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Document 62018CC0752

Schlussanträge des Generalanwalts H. Saugmandsgaard Øe vom 14. November 2019.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2019:972

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

HENRIK SAUGMANDSGAARD ØE

vom 14. November 2019 ( 1 )

Rechtssache C‑752/18

Deutsche Umwelthilfe e. V.

gegen

Freistaat Bayern

(Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Luftverschmutzung – Richtlinie 2008/50/EG – Luftqualitätsplan – Grenzwerte für Stickstoffdioxid – Wirksamkeit des Unionsrechts – Pflicht der nationalen Gerichte, alle zur Gewährleistung der Umsetzung einer Richtlinie erforderlichen Maßnahmen zu treffen – Nichtbefolgung gerichtlicher Entscheidungen durch die Verwaltung – Ineffektivität von Anordnungen und Zwangsgeldern – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anspruch auf Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes – Zwangshaft für Amtsträger – Erfordernis der Beachtung von Art. 6 der Charta der Grundrechte – Recht auf Freiheit der Person“

I. Einleitung

1.

Das Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Deutschland) betrifft die effektive Durchführung des Unionsrechts und speziell der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa ( 2 ). Wie lässt sich sicherstellen, dass Entscheidungen nationaler Gerichte, im konkreten Fall in dem besonders sensiblen Bereich des Umweltrechts, befolgt werden? Wenn Amtsträger offen bekunden, dass sie nicht gedenken, rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen nachzukommen, gestattet das Unionsrecht es dann oder schreibt es vor, auf eine freiheitsentziehende Maßnahme in Form der Zwangshaft zurückzugreifen, die es in der betreffenden nationalen Rechtsordnung zwar gibt, die dort aber für solche Personen nicht vorgesehen ist? Bei dieser Frage sind zwei Grundrechte zu berücksichtigen, das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf und das Recht auf Freiheit.

2.

Diese Problematik besteht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Nichtregierungsorganisation Deutsche Umwelthilfe e. V. und dem Freistaat Bayern (Deutschland) wegen einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, mit der der Freistaat verpflichtet wurde, seinen für die Stadt München (Deutschland) geltenden Luftreinhalteplan zu ändern und Verkehrsverbote für Dieselfahrzeuge aufzustellen. Obwohl wiederholt Zwangsgelder gegen den Freistaat verhängt wurden, weigert er sich jedoch, solche Verbote vorzusehen.

3.

Da dem vorlegenden Gericht nach innerstaatlichem Recht keine ausreichenden Mittel zur Verfügung stehen, um die Befolgung dieser Entscheidung durch den Freistaat Bayern durchzusetzen, fragt es unter diesen Umständen nach dem Umfang der Verpflichtungen, die ihm das Unionsrecht auferlegt, um die Umsetzung der Richtlinie 2008/50 und des Grundrechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf sicherzustellen.

4.

In diesen Schlussanträgen werde ich darlegen, weshalb die unionsrechtliche Verpflichtung des nationalen Gerichts, zur Sicherstellung der Wirksamkeit dieses Rechts Zwangsmaßnahmen anzuwenden, meines Erachtens nicht unbegrenzt ist, insbesondere wenn diese Maßnahmen ein anderes Grundrecht, konkret das Recht auf Freiheit, beeinträchtigen können.

5.

Ich werde dem Gerichtshof vorschlagen, zu entscheiden, dass das nationale Gericht zwar im Allgemeinen alles tun muss, um die wirksame Umsetzung des Unionsrechts sicherzustellen, und zu diesem Zweck jede im nationalen Recht vorgesehene Maßnahme ergreifen muss, um die Amtsträger zu zwingen, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu befolgen, ohne dass das Unionsrecht das nationale Gericht aber dazu verpflichtet oder ihm gestattet, eine freiheitsentziehende Maßnahme zu erlassen, wenn sie nicht in klarer, vorhersehbarer, zugänglicher und willkürfreier Weise gesetzlich vorgesehen ist.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Völkerrecht

6.

Art. 9 des Aarhus-Übereinkommens ( 3 ) sieht einen weiten Zugang der Öffentlichkeit zu den Gerichten vor, um im Einklang mit seinem Art. 1 zum Schutz des Rechts jeder Person gegenwärtiger und künftiger Generationen auf ein Leben in einer ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden zuträglichen Umwelt beizutragen.

B.   Unionsrecht

7.

Art. 13 („Grenzwerte und Alarmschwellen für den Schutz der menschlichen Gesundheit“) der Richtlinie 2008/50 legt in Abs. 1 fest, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Grenzwerte für Stickstoffdioxid einhalten müssen.

8.

Nach Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten Luftqualitätspläne erstellen, wenn in bestimmten Gebieten oder Ballungsräumen die Schadstoffwerte in der Luft die in der Richtlinie vorgesehenen Grenzwerte überschreiten.

C.   Deutsches Recht

9.

Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. 1949 I S. 1, im Folgenden: Grundgesetz) besteht ein Grundrecht auf die Freiheit der Person. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden.“

10.

§ 167 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bestimmt:

„Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozessordnung entsprechend.“

11.

§ 172 VwGO, der nach den Angaben des vorlegenden Gerichts eine Spezialvorschrift darstellt, die gemäß den einleitenden Worten von § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO einen Rückgriff auf die im Achten Buch der Zivilprozessordnung (ZPO) enthaltenen vollstreckungsrechtlichen Bestimmungen grundsätzlich ausschließt, lautet:

„Kommt die Behörde in den Fällen des § 113 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 5 und des § 123 der ihr im Urteil oder in der einstweiligen Anordnung auferlegten Verpflichtung nicht nach, so kann das Gericht des ersten Rechtszugs auf Antrag unter Fristsetzung gegen sie ein Zwangsgeld bis zehntausend Euro durch Beschluss androhen, nach fruchtlosem Fristablauf festsetzen und von Amts wegen vollstrecken. Das Zwangsgeld kann wiederholt angedroht, festgesetzt und vollstreckt werden.“

12.

Der zum Achten Buch der ZPO gehörende § 888 bestimmt in den Abs. 1 und 2:

„(1)   Kann eine Handlung durch einen Dritten nicht vorgenommen werden, so ist, wenn sie ausschließlich von dem Willen des Schuldners abhängt, auf Antrag von dem Prozessgericht des ersten Rechtszugs zu erkennen, dass der Schuldner zur Vornahme der Handlung durch Zwangsgeld und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, durch Zwangshaft oder durch Zwangshaft anzuhalten sei. Das einzelne Zwangsgeld darf den Betrag von 25000 Euro nicht übersteigen. Für die Zwangshaft gelten die Vorschriften des Zweiten Abschnitts über die Haft entsprechend.

(2)   Eine Androhung der Zwangsmittel findet nicht statt.“

13.

Nach § 890 Abs. 1 und 2 ZPO muss der Verurteilung des Schuldners einer Verpflichtung, eine Handlung zu unterlassen oder die Vornahme einer Handlung zu dulden, zu einem Ordnungsgeld oder zu Ordnungshaft eine entsprechende Androhung vorausgehen.

III. Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

14.

Die Deutsche Umwelthilfe, eine zur Erhebung von Umweltverbandsklagen befugte Nichtregierungsorganisation im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 2 des Aarhus-Übereinkommens und von Art. 11 Abs. 3 Sätze 2 und 3 der Richtlinie 2011/92/EU ( 4 ), erhob Klage gegen den Freistaat Bayern, um ihn zu zwingen, die in der Richtlinie 2008/50 festgelegten Grenzwerte für Stickstoffdioxid einzuhalten.

15.

Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung wurde gerichtlich festgestellt, dass diese Grenzwerte im Gebiet der Stadt München seit etlichen Jahren teils erheblich überschritten wurden. Davon seien etwa 250 Straßen oder Straßenabschnitte betroffen, und in einigen Fällen sei das Doppelte der zulässigen Werte erreicht worden.

16.

Mit Urteil vom 9. Oktober 2012 verpflichtete das Verwaltungsgericht München (Deutschland) den Freistaat Bayern, den für die Stadt München geltenden „Luftreinhalteplan“, der dem „Luftqualitätsplan“ im Sinne von Art. 23 der Richtlinie 2008/50 entspricht, so zu ändern, dass die genannten Grenzwerte eingehalten werden. Dieses Urteil wurde rechtskräftig.

17.

Mit Beschluss vom 21. Juni 2016 drohte das Verwaltungsgericht München dem Freistaat Bayern die Festsetzung eines Zwangsgelds wegen der Überschreitung der fraglichen Grenzwerte an. Dagegen legte der Freistaat Beschwerde ein.

18.

Mit Beschluss vom 27. Februar 2017 wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde zurück. Im Anschluss an die Feststellung, dass der Freistaat Bayern dem Urteil vom 9. Oktober 2012 nach wie vor nicht nachgekommen sei, drohte er ihm mehrere Zwangsgelder in einer Gesamthöhe von 10000 Euro an, falls er nicht die zur Einhaltung der Grenzwerte erforderlichen Maßnahmen ergreife. Dazu gehörten Verkehrsverbote für bestimmte Fahrzeuge mit Dieselmotor in Teilen des Stadtgebiets ( 5 ). Dieser Beschluss wurde ebenfalls rechtskräftig.

19.

Auf Antrag der Deutschen Umwelthilfe setzte das Verwaltungsgericht München durch Beschluss vom 26. Oktober 2017 eines der im Beschluss vom 27. Februar 2017 angedrohten Zwangsgelder fest. Der Freistaat Bayern legte dagegen kein Rechtsmittel ein und beglich das festgesetzte Zwangsgeld.

20.

Mit Beschlüssen vom 29. Januar 2018 setzte das Verwaltungsgericht München ein weiteres der im Beschluss vom 27. Februar 2017 angedrohten Zwangsgelder fest und drohte dem Freistaat Bayern ein erneutes Zwangsgeld in Höhe von 4000 Euro an. Hingegen wies es u. a. den Antrag zurück, gegen die damalige Staatsministerin für Umwelt und Verbraucherschutz des Freistaats Bayern oder, hilfsweise, gegen dessen Ministerpräsidenten Zwangshaft zu verhängen. Die Deutsche Umwelthilfe legte dagegen Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein.

21.

Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass der Freistaat Bayern den ihm durch den Beschluss vom 27. Februar 2017 auferlegten Verpflichtungen nach wie vor nicht nachgekommen sei und dass auch nicht zu erwarten sei, dass er sich an diesen Beschluss halten werde. Vertreter des Freistaats, darunter dessen Ministerpräsident, hätten im Gegenteil öffentlich erklärt, dass sie der Pflicht zur Einführung eines Verkehrsverbots für Dieselfahrzeuge auf bestimmten Straßen nicht nachkommen wollten. Der Freistaat habe ferner vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof im Rahmen des Ausgangsverfahrens angegeben, dass er ein Verkehrsverbot für Dieselfahrzeuge auf bestimmten Straßen oder Straßenabschnitten für unverhältnismäßig halte und deshalb nicht gedenke, entsprechende Maßnahmen zu treffen.

22.

Das vorlegende Gericht führt aus, wenn die vollziehende Gewalt ihre Entschlossenheit, bestimmte gerichtliche Entscheidungen nicht zu befolgen, mit einer solchen Deutlichkeit und Beharrlichkeit bekunde, müsse es als ausgeschlossen angesehen werden, dass die Androhung oder die Festsetzung weiterer und höherer Zwangsgelder an diesem Verhalten etwas ändern werde. Dies gelte umso mehr, als die Entrichtung eines Zwangsgelds für den Freistaat nicht mit einer Vermögenseinbuße einhergehe. Es werde nämlich dergestalt beglichen, dass eine bestimmte Einzelposition des Staatshaushalts mit dem vom Gericht festgesetzten Betrag belastet und der gleiche Betrag bei der Staatsoberkasse des Freistaats als Einnahme verbucht werde.

23.

Die ZPO sehe zur Sicherstellung der Vollstreckung bestimmter Entscheidungen die Verhängung von Zwangshaft vor. Bei Amtsträgern sei dies aber aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich.

24.

Nach § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO könnten zwar – soweit sich aus der VwGO nichts anderes ergebe – die im Achten Buch der ZPO vorgesehenen Maßnahmen, zu denen die Zwangshaft gehöre, angewandt werden, doch stelle § 172 VwGO eine Spezialvorschrift dar, die den Rückgriff auf die im Achten Buch der ZPO enthaltenen vollstreckungsrechtlichen Bestimmungen ausschließe.

25.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht habe zwar bereits entschieden, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich verpflichtet seien, sich erforderlichenfalls von den Beschränkungen, die sich aus § 172 VwGO ergäben, zu lösen. In seinem Beschluss vom 9. August 1999 (1 BvR 2245/98) habe es hervorgehoben, dass der Einsatz anderer nach § 167 VwGO in Verbindung mit der ZPO möglicher Zwangsmittel „im Hinblick auf das Gebot wirkungsvollen Rechtsschutzes jedenfalls dann geboten [ist], wenn die Androhung und Festsetzung eines auf 2000 DM [(etwa 1000 Euro, die damals bestehende Obergrenze)] beschränkten Zwangsgeldes zum Schutz der Rechte des Betroffenen ungeeignet ist“. Weiter heiße es in dem Beschluss:

„Ist etwa aufgrund vorangegangener Erfahrungen, aufgrund eindeutiger Bekundungen oder aufgrund mehrfacher erfolgloser Zwangsgeldandrohungen klar erkennbar, dass die Behörde unter dem Druck des Zwangsgeldes nicht einlenkt, dann gebietet es das Gebot effektiven Rechtsschutzes, von der nach § 167 VwGO möglichen ‚entsprechenden‘ Anwendung zivilprozessualer Vorschriften Gebrauch zu machen und einschneidendere Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, um die Behörde zu rechtmäßigem Handeln anzuhalten … Welche der in den §§ 885 bis 896 ZPO geregelten, einschneidenderen Zwangsmittel … in welcher Reihenfolge und in welcher Form bei der Vollstreckung … erforderlichenfalls zum Einsatz kommen, obliegt vorrangig der verwaltungsgerichtlichen Beurteilung …“

26.

Dazu gehöre neben der Ersatzvornahme, die im Rahmen der vorliegenden Rechtssache nicht in Betracht komme, die in § 888 ZPO vorgesehene Zwangshaft.

27.

Würde auf der Grundlage des § 888 ZPO Zwangshaft gegen Amtsträger des Freistaats Bayern angeordnet, würde jedoch das vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 13. Oktober 1970 (1 BvR 226/70) aufgestellte Erfordernis missachtet, dass der Gesetzgeber im Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes, dessen Bestimmung herangezogen werde, das nunmehr verfolgte Ziel im Auge gehabt haben müsse. Dies sei nach der Entstehungsgeschichte von § 888 ZPO nicht der Fall.

28.

Die deutschen Gerichte hätten deshalb – auch nachdem der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. August 1999 (1 BvR 2245/98) ergangen sei – die Anordnung von Zwangshaft gegen Amtsträger der Exekutive wiederholt für unzulässig erklärt.

29.

Fraglich sei aber, ob das Unionsrecht eine abweichende Beurteilung der Rechtslage im Ausgangsverfahren gebiete oder gestatte.

30.

Wäre die Verhängung von Zwangshaft in einer Fallgestaltung wie der des Ausgangsverfahrens unionsrechtlich geboten, dürften die deutschen Gerichte das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestehende Hemmnis nicht berücksichtigen. Die nationalen Gerichte seien gehalten, für die volle Wirksamkeit der Bestimmungen des Unionsrechts zu sorgen, indem sie erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Rechtsvorschrift aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet ließen, ohne dass sie die vorherige Beseitigung dieser Rechtsvorschrift durch den Gesetzgeber oder durch ein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müssten; das Gleiche gelte für jede entgegenstehende nationale Rechtsprechung.

31.

Unter diesen Umständen hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind

1.

das in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV verankerte Gebot, dem zufolge die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen haben, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben,

2.

der u. a. in Art. 197 Abs. 1 AEUV statuierte Grundsatz der effektiven Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten,

3.

das durch Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ( 6 ) gewährleistete Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf,

4.

die sich aus Art. 9 Abs. 4 Satz 1 des Aarhus-Übereinkommens ergebende Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes in Umweltangelegenheiten,

5.

die in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV normierte Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Sicherstellung eines wirksamen Rechtsschutzes in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen,

so auszulegen, dass ein deutsches Gericht berechtigt – und gegebenenfalls sogar verpflichtet – ist, gegenüber Amtsträgern eines deutschen Bundeslandes Zwangshaft anzuordnen, um auf diese Weise die Verpflichtung dieses Bundeslandes zur Fortschreibung eines Luftqualitätsplans im Sinne von Art. 23 der Richtlinie 2008/50 mit einem bestimmten Mindestinhalt durchzusetzen, wenn dieses Bundesland rechtskräftig verurteilt wurde, eine Fortschreibung mit diesem Mindestinhalt vorzunehmen, und

mehrere gegenüber dem Bundesland vorgenommene Zwangsgeldandrohungen und Zwangsgeldfestsetzungen fruchtlos geblieben sind,

von Zwangsgeldandrohungen und Zwangsgeldfestsetzungen auch dann, wenn höhere Beträge als bisher angedroht und festgesetzt würden, deshalb keine nennenswerte Beugewirkung ausgeht, weil die Begleichung der Zwangsgelder für das rechtskräftig verurteilte Bundesland nicht mit Vermögenseinbußen einhergeht, sondern insoweit lediglich ein Transfer des jeweils festgesetzten Betrags von einer Buchungsstelle innerhalb des Staatshaushalts zu einer anderen Buchungsstelle innerhalb des Staatshaushalts stattfindet,

sich das rechtskräftig verurteilte Bundesland sowohl gegenüber den Gerichten als auch öffentlich – und dies u. a. durch seinen ranghöchsten politischen Amtsträger gegenüber dem Parlament – dahin gehend festgelegt hat, dass es die gerichtlich auferlegten Pflichten im Zusammenhang mit der Luftreinhalteplanung nicht erfüllen wird,

das nationale Recht das Institut der Zwangshaft zum Zwecke der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen grundsätzlich vorsieht, eine nationale verfassungsgerichtliche Rechtsprechung jedoch der Anwendung der einschlägigen Bestimmung auf eine Fallgestaltung der hier inmitten stehenden Art entgegensteht, und

das nationale Recht Zwangsmittel, die zielführender als Zwangsgeldandrohungen und Zwangsgeldfestsetzungen, jedoch weniger eingriffsintensiv als eine Zwangshaft sind, für eine Fallgestaltung der inmitten stehenden Art nicht zur Verfügung stellt und ein Rückgriff auf derartige Zwangsmittel auch von der Sache her nicht in Betracht kommt?

32.

Die Deutsche Umwelthilfe, der Freistaat Bayern und die Europäische Kommission haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht. Sie sowie die deutsche Regierung haben an der mündlichen Verhandlung am 3. September 2019 teilgenommen.

IV. Analyse

A.   Vorbemerkungen

33.

Die Frage des vorlegenden Gerichts nach der effektiven Durchführung des Unionsrechts betrifft die Maßnahmen, die ein nationales Gericht gegenüber der Verwaltung in Anbetracht von zwei Arten ihr obliegender Verpflichtungen treffen kann oder muss, und zwar erstens aufgrund von Bestimmungen des abgeleiteten Rechts, im vorliegenden Fall der Richtlinie 2008/50, und zweitens aufgrund gerichtlicher Entscheidungen, die zur Sicherstellung der Anwendung dieses Rechts bereits gegen sie ergangen sind.

34.

Die Problematik, mit der das vorlegende Gericht konfrontiert ist, besteht darin, dass im innerstaatlichen Recht keine ausreichenden Zwangsmittel zur Verfügung stehen, um die Amtsträger dazu anzuhalten, seinen Entscheidungen nachzukommen und damit das Unionsrecht einzuhalten.

35.

Die vom vorlegenden Gericht in Bezug auf die erste Art von Verpflichtungen angeführten Bestimmungen sind Art. 4 Abs. 3 EUV, in dem der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten aufgestellt und von den Mitgliedstaaten verlangt wird, alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen, die sich aus den Handlungen der Unionsorgane ergeben, sowie Art. 197 Abs. 1 AEUV, in dem hervorgehoben wird, dass die effektive Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten für das ordnungsgemäße Funktionieren der Union entscheidend ist.

36.

Die zweite Art von Verpflichtungen leitet das vorlegende Gericht aus dem in Art. 47 der Charta verankerten und in Art. 9 des Aarhus-Übereinkommens vorgesehenen Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf her. Aus diesem Recht folgt die in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV aufgestellte Pflicht der Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.

37.

Wie sich aus dem vom vorlegenden Gericht dargelegten rechtlichen Rahmen ergibt, gehören zu den Maßnahmen zur Vollstreckung eines Urteils im deutschen Zivilrecht die Verhängung von Zwangsgeldern, die Ersatzvornahme und die Verhängung von Zwangshaft. Das deutsche Verwaltungsrecht sieht demgegenüber vor, dass Zwangsgelder verhängt werden können, um zu gewährleisten, dass die Verwaltung einer ihr gerichtlich auferlegten Verpflichtung nachkommt. Diese Zwangsgelder sind niedriger als im Zivilrecht. Erweist sich der Rückgriff auf das Zwangsgeld als ineffektiv, ist es nach den Angaben des vorlegenden Gerichts möglich, die zivilrechtlichen Vorschriften heranzuziehen, die u. a. Zwangsgelder von bis zu 25000 Euro anstelle von 10000 Euro vorsehen. Zwangshaft könne gegen Amtsträger aber nicht verhängt werden. Dies ergebe sich aus dem deutschen Verfassungsrecht nach dessen Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht (siehe oben, Nr. 27).

38.

Ich möchte sogleich klarstellen, dass die Deutsche Umwelthilfe dieser Darstellung des nationalen Rechtsrahmens entgegentritt ( 7 ). Wenn ein nationales Gericht dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegt, muss er jedoch von der Auslegung des nationalen Rechts ausgehen, die ihm dieses Gericht vorgetragen hat ( 8 ). Daher ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen – ungeachtet der Einwände der Parteien des Ausgangsverfahrens gegen die Auslegung des nationalen Rechts durch das vorlegende Gericht – in Ansehung dieser Auslegung zu prüfen.

39.

Nach den Angaben in der dem Gerichtshof vorgelegten Akte besteht der Grund dafür, dass die nach nationalem deutschen Recht gegen den Staat und seine Verwaltung eingesetzten Zwangsmittel moderater sind als im Zivilrecht, darin, dass der Staat die gerichtlichen Entscheidungen, deren Adressat er ist, in aller Regel befolgt. Auch nach Ansicht der Deutschen Umwelthilfe handelt es sich bei der vorliegenden Rechtssache im Übrigen um einen außergewöhnlichen Fall.

40.

Gleichwohl möchte ich dem vorlegenden Gericht, der Deutschen Umwelthilfe und der Kommission beipflichten, dass dieser Fall zwar außergewöhnlich, aber keineswegs belanglos ist. Die Weigerung der Amtsträger des Freistaats Bayern, den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen nachzukommen, kann im Gegenteil sowohl für die Gesundheit und das Leben der Menschen ( 9 ) als auch für die Rechtsstaatlichkeit ( 10 ) gravierende Folgen haben.

41.

In diesem Kontext ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinem Vorabentscheidungsersuchen wissen möchte, ob das Unionsrecht – insbesondere Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV, Art. 197 Abs. 1 AEUV, Art. 47 Abs. 1 der Charta, Art. 9 des Aarhus-Übereinkommens und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht, um die effektive Durchführung der Richtlinie 2008/50 sicherzustellen und zu diesem Zweck die Amtsträger zu zwingen, einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, ihnen gegenüber eine freiheitsentziehende Maßnahme wie Zwangshaft verhängen kann oder muss, falls das nationale Recht eine derartige Maßnahme enthält, auch wenn sie für solche Personen nicht durch eine klare und vorhersehbare nationale gesetzliche Regelung vorgesehen ist.

42.

Um diese Frage zu beantworten, werde ich zunächst prüfen, welchen Umfang die Verpflichtungen des nationalen Gerichts zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Unionsrechts haben (Abschnitt B), und dann, ob diesen Verpflichtungen im Licht des Grundrechts auf Freiheit Grenzen gesetzt sind (Abschnitt C).

B.   Pflicht zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Unionsrechts

43.

Der Gerichtshof hat bereits geprüft, welche Maßnahmen ein nationales Gericht aufgrund des in Art. 4 Abs. 3 EUV aufgestellten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit und des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts der Bürger auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf ergreifen muss, wenn ein Mitgliedstaat gegen Bestimmungen der Richtlinie 2008/50 und insbesondere gegen deren Art. 13 und 23 verstößt.

44.

Insoweit ergibt sich aus den Urteilen Janecek ( 11 ), ClientEarth ( 12 ) und Craeynest u. a. ( 13 ), dass das nationale Gericht, wenn ein Staat seine Verpflichtungen in Bezug auf die Aufstellung eines Luftqualitätsplans verletzt, auf Antrag betroffener Bürger alle erforderlichen Maßnahmen wie etwa – sofern im nationalen Recht vorgesehen – eine Anordnung treffen muss, damit die zuständige Behörde den Plan unter den in der Richtlinie 2008/50 vorgesehenen Voraussetzungen aufstellt ( 14 ).

45.

Diese Urteile beantworten die Frage der effektiven Durchführung des Unionsrechts in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nur teilweise. Wie in den ihnen zugrunde liegenden Rechtssachen betrifft das Problem der Durchführung des Unionsrechts nicht die Umsetzung der Richtlinie 2008/50 durch den betreffenden Mitgliedstaat, sondern die konkreten Handlungen des Staates, um ihr nachzukommen. Zu diesem Problem kommt allerdings im Rahmen der vorliegenden Rechtssache hinzu, dass die Verwaltung gerichtliche Entscheidungen, mit denen sie zur Vornahme bestimmter konkreter Handlungen verpflichtet wird, und zwar dazu, auf einigen Straßen Verkehrsverbote vorzusehen, nicht befolgt.

46.

Es stellt sich die Frage, ob die Pflicht des nationalen Gerichts, „alle erforderlichen Maßnahmen“ zu treffen, um die Einhaltung der Richtlinie 2008/50 sicherzustellen, in einem solchen Fall die Pflicht umfasst, eine freiheitsentziehende Maßnahme wie Zwangshaft zu verhängen.

47.

Diese Frage stellt sich in der vorliegenden Rechtssache umso eindringlicher, als die Verletzung des Unionsrechts besonders schwerwiegend ist. Die Tatsache, dass ein Staat eine gerichtliche Entscheidung, mit der ihm auferlegt wird, zur Einhaltung der Richtlinie bestimmte Handlungen vorzunehmen, nicht befolgt, beeinträchtigt nämlich das durch Art. 47 der Charta garantierte Grundrecht des Bürgers auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf.

48.

Wie sich aus den Urteilen Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu-Vasile Cruduleci ( 15 ) sowie Torubarov ( 16 ) ergibt, wäre das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf illusorisch, wenn die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats es zuließe, dass eine endgültige und bindende gerichtliche Entscheidung zulasten einer Partei wirkungslos bleibt, wobei die Vollstreckung eines Urteils als Bestandteil des „wirksamen Rechtsbehelfs“ im Sinne von Art. 47 anzusehen ist.

49.

Die Weigerung des Mitgliedstaats, einer gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, ist ferner geeignet, die Rechtsstaatlichkeit zu beeinträchtigen, die zu den Werten gehört, auf die sich die Union gründet ( 17 ). Die Rechtsstaatlichkeit ist von allen Unionsbürgern zu beachten und vor allem von den Vertretern des Staates, in Anbetracht ihrer besonderen Verantwortlichkeiten in diesem Bereich, schon aufgrund ihrer Aufgaben ( 18 ). Die deutsche Regierung hat dies in der mündlichen Verhandlung selbst anerkannt, denn sie hat hervorgehoben, dass eine gerichtliche Entscheidung von der Exekutive selbstverständlich respektiert werden müsse. Die Deutsche Umwelthilfe hat ihrerseits ebenfalls angegeben, dass der Staat die gerichtlichen Entscheidungen im Allgemeinen respektiere, so dass moderate Zwangsgelder für gewöhnlich ausreichten, um die Verwaltung zu ihrer Befolgung anzuhalten.

50.

Gerade wenn solche Zwangsgelder, wie sie nach nationalem Recht gegen die Verwaltung verhängt werden können, nicht ausreichen, um den Mitgliedstaat dazu anzuhalten, einer zur Durchführung einer Richtlinie dienenden gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, stellt sich jedoch die Frage, ob das nationale Gericht auf andere als die ihm nach nationalem Recht zur Verfügung stehenden Maßnahmen zurückgreifen kann oder muss.

51.

Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung sind nämlich die im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht bereits angewandten Maßnahmen in Form von Zwangsgeldern mit einer Gesamthöhe von 10000 Euro ohne Wirkung auf den Freistaat Bayern geblieben. Auch die einzigen anderen nach Ansicht des vorlegenden Gerichts noch in Betracht kommenden Maßnahmen – Zwangsgelder von bis zu 25000 Euro – genügten nicht dem Erfordernis der Effektivität, da sie keine Auswirkung auf den Haushalt des Freistaats hätten ( 19 ) und da dessen Amtsträger öffentlich erklärt hätten, dass sie nicht vorhätten, Verkehrsverbote wie die vom vorlegenden Gericht angeordneten vorzuschreiben.

52.

Insoweit geht aus dem Urteil Craeynest u. a. ( 20 ) hervor, dass sich die erforderlichen Maßnahmen, die vom nationalen Gericht zur Gewährleistung der Einhaltung der Verpflichtungen aus der Richtlinie 2008/50 zu treffen sind, grundsätzlich auf die im nationalen Recht vorgesehenen Maßnahmen beschränken.

53.

Desgleichen unterfällt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Vollstreckung einer nationalen, einen Rechtsakt der Union betreffenden Gerichtsentscheidung grundsätzlich der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten. Mangels einer einschlägigen Regelung im Unionsrecht obliegt es der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der den Bürgern aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen ( 21 ). Die Verfahrensautonomie steht unter dem Vorbehalt, dass diese Modalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als die entsprechender innerstaatlicher Rechtsbehelfe (Äquivalenzgrundsatz) und dass sie die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) ( 22 ). Der Äquivalenzgrundsatz spielt in der vorliegenden Rechtssache keine Rolle.

54.

Im Ausgangsverfahren erlauben es die vom nationalen Gericht getroffenen Maßnahmen nicht, die wirksame Anwendung der Richtlinie 2008/50 zu gewährleisten; damit macht diese Situation es der Deutschen Umwelthilfe praktisch unmöglich, die ihr nach der Richtlinie zustehenden Rechte auszuüben.

55.

Die Frage ist, ob das Unionsrecht unter solchen Umständen Instrumente anbietet, die es ermöglichen, die auf der Ebene des innerstaatlichen Rechts aufgetretenen Hindernisse zu überwinden. Insoweit ist zu prüfen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ein solches Instrument darstellt.

56.

Nach diesem Grundsatz geht das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vor und verpflichtet alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen ( 23 ). Die nationalen Gerichte müssen daher ihr innerstaatliches Recht so weit wie möglich im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen, um diesem volle Wirksamkeit zu verschaffen ( 24 ).

57.

Die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung ist zwar nicht unbegrenzt und kann insbesondere nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen; sie gebietet aber, das gesamte innerstaatliche Recht so weit wie möglich zu berücksichtigen und die dort anerkannten Auslegungsmethoden anzuwenden, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem mit ihm verfolgten Zweck im Einklang steht ( 25 ).

58.

Die nationalen Gerichte müssen daher eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abändern, wenn sie auf einer Auslegung des innerstaatlichen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie nicht vereinbar ist, und jede Auslegung, die für sie nach ihrem nationalen Recht verbindlich wäre, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen, wenn diese Auslegung nicht mit der betreffenden Richtlinie vereinbar ist ( 26 ).

59.

Vermag das nationale Gericht eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auszulegen, so kann es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet sein, im Rahmen eines Rechtsstreits, der gegen eine Behörde geführt wird, jede nationale Vorschrift, die einer Unionsnorm zuwiderläuft, unangewendet zu lassen, sofern diese Norm in dem Sinne unmittelbare Wirkung hat, dass sie so klar, genau und unbedingt ist, dass sie den Einzelnen ein Recht verleiht, das diese als solches vor einem nationalen Gericht geltend machen können ( 27 ).

60.

Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts hat es damit ermöglicht, im Rahmen von Streitigkeiten, die auf dem Unionsrecht beruhten, zahlreiche dem innerstaatlichen Recht entstammende Hindernisse verfahrensrechtlicher Art zu überwinden. In einigen Fällen konnte er das nationale Gericht in die Lage versetzen, in Situationen, die im nationalen Recht nicht vorgesehen waren, Verfahrensregeln anzuwenden und Maßnahmen zu ergreifen ( 28 ).

61.

In dem kürzlich ergangenen Urteil Torubarov, das einen Antrag auf internationalen Schutz betraf, hat der Gerichtshof entschieden, dass nationale Rechtsvorschriften, die zu einer Situation führen, in der das vorlegende Gericht über kein Mittel verfügt, das es ihm ermöglicht, für die Befolgung seines Urteils durch die betreffenden Verwaltungsbehörden zu sorgen, den Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf verletzen ( 29 ). Er hat ausgeführt, dass es dem nationalen Gericht obliegt, eine nationale Regelung, die es ihm untersagt, die nicht seinem früheren Urteil entsprechende Entscheidung einer Verwaltungsstelle durch seine eigene Entscheidung zu ersetzen, erforderlichenfalls unangewendet zu lassen ( 30 ).

62.

Ebenso wie in der vorliegenden Rechtssache vermisste das vorlegende Gericht hinreichende Zwangsmittel aufgrund des nationalen Rechts, um für die Befolgung seines Urteils durch die Verwaltung zu sorgen und dem Unionsrecht volle Wirksamkeit zu verschaffen. Zwischen der vorliegenden Rechtssache und dem Urteil Torubarov besteht somit eine Analogie.

63.

Welche Schlussfolgerung ist in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen in der vorliegenden Rechtssache aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zu ziehen?

64.

Wie aus den Nrn. 58 und 59 der vorliegenden Schlussanträge hervorgeht, ist das nationale Gericht verpflichtet, eine Rechtsprechung, die ein Hindernis für die volle Anwendung des Unionsrechts darstellt, oder ein Gesetz, das ein solches Hindernis schafft, so weit wie möglich unangewendet zu lassen, wenn der Rechtsstreit zwischen einem Bürger und dem Staat, mit dem es befasst ist, eine Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung betrifft ( 31 ).

65.

Dem vorlegenden Gericht erscheint es denkbar, sein nationales Recht so auszulegen, dass im Rahmen des Ausgangsverfahrens die volle Wirksamkeit der Bestimmungen des Unionsrechts gewährleistet ist. Dazu könne der in Nr. 56 der vorliegenden Schlussanträge angesprochene Mechanismus der unionsrechtskonformen Auslegung herangezogen und auf die im nationalen Recht als Ganzes vorgesehenen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen angewandt werden.

66.

Das vorlegende Gericht hält es, da sich die Verhängung von Zwangsgeldern in einer Gesamthöhe von 10000 Euro als ineffektiv erwiesen habe und da auch keine Aussicht bestehe, dass die Verhängung höherer Zwangsgelder von bis zu 25000 Euro die gewünschte Wirkung erzielen werde, für angebracht, auf Zwangshaft zurückzugreifen. Dies bedeute, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1999 ( 32 ) heranzuziehen sei, wonach die Ergreifung der im deutschen Zivilrecht vorgesehenen einschneidenderen Maßnahmen in Betracht komme, während dessen Rechtsprechung aus dem Jahr 1970 ( 33 ), die ein Hindernis für die Verhängung von Zwangshaft gegen Amtsträger darstelle, unberücksichtigt bleiben müsse. Das Hindernis sei darauf zurückzuführen, dass es für diesen Personenkreis keine klare und präzise gesetzliche Regelung gebe, die bestimmte Formerfordernisse erfülle. § 888 ZPO genüge diesen Erfordernissen nicht. Nach der Antwort der deutschen Regierung in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des Gerichtshofs haben die deutschen Gerichte im Übrigen auf dieser Grundlage keine freiheitsentziehende Maßnahme gegen Amtsträger erlassen.

67.

Die Frage ist jedoch, ob das nationale Gericht bei der Auslegung seines nationalen Rechts so weit gehen muss, um Art. 23 der Richtlinie 2008/50 und Art. 47 der Charta volle Wirksamkeit zu verschaffen, indem eine Rechtsprechung oder eine gesetzliche Regelung, die den Bürger schützt, unangewendet gelassen wird. Ich denke nicht.

68.

Der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts können nämlich in der Praxis Grenzen gesetzt sein. Das nationale Gericht, dem die Anwendung des Unionsrechts obliegt, muss bisweilen mehrere Grundrechte gegeneinander abwägen ( 34 ). In manchen Fällen muss aufgrund eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ( 35 ) oder eines Grundrechts ( 36 ) von der vollständigen Anwendung einer Norm des Unionsrechts abgesehen werden.

69.

Da die Zwangshaft einen Freiheitsentzug impliziert, ist zu prüfen, ob es mit Art. 6 der Charta, der das Recht auf Freiheit gewährleistet, vereinbar ist, wenn man, wie es das vorlegende Gericht in Betracht zieht, einen Teil des nationalen Rechts unangewendet lässt, um einer Richtlinie volle Geltung zu verschaffen und das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf zu gewährleisten.

C.   Berücksichtigung des Grundrechts auf Freiheit

70.

Art. 6 der Charta sieht ein Grundrecht auf Freiheit vor, dass das in Art. 5 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankerte Recht widerspiegelt ( 37 ).

71.

Dieses Recht auf Freiheit ist im Licht von Art. 52 Abs. 1 der Charta zu verstehen, wonach jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss.

72.

Die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die nach Art. 52 Abs. 3 der Charta bei einem Recht, das einem in der EMRK vorgesehenen Recht entspricht, heranzuziehen ist, bestätigt das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung. In dieser Rechtsprechung und insbesondere im Urteil Del Río Prada gegen Spanien ( 38 ) wird auf die Eigenschaft als Gesetz abgestellt und hervorgehoben, dass jeder Freiheitsentzug eine Rechtsgrundlage haben muss und dass die betreffende gesetzliche Regelung hinreichend zugänglich, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbar sein muss, um jede Gefahr von Willkür zu vermeiden. Der Gerichtshof hat diese Kriterien in seinem Urteil Al Chodor übernommen und ausgeführt, dass eine Rechtsgrundlage vorhanden sein muss, die die Kriterien der Klarheit, der Vorhersehbarkeit, der Zugänglichkeit und des Schutzes vor Willkür erfüllt ( 39 ).

73.

Art. 104 des Grundgesetzes, auf den das vorlegende Gericht Bezug nimmt, enthält ähnliche Anforderungen; er sieht vor, dass die Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden kann.

74.

In der vorliegenden Rechtssache legt das nationale Gericht klar und unmissverständlich dar, dass das innerstaatliche Recht kein solches Gesetz enthält, das den Freiheitsentzug durch Zwangshaft vorsieht, um Amtsträger zu zwingen, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu befolgen.

75.

Diese Darstellung des nationalen Rechts war zwar Gegenstand von Erörterungen in den schriftlichen Erklärungen der Parteien und in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof. Abgesehen davon, dass es dem Gerichtshof verwehrt ist, die Auslegung des nationalen Rechts durch das vorlegende Gericht in Frage zu stellen ( 40 ), machen diese Erörterungen jedoch zumindest deutlich, dass ernste Zweifel an der Auslegung des nationalen Rechts und somit am Grad seiner Klarheit und Vorhersehbarkeit bestehen.

76.

Nach Ansicht der Deutschen Umwelthilfe und des vorlegenden Gerichts könnte das Problem der Vorhersehbarkeit dadurch überwunden werden, dass den betreffenden Personen die Zwangshaft angedroht wird. Wie das vorlegende Gericht selbst ausführt, ist eine derartige Androhung jedoch in der ZPO für Handlungspflichten wie die Pflicht, ein Verkehrsverbot für bestimmte Fahrzeuge anzuordnen, nicht vorgesehen ( 41 ).

77.

Überdies ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass eine zusätzliche und nicht unerhebliche Ungewissheit in Bezug darauf besteht, welche Personen von der Zwangshaft betroffen sein können.

78.

Das vorlegende Gericht erwähnt nämlich mehrere Personen, und zwar auf der Ebene des Freistaats den Ministerpräsidenten und den Staatsminister für Umwelt und Verbraucherschutz und auf der Ebene des Regierungsbezirks Oberbayern den Regierungspräsidenten und den Regierungsvizepräsidenten. Es fügt hinzu, vorsorglich müssten auch Personen einbezogen werden, die im Freistaat und im Regierungsbezirk Oberbayern leitende Positionen bekleideten, weil die verantwortlichen Organe des Freistaats parlamentarische Immunität besäßen, aufgrund deren, falls sie nicht aufgehoben werde, die Verhängung von Zwangshaft leerliefe.

79.

Aus dieser Aufzählung geht hervor, dass sich die wichtigsten Amtsträger auf der Ebene des Freistaats der Zwangshaft entziehen könnten. Gegen die hohen Beamten des Regierungsbezirks Oberbayern, die nach den Angaben des vorlegenden Gerichts Weisungen des Freistaats befolgen müssen, und die Personen, die bei den zuständigen Stellen des Freistaats und des Regierungsbezirks Oberbayern eine leitende Position bekleiden, könnte hingegen eine solche Maßnahme verhängt werden. Bei ihnen hält das vorlegende Gericht allerdings noch die Prüfung für erforderlich, ob ihnen zugemutet werden kann, die gerichtliche Entscheidung umzusetzen, obwohl sie der Auffassung ihres Dienstvorgesetzten zuwiderhandeln müssten.

80.

Aus den vorstehenden Gesichtspunkten ergibt sich, dass die Verhängung von Zwangshaft gegen Amtsträger des Freistaats – selbst wenn damit das angestrebte Ziel, nämlich die Beachtung der Rechtskraft und damit die vollständige Anwendung der Richtlinie 2008/50, erreicht werden könnte, was mir keineswegs sicher erscheint – das durch Art. 6 der Charta garantierte Grundrecht auf Freiheit verletzen würde, weil es kein entsprechendes Gesetz oder zumindest keine klare und vorhersehbare gesetzliche Regelung gibt.

81.

Ungeachtet des Problems der Wirksamkeit des Unionsrechts und insbesondere des mit der speziellen Situation verbundenen Eingriffs in das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf darf das nationale Gericht die grundlegenden Erfordernisse von Art. 6 der Charta nicht außer Acht lassen.

82.

Wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hervorgehoben hat, muss das Gericht, das mit einem Rechtsstreit über ein aus einer Richtlinie abgeleitetes Recht befasst ist, das nationale Recht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen und kann verpflichtet sein, ein ihm entgegenstehendes nationales Gesetz unangewendet zu lassen. Diese Auslegung des nationalen Rechts darf jedoch fraglos nicht zu einer Verletzung des Grundrechts auf Freiheit führen.

83.

Ich bin wie die deutsche Regierung der Ansicht, dass die individuelle Freiheit nicht ohne ausreichende Rechtsgrundlage beschränkt werden darf. Eine solche Beschränkung muss auf einer klaren, vorhersehbaren, zugänglichen und willkürfreien gesetzlichen Regelung beruhen. Sonst wäre die Beschränkung der Freiheit ihrerseits geeignet, die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft zu beeinträchtigen.

84.

Deshalb darf meines Erachtens, so schwerwiegend das Verhalten von Amtsträgern, die sich weigern, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu befolgen, auch sein mag, die Verpflichtung des nationalen Gerichts, alles in seiner Zuständigkeit liegende zu tun, um einer Richtlinie, insbesondere einer Richtlinie im Umweltbereich, volle Wirksamkeit zu verschaffen und um das Grundrecht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf zu gewährleisten, nicht unter Missachtung des Grundrechts auf Freiheit wahrgenommen werden. Diese Verpflichtung kann mithin nicht so verstanden werden, dass sie es dem Gericht gestattet – oder es gar dazu zwingt –, das Grundrecht auf Freiheit zu verletzen ( 42 ).

85.

Ich ersuche den Gerichtshof daher, festzustellen, dass die Verpflichtung des Gerichts, sein nationales Recht so weit wie möglich im Einklang mit dem Unionsrecht auszulegen und gegebenenfalls ein Gesetz unangewendet zu lassen, das in der Praxis der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts entgegensteht, auf eine absolute Grenze stößt, wenn diese Auslegung das durch Art. 6 der Charta garantierte Grundrecht auf Freiheit verletzen würde.

86.

Überdies ist – selbst wenn die Zwangshaft gesetzlich vorgesehen wäre – darauf hinzuweisen, dass der Freiheitsentzug, wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Al Chodor hervorgehoben habe ( 43 ), meines Erachtens ein letztes Mittel darstellen muss. Er sollte somit jedenfalls nur dann verhängt werden, wenn jede andere Maßnahme in Betracht gezogen wurde und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist.

87.

Im vorliegenden Fall ist im Übrigen nicht sicher, ob das vorlegende Gericht auf alle Mittel zurückgegriffen hat, die ihm nach nationalem Recht zur Verfügung stehen. In der mündlichen Verhandlung ist vorgebracht worden, dass andere Maßnahmen wie die Verhängung von Zwangsgeldern in Höhe von 25000 Euro, gegebenenfalls mehrmals kurz hintereinander, in Betracht kommen könnten. Ferner ist die Möglichkeit angesprochen worden, dass diese Zwangsgelder nicht an den Freistaat entrichtet werden, sondern an einen Dritten oder auch an die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob solche Maßnahmen denkbar wären.

88.

Wenn es im innerstaatlichen Recht keine wirksamen Zwangsmaßnahmen zur Gewährleistung der Vollstreckung von Urteilen gibt, ist es jedenfalls Sache des nationalen Gesetzgebers, darüber zu befinden, ob er es für angebracht oder wünschenswert hält, bei Amtsträgern eine freiheitsentziehende Maßnahme wie die Zwangshaft vorzusehen. Das kann in den Mitgliedstaaten unterschiedlich beurteilt werden, abhängig von gesellschaftlichen Entscheidungen und davon, wie die Eignung einer solchen Maßnahme für die Erreichung des in der fraglichen Richtlinie vorgesehenen Ziels eingeschätzt wird ( 44 ).

89.

Selbst wenn das vorlegende Gericht nach innerstaatlichem Recht völlig außerstande sein sollte, die Befolgung seiner rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen und damit der Richtlinie 2008/50 durch den Antragsgegner sicherzustellen, verfügt die Union noch über ein Zwangsmittel. Sie könnte in einem solchen Fall die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen den Mitgliedstaat in Betracht ziehen; ein solches Verfahren ist im Übrigen von der Kommission in Bezug auf die Luftverschmutzung, u. a. in der Stadt München, eingeleitet worden ( 45 ). Sofern der Mitgliedstaat wegen Verletzung der Richtlinie 2008/50 verurteilt wird und der Entscheidung des Gerichtshofs nicht nachkommt, könnte der Gerichtshof gegen ihn auf der Grundlage von Art. 260 Abs. 2 AEUV die Zahlung eines Pauschalbetrags für die Vergangenheit und eines Zwangsgelds in abschreckender Höhe für die Zukunft, gegebenenfalls zahlbar für jeden Tag, an dem der Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, verhängen.

V. Ergebnis

90.

Angesichts der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Das Unionsrecht – insbesondere Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV, Art. 197 Abs. 1 AEUV, Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 des am 25. Juni 1998 in Aarhus unterzeichneten und durch den Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17. Februar 2005 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigten Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ist dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, um die effektive Durchführung der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa sicherzustellen und zu diesem Zweck die Amtsträger dazu anzuhalten, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu befolgen, weder verpflichtet noch auch nur befugt ist, ihnen gegenüber eine freiheitsentziehende Maßnahme wie die Zwangshaft zu verhängen, wenn eine derartige Maßnahme für diesen Personenkreis nicht durch eine klare, vorhersehbare, zugängliche und willkürfreie nationale gesetzliche Regelung vorgesehen ist.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2008, L 152, S. 1. Diese Richtlinie hat die Richtlinie 96/62/EG des Rates vom 27. September 1996 über die Beurteilung und die Kontrolle der Luftqualität (ABl. 1996, L 296, S. 55) ersetzt.

( 3 ) Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, unterzeichnet in Aarhus am 25. Juni 1998 und im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt durch den Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17. Februar 2005 (ABl. 2005, L 124, S. 1, im Folgenden: Aarhus-Übereinkommen).

( 4 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012, L 26, S. 1).

( 5 ) Das vorlegende Gericht führt aus, das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) habe mit Urteil vom 27. Februar 2018 (7 C 26.16) bestätigt, dass solche Verkehrsverbote ein geeignetes Mittel seien, um für die Einhaltung der in der Richtlinie 2008/50 vorgesehenen Grenzwerte zu sorgen.

( 6 ) ABl. 2007, C 303, S. 1, im Folgenden: Charta.

( 7 ) Die Deutsche Umwelthilfe macht geltend, es gebe eine Rechtsgrundlage für die Verhängung von Zwangshaft gegenüber Amtsträgern, und zwar § 167 VwGO, in dem anerkannt werde, dass die Möglichkeit bestehe, auf das Zivilrecht zurückzugreifen. Die Zweifel des vorlegenden Gerichts beträfen daher nicht die gesetzliche Regelung in § 167 VwGO, sondern die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Der Freistaat Bayern und die deutsche Regierung führen aus, die möglichen Vollstreckungsmaßnahmen gegenüber der Verwaltung seien in § 167 VwGO vorgesehen, der auf das Zivilrecht verweise, wenn es keine spezielle Regelung gebe. § 172 VwGO sei eine solche Regelung, und dessen im Anschluss an den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. August 1999 (1 BvR 2245/98) erfolgte Änderung, die diesem Beschluss Rechnung trage, indem der Höchstbetrag von Zwangsgeldern gegen die Verwaltung zur Steigerung ihrer Effizienz angehoben werde, habe zur Folge, dass es nicht mehr möglich sei, auf die im Zivilrecht vorgesehenen einschneidenderen Zwangsmittel zurückzugreifen.

( 8 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juni 2017, Online Games u. a. (C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 45), und insbesondere Urteil vom 21. Juni 2016, New Valmar (C‑15/15, EU:C:2016:464, Rn. 25).

( 9 ) Aus dem Vorlagebeschluss und dem Vorschlag vom 21. September 2005 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Luftqualität und saubere Luft für Europa (KOM[2005] 447 endgültig) ergibt sich, dass Stickstoffdioxidkonzentrationen, die weit über den gesetzlich zulässigen Konzentrationen liegen, die menschliche Gesundheit im Alltag und die Lebenserwartung beeinträchtigen.

( 10 ) Siehe unten, Nr. 49.

( 11 ) Urteil vom 25. Juli 2008 (C‑237/07, EU:C:2008:447).

( 12 ) Urteil vom 19. November 2014 (C‑404/13, EU:C:2014:2382).

( 13 ) Urteil vom 26. Juni 2019 (C‑723/17, EU:C:2019:533).

( 14 ) Urteil vom 26. Juni 2019, Craeynest u. a. (C‑723/17, EU:C:2019:533, Rn. 56).

( 15 ) Urteil vom 30. Juni 2016 (C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 43).

( 16 ) Urteil vom 29. Juli 2019 (C‑556/17, EU:C:2019:626, im Folgenden: Urteil Torubarov, Rn. 57).

( 17 ) Vgl. Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 43), und vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 30 und 31).

( 18 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 11. Juli 2006, Kommission/Cresson (C‑432/04, EU:C:2006:455, Rn. 70).

( 19 ) Siehe oben, Nr. 22.

( 20 ) Urteil vom 26. Juni 2019 (C‑723/17, EU:C:2019:533, Rn. 56).

( 21 ) Urteil vom 13. März 2007, Unibet (C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 39).

( 22 ) Urteil vom 26. Juni 2019, Craeynest u. a. (C‑723/17, EU:C:2019:533, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 23 ) Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 53 und 54).

( 24 ) Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 55).

( 25 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 74, 76 und 77).

( 26 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 78).

( 27 ) Vgl. Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und 61).

( 28 ) Urteile vom 19. Juni 1990, Factortame u. a. (C‑213/89, EU:C:1990:257, Rn. 23), vom 20. September 2001, Courage und Crehan (C‑453/99, EU:C:2001:465, Rn. 26 und Rn. 36, zweiter Gedankenstrich), vom 21. November 2002, Cofidis (C‑473/00, EU:C:2002:705, Rn. 38), und vom 14. März 2013, Aziz (C‑415/11, EU:C:2013:164, Rn. 64).

( 29 ) Urteil Torubarov (Rn. 71 und 72).

( 30 ) Urteil Torubarov (Rn. 74).

( 31 ) Zu Art. 23 der Richtlinie 2008/50 hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass diese Bestimmung die klare Verpflichtung auferlegt, einen Luftqualitätsplan im Einklang mit bestimmten Anforderungen zu erstellen, auf die sich Einzelne gegenüber öffentlichen Stellen berufen können (vgl. Urteil vom 19. November 2014, ClientEarth, C‑404/13, EU:C:2014:2382, Rn. 53 bis 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). In Bezug auf Art. 47 der Charta hat der Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsstreits, der einen vom Unionsrecht erfassten Sachverhalt betraf, entschieden, dass er aus sich heraus Wirkung entfaltet und nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann (Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257‚ Rn. 78, und Urteil Torubarov, Rn. 56).

( 32 ) Beschluss vom 9. August 1999 (1 BvR 2245/98). In der Rechtssache, in der dieser Beschluss erging, ging es um die Weigerung einer Gemeinde, eine Halle an eine bestimmte politische Partei zu vermieten. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, die in der VwGO, insbesondere in deren § 172, vorgesehenen Maßnahmen könnten sich als unzureichend erweisen, und in einer solchen Situation könne von der nach § 167 VwGO möglichen „entsprechenden“ Anwendung zivilprozessualer Vorschriften Gebrauch gemacht werden. Das Bundesverfassungsgericht nennt Beispiele für Zwangsmittel aufgrund der ZPO, die alle die Ersatzvornahme betreffen (etwa die Besitzeinweisung in die Halle durch einen Gerichtsvollzieher). Die Zwangshaft wird dagegen in dem Beschluss nicht erwähnt.

( 33 ) Beschluss vom 13. Oktober 1970 (1 BvR 226/70).

( 34 ) Vgl., zu einer Abwägung zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und dem Recht auf freie Meinungsäußerung, Urteil vom 16. Dezember 2008, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia (C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 52 und 53).

( 35 ) Vgl. Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a. (C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 53).

( 36 ) Vgl. Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 33, 34, 36 und 39).

( 37 ) Nach den Erläuterungen zur Charta (ABl. 2007, C 303, S. 17) entspricht das Recht auf Freiheit in Art. 6 der Charta dem durch Art. 5 EMRK garantierten Recht, dem es nach Art. 52 Abs. 3 der Charta an Bedeutung und Tragweite gleichkommt (vgl. Abschnitt „Erläuterung zu Artikel 6“, Abs. 1).

( 38 ) EGMR, 21. Oktober 2013, Del Río Prada gegen Spanien (CE:ECHR:2013:1021JUD004275009, § 125 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie insbesondere EGMR, 25. Juni 1996, Amuur gegen Frankreich (CE:ECHR:1996:0625JUD001977692, § 50).

( 39 ) Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor (C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 38 und 40).

( 40 ) Siehe oben, Nr. 38.

( 41 ) Siehe oben, Nrn. 12 und 13. Nach § 888 Abs. 2 ZPO findet keine Androhung statt. Nach § 890 Abs. 1 und 2 ZPO ist sie im Fall einer Verpflichtung, eine Handlung zu unterlassen oder die Vornahme einer Handlung zu dulden, vorgesehen.

( 42 ) Ich verweise auf die Schlussanträge von Generalanwalt Bobek in der Rechtssache Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2018:623, Nrn. 123 und 124), in denen hervorgehoben wird, dass ein Ausgleich zwischen dem Erfordernis der Effektivität und der Notwendigkeit des Schutzes der Grundrechte gefunden werden muss.

( 43 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Al Chodor (C‑528/15, EU:C:2016:865, Nr. 55).

( 44 ) In einem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Juli 2019 veröffentlichten Artikel schreibt der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, dass er die Zwangshaft nicht für eine geeignete Maßnahme gegenüber den Repräsentanten eines Verwaltungsorgans wie dem Ministerpräsidenten eines Bundeslands halte. Die Öffentlichkeit erwarte, dass die staatlichen und regionalen Organe sowie ihre leitenden Beamten weiterhin ihren gesamten Amtsgeschäften nachgingen.

( 45 ) Vgl. die anhängige Rechtssache C‑635/18, Kommission/Deutschland.

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