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Document 62018CJ0706

    Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 20. November 2019.
    X gegen Belgische Staat.
    Vorabentscheidungsersuchen des Raad voor Vreemdelingenbetwistingen.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 5 Abs. 4 – Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung – Folgen der Nichteinhaltung der Frist für den Erlass einer Entscheidung – Automatische Ausstellung eines Aufenthaltstitels.
    Rechtssache C-706/18.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2019:993

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

    20. November 2019 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 5 Abs. 4 – Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung – Folgen der Nichteinhaltung der Frist für den Erlass einer Entscheidung – Automatische Ausstellung eines Aufenthaltstitels“

    In der Rechtssache C-706/18

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) mit Entscheidung vom 8. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 14. November 2018, in dem Verfahren

    X

    gegen

    Belgische Staat

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

    unter Mitwirkung der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Sechsten Kammer (Berichterstatterin), des Richters L. Bay Larsen und der Richterin C. Toader,

    Generalanwalt: G. Hogan,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs und P. Cottin als Bevollmächtigte im Beistand von C. Decordier und T. Bricout, advocaten,

    der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, M. Condou-Durande und G. Wils als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X, einer afghanischen Staatsangehörigen, und dem Belgische Staat (Belgischer Staat), weil dieser den von X eingereichten Antrag auf Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung zurückgewiesen hat.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 lautet: „Zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienlebens sollten die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung nach gemeinsamen Kriterien bestimmt werden.“

    4

    Art. 1 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

    „Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.“

    5

    In Art. 2 der Richtlinie 2003/86 heißt es:

    „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

    c)

    ‚Zusammenführender‘ den sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, der oder dessen Familienangehörige einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihm stellt bzw. stellen;

    d)

    ‚Familienzusammenführung‘ die Einreise und den Aufenthalt von Familienangehörigen eines sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat, mit dem Ziel, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten, unabhängig davon, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden entstanden sind;

    e)

    ‚Aufenthaltstitel‘ jede von den Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellte Genehmigung, die einen Drittstaatenangehörigen zum rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats berechtigt, gemäß Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1030/2002 des Rates vom 13. Juni 2002 zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenangehörige [ABl. 2002, L 157, S. 1];

    …“

    6

    Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 lautet:

    „Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, günstigere Regelungen zu treffen oder beizubehalten.“

    7

    In Art. 4 der Richtlinie 2003/86 heißt es:

    „(1)   Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Art. 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt:

    a)

    dem Ehegatten des Zusammenführenden;

    …“

    8

    Art. 5 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

    „…

    (2)   Dem Antrag sind Unterlagen beizufügen, anhand derer die familiären Bindungen nachgewiesen werden und aus denen ersichtlich ist, dass die in den Artikeln 4 und 6 und gegebenenfalls in den Artikeln 7 und 8 vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind, sowie beglaubigte Abschriften der Reisedokumente des oder der Familienangehörigen.

    Zum Nachweis des Bestehens familiärer Bindungen können die Mitgliedstaaten gegebenenfalls eine Befragung des Zusammenführenden und seiner Familienangehörigen vornehmen und andere als zweckmäßig erachtete Nachforschungen anstellen.

    Bei der Prüfung eines Antrags betreffend den nicht ehelichen Lebenspartner des Zusammenführenden berücksichtigen die Mitgliedstaaten als Nachweis der familiären Bindungen Faktoren wie ein gemeinsames Kind, den Bestand der Lebensgemeinschaft in der Vergangenheit, die Eintragung der Partnerschaft und andere zuverlässige Nachweise.

    (4)   Die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats teilen dem Antragsteller ihre Entscheidung unverzüglich, spätestens aber neun Monate nach Einreichung des Antrags schriftlich mit.

    In Ausnahmefällen kann aufgrund der Schwierigkeit der Antragsprüfung die in Unterabsatz 1 genannte Frist verlängert werden.

    Eine Ablehnung des Antrags ist zu begründen. Ist bei Ablauf der Frist nach Unterabsatz 1 noch keine Entscheidung ergangen, so richten sich etwaige Folgen nach dem nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats.“

    9

    Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 sieht vor:

    „Kann ein Flüchtling seine familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegen, so prüft der Mitgliedstaat andere Nachweise für das Bestehen dieser Bindungen; diese Nachweise werden nach dem nationalen Recht bewertet. Die Ablehnung eines Antrags darf nicht ausschließlich mit dem Fehlen von Belegen begründet werden.“

    10

    Art. 13 der Richtlinie 2003/86 legt fest:

    „(1)   Sobald dem Antrag auf Familienzusammenführung stattgegeben wurde, genehmigt der betreffende Mitgliedstaat die Einreise des oder der Familienangehörigen. Hierzu gewährt der betreffende Mitgliedstaat diesen Personen jede Erleichterung zur Erlangung der vorgeschriebenen Visa.

    (2)   Der betreffende Mitgliedstaat erteilt den Familienangehörigen einen ersten Aufenthaltstitel mit mindestens einjähriger Gültigkeitsdauer. Dieser Aufenthaltstitel ist verlängerbar.

    (3)   Die Gültigkeitsdauer der dem (den) Familienangehörigen erteilten Aufenthaltstitel darf grundsätzlich nicht über die des Aufenthaltstitels des Zusammenführenden hinausgehen.“

    Belgisches Recht

    11

    In Art. 10 der Wet betreffende de toegang tot het grondgebied, het verblijf, de vestiging en de verwijdering van vreemdelingen (Gesetz über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern) vom 15. Dezember 1980 (Belgisch Staatsblad vom 31. Dezember 1980, S. 14584) in seiner für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) heißt es:

    „§ 1   Unter Vorbehalt der Bestimmungen der Art. 9 und 12 ist es folgenden Personen von Rechts wegen gestattet, sich länger als drei Monate im Königreich aufzuhalten:

    4.   folgenden Mitgliedern der Familie eines Ausländers, dem der Aufenthalt im Königreich seit mindestens zwölf Monaten für unbegrenzte Dauer gestattet oder erlaubt ist oder dem es seit mindestens zwölf Monaten erlaubt ist, sich dort niederzulassen. Diese Frist von zwölf Monaten fällt weg, wenn das eheliche Verhältnis beziehungsweise die registrierte Partnerschaft bereits vor Ankunft im Königreich des Ausländers, dem nachgekommen wird, bestand oder die Partner ein gemeinsames minderjähriges Kind haben. Diese Bedingungen in Bezug auf die Art und die Dauer des Aufenthalts finden keine Anwendung, wenn es sich um Familienangehörige eines Ausländers handelt, dem gemäß Art. 49 § 1 Abs. 2 oder 3 oder Artikel 49/2 §§ 2 oder 3 als Person, die internationalen Schutz genießt, der Aufenthalt im Königreich gestattet ist:

    seinem ausländischen Ehepartner oder dem Ausländer, mit dem er eine registrierte Partnerschaft führt, die in Belgien einer Ehe gleichgesetzt ist, und der mit ihm zusammenleben wird, sofern die beiden betroffenen Personen älter als einundzwanzig Jahre sind. Dieses Mindestalter wird jedoch auf achtzehn Jahre herabgesetzt, wenn das eheliche Verhältnis beziehungsweise diese registrierte Partnerschaft bereits vor Ankunft im Königreich des Ausländers, dem nachgekommen wird, bestand,

    …“

    12

    Art. 12bis § 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bestimmt:

    „Wenn ein in § 1 genannter Ausländer seinen Antrag beim belgischen diplomatischen oder konsularischen Vertreter, der für seinen Wohnort oder seinen Aufenthaltsort im Ausland zuständig ist, einreicht, müssen mit dem Antrag Dokumente übermittelt werden, die nachweisen, dass er die in Art. 10 §§ 1 bis 3 genannten Bedingungen erfüllt, insbesondere ein ärztliches Attest, aus dem hervorgeht, dass er nicht an einer der in der Anlage zu vorliegendem Gesetz aufgezählten Krankheiten leidet, und ein Auszug aus dem Strafregister oder ein gleichwertiges Dokument, wenn er älter als achtzehn Jahre ist.

    Das Datum der Einreichung des Antrags ist das Datum, an dem gem. Art. 30 des Gesetzes vom 16. Juli 2004 zur Einführung des Gesetzbuches über das internationale Privatrecht oder internationalen Abkommen in derselben Angelegenheit alle Nachweise übermittelt werden.

    Der Beschluss über den Antrag auf Aufenthaltszulassung wird möglichst schnell und spätestens sechs Monate ab dem Datum der Einreichung des in Absatz 2 erwähnten Antrags gefasst und notifiziert. Der Beschluss wird unter Berücksichtigung der gesamten Aktenlage gefasst.

    Ist die in Art. 10 § 5 vorgeschriebene Bedingung in Bezug auf das Ausreichen der Existenzmittel nicht erfüllt, muss der Minister oder sein Beauftragter auf der Grundlage der spezifischen Bedürfnisse des Ausländers, dem nachgekommen wird, und der Mitglieder seiner Familie bestimmen, welche Existenzmittel sie benötigen, damit die öffentlichen Behörden nicht für sie aufkommen müssen. Zur Festlegung dieses Betrags kann der Minister oder sein Beauftragter beim betreffenden Ausländer alle zweckdienlichen Unterlagen und Auskünfte anfordern.

    In Ausnahmefällen kann der Minister oder sein Beauftragter aufgrund der Komplexität der Antragsprüfung und im Rahmen einer Ermittlung in Bezug auf eine in Artikel 146bis des Zivilgesetzbuches erwähnte Eheschließung oder die Bedingungen der in Art. 10 § 1 Abs. 1 Nr. 5 erwähnten Partnerschaft diese Frist durch einen mit Gründen versehenen Beschluss, der dem Antragsteller zur Kenntnis gebracht wird, zwei Mal um drei Monate verlängern.

    Nach Ablauf der Frist von sechs Monaten ab dem Datum der Einreichung des Antrags, – Frist, die gegebenenfalls nach Absatz 5 verlängert wurde – muss die Aufenthaltszulassung erteilt werden, wenn kein Beschluss gefasst worden ist.“

    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

    13

    Am 24. Oktober 2013 stellte X, eine afghanische Staatsangehörige, bei der belgischen Botschaft in Islamabad (Pakistan) einen Antrag auf Erteilung eines Visums, um im Wege der Familienzusammenführung ihrem angeblichen Ehegatten, F. S. M., einem afghanischen Staatsangehörigen mit Flüchtlingsstatus in Belgien, nachziehen zu können.

    14

    Mit Entscheidung vom 16. Juni 2014 lehnte der Gemachtigde van de staatssecretaris voor Asiel en Migratie, Maatschappelijke Integratie en Armoedebestrijding (Beauftragter des Staatssekretärs für Asyl und Migration, soziale Integration und Armutsbekämpfung) diesen Antrag mit der Begründung ab, dass keine Ehe zwischen X und F. S. M. nachgewiesen worden sei.

    15

    Am 24. Juli 2014 focht die Klägerin des Ausgangsverfahrens diese Entscheidung vor dem vorlegenden Gericht, dem Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien), an. Mit Urteil vom 15. Juli 2016 wies dieses Gericht die Klage ab.

    16

    Am 22. August 2016 legte die Klägerin des Ausgangsverfahrens gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim Raad van State (Staatsrat, Belgien) ein.

    17

    Der Raad van State (Staatsrat) hob das Urteil des vorlegenden Gerichts vom 15. Juli 2016 auf. In seinem Urteil stellte er im Wesentlichen fest, dass der Ablauf der in Art. 12bis Abs. 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 vorgesehenen Frist ausnahmslos dazu führe, dass dem Antragsteller eine Genehmigung für Einreise und Aufenthalt erteilt werde, so dass der Klägerin des Ausgangsverfahrens selbst dann eine solche Genehmigung hätte erteilt werden müssen, wenn Zweifel an ihrer Ehe mit F. S. M. bestanden hätten, und verwies die Rechtssache an das vorlegende Gericht zur erneuten Prüfung zurück.

    18

    Das auf diese Weise erneut befasste vorlegende Gericht hat ausgeführt, dass es an die vom Raad van State (Staatsrat) in seinem Urteil vom 13. März 2018 getroffenen Feststellungen zur Anwendung von Art. 12bis Abs. 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 gebunden sei. Da diese Bestimmung jedoch eine Umsetzung von Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2003/86 darstelle, sei fraglich, ob diese Feststellungen mit der Richtlinie vereinbar seien.

    19

    Im Urteil vom 27. Juni 2018, Diallo (C‑246/17, EU:C:2018:499), habe der Gerichtshof in Bezug auf die Auslegung der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35, und ABl. 2007, L 204, S. 28) entschieden, dass die zuständigen nationalen Behörden, wenn die in der Richtlinie 2004/38 für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte vorgesehene Sechsmonatsfrist überschritten sei, Familienangehörigen eines Unionsbürgers nicht von Amts wegen eine solche Karte ausstellen dürften.

    20

    In diesem Kontext habe der Gerichtshof in seinem Urteil im Wesentlichen ausgeführt, dass die automatische Gewährung eines Aufenthaltstitels für Familienangehörige eines Drittstaatsangehörigen unter den in Art. 12bis Abs. 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 vorgesehenen Bedingungen zum einen dazu führen würde, dass dessen Familienangehörige besser behandelt würden als die eines Unionsbürgers, und zum anderen das Ziel der Richtlinie 2003/86 beeinträchtigen könnte, das darin bestehe, die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhielten, festzulegen.

    21

    Unter diesen Umständen hat der Raad vor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Steht die Richtlinie 2003/86 – unter Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 5 sowie ihres Ziels, nämlich die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung – einer nationalen Regelung entgegen, nach der Art. 5 Abs. 4 derselben Richtlinie dahin ausgelegt wird, dass die nationalen Behörden, wenn keine Entscheidung innerhalb der vorgeschriebenen Frist getroffen wird, verpflichtet sind, dem Betroffenen von Amts wegen eine Aufenthaltszulassung zu erteilen, ohne dass zuvor festgestellt wird, dass der Betroffene die Voraussetzungen für den Aufenthalt in Belgien nach dem Unionsrecht tatsächlich erfüllt?

    Zur Vorlagefrage

    22

    Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die zuständigen nationalen Behörden, wenn innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Eingang des Antrags auf Familienzusammenführung keine Entscheidung ergangen ist, dem Antragsteller von Amts wegen einen Aufenthaltstitel ausstellen müssen, ohne notwendigerweise zuvor feststellen zu müssen, dass der Betroffene die Voraussetzungen für den Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nach dem Unionsrecht tatsächlich erfüllt.

    23

    Insoweit geht aus Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86 hervor, dass die Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung unverzüglich, spätestens aber neun Monate nach Einreichung des Antrags bei den zuständigen nationalen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats, ergehen muss.

    24

    Gemäß Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 richten sich, wenn bei Ablauf der Frist noch keine Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung ergangen ist, etwaige Folgen nach dem nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats.

    25

    Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Rechtsvorschriften eine Regelung über eine stillschweigende stattgebende Entscheidung vorsehen, so dass, wenn bei Ablauf einer Frist von sechs Monaten nach Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung keine Entscheidung ergangen ist, dem Antragsteller ohne Ausnahme automatisch ein Aufenthaltstitel ausgestellt wird.

    26

    Auch wenn das Unionsrecht die Mitgliedstaaten in keiner Weise daran hindert, Regelungen über eine stillschweigende stattgebende Entscheidung oder eine stillschweigend erteilte Genehmigung zu treffen, dürfen solche Regelungen dabei die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen (Urteil vom 27. Juni 2018, Diallo,C‑246/17, EU:C:2018:499, Rn. 46).

    27

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2003/86 zwar einerseits das Ziel verfolgt, die Familienzusammenführung zu begünstigen (Urteil vom 13. März 2019, E.,C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 45), andererseits aber nach ihrem Art. 1 in Verbindung mit dem sechsten Erwägungsgrund darauf abzielt, nach gemeinsamen Kriterien die materiellen Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, zu bestimmen.

    28

    Der Begriff „Familienzusammenführung“ ist in Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2003/86 definiert als die Einreise und der Aufenthalt von Familienangehörigen eines sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat, mit dem Ziel, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten, unabhängig davon, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden entstanden sind.

    29

    Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie bestimmten Familienangehörigen wie insbesondere dem Ehegatten die Einreise und den Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung. Der Gerichtshof hat entschieden, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen aufgibt, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da sie den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie 2003/86 festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei ihren Ermessensspielraum ausüben könnten (Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat,C‑540/03, EU:C:2006:429, Rn. 60).

    30

    Da es sich um Verfahrensregeln im Zusammenhang mit der Einreichung und der Prüfung des Antrags auf Familienzusammenführung handelt, sieht Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86 allerdings vor, dass diesem Antrag „Unterlagen beizufügen [sind], anhand derer die familiären Bindungen nachgewiesen werden“. In Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie heißt es weiter, dass die Mitgliedstaaten „[z]um Nachweis des Bestehens familiärer Bindungen … gegebenenfalls eine Befragung des Zusammenführenden und seiner Familienangehörigen vornehmen und andere als zweckmäßig erachtete Nachforschungen anstellen [können]“.

    31

    Ferner geht, was die Familienzusammenführung von Flüchtlingen betrifft, aus Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 hervor, dass der betreffende Mitgliedstaat, wenn ein Flüchtling seine familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegen kann, andere Nachweise für das Bestehen dieser Bindungen prüfen muss.

    32

    Daraus folgt, dass die zuständigen nationalen Behörden prüfen müssen, ob die vom Zusammenführenden oder von dem Familienmitglied, das von dem Antrag auf Familienzusammenführung betroffen ist, geltend gemachten familiären Bindungen bestehen.

    33

    Wird dem Antrag auf Familienzusammenführung stattgegeben, genehmigt der betreffende Mitgliedstaat die Einreise des Familienangehörigen des Zusammenführenden und erteilt ihm nach Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 einen ersten Aufenthaltstitel.

    34

    Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die zuständigen nationalen Behörden, bevor sie eine Familienzusammenführung im Rahmen der Richtlinie 2003/86 genehmigen, feststellen müssen, dass zwischen dem Zusammenführenden und dem Drittstaatsangehörigen, zu dessen Gunsten der Antrag auf Familienzusammenführung eingereicht wurde, einschlägige familiäre Bindungen bestehen.

    35

    Demnach dürfen diese Behörden keinen auf der Richtlinie 2003/86 beruhenden Aufenthaltstitel an einen Drittstaatsangehörigen ausstellen, der die in der Richtlinie hierfür festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllt (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Juni 2018, Diallo,C‑246/17, EU:C:2018:499, Rn. 50).

    36

    Im vorliegenden Fall müssen die zuständigen nationalen Behörden jedoch, wie aus den Rn. 17 und 25 des vorliegenden Urteils hervorgeht, gemäß der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung dem die Familienzusammenführung Beantragenden bei Ablauf einer Frist von sechs Monaten nach Eingang des Antrags auf Familienzusammenführung ohne Ausnahme einen auf der Richtlinie 2003/86 beruhenden Aufenthaltstitel ausstellen, obwohl nicht zuvor festgestellt worden ist, dass der Antragsteller die in der Richtlinie 2003/86 hierfür vorgesehenen Voraussetzungen tatsächlich erfüllt.

    37

    Eine solche Regelung, die die Ausstellung eines auf der Richtlinie 2003/86 beruhenden Aufenthaltstitels an eine Person erlaubt, die nicht die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, beeinträchtigt die praktische Wirksamkeit der Richtlinie und widerspricht deren Zielen.

    38

    Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die zuständigen nationalen Behörden, wenn bei Ablauf einer Frist von sechs Monaten nach Eingang des Antrags auf Familienzusammenführung keine Entscheidung ergangen ist, dem Antragsteller von Amts wegen einen Aufenthaltstitel ausstellen müssen, ohne notwendigerweise zuvor feststellen zu müssen, dass der Betroffene die Voraussetzungen für den Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nach dem Unionsrecht tatsächlich erfüllt.

    Kosten

    39

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

     

    Die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die zuständigen nationalen Behörden, wenn bei Ablauf einer Frist von sechs Monaten nach Eingang des Antrags auf Familienzusammenführung keine Entscheidung ergangen ist, dem Antragsteller von Amts wegen einen Aufenthaltstitel ausstellen müssen, ohne notwendigerweise zuvor feststellen zu müssen, dass der Betroffene die Voraussetzungen für den Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nach dem Unionsrecht tatsächlich erfüllt.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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