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Document 62017CJ0370

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 2. April 2020.
    Caisse de retraite du personnel navigant professionnel de l'aéronautique civile (CRPNPAC) gegen Vueling Airlines SA und Vueling Airlines SA gegen Jean-Luc Poignant.
    Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal de grande instance de Bobigny und der Cour de cassation (Frankreich).
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Wanderarbeitnehmer – Soziale Sicherheit – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Art. 14 Nr. 1 Buchst. a – Entsendung von Arbeitnehmern – Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i – Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist und von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die das Unternehmen außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats, in dem es seinen Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält – Verordnung (EWG) Nr. 574/72 – Art. 11 Abs. 1 Buchst. a – Art. 12a Abs. 1a – Bescheinigung E 101 – Bindungswirkung – Auf betrügerische Weise erlangte oder geltend gemachte Bescheinigung – Befugnis der Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats, den Betrug festzustellen und die Bescheinigung außer Acht zu lassen – Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 – Zusammenarbeit der zuständigen Träger – Bindung der Zivilgerichte an die Rechtskraft einer strafgerichtlichen Entscheidung – Vorrang des Unionsrechts.
    Verbundene Rechtssachen C-370/17 und C-37/18.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2020:260

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

    2. April 2020 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Wanderarbeitnehmer – Soziale Sicherheit – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Art. 14 Nr. 1 Buchst. a – Entsendung von Arbeitnehmern – Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i – Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist und von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die das Unternehmen außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats, in dem es seinen Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält – Verordnung (EWG) Nr. 574/72 – Art. 11 Abs. 1 Buchst. a – Art. 12a Abs. 1a – Bescheinigung E 101 – Bindungswirkung – Auf betrügerische Weise erlangte oder geltend gemachte Bescheinigung – Befugnis der Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats, den Betrug festzustellen und die Bescheinigung außer Acht zu lassen – Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 – Zusammenarbeit der zuständigen Träger – Bindung der Zivilgerichte an die Rechtskraft einer strafgerichtlichen Entscheidung – Vorrang des Unionsrechts“

    In den verbundenen Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18

    betreffend zwei Ersuchen um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de grande instance de Bobigny (Regionalgericht Bobigny, Frankreich) mit Entscheidung vom 30. März 2017 (C‑370/17) und von der Cour de cassation (Kassationshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 10. Januar 2018 (C‑37/18), beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juni 2017 und am 19. Januar 2018, in den Verfahren

    Caisse de retraite du personnel navigant professionnel de l’aéronautique civile (CRPNPAC)

    gegen

    Vueling Airlines SA (C‑370/17)

    und

    Vueling Airlines SA

    gegen

    Jean-Luc Poignant (C‑37/18)

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan (Berichterstatter), M. Safjan, S. Rodin und I. Jarukaitis, des Richters M. Ilešič, der Richterin C. Toader sowie der Richter D. Šváby und F. Biltgen,

    Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

    Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. Januar 2019,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der Caisse de retraite du personnel navigant professionnel de l’aéronautique civile (CRPNPAC), vertreten durch A. Lyon-Caen und S. Guedes, avocats,

    der Vueling Airlines SA, vertreten durch D. Calciu, B. Le Bret, F. de Rostolan und E. Logeais, avocats,

    von Herrn Poignant, vertreten durch A. Lyon-Caen und S. Guedes, avocats,

    der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, A. Alidière, A. Daly und A.‑L. Desjonquères als Bevollmächtigte,

    der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Pavliš als Bevollmächtigte,

    Irlands, vertreten durch M. Browne, G. Hodge, K. Skelly, N. Donnelly und A. Joyce als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Van Hoof und D. Martin als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juli 2019

    folgendes

    Urteil

    1

    Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a und Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. 2004, L 100, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) sowie von Art. 11 Abs. 1 und Art. 12a Abs. 1a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. 2005, L 117, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 574/72).

    2

    Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen der Caisse de retraite du personnel navigant professionnel de l’aéronautique civile (CRPNPAC) und der Vueling Airlines SA (im Folgenden: Vueling) sowie zwischen Vueling und Herrn Jean-Luc Poignant wegen Bescheinigungen E 101, die vom zuständigen spanischen Träger in Bezug auf das am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle (Frankreich) tätige fliegende Personal von Vueling ausgestellt wurden.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    Verordnung Nr. 1408/71

    3

    Titel II („Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“) der Verordnung Nr. 1408/71 enthielt ihre Art. 13 bis 17.

    4

    Art. 13 („Allgemeine Regelung“) der Verordnung Nr. 1408/71 sah vor:

    „(1)   Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

    (2)   Vorbehaltlich der Artikel 14 bis 17 gilt Folgendes:

    a)

    Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;

    …“

    5

    In Art. 14 („Sonderregelung für andere Personen als Seeleute, die eine abhängige Beschäftigung ausüben“) der Verordnung hieß es:

    „Vom Grundsatz des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe a) gelten folgende Ausnahmen und Besonderheiten:

    1.

    a)

    Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, abhängig beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist.

    2.

    Eine Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist, unterliegt den wie folgt bestimmten Rechtsvorschriften:

    a)

    Eine Person, die als Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals eines Unternehmens beschäftigt wird, das für Rechnung Dritter oder für eigene Rechnung im internationalen Verkehrswesen die Beförderung von Personen oder Gütern im Schienen‑, Straßen‑, Luft- oder Binnenschifffahrtsverkehr durchführt und seinen Sitz im Gebiet des Mitgliedstaats hat, unterliegt den Rechtsvorschriften des letzten Mitgliedstaats mit folgender Einschränkung:

    i)

    Eine Person, die von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die das Unternehmen außerhalb des Gebietes des Mitgliedstaats, in dem es seinen Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält, unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich die Zweigstelle oder die ständige Vertretung befindet;

    …“

    6

    Der zu Titel IV („Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer“) der Verordnung Nr. 1408/71 gehörende Art. 80 („Zusammensetzung und Arbeitsweise“) sah in Abs. 1 vor:

    „Der bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eingesetzten Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer – im Folgenden ‚Verwaltungskommission‘ genannt – gehört je ein Regierungsvertreter jedes Mitgliedstaats an, der gegebenenfalls von Fachberatern unterstützt wird. Ein Vertreter der Kommission der Europäischen Gemeinschaften nimmt mit beratender Stimme an den Sitzungen der Verwaltungskommission teil.“

    7

    Der zu Titel VI („Verschiedene Vorschriften“) der Verordnung gehörende Art. 84a („Beziehungen zwischen Trägern und Personen im Geltungsbereich dieser Verordnung“) bestimmte in Abs. 3:

    „Werden durch Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung dieser Verordnung die Rechte einer Person im Geltungsbereich dieser Verordnung in Frage gestellt, so setzt sich der Träger des zuständigen Staates bzw. des Wohnstaats der betreffenden Person mit dem Träger des anderen betroffenen Mitgliedstaats oder den Trägern der anderen betroffenen Mitgliedstaaten in Verbindung. Wird binnen einer angemessenen Frist keine Lösung gefunden, so können die betreffenden Behörden die Verwaltungskommission befassen.“

    Verordnung (EG) Nr. 883/2004

    8

    Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde zum 1. Mai 2010 durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt im ABl. 2004, L 200, S. 1), geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 465/2012 des Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4) (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004), aufgehoben und ersetzt. Titel II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung, der ihre Art. 11 bis 16 enthält, ersetzt die Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71, während Art. 71 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 im Wesentlichen Art. 80 und Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 entsprechen.

    Verordnung Nr. 574/72

    9

    Art. 11 („Formvorschriften bei Entsendung eines Arbeitnehmers gemäß Artikel 14 [Nr.] 1 und Artikel 14b [Nr.] 1 der Verordnung und bei Vereinbarungen gemäß Artikel 17 der Verordnung“) der Verordnung Nr. 574/72 bestimmte in Abs. 1:

    „Der Träger, den die zuständige Behörde desjenigen Mitgliedstaats bezeichnet, dessen Rechtsvorschriften weiterhin anzuwenden sind, stellt

    a)

    auf Antrag des Arbeitnehmers oder seines Arbeitgebers in den Fällen des Artikels 14 [Nr.] 1 und des Artikels 14b [Nr.] 1 der Verordnung,

    eine Bescheinigung darüber aus, dass und bis zu welchem Zeitpunkt diese Rechtsvorschriften weiterhin für den Arbeitnehmer gelten.“

    10

    Art. 12a („Vorschriften für die in Artikel 14 [Nrn.] 2 und 3, Artikel 14a [Nrn.] 2 bis 4 und Artikel 14c der Verordnung genannten Personen, die eine Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausüben“) der Verordnung Nr. 574/72 sah in Abs. 1a vor:

    „Gelten nach Artikel 14 [Nr.] 2 Buchstabe a der Verordnung für eine Person, die als Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals eines internationalen Transportunternehmens beschäftigt wird, die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich entweder der Sitz, die Zweigstelle oder die ständige Vertretung des Unternehmens, das sie beschäftigt, oder aber der Ort befindet, an dem sie wohnt und überwiegend beschäftigt ist, so stellt der von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats bezeichnete Träger der betroffenen Person eine Bescheinigung darüber aus, dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für sie gelten.“

    Verordnung (EG) Nr. 987/2009

    11

    Die Verordnung Nr. 574/72 wurde zum 1. Mai 2010 durch die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. 2009, L 284, S. 1) aufgehoben und ersetzt.

    12

    Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 lautet:

    „(1)   Vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, sind für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden.

    (2)   Bei Zweifeln an der Gültigkeit eines Dokuments oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den im Dokument enthaltenen Angaben zugrunde liegt, wendet sich der Träger des Mitgliedstaats, der das Dokument erhält, an den Träger, der das Dokument ausgestellt hat, und ersucht diesen um die notwendige Klarstellung oder gegebenenfalls um den Widerruf dieses Dokuments. Der Träger, der das Dokument ausgestellt hat, überprüft die Gründe für die Ausstellung und widerruft das Dokument gegebenenfalls.

    (3)   Bei Zweifeln an den Angaben der betreffenden Personen, der Gültigkeit eines Dokuments oder der Belege oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den darin enthaltenen Angaben zugrunde liegt, nimmt der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts, soweit dies möglich ist, nach Absatz 2 auf Verlangen des zuständigen Trägers die nötige Überprüfung dieser Angaben oder dieses Dokuments vor.

    (4)   Erzielen die betreffenden Träger keine Einigung, so können die zuständigen Behörden frühestens einen Monat nach dem Zeitpunkt, zu dem der Träger, der das Dokument erhalten hat, sein Ersuchen vorgebracht hat, die Verwaltungskommission anrufen. Die Verwaltungskommission bemüht sich nach ihrer Befassung binnen sechs Monaten um eine Annäherung der Standpunkte.“

    Französisches Recht

    Code du travail

    13

    Art. L. 1262-3 des Code du travail (Arbeitsgesetzbuch) bestimmte in seiner auf den Sachverhalt der Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung:

    „Ein Arbeitgeber kann sich nicht auf die für die Entsendung von Arbeitnehmern geltenden Bestimmungen berufen, wenn seine Tätigkeit vollständig auf das Inland ausgerichtet ist oder wenn sie in Geschäftsräumen oder mittels Einrichtungen im Inland stattfindet, von wo aus sie gewöhnlich, dauerhaft und fortgesetzt ausgeübt wird. Er kann sich insbesondere nicht auf diese Bestimmungen berufen, wenn seine Tätigkeit das Anwerben und die Akquisition von Kunden oder die Einstellung von Arbeitnehmern im Inland umfasst.

    In diesen Fällen unterliegt der Arbeitgeber den für Unternehmen mit Sitz im Inland geltenden Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuchs.“

    14

    Art. L. 8221-3 des Arbeitsgesetzbuchs sah vor:

    „Als Schwarzarbeit durch Verschleierung einer Tätigkeit gilt die gewinnorientierte Ausübung einer Produktions‑, Verarbeitungs‑, Reparatur- oder Dienstleistungstätigkeit oder die Durchführung von Handelsgeschäften durch eine natürliche oder juristische Person, die, indem sie sich vorsätzlich ihren Pflichten entzieht,

    2.

    … es unterlassen hat, die bei den Sozialversicherungsträgern oder der Abgabenverwaltung gemäß den geltenden Rechtsvorschriften abzugebenden Anmeldungen einzureichen.“

    Code de l’aviation civile

    15

    Art. R. 330-2-1 des Code de l’aviation civile (Gesetzbuch über die Zivilluftfahrt) lautet:

    „Artikel [L. 1262-3] des Arbeitsgesetzbuchs ist auf Luftverkehrsunternehmen in Bezug auf ihre Betriebsstützpunkte im französischen Hoheitsgebiet anwendbar.

    Ein Betriebsstützpunkt ist eine Gesamtheit von Geschäftsräumen oder Einrichtungen, von denen aus ein Unternehmen dauerhaft, gewöhnlich und fortgesetzt eine Beförderungstätigkeit im Luftverkehr mit Arbeitnehmern ausübt, die dort den tatsächlichen Mittelpunkt ihrer beruflichen Tätigkeit haben. Im Sinne der vorstehenden Bestimmungen ist als Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit eines Arbeitnehmers der Ort anzusehen, an dem er gewöhnlich arbeitet, oder der Ort, an dem er seinen Dienst antritt und an den er nach Erfüllung seiner Aufgaben zurückkehrt.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    Rechtssache C‑370/17

    16

    Vueling ist eine Fluggesellschaft mit Sitz in Barcelona (Spanien), die wegen der Errichtung eines Geschäftsbetriebs für den Luftverkehr und die Selbstabfertigung der Bodendienste am Terminal I des Flughafens Roissy – Charles de Gaulle in das Handels- und Gesellschaftsregister von Bobigny (Frankreich) eingetragen wurde. Am 21. Mai 2007 nahm sie den Flugbetrieb zwischen mehreren spanischen Städten und diesem Flughafen auf.

    17

    Am 28. Mai 2008 erstellte die Gewerbeaufsicht Roissy III Flughafen (Frankreich) (im Folgenden: Gewerbeaufsicht) im Anschluss an Kontrollen, die ab Januar 2008 stattgefunden hatten, ein Protokoll wegen Schwarzarbeit gegenüber Vueling.

    18

    In diesem Protokoll stellte sie fest, dass Vueling am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle Geschäftsräume für die Betriebsführung und die Geschäftsleitung, Räume für die Erholung und die Flugvorbereitung des fliegenden Personals sowie ein Überwachungsbüro für den Ticket- und Eincheck-Schalter der Fluggäste unterhalte. Sie beschäftige dort 50 Personen als Kabinenpersonal und 25 Personen als technisches Flugpersonal, deren Arbeitsverträge spanischem Recht unterlägen, sowie Bodenpersonal, darunter einen kaufmännischen Direktor, deren Arbeitsverträge französischem Recht unterlägen.

    19

    Die Gewerbeaufsicht führte aus, nur das Bodenpersonal sei bei den französischen Sozialversicherungsträgern angemeldet worden; das fliegende Personal habe von der Tesorería general de la seguridad social de Cornellà de Llobregat (Allgemeine Sozialversicherungsanstalt von Cornellà de Llobregat, Spanien) (im Folgenden: ausstellender spanischer Träger) ausgestellte Bescheinigungen E 101 vorgewiesen, die bestätigt hätten, dass sie gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 vorübergehend nach Frankreich entsandt worden seien. Sie stellte fest, dass 48 Beschäftigte weniger als 30 Tage vor ihrer tatsächlichen Entsendung nach Frankreich eingestellt worden seien, einige von ihnen am selben Tag oder am Vortag, und schloss daraus, dass sie im Hinblick auf ihre Entsendung eingestellt worden seien. Bei 21 dieser Beschäftigten sei auf dem Gehaltszettel eine Adresse in Frankreich angegeben worden, und eine beträchtliche Zahl von Entsendemeldungen habe unrichtige Wohnsitzangaben enthalten, die verschleiert hätten, dass die meisten entsandten Arbeitnehmer ihren Wohnsitz nicht in Spanien gehabt hätten; einige hätten nie in Spanien gelebt.

    20

    Die Gewerbeaufsicht fügte hinzu, Vueling habe am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle über einen Betriebsstützpunkt im Sinne von Art. R. 330‑2‑1 des Gesetzbuchs über die Zivilluftfahrt verfügt, da das fliegende Personal dieser Gesellschaft seinen Dienst dort angetreten und beendet habe. Sie schloss daraus, dass sich Vueling gemäß Art. L. 1262‑3 des Arbeitsgesetzbuchs nicht auf die Rechtsvorschriften über die Entsendung von Arbeitnehmern berufen könne.

    21

    Die Gewerbeaufsicht schloss daraus ferner, dass die betreffenden Arbeitnehmer dem französischen Arbeitsgesetzbuch unterlägen und nicht als entsandte Arbeitnehmer eingestuft werden könnten. Es liege ein Missbrauch der Entsendung sowie ein Schaden für die entsandten Arbeitnehmer vor, die insbesondere vom Zugang zu den Ansprüchen des französischen Sozialversicherungssystems ausgeschlossen würden; es bestehe aber auch ein Schaden für die Allgemeinheit, da der Arbeitgeber die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge nicht entrichtet habe. Die Bescheinigung E 101 begründe zwar die Vermutung einer sozialversicherungsrechtlichen Eingliederung, sei aber kein Beleg für die Rechtmäßigkeit der Entsendung.

    22

    Auf der Basis dieses Protokolls erhob die CRPNPAC am 11. August 2008 beim Tribunal de grande instance de Bobigny (Regionalgericht Bobigny, Frankreich) Klage auf Ersatz des Schadens, der ihr dadurch entstanden sein soll, dass das von Vueling am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle beschäftigte fliegende Personal nicht an das von ihr betriebene Zusatzrentensystem angeschlossen worden sei.

    23

    Überdies wurde Vueling beim Tribunal correctionnel de Bobigny (Strafgericht Bobigny, Frankreich) wegen des Delikts der Schwarzarbeit durch Verschleierung einer Tätigkeit im Sinne von Art. L. 8221‑3 des Arbeitsgesetzbuchs angeklagt, weil sie am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle in der Zeit vom 21. Mai 2007 bis zum 16. Mai 2008 vorsätzlich die Tätigkeit der Beförderung von Fluggästen im Luftverkehr ausgeübt habe, ohne die erforderlichen Anmeldungen bei den Sozialversicherungsträgern oder der Steuerverwaltung vorzunehmen, wobei sie insbesondere die in Frankreich ausgeübte Tätigkeit verschleiert und widerrechtlich als Arbeitnehmerentsendung getarnt habe, obwohl die Arbeitnehmer allein zu dem Zweck eingestellt worden seien, von Betriebsstützpunkten, die sich in Frankreich befänden, aus im französischen Hoheitsgebiet tätig zu werden.

    24

    Das Tribunal de grande instance de Bobigny (Regionalgericht Bobigny) beschloss, das Verfahren wegen der von der CRPNPAC gegen Vueling erhobenen Zivilklage bis zum Erlass einer rechtskräftigen Entscheidung in dem genannten Strafverfahren auszusetzen.

    25

    Mit Urteil vom 1. Juli 2010 sprach das Tribunal correctionnel de Bobigny (Strafgericht Bobigny) Vueling frei.

    26

    Mit Urteil vom 31. Januar 2012 hob die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) dieses Urteil auf und verurteilte Vueling wegen Schwarzarbeit zu einer Geldstrafe in Höhe von 100000 Euro.

    27

    Das Berufungsgericht führte zur Begründung seines Urteils aus, nachdem Vueling in Spanien technisches Flugpersonal und Kabinenpersonal eingestellt habe und diesen Arbeitnehmern vom ausstellenden spanischen Träger auf der Grundlage von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 Bescheinigungen E 101 ausgestellt worden seien, habe die Gesellschaft ihre Tätigkeit gleichwohl am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle im Rahmen einer Zweigstelle oder zumindest eines Betriebsstützpunkts im Sinne von Art. R. 330‑2‑1 des Gesetzbuchs über die Zivilluftfahrt ausgeübt. Dieser Betrieb verfüge über funktionelle Autonomie, und deshalb könne Vueling nicht geltend machen, dass eine organische Verbindung zwischen ihr und dem betreffenden Personal fortbestanden habe.

    28

    Die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) führte weiter aus, Vueling habe vorsätzlich gegen die geltenden Bestimmungen verstoßen, insbesondere indem sie bei 41 der betreffenden Arbeitnehmer die Adresse ihres eigenen Sitzes als Wohnsitz angegeben habe, ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, dafür eine nachvollziehbare, den Betrugsverdacht entkräftende Erklärung zu liefern, so dass die Gesellschaft nicht geltend machen könne, einen unvermeidlichen Rechtsirrtum begangen zu haben, weil sie an die Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens geglaubt habe. Die Bescheinigungen E 101 begründeten zwar eine die zuständigen französischen Sozialversicherungsträger bindende Vermutung der Eingliederung der Arbeitnehmer in das spanische Sozialversicherungssystem; sie könnten es den französischen Strafgerichten aber nicht verwehren, einen vorsätzlichen Verstoß gegen die in Frankreich für die Gültigkeit der Arbeitnehmerentsendung maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen festzustellen.

    29

    Am 4. April 2012 unterrichtete die Union de recouvrement des cotisations de sécurité sociale et d’allocations familiales de Seine-et-Marne (Verband für die Erhebung der Beiträge der sozialen Sicherheit und der Familienbeihilfen des Departements Seine-et-Marne, Frankreich) (im Folgenden: Urssaf) den spanischen Träger, der die fraglichen Bescheinigungen E 101 ausgestellt hatte, über die Vorgänge und ersuchte ihn, die Bescheinigungen für ungültig zu erklären.

    30

    Mit Urteil vom 11. März 2014 wies die Kammer für Strafsachen der Cour de cassation (Kassationshof, Frankreich) die von Vueling gegen das Urteil der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) vom 31. Januar 2012 eingelegte Kassationsbeschwerde zurück. Sie führte aus, die Tätigkeit von Vueling am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle sei gewöhnlich, dauerhaft und fortgesetzt in Geschäftsräumen oder mittels Einrichtungen im Inland ausgeübt worden, so dass Vueling im Inland über eine Zweigstelle oder zumindest einen Betriebsstützpunkt verfügt habe. Vueling könne sich daher nicht auf die Bescheinigungen E 101 berufen, um die Rechtmäßigkeit der fraglichen Entsendungen nachzuweisen und es den nationalen Gerichten zu verwehren, einen vorsätzlichen Verstoß gegen französische Rechtsvorschriften festzustellen.

    31

    Mit Bescheid vom 17. April 2014 erklärte der ausstellende spanische Träger im Anschluss an das Ersuchen der Urssaf vom 4. April 2012 die Bescheinigungen E 101 für ungültig.

    32

    Am 29. Mai 2014 legte Vueling gegen diesen Bescheid Beschwerde ein.

    33

    Die zuständige Beschwerdeinstanz wies diese Beschwerde mit Entscheidung vom 1. August 2014 zurück. Mit Änderungsentscheidung vom 5. Dezember 2014 setzte sie jedoch die Ungültigerklärung der Bescheinigungen E 101 außer Kraft. Dabei stützte sie sich darauf, dass es wegen der mittlerweile verstrichenen Zeit und aufgrund der Tatsache, dass die zuvor entrichteten Beiträge wegen Verjährung nicht erstattet werden könnten, nicht zweckmäßig sei, die Zugehörigkeit der betreffenden Arbeitnehmer zur spanischen Sozialversicherung für rechtsgrundlos zu erklären. Die betreffenden Arbeitnehmer hätten zudem aufgrund dieser Beiträge möglicherweise Leistungen der sozialen Sicherheit in Anspruch genommen, so dass sie, wenn ihre Versicherungszugehörigkeit für ungültig erklärt würde, ihren sozialen Schutz verlieren könnten. Schließlich sei es nicht gerechtfertigt, die fraglichen Bescheinigungen E 101 für ungültig zu erklären, da ihre Ausstellung die bloße Folge der Zugehörigkeit der betreffenden Arbeitnehmer zum System der spanischen Sozialversicherung gewesen sei.

    34

    Im Anschluss an das Urteil der Cour de cassation (Kassationshof) vom 11. März 2014 wurde das von der CRPNPAC vor dem Tribunal de grande instance de Bobigny (Regionalgericht Bobigny) eingeleitete Zivilverfahren fortgesetzt.

    35

    In diesem Kontext wirft das genannte Gericht die Frage auf, ob den Bescheinigungen E 101 auch dann Bindungswirkung beizumessen sei, wenn die Strafgerichte des Mitgliedstaats, der die betreffenden Arbeitnehmer aufgenommen habe, den Arbeitgeber wegen Schwarzarbeit verurteilt hätten. Zweifel bestünden insbesondere hinsichtlich der Tragweite von Art. 11 Abs. 1 Buchst. a und Art. 12a Abs. 1a der Verordnung Nr. 574/72 und hinsichtlich der Implikationen einer missbräuchlichen oder betrügerischen Berufung auf solche Bescheinigungen.

    36

    Unter diesen Umständen hat das Tribunal de grande instance de Bobigny (Regionalgericht Bobigny) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist die Wirkung einer Bescheinigung E 101, die gemäß Art. 11 Abs. 1 und Art. 12a Abs. 1a der Verordnung Nr. 574/72 von dem Träger ausgestellt wurde, den die Behörde des Mitgliedstaats bezeichnet hat, dessen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit weiterhin auf die Situation des Arbeitnehmers anzuwenden sind, auch dann aufrechtzuerhalten, wenn die Bescheinigung E 101 nach den rechtskräftigen Feststellungen eines Gerichts des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer seine Tätigkeit ausübt oder ausüben soll, infolge einer betrügerischen Handlung oder eines Rechtsmissbrauchs erlangt wurde?

    2.

    Für den Fall der Bejahung dieser Frage: Steht die Ausstellung von Bescheinigungen E 101 dem entgegen, dass Personen, die durch das betrügerische Verhalten des Arbeitgebers geschädigt wurden, dieser Schaden ersetzt wird, ohne dass die Eingliederung der Arbeitnehmer in das von der Bescheinigung E 101 bezeichnete System durch die Schadensersatzklage gegen den Arbeitgeber in Frage gestellt wird?

    Rechtssache C‑37/18

    37

    Am 21. April 2007 wurde Herr Poignant von Vueling mit einem Vertrag, der in englischer Sprache abgefasst war und spanischem Recht unterlag, als Co-Pilot eingestellt. Aufgrund eines Nachtrags vom 14. Juni 2007 wurde er an den Flughafen Roissy – Charles de Gaulle entsandt. Diese ursprünglich für sechs Monate vorgesehene Entsendung wurde einmal für die gleiche Dauer bis zum 16. Juni 2008 verlängert.

    38

    Mit Schreiben vom 30. Mai 2008 kündigte Herr Poignant, wobei er u. a. geltend machte, seine vertragliche Situation sei nach französischem Recht rechtswidrig. Mit E‑Mail vom 2. Juni 2008 nahm er die Kündigung wieder zurück. Mit Schreiben vom 9. Juni 2008 nahm er unter erneuter Berufung auf diese Rechtswidrigkeit die Beendigung seines Arbeitsvertrags zur Kenntnis.

    39

    Am 11. Juni 2008 beantragte Herr Poignant beim Conseil des prud’hommes de Bobigny (Arbeitsgericht Bobigny, Frankreich) die Umqualifizierung seiner Kündigung in die Kenntnisnahme der Vertragsbeendigung mit den Wirkungen einer Entlassung ohne wahren und triftigen Grund, die Zahlung u. a. einer pauschalen Entschädigung wegen Schwarzarbeit sowie den Ersatz des Schadens, der ihm dadurch entstanden sei, dass vom 1. Juli 2007 bis zum 31. Juli 2008 keine Beiträge an die französische Sozialversicherung abgeführt worden seien.

    40

    Mit Urteil vom 14. April 2011 wies dieses Gericht alle gestellten Anträge zurück. Es kam zu dem Ergebnis, Vueling sei den geltenden Verwaltungsformalitäten ordnungsgemäß nachgekommen, indem sie insbesondere bei den spanischen Sozialversicherungsträgern die Ausstellung von Bescheinigungen E 101 für ihre Arbeitnehmer beantragt habe. Herr Poignant sei auch nicht länger als ein Jahr entsandt worden und habe keine andere nach Frankreich entsandte Person abgelöst.

    41

    Mit Urteil vom 4. März 2016 hob die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris), gestützt auf das in Rn. 30 des vorliegenden Urteils erwähnte Urteil der Cour de cassation (Kassationshof) vom 11. März 2014, das Urteil des Conseil des prud’hommes de Bobigny (Arbeitsgericht Bobigny) auf und verurteilte Vueling, Herrn Poignant u. a. eine pauschale Entschädigung wegen Schwarzarbeit zu zahlen und ihm den durch die unterbliebene Abführung von Beiträgen an die französische Sozialversicherung entstandenen Schaden zu ersetzen.

    42

    Dieses Gericht führte aus, Herr Poignant habe hinreichende Nachweise dafür erbracht, dass sein Vertragsverhältnis gegen französisches Recht verstoßen habe. Insbesondere habe sich seine persönliche Anschrift stets in Frankreich befunden, während in seinem Arbeitsvertrag und in dem seine Entsendung betreffenden Nachtrag ein fiktiver Wohnsitz in Barcelona angegeben worden sei. Desgleichen seien seine Gehaltsabrechnungen an eine fiktive Adresse in Barcelona gerichtet worden.

    43

    Vueling hat gegen das Urteil der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) vom 4. März 2016 eine Kassationsbeschwerde bei der Cour de cassation (Kassationshof) eingelegt.

    44

    Im Rahmen der Prüfung dieses Rechtsmittels möchte die Cour de cassation (Kassationshof) insbesondere wissen, ob die vom Gerichtshof im Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff (C‑620/15, EU:C:2017:309), das einen Rechtsstreit betraf, in dem Bescheinigungen E 101 gemäß Art. 14 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestellt worden waren, vorgenommene Auslegung auch für einen Rechtsstreit gilt, in dem es um das Delikt der Schwarzarbeit geht und der Bescheinigungen betrifft, die Arbeitnehmern, die ihre Tätigkeit im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ausüben, dessen Staatangehörige sie sind und in dem das Luftverkehrsunternehmen, für das sie tätig sind, über eine Zweigstelle verfügt, gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung ausgestellt wurden, wenn schon der Inhalt der Bescheinigungen den Schluss zuließ, dass sie auf betrügerische Weise erlangt oder benutzt wurden.

    45

    Überdies hat das Gericht Zweifel daran, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass es einem nationalen, als Zivilgericht nach innerstaatlichem Recht an die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen gebundenen Gericht verwehrt ist, die Konsequenzen aus einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Entscheidung eines Strafgerichts zu ziehen, indem es einen Arbeitgeber allein aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung wegen Schwarzarbeit zivilrechtlich zur Zahlung von Schadensersatz an einen Arbeitnehmer verurteilt.

    46

    Unter diesen Umständen hat die Chambre sociale (Kammer für Sozialsachen) der Cour de cassation (Kassationshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist die Auslegung von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 durch den Gerichtshof in seinem Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff (C‑620/15, EU:C:2017:309), auf einen Rechtsstreit über das Delikt der Schwarzarbeit – in dem die Bescheinigungen E 101 in Anwendung von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestellt wurden, obwohl die Situation unter Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 fiel – auf Arbeitnehmer anwendbar, die ihre Tätigkeit im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ausüben, dessen Staatangehörige sie sind und in dem das in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Luftverkehrsunternehmen über eine Zweigstelle verfügt, wenn schon der Inhalt der Bescheinigung E 101 selbst, in der ein Flughafen als Tätigkeitsort des Arbeitnehmers und ein Luftfahrtunternehmen als Arbeitgeber angegeben werden, den Schluss zuließ, dass sie auf betrügerische Weise erlangt worden war?

    2.

    Wenn ja, ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass es einem nationalen, als Zivilgericht nach innerstaatlichem Recht an die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen gebundenen Gericht verwehrt ist, die Konsequenzen aus einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Entscheidung eines Strafgerichts zu ziehen, indem es einen Arbeitgeber allein aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung wegen Schwarzarbeit zivilrechtlich zur Zahlung von Schadensersatz an einen Arbeitnehmer verurteilt?

    47

    Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22. Februar 2018 sind die Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamem Endurteil verbunden worden.

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten Frage in den Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18

    48

    Mit ihrer ersten Frage möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 dahin auszulegen ist, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats, die mit einem gerichtlichen Verfahren gegen einen Arbeitgeber befasst sind, dem zur Last gelegt wird, Bescheinigungen E 101, die gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 für Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeiten in diesem Mitgliedstaat ausüben, ausgestellt wurden, auf betrügerische Weise erlangt oder benutzt zu haben, diese Bescheinigungen außer Acht lassen dürfen.

    49

    Aus den Angaben, die dem Gerichtshof vorliegen, geht hervor, dass diese Frage im Kontext von Rechtsstreitigkeiten gestellt wird, in denen französische Strafgerichte zu dem Ergebnis kamen, dass Bescheinigungen E 101 für das fliegende Personal einer Fluggesellschaft (Vueling) mit Sitz in Spanien, die vom ausstellenden spanischen Träger auf der Grundlage des die Entsendung von Arbeitnehmern betreffenden Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestellt worden waren, gemäß Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung hätten ausgestellt werden müssen, der u. a. Arbeitnehmer betrifft, die als Angehörige des fliegenden Personals eines Unternehmens, das im internationalen Verkehrswesen die Beförderung von Personen im Luftverkehr durchführt, im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten tätig sind und von einer Zweigstelle beschäftigt werden, die das Unternehmen außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats, in dem es seinen Hauptsitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält. Die nationalen Gerichte stellten fest, dass die betreffenden Arbeitnehmer nach der letztgenannten Bestimmung der französischen und nicht der spanischen Sozialversicherung hätten angeschlossen werden müssen. Außerdem habe die Fluggesellschaft betrügerisch gehandelt, um die rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Bescheinigungen zu umgehen.

    50

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Rechtsunterworfenen nach einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts nicht in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf Rechtsvorschriften der Union berufen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 48 und 49 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    51

    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Verordnung Nr. 1408/71 beruht die Feststellung, dass im Zusammenhang mit der Ausstellung einer Bescheinigung E 101 ein Betrug vorliegt, auf einem Bündel übereinstimmender Indizien, aus denen sich das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements ergibt, wobei das objektive Element darin besteht, dass die in Titel II der Verordnung vorgesehenen Voraussetzungen für den Erhalt und die Geltendmachung einer Bescheinigung E 101 nicht erfüllt sind, und das subjektive Element in der Absicht der Beteiligten, die Voraussetzungen für die Ausstellung dieser Bescheinigung zu umgehen, um den damit verbundenen Vorteil zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 50 bis 52).

    52

    Die betrügerische Erlangung einer Bescheinigung E 101 kann sich somit aus einer willentlichen Handlung – wie der unzutreffenden Darstellung der tatsächlichen Situation des entsandten Arbeitnehmers oder des ihn entsendenden Unternehmens – oder einer willentlichen Unterlassung – wie dem Verschweigen einer relevanten Information in der Absicht, die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 zu umgehen – ergeben (Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 53).

    53

    Im vorliegenden Fall ist zum einen in Bezug auf das objektive Element, das vorliegen muss, um einen Betrug feststellen zu können, darauf hinzuweisen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheinigungen E 101 vom ausstellenden spanischen Träger gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestellt wurden, der vorsieht, dass entsandte Arbeitnehmer weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegen, in dem der Arbeitgeber ansässig ist.

    54

    Nach Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71, den die vorlegenden Gerichte angesprochen haben, unterliegt eine Person, die zum fliegenden Personal einer Fluggesellschaft, die internationale Flüge durchführt, gehört und von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die diese Gesellschaft außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich die Zweigstelle oder die ständige Vertretung befindet.

    55

    Die Anwendung dieser Bestimmung hängt somit davon ab, dass zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind: Die betreffende Fluggesellschaft muss in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihren Sitz hat, eine Zweigstelle oder eine ständige Vertretung haben, und die betreffende Person muss von dieser Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt werden.

    56

    Zur ersten Voraussetzung hat der Generalanwalt in den Nrn. 139 bis 142 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt, dass die Verordnung Nr. 1408/71 weder eine Definition der Begriffe „Zweigstelle“ und „ständige Vertretung“ enthält noch insoweit auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, so dass sie autonom auszulegen sind. Wie identische oder ähnliche Begriffe in anderen Bestimmungen des Unionsrechts sind sie so zu verstehen, dass mit ihnen eine Form der dauerhaft und fortgesetzt betriebenen Zweitniederlassung gemeint ist, mit der eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt werden soll und die zu diesem Zweck über organisierte materielle und personelle Mittel verfügt sowie über eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Hauptniederlassung (vgl. entsprechend Urteile vom 30. November 1995, Gebhard, C‑55/94, EU:C:1995:411, Rn. 28, und vom 11. April 2019, Ryanair, C‑464/18, EU:C:2019:311, Rn. 33).

    57

    In Bezug auf die zweite Voraussetzung ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Bestimmung des für Individualarbeitsverträge geltenden Rechts im Sinne von Art. 19 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1), dass das Arbeitsverhältnis des fliegenden Personals einer Fluggesellschaft eine enge Verknüpfung mit dem Ort aufweist, von dem aus dieses Personal den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber erfüllt. Dabei handelt es sich um den Ort, von dem aus das Personal seine Verkehrsdienste erbringt, an den es danach zurückkehrt, an dem es Anweisungen dazu erhält und seine Arbeit organisiert und an dem sich die Arbeitsmittel befinden; er kann seiner Heimatbasis entsprechen (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a., C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 60, 63, 69, 73 und 77).

    58

    Hier deuten die dem Gerichtshof vorliegenden Angaben darauf hin, dass Vueling während des in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraums am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle über einen Betriebsstützpunkt im Sinne des nationalen Rechts verfügte, der eine Zweigstelle oder eine ständige Vertretung im Sinne von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 darstellen kann, da diese Gesellschaft ihre Beförderungstätigkeit im Luftverkehr dauerhaft und fortgesetzt von Geschäftsräumen und Einrichtungen aus ausübte, die einen solchen Betriebsstützpunkt darstellen. Da der Betriebsstützpunkt einen kaufmännischen Direktor hatte, verfügte er offenbar über einen gewissen Grad an Eigenständigkeit. Ferner deuten diese Angaben darauf hin, dass das betreffende fliegende Personal von der Einrichtung im Sinne der genannten Vorschrift beschäftigt wurde, da sie sich an dem Ort befand, von dem aus dieses Personal den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber im Sinne der vorstehenden Randnummer erfüllte.

    59

    Zum anderen ergibt sich in Bezug auf das subjektive Element des Betrugs aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass Vueling selbst bei der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) ein Informationsdokument eingereicht hat, aus dem klar hervorgeht, dass Arbeitnehmer, die einer von ihrem Arbeitgeber in Frankreich gehaltenen Einrichtung zugeteilt werden, dem französischen System der sozialen Sicherheit angeschlossen werden müssen. Überdies deuten diese Akten darauf hin, dass Vueling bei einem erheblichen Teil der betreffenden Arbeitnehmer die Adresse ihres eigenen Sitzes in Spanien angab, obwohl die meisten von ihnen nie in diesem Mitgliedstaat gelebt hatten und in Frankreich wohnten.

    60

    In Anbetracht dessen hatten die zuständigen französischen Träger und Gerichte bei vernünftiger Betrachtung Anlass zu der Annahme, dass sie über konkrete Anhaltspunkte dafür verfügten, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, vom ausstellenden spanischen Träger auf der Grundlage von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestellten Bescheinigungen E 101 von Vueling auf betrügerische Weise erlangt oder benutzt worden waren, da ihr betroffenes fliegendes Personal in Wirklichkeit unter die Sonderregel in Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 fiel und infolgedessen dem französischen System der sozialen Sicherheit hätte unterworfen werden müssen.

    61

    Das Vorliegen von Indizien, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede stehen, kann allerdings nicht als Rechtfertigung dafür ausreichen, dass der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats oder die nationalen Gerichte dieses Mitgliedstaats bestands- oder rechtskräftig das Vorliegen eines Betrugs feststellen und die betreffenden Bescheinigungen E 101 außer Acht lassen.

    62

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der auch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens impliziert, die Bescheinigung E 101, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und den freien Dienstleistungsverkehr fördern soll, nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich den zuständigen Träger und die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats bindet, indem sie eine Vermutung dafür begründet, dass der Anschluss des betreffenden Arbeitnehmers an das System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, dessen zuständiger Träger diese Bescheinigung ausgestellt hat, ordnungsgemäß ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 35 bis 40, sowie entsprechend Urteil vom 6. September 2018, Alpenrind u. a., C‑527/16, EU:C:2018:669, Rn. 47).

    63

    Solange die Bescheinigung E 101 nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, müssen deshalb der zuständige Träger und die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats dem Umstand Rechnung tragen, dass der betreffende Arbeitnehmer bereits dem Recht der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats unterliegt, dessen zuständiger Träger diese Bescheinigung ausgestellt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 41).

    64

    Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit muss der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der die Bescheinigung E 101 ausgestellt hat, jedoch überprüfen, ob ihre Ausstellung zu Recht erfolgt ist, und die Bescheinigung gegebenenfalls zurückziehen, wenn der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats im Rahmen des in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Verfahrens Zweifel an der Richtigkeit des der Bescheinigung zugrunde liegenden Sachverhalts und somit der darin gemachten Angaben äußert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 42 und 43).

    65

    Nach der letztgenannten Bestimmung können sich die betreffenden Träger, wenn sie im Einzelfall namentlich bei der Beurteilung des Sachverhalts und damit der Frage, nach welcher Bestimmung der Verordnung Nr. 1408/71 sich richtet, welches Recht der sozialen Sicherheit anwendbar ist, zu keiner Übereinstimmung gelangen, an die aufgrund von Art. 80 der Verordnung eingerichtete Verwaltungskommission wenden, damit sie zwischen ihren Standpunkten vermittelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 44).

    66

    Gerade im Kontext eines Betrugsverdachts kommt der Durchführung des in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Verfahrens vor einer etwaigen bestandskräftigen Feststellung eines Betrugs durch die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats besondere Bedeutung zu, da dies geeignet ist, den zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Aufnahmemitgliedstaats die Aufnahme eines Dialogs und eine enge Zusammenarbeit zu ermöglichen, damit sie unter Rückgriff auf die ihnen nach ihrem nationalen Recht jeweils zustehenden Befugnisse alle relevanten tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte sammeln und prüfen können, die die Zweifel des zuständigen Trägers des Aufnahmemitgliedstaats in Bezug auf die Umstände der Erteilung der betreffenden Bescheinigungen E 101 zerstreuen oder im Gegenteil erhärten können.

    67

    Desgleichen eröffnet ein solches Verfahren, indem es in einem frühen Stadium die Einbeziehung des zuständigen Trägers des Ausstellungsmitgliedstaats gestattet, diesem die Möglichkeit, in kontradiktorischer Weise seinen Standpunkt zu etwaigen vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats angeführten konkreten Indizien für das Vorliegen eines Betrugs vorzubringen, und kann ihn gegebenenfalls dazu veranlassen, die betreffenden Bescheinigungen E 101 für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen, sofern er zu dem Ergebnis kommt, dass diese Indizien belegen, dass die Bescheinigungen tatsächlich auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden.

    68

    Insoweit ist insbesondere hervorzuheben, dass die Gefahr zunehmen würde, dass – entgegen dem in den Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 verankerten Grundsatz, dass nur eine nationale Rechtsordnung anwendbar sein sollte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 29) – Beiträge zum System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats geschuldet würden, obwohl für dieselben Arbeitnehmer bereits Beiträge an das System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats entrichtet wurden, dessen Bescheinigungen bestätigen, dass seine nationalen Rechtsvorschriften anwendbar sind, wenn der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats allein aufgrund des Vorliegens konkreter Indizien für einen Betrug die vom zuständigen Träger eines anderen Mitgliedstaats ausgestellten Bescheinigungen E 101 einseitig außer Acht lassen könnte, obwohl in diesem Stadium nicht definitiv festgestellt werden konnte, ob tatsächlich ein Betrug begangen wurde, weil der ausstellende Träger nicht einbezogen wurde und weil es an einer eingehenden Prüfung der relevanten Umstände ihrer Ausstellung fehlt.

    69

    Überdies besteht, falls sich später herausstellen sollte, dass zu Unrecht Beiträge an das System der sozialen Sicherheit des Ausstellungsmitgliedstaats entrichtet wurden, die Gefahr, dass diese Beiträge – z. B., wie hier, wegen der in diesem Mitgliedstaat bestehenden Verjährungsvorschriften – nicht erstattet werden können, obwohl letztlich kein Betrug feststellbar war.

    70

    Desgleichen würde sich, wenn das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren nicht durchgeführt würde, die Gefahr erhöhen, dass die betreffenden Arbeitnehmer den Systemen der sozialen Sicherheit mehrerer Mitgliedstaaten unterworfen würden, mit allen Komplikationen, die mit einer solchen Kumulierung verbunden sein könnten. Dies würde den Grundsatz des Anschlusses der Arbeitnehmer an ein einziges nationales System der sozialen Sicherheit sowie die Vorhersehbarkeit des anwendbaren Systems und damit die Rechtssicherheit beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere, C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 25).

    71

    Dieses Verfahren stellt somit eine obligatorische Vorbedingung für die Klärung der Frage dar, ob die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Betrugs erfüllt sind, und damit für jede sachgerechte Konsequenz in Bezug auf die Gültigkeit der fraglichen Bescheinigungen E 101 und die für die betreffenden Arbeitnehmer geltenden Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit.

    72

    Daraus folgt, dass das Vorliegen konkreter Indizien dafür, dass Bescheinigungen E 101 auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden, den zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats nicht dazu veranlassen sollte, einseitig das Vorliegen eines Betrugs festzustellen und die Bescheinigungen außer Acht zu lassen, sondern dazu, unverzüglich das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren einzuleiten, damit der vom Träger des Aufnahmemitgliedstaats befasste Träger, der die Bescheinigungen ausgestellt hat, innerhalb einer angemessenen Frist im Einklang mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Licht dieser Indizien erneut prüft, ob die Bescheinigungen zu Recht ausgestellt wurden, und sie gegebenenfalls für ungültig erklärt oder zurückzieht, wie aus der in Rn. 64 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervorgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 54).

    73

    In diesem Kontext darf auch ein Gericht des Aufnahmemitgliedstaats, wenn es mit einem Verfahren gegen einen Arbeitgeber, der im Verdacht steht, Bescheinigungen E 101 auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht zu haben, befasst ist, das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren und dessen Ergebnis nicht außer Acht lassen (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Juli 2018, Kommission/Belgien, C‑356/15, EU:C:2018:555, Rn. 96 bis 105).

    74

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Verordnung wie die Verordnung Nr. 1408/71 gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung hat, in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt. Überdies verpflichtet der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der besagt, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht, alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung nicht beeinträchtigen darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 53 und 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    75

    Könnte ein Gericht des Aufnahmemitgliedstaats, das im Rahmen eines von einer Strafverfolgungsbehörde, vom zuständigen Träger dieses Mitgliedstaats oder von einer anderen Person eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens angerufen wird, eine Bescheinigung E 101 unabhängig von der Einleitung oder Durchführung des in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Verfahrens allein deshalb für ungültig erklären, weil es konkrete Indizien dafür gibt, dass die Bescheinigung auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurde, wäre das mit der Verordnung geschaffene, auf der loyalen Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitgliedstaaten beruhende System gefährdet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 47, sowie vom 6. September 2018, Alpenrind u. a., C‑527/16, EU:C:2018:669, Rn. 46). Die in den Rn. 66 und 67 des vorliegenden Urteils hervorgehobene besondere Bedeutung der Durchführung dieses Verfahrens im Kontext eines Betrugsverdachts würde dabei verkannt.

    76

    Außerdem kann das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren, dessen Einleitung den ausstellenden Träger dazu veranlassen kann, die betreffenden Bescheinigungen E 101 für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen, unter Umständen, wie der Generalanwalt in Nr. 86 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zu Prozessökonomien führen, da sich die Befassung der Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats infolgedessen als überflüssig erweisen könnte.

    77

    Nur wenn dieses Verfahren vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats eingeleitet wurde und wenn der Träger, der die Bescheinigungen E 101 ausgestellt hat, es unterlassen hat, erneut zu prüfen, ob die Bescheinigungen zu Recht ausgestellt wurden, und innerhalb einer angemessenen Frist zu dem dahin gehenden Ersuchen des zuständigen Trägers des Aufnahmemitgliedstaats Stellung zu nehmen, müssen deshalb die konkreten Indizien dafür, dass die Bescheinigungen auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden, im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens vorgebracht werden können, um zu erreichen, dass das Gericht des Aufnahmemitgliedstaats die Bescheinigungen außer Acht lässt, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Personen, denen im Rahmen eines solchen Verfahrens zur Last gelegt wird, die Bescheinigungen in betrügerischer Weise erlangt oder geltend gemacht zu haben, unter Beachtung der mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Garantien die Möglichkeit erhalten, die Beweise, auf die sich dieses Verfahren stützt, zu entkräften (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 54 bis 56).

    78

    Somit darf ein Gericht des Aufnahmemitgliedstaats Bescheinigungen E 101 im Rahmen eines solchen gerichtlichen Verfahrens nur dann außer Acht lassen, wenn zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind: Zum einen muss der Träger, der die Bescheinigungen ausgestellt hat, vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats unverzüglich mit einem Ersuchen um erneute Prüfung, ob die Bescheinigungen zu Recht ausgestellt wurden, befasst worden sein und es unterlassen haben, innerhalb einer angemessenen Frist im Licht der ihm vom letztgenannten Träger übermittelten Anhaltspunkte eine solche erneute Prüfung vorzunehmen und die Bescheinigungen gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen, und zum anderen müssen die genannten Anhaltspunkte es dem Gericht ermöglichen, unter Beachtung der mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Garantien festzustellen, dass die fraglichen Bescheinigungen auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 61).

    79

    Folglich ist ein mit der Frage der Gültigkeit von Bescheinigungen E 101 befasstes Gericht des Aufnahmemitgliedstaats verpflichtet, vorab zu klären, ob vor seiner Befassung das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats mittels eines an den ausstellenden Träger gerichteten Ersuchens um erneute Prüfung und um Rücknahme der Bescheinigungen eingeleitet wurde und, wenn dies nicht der Fall war, alle ihm zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel einzusetzen, um sicherzustellen, dass der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats dieses Verfahren in Gang setzt.

    80

    Infolgedessen kann sich das Gericht des Aufnahmemitgliedstaats im Rahmen eines Verfahrens, das gegen einen Arbeitgeber eingeleitet wurde, weil er Bescheinigungen E 101 auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht haben soll, nur dann definitiv zum Vorliegen eines solchen Betrugs äußern und die Bescheinigungen außer Acht lassen, wenn es – nachdem es, soweit erforderlich, das gerichtliche Verfahren im Einklang mit seinem nationalen Recht ausgesetzt hat – feststellt, dass unverzüglich das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren eingeleitet wurde und dass der Träger, der die Bescheinigungen E 101 ausgestellt hat, es unterlassen hat, sie zu überprüfen und innerhalb einer angemessenen Frist zu den vom Träger des Aufnahmemitgliedstaats übermittelten Anhaltspunkten Stellung zu nehmen und die Bescheinigungen gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen.

    81

    Nur eine solche Auslegung vermag die praktische Wirksamkeit des in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Verfahrens zu gewährleisten, indem sie dafür sorgt, dass die zuständigen Träger der betreffenden Mitgliedstaaten unverzüglich in den dort vorgesehenen Dialog eintreten, damit das Gericht des Aufnahmemitgliedstaats gegebenenfalls im Rahmen des bei ihm anhängig gemachten Verfahrens über alle für die Feststellung eines etwaigen Betrugs erforderlichen Angaben verfügt, und zugleich den Trägern, die Bescheinigungen E 101 ausgestellt haben, einen Anreiz bietet, innerhalb einer angemessenen Frist auf ein Ersuchen um erneute Prüfung und um Rücknahme der Bescheinigungen zu antworten, weil diese nach Ablauf einer solchen Frist von dem genannten Gericht außer Acht gelassen würden.

    82

    Im vorliegenden Fall geht allerdings aus den Angaben, über die der Gerichtshof verfügt, hervor, dass die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) in ihrem Urteil vom 31. Januar 2012 das Vorliegen eines Betrugs festgestellt und die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheinigungen E 101 außer Acht gelassen hat, bevor das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 und sodann, ab dem 1. Mai 2010, in Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Verfahren, dessen Anwendungsmodalitäten in Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 näher geregelt sind, eingeleitet wurde und ohne vorab auch nur geprüft zu haben, ob dies der Fall war, so dass der ausstellende spanische Träger in die Lage versetzt worden wäre, die Bescheinigungen zu überprüfen und gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen.

    83

    Es steht nämlich fest, dass der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats der betreffenden Arbeitnehmer – die Urssaf – die von der Gewerbeaufsicht gesammelten Anhaltspunkte für einen Betrug erst mit Schreiben vom 4. April 2012, also nach der Verkündung des Urteils der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) und fast vier Jahre nach dem 28. Mai 2008, an dem die Gewerbeaufsicht gegenüber Vueling ein Protokoll wegen Schwarzarbeit erstellt hatte, dem ausstellenden spanischen Träger übermittelte, um zu erwirken, dass er die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheinigungen E 101 überprüft und gegebenenfalls für ungültig erklärt oder zurückzieht.

    84

    Überdies war das in den seinerzeit geltenden Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehene Verfahren zwar bereits eingeleitet worden, als die gegen das Urteil der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) eingelegte Kassationsbeschwerde am 11. März 2014 von der Cour de cassation (Kassationshof) zurückgewiesen wurde, doch steht fest, dass Letztere ihre Entscheidung traf, ohne Anstrengungen unternommen zu haben, um sich über den Stand des zwischen dem ausstellenden spanischen Träger und dem zuständigen französischen Träger eingeleiteten Dialogs zu informieren oder den Ausgang dieses Verfahrens abzuwarten.

    85

    Insoweit trifft es zu, dass der ausstellende spanische Träger das Ersuchen des zuständigen französischen Trägers um Überprüfung und Rücknahme nicht mit der gebotenen Schnelligkeit bearbeitete, denn seine Reaktion auf das Ersuchen, die mehr als zwei Jahre auf sich warten ließ, kann insbesondere angesichts der Bedeutung für die Betroffenen und der Art der zu prüfenden Fragen nicht als innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt angesehen werden. Das ändert jedoch nichts daran, dass der spanische Träger vom französischen Träger ebenfalls verspätet befasst wurde, nämlich etwa vier Jahre, nachdem der zuständige französische Träger Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Betrugs erhielt.

    86

    Nach alledem ist auf die erste Frage in den Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18 zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 dahin auszulegen ist, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats, die mit einem gerichtlichen Verfahren gegen einen Arbeitgeber befasst sind, dem zur Last gelegt wird, Bescheinigungen E 101, die gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 für Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeiten in diesem Mitgliedstaat ausüben, ausgestellt wurden, auf betrügerische Weise erlangt oder benutzt zu haben, nur dann das Vorliegen eines Betrugs feststellen und infolgedessen diese Bescheinigungen außer Acht lassen dürfen, wenn sie sich zuvor vergewissert haben,

    dass das in Art. 84a Abs. 3 dieser Verordnung vorgesehene Verfahren unverzüglich eingeleitet wurde, so dass der zuständige Träger des Ausstellungsmitgliedstaats in die Lage versetzt wurde, im Licht der vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats übermittelten konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Bescheinigungen auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden, zu überprüfen, ob die Bescheinigungen zu Recht ausgestellt worden waren, und

    dass der zuständige Träger des Ausstellungsmitgliedstaats es unterlassen hat, eine solche Überprüfung vorzunehmen und innerhalb einer angemessenen Frist zu diesen Anhaltspunkten Stellung zu nehmen und die fraglichen Bescheinigungen gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen.

    Zur zweiten Frage in den Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18

    87

    Mit ihrer zweiten Frage möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie in einem Fall, in dem ein Arbeitgeber im Aufnahmemitgliedstaat wegen eines dort als Betrug eingestuften Delikts unter Verstoß gegen das Unionsrecht rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, ein nach dem innerstaatlichen Recht an die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen gebundenes Zivilgericht dieses Mitgliedstaats daran hindern, den Arbeitgeber allein aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung an die Arbeitnehmer oder eine Versorgungseinrichtung dieses Mitgliedstaats, die dem Betrug zum Opfer gefallen sind, zu verurteilen.

    88

    Insoweit ist zunächst auf die Bedeutung hinzuweisen, die der Grundsatz der Rechtskraft nicht nur in der Unionsrechtsordnung, sondern auch in den nationalen Rechtsordnungen hat. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteile vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 28, vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 52, sowie vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 26).

    89

    Daher gebietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte (Urteile vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 29, vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 53, sowie vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 27).

    90

    Das Unionsrecht verlangt somit nicht, dass ein nationales Rechtsprechungsorgan seine rechtskräftig gewordene Entscheidung grundsätzlich rückgängig machen muss, um der Auslegung einer einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof Rechnung zu tragen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 38, vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 54, sowie vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 28).

    91

    Fehlen einschlägige unionsrechtliche Vorschriften, ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Äquivalenz), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    92

    Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob die Auslegung des Grundsatzes, wonach strafgerichtliche Entscheidungen für die Zivilgerichte bindend sind, im betreffenden nationalen Recht mit dem Grundsatz der Effektivität vereinbar ist. Nach nationalem Recht sind die Zivilgerichte, die über den gleichen Sachverhalt zu befinden haben wie das Strafgericht, nicht nur an die strafrechtliche Verurteilung des Arbeitgebers als solche gebunden, sondern auch an die tatsächlichen Feststellungen sowie die rechtlichen Qualifikationen und Auslegungen des Strafgerichts, selbst wenn diese, weil sich das Strafgericht vor der rechtskräftigen Feststellung eines Betrugs und der daraus folgenden Außerachtlassung der betreffenden Bescheinigungen E 101 nicht mit der Einleitung und dem Ablauf des in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Dialogverfahrens befasst hatte, unter Verstoß gegen das Unionsrecht zustande gekommen sind.

    93

    Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen innerstaatlichen Stellen zu prüfen ist. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    94

    In den vorliegenden Rechtssachen ist festzustellen, dass die in Rn. 92 des vorliegenden Urteils erwähnte Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft die Infragestellung nicht nur einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Entscheidung, selbst wenn darin gegen das Unionsrecht verstoßen wird, verhindert, sondern auch, anlässlich eines den gleichen Sachverhalt betreffenden zivilgerichtlichen Verfahrens, jeder in einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Entscheidung enthaltenen Feststellung zu einem gemeinsamen grundlegenden Punkt (vgl. entsprechend Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 29).

    95

    Eine solche Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft hätte daher zur Folge, dass sich dann, wenn eine in Rechtskraft erwachsene strafgerichtliche Entscheidung auf der Feststellung eines Betrugs durch dieses Gericht, bei der das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Dialogverfahren außer Acht gelassen wurde, sowie auf einer gegen das Unionsrecht verstoßenden Auslegung der Bestimmungen über die Bindungswirkung der Bescheinigungen E 101 beruht, die unrichtige Anwendung dieses Rechts in jeder von den Zivilgerichten getroffenen Entscheidung über den gleichen Sachverhalt wiederholen würde, ohne dass diese Feststellung und diese unionsrechtswidrige Auslegung korrigiert werden könnten (vgl. entsprechend Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 30).

    96

    Daraus ist zu schließen, dass solche Hindernisse für die effektive Anwendung der das genannte Verfahren sowie die Bindungswirkung der Bescheinigungen E 101 betreffenden Regeln des Unionsrechts bei vernünftiger Betrachtung nicht durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden können und daher als im Widerspruch zum Grundsatz der Effektivität stehend angesehen werden müssen (vgl. entsprechend Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 31).

    97

    Im vorliegenden Fall kann daher angesichts der in den Rn. 88 bis 90 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung die rechtskräftige Verurteilung von Vueling durch die Strafgerichte des Aufnahmemitgliedstaats trotz ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht nicht in Frage gestellt werden. Weder diese Verurteilung noch die rechtskräftige Feststellung eines Betrugs und die unter Verstoß gegen das Unionsrecht vorgenommenen Rechtsauslegungen, auf denen die Verurteilung beruht, können es hingegen den Zivilgerichten dieses Mitgliedstaats ermöglichen, Schadensersatzbegehren von Arbeitnehmern oder einer Versorgungseinrichtung dieses Mitgliedstaats, die den Handlungen der genannten Gesellschaft zum Opfer gefallen sind, stattzugeben.

    98

    Nach alledem ist auf die zweite Frage in den Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18 zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie in einem Fall, in dem ein Arbeitgeber im Aufnahmemitgliedstaat wegen eines dort als Betrug eingestuften Delikts unter Verstoß gegen das Unionsrecht rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, ein nach dem innerstaatlichen Recht an die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen gebundenes Zivilgericht dieses Mitgliedstaats daran hindern, den Arbeitgeber allein aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung an die Arbeitnehmer oder eine Versorgungseinrichtung dieses Mitgliedstaats, die dem Betrug zum Opfer gefallen sind, zu verurteilen.

    Kosten

    99

    Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005, ist dahin auszulegen, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats, die mit einem gerichtlichen Verfahren gegen einen Arbeitgeber befasst sind, dem zur Last gelegt wird, Bescheinigungen E 101, die gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004, für Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeiten in diesem Mitgliedstaat ausüben, ausgestellt wurden, auf betrügerische Weise erlangt oder benutzt zu haben, nur dann das Vorliegen eines Betrugs feststellen und infolgedessen diese Bescheinigungen außer Acht lassen dürfen, wenn sie sich zuvor vergewissert haben,

    dass das in Art. 84a Abs. 3 dieser Verordnung vorgesehene Verfahren unverzüglich eingeleitet wurde, so dass der zuständige Träger des Ausstellungsmitgliedstaats in die Lage versetzt wurde, im Licht der vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats übermittelten konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Bescheinigungen auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden, zu überprüfen, ob die Bescheinigungen zu Recht ausgestellt worden waren, und

    dass der zuständige Träger des Ausstellungsmitgliedstaats es unterlassen hat, eine solche Überprüfung vorzunehmen und innerhalb einer angemessenen Frist zu diesen Anhaltspunkten Stellung zu nehmen und die fraglichen Bescheinigungen gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen.

     

    2.

    Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 in ihrer durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 647/2005, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts sind dahin auszulegen, dass sie in einem Fall, in dem ein Arbeitgeber im Aufnahmemitgliedstaat wegen eines dort als Betrug eingestuften Delikts unter Verstoß gegen das Unionsrecht rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, ein nach dem innerstaatlichen Recht an die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen gebundenes Zivilgericht dieses Mitgliedstaats daran hindern, den Arbeitgeber allein aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung an die Arbeitnehmer oder eine Versorgungseinrichtung dieses Mitgliedstaats, die dem Betrug zum Opfer gefallen sind, zu verurteilen.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

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