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Document 62018CC0467

    Schlussanträge des Generalanwalts M. Campos Sánchez-Bordona vom 10. Juli 2019.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2019:590

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

    vom 10. Juli 2019 ( 1 )

    Rechtssache C‑467/18

    Rayonna prokuratura Lom

    gegen

    EP,

    Beteiligte:

    HO

    (Vorabentscheidungsersuchen des Rayonen sad Lukovit [Kreisgericht Lukovit, Bulgarien])

    „Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinien 2012/13/EU, 2013/48/EU und (EU) 2016/343 – Anwendungsbereich – Polizeiliche Maßnahmen – Strafrechtliches Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft – Besonderes Strafverfahren zur Anordnung medizinischer Zwangsmaßnahmen – Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung in Anwendung eines nicht strafrechtlichen Gesetzes – Effektive gerichtliche Kontrolle der Wahrung des Rechts des Verdächtigen oder Beschuldigten auf Belehrung und Unterrichtung sowie auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – Unschuldsvermutung – Schutzbedürftige Personen“

    1. 

    Dieses Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Anwendung der Richtlinien 2012/13/EU ( 2 ), 2013/48/EU ( 3 ) und (EU) 2016/343 ( 4 ) in einem Strafverfahren gegen eine Person, die vom Zeitpunkt ihrer Festnahme als einer schweren Straftat Verdächtige an Symptome einer psychischen Störung zeigte und aus diesem Grund in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht wurde.

    2. 

    Die Richtlinien legen gemeinsame „Mindestvorschriften zum Schutz der Verfahrensrechte Verdächtiger und beschuldigter Personen [in Strafverfahren]“ fest, um so „das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege zu stärken und auf diese Weise die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern“ ( 5 ).

    3. 

    Angesichts dieses Ziels stellt sich die Frage, ob die drei Richtlinien in Strafverfahren angewendet werden sollen, deren Entscheidungen absehbar und bei vernünftiger Betrachtung nicht Gegenstand einer gegenseitigen Anerkennung zwischen den Mitgliedstaaten sein werden. Der Gerichtshof ist diesem Einwand bisher nicht gefolgt ( 6 ). Möglicherweise wird es in Zukunft angesichts der Entwicklung der Vorabentscheidungsersuchen in diesem speziellen Bereich angebracht sein, diese Rechtsprechungslinie anzupassen.

    I. Rechtlicher Rahmen

    A.   Unionsrecht

    1. Richtlinie 2012/13

    4.

    Art. 1 („Gegenstand“) bestimmt:

    „Mit dieser Richtlinie werden Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt. …“

    5.

    Art. 2 („Anwendungsbereich“) sieht vor:

    „(1)   Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.

    …“

    6.

    Art. 3 („Recht auf Rechtsbelehrung“) legt fest:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:

    a)

    das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts;

    c)

    das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6;

    (2)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die in Absatz 1 vorgesehene Rechtsbelehrung entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden.“

    7.

    Art. 4 („Schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme“) bestimmt:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, umgehend eine schriftliche Erklärung der Rechte erhalten. Sie erhalten Gelegenheit, die Erklärung der Rechte zu lesen, und dürfen diese Erklärung während der Dauer des Freiheitsentzugs in ihrem Besitz führen.

    …“

    8.

    Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) lautet:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.

    (2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung, einschließlich über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet werden.

    (3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.

    (4)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der ihnen im Rahmen der Unterrichtung gemäß diesem Artikel gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“

    2. Richtlinie 2013/48

    9.

    In Art. 1 („Gegenstand“) heißt es:

    „Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften für die Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen in Strafverfahren … auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, auf Benachrichtigung eines Dritten von dem Freiheitsentzug sowie auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs festgelegt.“

    10.

    Art. 2 („Anwendungsbereich“) bestimmt:

    „(1)   Diese Richtlinie gilt für Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden, und unabhängig davon, ob ihnen die Freiheit entzogen wurde. Die Richtlinie gilt bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.

    (3)   Diese Richtlinie gilt auch, unter den in Absatz 1 vorgesehenen Voraussetzungen, für andere Personen als Verdächtige oder beschuldigte Personen, die während der Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde zu Verdächtigen oder beschuldigten Personen werden.

    …“

    11.

    Art. 3 („Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren“) legt fest:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können.

    (2)   Verdächtige oder beschuldigte Personen können unverzüglich Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten. In jedem Fall können Verdächtige oder beschuldigte Personen ab dem zuerst eintretenden der folgenden Zeitpunkte Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten:

    a)

    vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;

    b)

    ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen durch Ermittlungs- oder andere zuständige Behörden gemäß Absatz 3 Buchstabe c;

    c)

    unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit;

    d)

    wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurde, rechtzeitig bevor der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor diesem Gericht erscheint.

    …“

    12.

    Art. 12 („Rechtsbehelfe“) bestimmt:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren sowie gesuchten Personen in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht.

    …“

    13.

    Art. 13 („Schutzbedürftige Personen“) lautet:

    „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass bei der Anwendung dieser Richtlinie die besonderen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Verdächtigen und schutzbedürftigen beschuldigten Personen berücksichtigt werden.“

    3. Richtlinie 2016/343

    14.

    Art. 1 („Gegenstand“) legt fest:

    „Diese Richtlinie enthält gemeinsame Mindestvorschriften für

    a)

    bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung in Strafverfahren,

    b)

    das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren.“

    15.

    Art. 2 („Anwendungsbereich“) bestimmt:

    „Diese Richtlinie gilt für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.“

    16.

    Art. 3 („Unschuldsvermutung“) sieht vor:

    „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde.“

    17.

    Art. 6 („Beweislast“) bestimmt:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen.

    …“

    18.

    Art. 10 („Rechtsbehelfe“) lautet:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen im Falle einer Verletzung ihrer in dieser Richtlinie festgelegten Rechte über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen.

    (2)   Unbeschadet der nationalen Vorschriften und Regelungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass bei der Würdigung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweisen, die unter Missachtung des Aussageverweigerungsrechts oder des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, erlangt wurden, die Verteidigungsrechte und das Recht auf ein faires Verfahren beachtet werden.“

    B.   Bulgarisches Recht

    1. Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch)

    19.

    Nach Art. 33 sind Personen, die im Zustand geistiger Verwirrung gehandelt haben, der sie daran hindert, die Art oder Bedeutung ihrer Handlungen zu verstehen bzw. ihr Verhalten zu kontrollieren, strafrechtlich nicht verantwortlich ( 7 ).

    20.

    Nach Art. 89 können Personen, die im Zustand strafrechtlicher Schuldunfähigkeit eine Handlung, die eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, begangen haben, einer Zwangsbehandlung in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus unterzogen werden.

    2. Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK)

    21.

    Art. 24 Abs. 1 sieht vor, dass kein Strafverfahren eingeleitet wird bzw. dass das eingeleitete Verfahren eingestellt wird, wenn die begangene Handlung keine Straftat darstellt.

    22.

    Art. 46 regelt die Aufgaben der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren. Demnach ist die Staatsanwaltschaft für die öffentliche Klage und die Leitung des Ermittlungsverfahrens zuständig.

    23.

    Art. 70 betrifft das Verfahren der präventiven Unterbringung eines psychisch kranken Beschuldigten in einer psychiatrischen Einrichtung zu Untersuchungszwecken. Die Unterbringung wird auf Antrag der Staatsanwaltschaft nach einem Vorverfahren, an dem ein Verteidiger teilnehmen muss, von der Justizbehörde angeordnet.

    24.

    Art. 94 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 schreibt für den Fall, dass der Beschuldigte unter psychischen Störungen leidet, die obligatorische Beteiligung eines Verteidigers am Strafverfahren vor. Die zuständige Behörde ist verpflichtet, einen Rechtsanwalt als Verteidiger zu benennen.

    25.

    Nach Art. 242 Abs. 2, der zu dem die Maßnahmen der Staatsanwaltschaft am Ende des Ermittlungsverfahrens betreffenden Kapitel gehört, muss die Staatsanwaltschaft prüfen, ob während der Ermittlungen die Verfahrensrechte des Beschuldigten gewahrt wurden. War dies nicht der Fall, muss die Staatsanwaltschaft die Behebung der Verfahrensfehler anordnen oder sie selbst beheben.

    26.

    Art. 243 Abs. 1 Nr. 1 sieht vor, dass die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren in den in Art. 24 Abs. 1 genannten Fällen (d. h., wenn der Sachverhalt keine Straftat darstellt) einstellen muss.

    27.

    Nach Art. 247, der sich auf die Vorbereitung der mündlichen Verhandlung bezieht, beginnt dieser Verfahrensabschnitt mit der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft.

    28.

    Nach Art. 248 hat der Berichterstatter u. a. zu prüfen, ob während des Ermittlungsverfahrens die Verfahrensrechte des Beschuldigten gewahrt wurden (Abs. 2 Nr. 3). Ist dies nicht der Fall, stellt der Berichterstatter den Verstoß fest und leitet die Rechtssache zur Fehlerbehebung nach Art. 242 Abs. 2 an die Staatsanwaltschaft zurück.

    29.

    Art. 427 leitet den Abschnitt über die Anwendung medizinischer Zwangsmaßnahmen gemäß Art. 89 des Strafgesetzbuchs ein. Diese Maßnahmen werden von der Staatsanwaltschaft vorgeschlagen und vom erstinstanzlichen Gericht beschlossen, wobei die Möglichkeit besteht, bei einer höheren Instanz Berufung einzulegen.

    30.

    Die Art. 428 bis 431 regeln das Verfahren für die Anordnung solcher Maßnahmen, das eine Anhörung unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers der betroffenen Person umfasst.

    3. Zakon za zdraveto (Gesundheitsgesetz)

    31.

    Nach Art. 155 des Gesundheitsgesetzes können Personen mit psychischen Störungen, die eine spezielle Behandlung erfordern (im Sinne von Art. 146) einer Zwangsunterbringung und medizinischen Zwangsmaßnahmen unterworfen werden, wenn sie aufgrund ihrer Krankheit möglicherweise eine Straftat begehen werden und eine Gefahr für ihre Angehörigen, ihre Umgebung oder die Allgemeinheit oder eine schwerwiegende Gefahr für ihre Gesundheit darstellen.

    32.

    Die Art. 156 ff. sehen das Verfahren für die Unterbringung vor, über die das Kreisgericht am Wohnsitz der betroffenen Person entscheidet. Erforderlich hierfür sind ein Antrag der Staatsanwaltschaft, eine gerichtspsychiatrische Begutachtung und eine Anhörung der betroffenen Person (sofern ihr Gesundheitszustand dies zulässt), ihres Verteidigers und des Psychiaters.

    33.

    Nach Art. 165 Abs. 1 finden subsidiär die Bestimmungen des NPK Anwendung.

    II. Sachverhalt und Vorlagefragen

    34.

    In den frühen Morgenstunden des 26. August 2015 wurde auf der Straße im Dorf Medkovets (Lom, Bulgarien) eine Leiche mit Anzeichen von Gewalteinwirkung entdeckt.

    35.

    Gegen 6.00 Uhr morgens fanden Polizisten im Haus des Opfers dessen Sohn, EP, mit Blutflecken an den Beinen vor. Aus seinen Antworten bei einem ersten Verhör, in dem er zugab, das Verbrechen begangen zu haben ( 8 ), wurde geschlossen, dass er unter psychischen Störungen litt. Aus diesem Grund wurde er festgenommen und in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses von Lom gebracht.

    36.

    Am 26. August 2015 fanden eine Besichtigung des Tatorts und eine Zeugenbefragung statt. Die Zeugen erklärten, EP sei psychisch krank und wiederholt in der Psychiatrie untergebracht worden. Ein psychiatrisches Sachverständigengutachten ergab, dass EP an paranoider Schizophrenie leidet und sich am 25. und 26. August 2015 in einem Zustand dauerhafter Bewusstseinsstörung befand, so dass er das Wesen und die Bedeutung seiner Tat nicht nachvollziehen konnte.

    37.

    Mit Entscheidung des Rayonen sad Lom (Kreisgericht Lom, Bulgarien) vom 12. September 2015 wurde EP auf der Grundlage des im Gesundheitsgesetz vorgesehenen Verfahrens in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Diese Situation dauerte mindestens bis zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsersuchens an.

    38.

    Am 7. Juli 2016 stellte die Okrazhna prokuratura Montana (Staatsanwaltschaft von Montana, Bulgarien) das Strafverfahren gegen EP mit der Begründung ein, dass „der mutmaßliche Schuldige zur Zwangsbehandlung untergebracht wurde und infolgedessen keinen ordnungsgemäßen Verfahrensstatus hat“.

    39.

    Die Apelativna prokuratura Sofia (Staatsanwaltschaft am Berufungsgericht Sofia, Bulgarien) als übergeordnete Behörde erteilte der Staatsanwaltschaft von Montana die Weisung, das Strafverfahren wieder aufzunehmen, da dessen Einstellung nicht zulässig gewesen sei. Der Weisung wurde am 29. Dezember 2017 Folge geleistet.

    40.

    Mit Verfügung vom 1. März 2018 stellte die Staatsanwaltschaft von Montana das Strafverfahren ein, da „es sich um eine von der Person EP im Zustand der Schuldunfähigkeit begangene vorsätzliche Tat handelt“, so dass medizinische Zwangsmaßnahmen anzuordnen seien.

    41.

    Die Verfügung der Staatsanwaltschaft wurde nur der Tochter des Opfers zugestellt und erlangte am 10. März 2018 Rechtskraft.

    42.

    Im Rahmen eines negativen Zuständigkeitsstreits zwischen den Kreisgerichten von Lom und Lukovit entschied der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien), dass das Kreisgericht Lukovit für das Verfahren über die Unterbringung von EP gemäß dem NPK zuständig sei.

    43.

    Vor diesem Hintergrund hat der Rayonen sad Lukovit (Kreisgericht Lukovit) dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Fällt das vorliegende Verfahren zur Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen, bei denen es sich um eine Form staatlichen Zwangs gegenüber Personen handelt, die nach den Feststellungen der Staatsanwaltschaft eine für die Allgemeinheit gefährliche Tat begangen haben, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13 und der Richtlinie 2013/48?

    2.

    Stellen die bulgarischen Verfahrensvorschriften für das besondere Verfahren zur Anordnung medizinischer Zwangsmaßnahmen (Art. 427 ff. der Strafprozessordnung), wonach das Gericht nicht befugt ist, das Verfahren an die Staatsanwaltschaft zurückzuverweisen und ihr aufzugeben, die im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens begangenen wesentlichen Verfahrensfehler zu beheben, sondern nur dem Antrag auf Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen stattgeben oder ihn zurückweisen kann, einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 12 der Richtlinie 2013/48 und Art. 8 der Richtlinie 2012/13 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dar, der gewährleistet, dass der Betroffene etwaige im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens begangene Verstöße gegen seine Rechte vor Gericht anfechten kann?

    3.

    Sind die Richtlinie 2012/13 und die Richtlinie 2013/48 auf strafrechtliche (vorgerichtliche) Verfahren anwendbar, wenn das nationale Recht, konkret die Strafprozessordnung, die Rechtsfigur des „Verdächtigen“ nicht kennt und die Staatsanwaltschaft die Person im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens nicht förmlich als Beschuldigten ansieht, da sie davon ausgeht, dass der Totschlag, der Gegenstand der Ermittlungen ist, von der Person im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen wurde, und daher das Strafverfahren einstellt, ohne die Person davon in Kenntnis zu setzen, und beim Gericht die Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen gegenüber der Person beantragt?

    4.

    Gilt die Person, in Bezug auf die eine medizinische Zwangsbehandlung beantragt wurde, als „verdächtig“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 und Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2013/48, wenn bei der erstmaligen Besichtigung des Tatorts und den anfänglichen Ermittlungsmaßnahmen in der Wohnung des Opfers und ihres Sohnes ein Polizeibeamter, nachdem er Blutspuren am Körper des Sohnes feststellte, diesen fragte, warum er seine Mutter getötet und ihre Leiche auf die Straße gelegt habe, und ihm nach der Beantwortung dieser Fragen Handschellen anlegte? Falls dies bejaht wird, ist die Person bereits zu diesem Zeitpunkt nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 zu belehren, und wie sind die besonderen Bedürfnisse der Person im Sinne von Abs. 2 bei der Belehrung in einem solchen Fall zu berücksichtigen, wenn dem Polizeibeamten bekannt war, dass die Person an einer psychischen Störung leidet?

    5.

    Sind nationale Regelungen wie die vorliegenden, die faktisch eine Freiheitsentziehung durch Zwangsunterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in einem Verfahren nach dem Gesundheitsgesetz zulassen (vorbeugende Zwangsmaßnahme, die angeordnet wird, wenn bewiesen ist, dass die Person an einer psychischen Erkrankung leidet und die Gefahr der Begehung einer Straftat durch sie besteht, nicht jedoch wegen einer bereits begangenen Tat), mit Art. 3 der Richtlinie 2016/343 vereinbar, sofern der tatsächliche Grund für die Einleitung des Verfahrens die Tat ist, derentwegen ein Strafverfahren gegen die zur Behandlung untergebrachte Person eingeleitet wurde, und wird auf diese Weise das Recht auf ein faires Verfahren bei einer Festnahme umgangen, das den Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 4 der EMRK entsprechen muss, d. h. ein Verfahren sein soll, in dessen Rahmen das Gericht befugt ist, sowohl die Einhaltung der Verfahrensregeln als auch den die Festnahme begründenden Verdacht sowie die Rechtmäßigkeit des mit dieser Maßnahme verfolgten Ziels zu überprüfen, wozu das Gericht verpflichtet ist, wenn die Person nach dem in der Strafprozessordnung vorgesehenen Verfahren festgenommen wurde?

    6.

    Umfasst der Begriff der Unschuldsvermutung im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2016/343 auch die Vermutung, dass schuldunfähige Personen die Tat, die eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und die ihnen von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird, nicht begangen haben, solange nicht das Gegenteil im Einklang mit den Verfahrensregeln (im Strafverfahren unter Wahrung der Verteidigungsrechte) nachgewiesen wurde?

    7.

    Gewährleisten nationale Regelungen, die verschiedene Befugnisse des erkennenden Gerichts in Bezug auf die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Rechtmäßigkeit des vorgerichtlichen Verfahrens vorsehen, je nachdem, ob

    a)

    das Gericht eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft prüft, in der behauptet wird, dass eine bestimmte, psychisch gesunde Person einen Totschlag begangen habe (Art. 249 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 der Strafprozessordnung), oder

    b)

    das Gericht einen Antrag der Staatsanwaltschaft prüft, in dem behauptet wird, dass die Person einen Totschlag begangen habe, die Tat jedoch wegen der psychischen Störung des Täters keine Straftat darstelle, und die gerichtliche Anordnung staatlichen Zwangs zu Behandlungszwecken begehrt wird,

    den schutzbedürftigen Personen einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 in Verbindung mit Art. 12 der Richtlinie 2013/48 und von Art. 8 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13, und sind die verschiedenen Befugnisse des Gerichts, die von der Art des Verfahrens abhängen, die sich wiederum danach richtet, ob die als Täter festgestellte Person angesichts ihres psychischen Gesundheitszustands strafrechtlich verantwortlich ist, mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Art. 21 Abs. 1 der Charta vereinbar?

    III. Verfahren vor dem Gerichtshof

    44.

    Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 17. Juli 2018 zusammen mit einem Antrag auf Durchführung eines Eilvorabentscheidungsverfahrens, dem nicht stattgegeben worden ist, beim Gerichtshof eingegangen.

    45.

    EP, die Regierungen der Tschechischen Republik und der Niederlande sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof nicht für erforderlich gehalten.

    IV. Würdigung

    A.   Vorbemerkungen

    46.

    Die Aufgabe des Gerichtshofs bei der Entscheidung über die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen besteht darin, dem vorlegenden Gericht eine Auslegung der Vorschriften des Unionsrechts zu liefern, die ihm bei der Entscheidung über den Rechtsstreit nützlich sein können. Dagegen ist es nicht seine Aufgabe, über die tatsächlichen Umstände oder das dem Vorabentscheidungsersuchen vorausgegangene Vorgehen der zuständigen nationalen Behörden im Rahmen von Straf- oder sonstigen Verfahren zu urteilen.

    47.

    Ebenso wenig hat der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung des Unionsrechts darüber zu entscheiden, ob im konkreten Fall die Vorschriften einer bestimmten, auf Strafverfahren anwendbaren Richtlinie eingehalten wurden ( 9 ) bzw. ob in der Praxis die relevanten Rechte verletzt wurden oder nicht ( 10 ).

    48.

    Die Richtlinien, nach deren Auslegung das vorlegende Gericht fragt, enthalten Vorschriften über die Maßnahmen der zuständigen Behörden zum Schutz der Rechte von Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren in Form von drei verschiedenen Ansätzen: i) Die Verdächtigen und beschuldigten Personen sind über ihre Verfahrensrechte zu belehren und über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf zu unterrichten (Richtlinie 2012/13), ii) sie haben Anspruch auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, auf Benachrichtigung eines Dritten über ihren Freiheitsentzug sowie auf Kommunikation mit dieser dritten Person (Richtlinie 2013/48) und iii) für sie gilt die Unschuldsvermutung (Richtlinie 2016/343).

    49.

    Da diese drei Richtlinien nur Strafverfahren betreffen, gelten sie nicht für psychiatrische Zwangsunterbringungen, die aus rein medizinischen Gründen in Übereinstimmung mit den Gesetzen zur Regelung des öffentlichen Gesundheitswesens angeordnet wurden. Diese Unterbringungen müssen selbstverständlich einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen, da die Freiheit der betroffenen Personen auf dem Spiel steht, aber dies bedeutet nicht, dass das hierfür erforderliche Verfahren strafrechtlichen Charakter hat.

    50.

    Nach den hier vorliegenden Informationen geht es in der Rechtssache um zwei verschiedene Maßnahmen:

    die Anwendung des Gesundheitsgesetzes (Art. 155 ff.), auf dessen Grundlage der Rayonen sad Lom (Kreisgericht Lom) sogleich entschied, EP in einer psychiatrischen Einrichtung unterzubringen;

    das von der Staatsanwaltschaft eingeleitete Strafverfahren, nach dessen Einstellung das vorlegende Gericht, der Rayonen sad Lukovit (Kreisgericht Lukovit), abschließend über die Unterbringung gemäß dem NPK entscheiden muss. Nur in diesem Verfahren kommen die drei oben genannten Richtlinien zur Anwendung.

    51.

    Fragen in Zusammenhang mit der Anwendung der Richtlinien auf das Verfahren nach dem Gesundheitsgesetz sind somit von der Antwort des Gerichtshofs auszunehmen. Das Gesundheitsgesetz ermöglicht die Zwangsunterbringung von Personen mit psychiatrischen Störungen, die aufgrund dieser Störungen eine Straftat begehen könnten und eine Gefahr für ihre Angehörigen, andere Personen bzw. die Allgemeinheit oder eine ernsthafte Gefahr für ihre Gesundheit darstellen.

    52.

    Für dieses Verfahren ist die Justizbehörde zuständig, die nach der Beweisaufnahme, sofern sie dies für angebracht hält, für einen bestimmten, verlängerbaren Zeitraum die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnet. Das Verfahren ist somit nicht strafrechtlicher Art und auch nicht Gegenstand der genannten Richtlinien (der in ihrem jeweiligen Art. 1 auf Strafverfahren beschränkt wird).

    53.

    Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ermöglicht es die nationale Praxis, dass eine Person, die eine Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hat, in Anwendung des Gesundheitsgesetzes ohne die üblichen Verfahrensschritte eines Strafverfahrens ( 11 ) zwangsweise in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wird. Selbst wenn dies der Fall wäre, ist hier maßgebend, dass das im Gesundheitsgesetz vorgesehene Verfahren keinen strafrechtlichen Charakter hat. Wird es im Einzelfall anders eingesetzt, ist dieser faktische Verstoß mit Hilfe des nationalen Rechts zu korrigieren ( 12 ).

    54.

    Meine Ausführungen werden nicht der Reihenfolge der neun Vorlagefragen entsprechen, deren Inhalt sich zudem überschneidet. Ich ziehe es vor, jede Richtlinie einzeln zu prüfen, um aus ihrer Auslegung die Beurteilungsgrundlagen abzuleiten, die dem vorlegenden Gericht nützlich sein können.

    B.   Auswirkungen der Richtlinie 2012/13

    1. In Bezug auf die zu wahrenden Rechte

    55.

    Diese Richtlinie enthält Vorschriften, mit denen bestimmte Rechte von Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren gewahrt werden sollen. Insbesondere erkennt sie diesen Personen das Recht auf umgehende Belehrung über bestimmte Verfahrensrechte und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf zu.

    56.

    Als Verdächtiger wird jede Person bezeichnet, die von den zuständigen Behörden über das Vorliegen von Hinweisen, dass sie an einer Straftat beteiligt war, informiert („in Kenntnis gesetzt“) wird (Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13).

    57.

    Ein Verdächtiger kann darüber hinaus festgenommen oder inhaftiert werden. Die Art. 4 und 6 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 behandeln genau diese Situation und verpflichten die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass betroffene Personen unter diesen Bedingungen „umgehend eine schriftliche Erklärung der Rechte“ erhalten (Art. 4) und über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung unterrichtet werden (Art. 6).

    58.

    Der Begriff der beschuldigten Person ist auf einem qualitativ höheren Niveau anzuordnen, da er impliziert, dass die zuständige Behörde (in der Regel die Staatsanwaltschaft) bereits einen konkreten Tatvorwurf formuliert hat, mit der der beschuldigten Person bei einer Straftat die Täterschaft zugeschrieben wird.

    59.

    Die Wahrung dieser Rechte liegt natürlich in der Verantwortung der für das jeweilige Stadium des Strafverfahrens zuständigen Behörde. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Polizei in einem strafrechtlichen Kontext ( 13 ) eine Festnahme vornimmt ( 14 ) oder wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt.

    60.

    Die Richtlinie 2012/13 gilt nach ihrem Art. 2 Abs. 1 bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter „die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren“.

    61.

    Nach diesem Wortlaut gehört dazu auch der Fall, dass ein Strafverfahren nicht mit einer Verurteilung im engeren Sinne endet, sondern mit einer Sicherungsmaßnahme in Form einer Zwangsunterbringung einer wegen ihrer psychischen Störung für schuldunfähig erklärten Person in eine psychiatrische oder vergleichbare Einrichtung.

    62.

    In einem verwandten Bereich definiert Art. 1 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI ( 15 ) den Begriff „Sanktion“ als „jede Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme, die aufgrund eines Strafverfahrens wegen einer Straftat für eine bestimmte Zeit oder auf unbestimmte Zeit verhängt worden ist“. Konkreter betrifft Art. 9 Abs. 1 Buchst. k des Rahmenbeschlusses den Fall, in dem „die verhängte Sanktion eine Maßnahme der psychiatrischen Betreuung oder der Gesundheitsfürsorge … einschließt“.

    63.

    Auf dieser Grundlage kann eine Analyse der nationalen Verfahrensvorschriften in Verbindung mit der Richtlinie 2012/13 die Fragen des vorlegenden Gerichts beantworten.

    64.

    Nach dem NPK kann ein Strafverfahren, abgesehen von einem Freispruch, mit der Verhängung einer Strafe (im allgemeinen Verfahren) oder mit einer medizinischen Zwangsmaßnahme (im besonderen Verfahren nach den Art. 427 ff.) enden. Hat der Täter die Straftat in einer Situation geistiger Unzurechnungsfähigkeit begangen, so wird die Reaktion auf die Begehung der Straftat, d. h. die Strafe, in eine psychiatrische Zwangsunterbringung umgewandelt.

    65.

    Für die Auferlegung der Strafe oder der medizinischen Zwangsmaßnahme als Folge der Begehung der Straftat ( 16 ) verlangen die nationalen Vorschriften die Durchführung eines Strafverfahrens, d. h., während des Verfahrens sind die durch die Richtlinie 2012/13 geschützten Rechte zu wahren. Meiner Ansicht nach dürfen in keinem der beiden Fälle die in dieser Richtlinie vorgesehenen Garantien ausgeschlossen werden.

    66.

    Ein anderer Punkt ist, dass gerade wegen des psychischen Zustands des Verdächtigen oder Beschuldigten die ihm obligatorisch zur Verfügung zu stellenden Informationen über seine Rechte bestimmten Änderungen unterliegen können. In Fällen besonders schwerer psychischer Störungen wird die Übergabe eines Formulars an den Betroffenen mit der Belehrung über seine Rechte sinnlos sein, da er diese nicht verstehen kann. Sowohl dieser Verfahrensschritt als auch die Unterrichtung über den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf kann gegenüber seinem Verteidiger erfolgen, da, wie ich im Anschluss darstellen werde, die Anwesenheit eines Rechtsbeistands absolut unverzichtbar ist.

    67.

    Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 sieht vor, dass bei der Belehrung „schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen“ über ihre Rechte deren besondere Situation berücksichtigt wird. Unter diesen Begriff fallen Personen, die unter schwerwiegenden geistigen Beeinträchtigungen leiden und die Informationen so gut wie nicht verstehen können.

    68.

    Sinn dieser Vorschrift ist es, dass die Informationen von ihrem Adressaten tatsächlich empfangen und verarbeitet werden können. Dies geht aus dem „Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren“ ( 17 ) hervor. Dort heißt es zur Erläuterung der „Maßnahme E“ („Besondere Garantien für schutzbedürftige Verdächtige oder Beschuldigte“): „Zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens ist es wichtig, dass Verdächtigen oder Beschuldigten, die z. B. aufgrund ihres Alters, ihres geistigen oder ihres körperlichen Zustands nicht in der Lage sind, den Inhalt oder die Bedeutung des Verfahrens zu verstehen oder diesem zu folgen, eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwird.“ ( 18 )

    69.

    Bei psychiatrischen Patienten mit schwerer psychiatrischer Störung (wie es hier der Fall zu sein scheint) kann für die Übermittlung von Informationen die Hinzuziehung eines in ihrem Namen handelnden Dritten ratsam sein ( 19 ). Es ist jedenfalls Aufgabe des nationalen Rechts, Lösungen für die Unterstützung von Personen zu finden, die aufgrund der Einschränkung ihrer Fähigkeiten nicht in der Lage sind, selbständig zu handeln ( 20 ).

    2. Rechtsbehelfe zum Schutz dieser Rechte

    70.

    Gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 ist sicherzustellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, denen die (gemäß dieser Richtlinie) erforderlichen Informationen nicht zur Verfügung gestellt wurden, das Recht haben, dies „nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts“ anzufechten.

    71.

    Das vorlegende Gericht führt aus, im besonderen Verfahren zur Anordnung der Unterbringung schuldunfähiger Personen (Art. 427 ff. NPK) könne es anders als bei allgemeinen Verfahren nicht prüfen, ob während des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft Rechte verletzt worden seien.

    72.

    Wenn die Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft aufgrund der Schuldunfähigkeit des Beschuldigten mit der Einstellung des Verfahrens endeten, sei der Weg frei für die Anordnung der Unterbringung durch das Gericht. Zu diesem Zeitpunkt könnten sich eventuelle vorherige Rechtsverletzungen, zu denen es während des Ermittlungsverfahrens gekommen sei, zeigen, ohne dass das Gericht befugt sei, die Möglichkeit einer Behebung der festgestellten Fehler zu erwägen (z. B. durch Anordnung der Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand der Voruntersuchung). Dem vorlegenden Gericht bleibe nur die Möglichkeit, die Unterbringung anzuordnen oder abzulehnen.

    73.

    Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob unter diesen Umständen das in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 verankerte Recht, das Versäumnis bzw. die Verweigerung einer ordnungsgemäßen Belehrung oder Unterrichtung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die zuständige Behörde wirksam anzufechten, gewahrt wurde.

    74.

    Zwar ist das vorlegende Gericht für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig, doch ist ein Rechtsbehelf (auf der Grundlage von Art. 243 Abs. 3 NPK) gegen die Einstellung durch die Staatsanwaltschaft, wenn später das in den Art. 427 ff. NPK geregelte (besondere) Verfahren eingeleitet wird, offensichtlich nicht ausgeschlossen. Dieser Rechtsbehelf könnte sich auf eine Verletzung der Rechte des Verdächtigen oder der beschuldigten Person in der Phase vor der Entscheidung des Gerichts, das auf Antrag der Staatsanwaltschaft über die Unterbringung befinden muss, stützen. Damit würde eine Anfechtungsmöglichkeit im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 2012/13 zur Verfügung stehen.

    75.

    Mit seiner Feststellung in Rn. 62 des Vorlagebeschlusses, falls die Art. 427 ff. NPK keinen wirksamen Rechtsbehelf gewährleisteten, könnte „die im allgemeinen Verfahren vorgesehene Verfahrensgarantie analog“ angewandt werden ( 21 ), stimmt das vorlegende Gericht einer solchen Lösung zu.

    76.

    Wäre eine solche Auslegung nicht möglich, würden die bulgarischen Verfahrensvorschriften nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ( 22 ) das in Art. 8 der Richtlinie 2012/13 verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nicht garantieren, da kein Gericht befugt wäre, zu prüfen, ob in der Phase vor dem in den Art. 427 ff. NPK verankerten Verfahren die durch die Richtlinie geschützten Rechte gewahrt wurden. In diesem Fall wäre es, falls die Rechtsverletzungen die Verfahrensgarantien der betroffenen Personen ernsthaft beeinträchtigen, Aufgabe der nationalen Rechtsordnung, die Konsequenzen (gegebenenfalls die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zwecks Behebung der bestehenden Fehler) aus diesen Rechtsverletzungen zu ziehen.

    77.

    Schließlich sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass im Rahmen des in den Art. 427 ff. NPK geregelten Verfahrens der Verteidiger der betroffenen Person an der Verhandlung vor dem über die Unterbringung entscheidenden Gericht teilnehmen muss ( 23 ). Logischerweise kann der Rechtsanwalt bei dieser Verhandlung alle gegen eine Unterbringung sprechenden Gründe anführen, also auch solche, die sich aus eventuellen, von den zuständigen Behörden während des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens begangenen Unregelmäßigkeiten ergeben.

    C.   Auswirkungen der Richtlinie 2013/48

    1. In Bezug auf die zu wahrenden Rechte

    78.

    Diese Richtlinie garantiert, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren einen Anspruch auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, auf Benachrichtigung eines Dritten über ihren Freiheitsentzug und auf Kommunikation mit diesem Dritten haben.

    79.

    Was die Begriffe des Verdächtigen oder der beschuldigten Person sowie der zuständigen Behörden im Rahmen der Richtlinie 2013/48 betrifft, beziehe ich mich auf die Ausführungen zur Richtlinie 2012/13. In Art. 2 Abs. 3, der das Recht auf Rechtsbeistand auch auf andere Personen als Verdächtige oder beschuldigte Personen, „die während der Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde zu Verdächtigen oder beschuldigten Personen werden“, erstreckt, verweist die Richtlinie 2013/48 ausdrücklich auf „die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde“ ( 24 ).

    80.

    Da das NPK, wie bereits dargestellt, ein echtes Strafverfahren vorsieht, das mit der Anordnung einer medizinischen Zwangsmaßnahme (nach dem in den Art. 427 ff. vorgesehenen besonderen Verfahren) enden kann, müssen der betroffenen Person der Zugang zu einem Rechtsbeistand sowie die sonstigen in der Richtlinie 2013/48 verankerten Rechte garantiert werden.

    81.

    Anders als bei der Richtlinie 2012/13 kann der psychische Zustand des Verdächtigen oder Beschuldigten kein Grund sein, um bei schweren Straftaten sein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand einzuschränken ( 25 ). Der psychische Zustand verstärkt im Gegenteil seine Rechte, da der Verdächtige oder Beschuldigte z. B. nicht in der Lage sein wird, wirksam auf die Anwesenheit eines Rechtsbeistands zu verzichten (Art. 9 der Richtlinie 2013/48).

    82.

    Wenn, wie ich bereits dargestellt habe, Personen, die unter einer psychischen Störung leiden, als schutzbedürftig im Sinne von Art. 13 der Richtlinie 2013/48 angesehen werden können, müssen die Mitgliedstaaten bei der Berücksichtigung ihrer besonderen Bedürfnisse den Zugang zu einem Rechtsbeistand ermöglichen.

    83.

    Nach den hier vorliegenden Informationen erfüllt das NPK diesen Zweck, da, wenn die Schwere der psychischen Störung jegliches Verständnis verhindert, umgehend ein Rechtsanwalt zu benennen ist, damit dieser während der Planung der Verteidigung sicherstellen kann, dass die übrigen Rechte ordnungsgemäß gewahrt werden. Außerdem sieht Art. 94 Abs. 1 Unterabs. 2 die Teilnahme eines Verteidigers am Strafverfahren vor, wenn der Beschuldigte an einer körperlichen oder geistigen Behinderung leidet, die es ihm unmöglich macht, sich zu verteidigen. Für einen solchen Fall sieht Art. 94 Abs. 3 vor, dass die zuständige Behörde einen Rechtsanwalt zum Verteidiger bestellt.

    84.

    Die bulgarischen Rechtsvorschriften, nach deren Vereinbarkeit mit der Richtlinie 2013/48 das vorlegende Gericht fragt, verstoßen daher, was den Schutz der mit ihr garantierten Rechte anbetrifft, offenbar nicht gegen die Richtlinie. Eine andere Frage ist, ob im Einzelfall die gesetzlichen Vorschriften eingehalten wurden.

    2. In Bezug auf die Rechtsbehelfe

    85.

    Sollten die Rechte gleichwohl verletzt worden sein, gelten meine Ausführungen zu den Rechtsbehelfen, mit denen Verletzungen der Richtlinie 2012/13 angefochten werden können, für die Richtlinie 2013/48 entsprechend.

    D.   Auswirkungen der Richtlinie 2016/343

    86.

    Diese Richtlinie verstärkt in Strafverfahren bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts von Verdächtigen oder beschuldigten natürlichen Personen auf Anwesenheit in der Verhandlung.

    87.

    Die Mitgliedstaaten waren nicht verpflichtet, die Richtlinie 2016/343 vor dem 1. April 2018 umzusetzen ( 26 ). Daher kann diese Richtlinie nicht als Unionsvorschrift herangezogen werden, die auf vor diesem Zeitpunkt abgeschlossene Strafverfahren anzuwenden war.

    88.

    Nach den Angaben im Vorlagebeschluss und den nachfolgenden Erläuterungen des vorlegenden Gerichts erfolgte in der vorliegenden Rechtssache die dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung vorangegangene rechtskräftige Einstellung des Strafverfahrens am 1. März 2018. In dieser Entscheidung mussten der erwiesene Sachverhalt, die Teilnahme der beschuldigten Person und ihre Einstufung als schuldunfähig festgestellt werden.

    89.

    In zeitlicher Hinsicht können die bei diesem Verfahren vorgekommenen Unregelmäßigkeiten daher nicht unter Heranziehung der Richtlinie 2016/343 analysiert werden. Ebenso wenig steht Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) entgegen, da nicht ersichtlich ist, dass vor dem 1. April 2018 ein Anknüpfungspunkt für die Anwendung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta vorlag.

    90.

    Zwar gilt für das besondere Verfahren zur Unterbringung von EP, da es beim vorlegenden Gericht noch anhängig ist, seit dem 1. April 2018 die Richtlinie 2016/343. Die vom Gericht gestellten Vorlagefragen betreffen jedoch nicht sein eigenes Vorgehen im Rahmen dieses Verfahrens, sondern das Vorgehen der zuständigen Behörden (insbesondere der Staatsanwaltschaft) im Rahmen des am 1. März 2018 abgeschlossenen Strafverfahrens.

    91.

    Daher sollte sich meiner Ansicht nach die Antwort auf diesen Teil des Vorabentscheidungsersuchens auf die Feststellung beschränken, dass die Richtlinie 2016/343 auf vor dem 1. April 2018 abgeschlossene Strafverfahren nicht anwendbar ist. Für den Fall, dass der Gerichtshof anderer Auffassung ist, werde ich jedoch meine Meinung dazu äußern.

    92.

    Die von der Richtlinie 2016/343 geschützte Unschuldsvermutung gilt nach ihrem Art. 2 „für alle Abschnitte des Strafverfahrens …, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat“.

    93.

    Zweifellos hätten, wenn die Richtlinie 2016/343 in zeitlicher Hinsicht anwendbar wäre, ihre Vorschriften in einem Strafverfahren gegen einen Verdächtigen oder Beschuldigten auch dann eingehalten werden müssen, wenn er Symptome einer psychischen Störung zeigt. Der Tatsache, dass bei Strafverfahren auch während des vorgerichtlichen Ermittlungsverfahrens die Richtlinie 2016/343 einzuhalten ist, steht nicht entgegen, dass die Staatsanwaltschaft für diesen Verfahrensabschnitt zuständig ist.

    94.

    Die durch die Richtlinie 2016/343 geschützte Unschuldsvermutung gilt, wie ich noch einmal betonen möchte, in allen Phasen von Strafverfahren wegen schwerer Straftaten ( 27 ). In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob die Personen, deren Straftat Gegenstand des Verfahrens ist, an einer psychischen Erkrankung leiden, die am Ende des Verfahrens zur Feststellung der Schuldunfähigkeit führt.

    95.

    Ich möchte darauf hinweisen, dass die Unschuldsvermutung – ebenso wie sie der Untersuchungshaft nicht zwangsläufig entgegensteht – nicht ausschließt, dass eine Person, die der Begehung einer Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit verdächtigt wird, in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht wird. Ebenso wenig ausgeschlossen sind nach Art. 4 der Richtlinie 2016/343 „vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen“.

    V. Zusammenfassung unter Bezugnahme auf die Vorlagefragen

    96.

    Mit den vorstehenden Ausführungen können meiner Ansicht nach die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen geklärt werden:

    Die Ausführungen zu den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 betreffen die Fragen 1 bis 4 und 7 (erster Teil).

    Die Ausführungen zur Richtlinie 2016/343 betreffen die Fragen 5 und 6.

    97.

    Frage 7 umfasst eine Teilfrage, mit der das vorlegende Gericht klären möchte, ob die Tatsache, dass die gerichtlichen Befugnisse unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob die als Täter bezeichnete Person psychisch gesund ist, mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Art. 21 der Charta vereinbar ist. Nach meiner Überzeugung ist die Situation einer solchen, unter einer psychischen Störung leidenden Person nicht mit der Situation einer voll zurechnungsfähigen Person zu vergleichen, und aus diesem Grund kann bei der Festlegung von besonderen Verfahrensvorschriften für die erstgenannte Personengruppe nicht von einer Diskriminierung gesprochen werden. Dem steht jedoch nicht entgegen, dass die in den oben genannten Richtlinien verankerten Garantien, wie ich bereits erläutert habe, für beide Personengruppen gelten.

    VI. Ergebnis

    98.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Rayonen sad Lukovit (Kreisgericht Lukovit, Bulgarien) wie folgt zu antworten:

    1.

    Die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass sie ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person von den Behörden davon in Kenntnis gesetzt wird, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig ist, für alle Phasen des Verfahrens gilt, und zwar auch dann, wenn die Person unter einer psychischen Störung leidet.

    2.

    Die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs gilt in den von ihr erfassten Zeiträumen für schuldunfähige Verdächtige und schuldunfähige beschuldigte Personen.

    3.

    Die durch die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 geschützten Rechte müssen gewahrt werden, wenn unter den von ihnen aufgestellten Bedingungen in der Praxis von Polizeibeamten strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt werden, die Staatsanwaltschaft im Rahmen von Strafverfahren tätig wird und ein besonderes Verfahren zur Anordnung medizinischer Zwangsmaßnahmen wie das in den Art. 427 ff. des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) geregelte bei Straftaten angewandt wird, die von Personen im Zustand geistiger Unzurechnungsfähigkeit begangen wurden.

    4.

    Die Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren findet auf Strafverfahren, die vor dem 1. April 2018 rechtskräftig abgeschlossen wurden, keine Anwendung.

    5.

    Ein Verfahren wie das in den Art. 155 ff. des Zakon za zdraveto (Gesundheitsgesetz) geregelte, das darauf abzielt, aus medizinischen Gründen die zwangsweise Unterbringung von Personen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, in einer psychiatrischen Einrichtung anzuordnen, fällt nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinien 2012/13, 2013/48 und 2016/343.


    ( 1 ) Originalsprache: Spanisch.

    ( 2 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1).

    ( 3 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1).

    ( 4 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1).

    ( 5 ) Zehnter Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343.

    ( 6 ) In seinen Schlussanträgen vom 5. Februar 2019 in der Rechtssache Moro (C‑646/17, EU:C:2019:95) hat Generalanwalt Bobek festgestellt, dass die „Anwendbarkeit der Richtlinie 2012/13 … nicht voraus[setzt], dass der dem nationalen Gericht vorliegende Einzelfall eine grenzüberschreitende Dimension aufweist“ (Nr. 44). Er argumentierte in diesem Zusammenhang u. a. damit, dass der Gerichtshof im Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a (C‑612/15, EU:C:2018:392), diese Richtlinie ausgelegt hat, obwohl „offenbar kein erkennbares grenzüberschreitendes Element gegeben“ war. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 13. Juni 2019, Moro (C‑646/17, EU:C:2019:489), die gleiche Auffassung vertreten.

    ( 7 ) https://www.legislationline.org/documents/section/criminal-codes/country/39/Bulgaria/show.

    ( 8 ) Nach Angaben der Polizisten sagte EP ihnen, dass er seine Mutter getötet habe, weil sie ihn an die serbische Mafia verraten habe. Auf die Frage, warum er die Leiche auf die Straße gezerrt habe, antwortete er, sonst würde es in seinem Hof stinken.

    ( 9 ) Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 81).

    ( 10 ) Nach den Angaben im Vorlagebeschluss (Rn. 17 und 18) wies das vorlegende Gericht bereits gegenüber dem Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) darauf hin, dass EP weder über den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf unterrichtet noch über seine Rechte – wie das Recht, einen Verteidiger zu ernennen oder die Entscheidung der Staatsanwaltschaft anzufechten – belehrt worden sei. Außerdem habe der Varhoven kasatsionen sad „ohne nähere Begründung … ausgeführt, dass die Erwägungen des Berichterstatters hinsichtlich der Einschränkungen der Verteidigungsrechte der Person unbegründet seien“.

    ( 11 ) Die Auslegung des innerstaatlichen Rechts ist Aufgabe des nationalen Gerichts, aber das Gesundheitsgesetz scheint angesichts des streitigen Verfahrens und der abschließenden Entscheidung eines Justizorgans wie des vorlegenden Gerichts ausreichende Garantien zu bieten.

    ( 12 ) Nach den Angaben im Vorlagebeschluss regelt das NPK die Untersuchungshaft und die vergleichbare Maßnahme für schuldunfähige Personen (Art. 70), so dass hinter dem Rückgriff auf das Verfahren aus dem Gesundheitsgesetz eine Zuständigkeitsüberschreitung seitens des nicht strafrechtlichen Richters stecken könnte. Ich wiederhole jedoch, dass die Entscheidung über die mögliche Zuständigkeitsüberschreitung und den eventuellen Konflikt zwischen den Gerichtsbarkeiten auf der Grundlage der nationalen Rechtsordnung erfolgen muss.

    ( 13 ) Zu berücksichtigen ist, dass die Polizei für die Einleitung und Bearbeitung von Ordnungswidrigkeitsverfahren, die beispielsweise die Sicherheit oder die Ordnung an öffentlichen Orten betreffen, zuständig ist. Diese Verfahren sind nicht unbedingt strafrechtlicher Natur.

    ( 14 ) In den Erwägungsgründen 19 und 28 der Richtlinie 2012/13 heißt es, dass die Unterrichtung und Belehrung des Verdächtigen oder Beschuldigten „spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei“ erfolgt. Der 22. Erwägungsgrund bezieht sich ausdrücklich auf die Belehrung von Personen, denen „durch das Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden im Rahmen eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen wird“. Hervorhebungen nur hier.

    ( 15 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27).

    ( 16 ) Wie ich bereits erwähnt habe, lasse ich das im Gesundheitsgesetz geregelte Verfahren ohne strafrechtlichen Charakter unberücksichtigt.

    ( 17 ) Entschließung des Rates vom 30. November 2009 (ABl. 2009, C 295, S. 1).

    ( 18 ) Der EGMR hat in seinem Urteil vom 30. Januar 2001, Vaudelle gegen Frankreich (CE:ECHR:2001:0130JUD003568397, § 65), festgestellt, dass die Behörden, falls der Betroffene an psychischen Störungen leidet, zusätzliche Maßnahmen ergreifen müssen, um ihn eingehend über die Art und den Grund des gegen ihn erhobenen Tatvorwurfs zu informieren.

    ( 19 ) Vgl. Nrn. 9 und 10 der Empfehlung der Kommission vom 27. November 2013 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte schutzbedürftige Personen (ABl. 2013, C 378, S. 8), in denen der Begriff „geeigneter Erwachsener“ verwendet wird.

    ( 20 ) Das NPK entspricht dieser Logik: Wenn die Schwere der psychischen Störung jegliches Verständnis verhindert, ist umgehend ein Rechtsanwalt zu benennen, damit dieser während der Planung der Verteidigung sicherstellen kann, dass die übrigen Rechte ordnungsgemäß gewahrt werden. Art. 94 Abs. 1 2. Alternative schreibt die Teilnahme des Verteidigers am Strafverfahren vor, wenn der Beschuldigte an einer körperlichen oder geistigen Behinderung leidet, die es ihm unmöglich macht, sich zu verteidigen. In einem solchen Fall sieht Art. 94 Abs. 3 vor, dass die zuständige Behörde einen Rechtsanwalt zum Verteidiger bestellt.

    ( 21 ) Diese Auslegung wäre dem bulgarischen Recht nicht fremd: Tatsächlich sieht das Gesundheitsgesetz, das grundsätzlich weniger mit dem allgemeinen Verfahrensrecht gemeinsam hat als das besondere Unterbringungsverfahren selbst, in Art. 165 Abs. 1 die subsidiäre Anwendung des NPK vor.

    ( 22 ) Die bulgarische Regierung und die Staatsanwaltschaft haben sich nicht an diesem Vorabentscheidungsverfahren beteiligt, so dass sich die Darstellung des nationalen Rechts und seiner Auslegung auf die Ausführungen des vorlegenden Gerichts beschränkt.

    ( 23 ) Art. 430 Abs. 2 und 3. Die Person, deren Unterbringung beantragt wird, kann, sofern ihr Gesundheitszustand sie nicht daran hindert, ebenfalls an der Verhandlung teilnehmen.

    ( 24 ) Diese Überzeugung vertritt auch der EGMR in seinem Urteil vom 10. November 2016, Kuripka gegen Ukraine (CE:ECHR:2016:1110JUD000791807).

    ( 25 ) In Bezug auf geringfügige Zuwiderhandlungen sieht Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie 2013/48 bestimmte Beschränkungen vor, d. h., dass die Rechte nur im Verfahren vor einem in Strafsachen zuständigen Gericht gelten.

    ( 26 ) Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343.

    ( 27 ) Art. 7 Abs. 6 sieht einige Abweichungen für geringfügige Zuwiderhandlungen vor.

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