. 3 der Verordnung aufgeführten Umstände bezeugt wird und zwischen dem Kind und einem anderen Mitgliedstaat besteht (Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 54).

34

Das Bestehen einer „besonderen Bindung“ im Sinne von Art. 15 Abs. 1 dieser Verordnung greift nicht notwendig der Frage vor, ob ein Gericht dieses anderen Mitgliedstaats den Fall im Sinne dieser Bestimmung „besser beurteilen“ kann und bejahendenfalls auch nicht der Frage, ob die Verweisung des Falls an dieses Gericht dem Kindeswohl entspricht. Das zuständige Gericht hat festzustellen, ob die Verweisung des Falls an ein solches Gericht geeignet ist, im Vergleich zur Beibehaltung seiner eigenen Zuständigkeit einen realen und konkreten Mehrwert für eine das Kind betreffende Entscheidung zu erbringen (Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 55 und 57).

35

Gelangt das gemäß Art. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 zuständige rumänische Gericht zu dem Ergebnis, dass die Bindungen, die das betroffene Kind zum Mitgliedstaat seines gewöhnlichen Aufenthalts, im vorliegenden Fall zu Rumänien, hat, stärker sind als jene, die es zu einem anderen Mitgliedstaat, nämlich zur Französischen Republik, hat, genügt dieses Ergebnis, um die Anwendung von Art. 15 dieser Verordnung auszuschließen.

36

Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass, wenn eines oder mehrere der fünf darin abschließend genannten alternativen Kriterien für die Beurteilung des Bestehens einer besonderen Bindung des Kindes zu einem anderen Mitgliedstaat als dem seines gewöhnlichen Aufenthalts erfüllt sind, das nach Art. 8 dieser Verordnung zuständige Gericht die Möglichkeit hat, den Fall an ein Gericht zu verweisen, das seines Erachtens den bei ihm anhängigen Rechtsstreit besser beurteilen kann, zu dieser Verweisung aber nicht verpflichtet ist. Ist das zuständige Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Bindungen, die das betroffene Kind zum Mitgliedstaat seines gewöhnlichen Aufenthalts hat, stärker sind als jene, die es zu einem anderen Mitgliedstaat hat, genügt dieses Ergebnis, um die Anwendung von Art. 15 der genannten Verordnung auszuschließen.

Zur dritten Frage

37

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass das Bestehen von Unterschieden zwischen den Rechtsvorschriften, insbesondere den Verfahrensvorschriften, eines Mitgliedstaats, dessen Gerichtsbarkeit für die Entscheidung eines Rechtsstreits in der Hauptsache zuständig ist, und denen eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das betroffene Kind eine besondere Bindung hat, wie die Prüfung der Fälle in einem nicht öffentlichen Verfahren und durch Fachrichter, ein für das Wohl des Kindes maßgeblicher Umstand sein kann, um zu beurteilen, ob die Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats diesen Fall besser beurteilen können.

38

Das vorlegende Gericht führt aus, dass nach Ansicht einer der Parteien des Ausgangsverfahrens im vorliegenden Fall wesentliche Unterschiede zwischen den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, dessen Gerichtsbarkeit für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, und denen des anderen betroffenen Mitgliedstaats bestehen, da nur die Rechtsvorschriften dieses anderen Mitgliedstaats die Prüfung von Fällen in einem nicht öffentlichen Verfahren und durch Fachrichter vorsähen, so dass die Gerichte dieses Mitgliedstaats den Ausgangsrechtsstreit besser beurteilen könnten.

39

Abgesehen davon, dass das Bestehen solcher Unterschiede von der anderen Partei des Ausgangsverfahrens nachdrücklich bestritten wird, ist insoweit darauf hinzuweisen, dass das zuständige Gericht, um festzustellen, ob die Verweisung des Falls an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats geeignet ist, einen realen und konkreten Mehrwert zu erbringen, neben anderen Gesichtspunkten Verfahrensvorschriften dieses anderen Mitgliedstaats, wie die Vorschriften über die für die Behandlung des Falls erforderlichen Beweise, berücksichtigen kann. Hingegen dürfte das zuständige Gericht im Rahmen einer solchen Beurteilung nicht das materielle Recht des anderen Mitgliedstaats berücksichtigen, das eventuell von dessen Gericht anzuwenden wäre, wenn der Fall an dieses verwiesen würde. Eine solche Berücksichtigung widerspräche nämlich den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens zwischen Mitgliedstaaten und der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, auf denen die Verordnung Nr. 2201/2003 beruht (Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 57).

40

Zu betonen ist, dass die Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen führen muss, was für die Schaffung eines echten europäischen Rechtsraums unabdingbar ist (Urteil vom 15. Februar 2017, W und V, C‑499/15, EU:C:2017:118, Rn. 50).

41

Daraus folgt, dass das zuständige Gericht im Rahmen seiner Beurteilung nach Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 Verfahrensvorschriften, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats anwendbar sind, berücksichtigen kann, wenn sie sich konkret auf die Fähigkeit des Gerichts dieses Mitgliedstaats auswirken, den Fall besser beurteilen zu können, insbesondere dadurch, dass sie die Erhebung von Beweisen und Zeugenaussagen erleichtern, und dadurch einen Mehrwert zur Entscheidung der Rechtssache zum Wohl des Kindes erbringen. Hingegen kann nicht allgemein und abstrakt davon ausgegangen werden, dass Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats, wie die von einer Partei des Ausgangsverfahrens genannten, nämlich die Vorschriften über die Prüfung des Falls in einem nicht öffentlichen Verfahren und durch Fachrichter, einen bei der Beurteilung des Vorhandenseins eines Gerichts, das den Fall besser beurteilen kann, vom zuständigen Richter zu berücksichtigenden Umstand darstellen.

42

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass das Bestehen von Unterschieden zwischen den Rechtsvorschriften, insbesondere den Verfahrensvorschriften, eines Mitgliedstaats, dessen Gerichtsbarkeit für die Entscheidung eines Rechtsstreits in der Hauptsache zuständig ist, und denen eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das betroffene Kind eine besondere Bindung hat, wie die Prüfung der Fälle in einem nicht öffentlichen Verfahren und durch Fachrichter, nicht allgemein und abstrakt einen für das Wohl des Kindes maßgeblichen Umstand darstellen kann, um zu beurteilen, ob die Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats den betreffenden Fall besser beurteilen können. Das zuständige Gericht kann diese Unterschiede nur berücksichtigen, wenn sie geeignet sind, im Vergleich zu dem Fall, dass es mit dieser Sache befasst bliebe, einen realen und konkreten Mehrwert für eine dieses Kind betreffende Entscheidung zu erbringen.

Kosten

43

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass er eine Ausnahme von der in Art. 8 dieser Verordnung vorgesehenen allgemeinen Zuständigkeitsregel begründet, wonach die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten durch den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes zum Zeitpunkt der Anrufung der Gerichte bestimmt wird.

 

2.

Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass, wenn eines oder mehrere der fünf darin abschließend genannten alternativen Kriterien für die Beurteilung des Bestehens einer besonderen Bindung des Kindes zu einem anderen Mitgliedstaat als dem seines gewöhnlichen Aufenthalts erfüllt sind, das nach Art. 8 dieser Verordnung zuständige Gericht die Möglichkeit hat, den Fall an ein Gericht zu verweisen, das seines Erachtens den bei ihm anhängigen Rechtsstreit besser beurteilen kann, zu dieser Verweisung aber nicht verpflichtet ist. Ist das zuständige Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Bindungen, die das betroffene Kind zum Mitgliedstaat seines gewöhnlichen Aufenthalts hat, stärker sind als jene, die es zu einem anderen Mitgliedstaat hat, genügt dieses Ergebnis, um die Anwendung von Art. 15 der genannten Verordnung auszuschließen.

 

3.

Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass das Bestehen von Unterschieden zwischen den Rechtsvorschriften, insbesondere den Verfahrensvorschriften, eines Mitgliedstaats, dessen Gerichtsbarkeit für die Entscheidung eines Rechtsstreits in der Hauptsache zuständig ist, und denen eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das betroffene Kind eine besondere Bindung hat, wie die Prüfung der Fälle in einem nicht öffentlichen Verfahren und durch Fachrichter, nicht allgemein und abstrakt einen für das Wohl des Kindes maßgeblichen Umstand darstellen kann, um zu beurteilen, ob die Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats den betreffenden Fall besser beurteilen können. Das zuständige Gericht kann diese Unterschiede nur berücksichtigen, wenn sie geeignet sind, im Vergleich zu dem Fall, dass es mit dieser Sache befasst bliebe, einen realen und konkreten Mehrwert für eine dieses Kind betreffende Entscheidung zu erbringen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Rumänisch.

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