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Document 62017CJ0369

    Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 13. September 2018.
    Shajin Ahmed gegen Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal.
    Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzen, Asyl und Einwanderung – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 17 – Ausschluss vom subsidiären Schutzstatus – Gründe – Verurteilung wegen einer schweren Straftat – Bestimmung der Schwere anhand des nach dem nationalen Recht vorgesehenen Strafmaßes – Zulässigkeit – Notwendigkeit einer Einzelfallbeurteilung.
    Rechtssache C-369/17.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2018:713

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

    13. September 2018 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzen, Asyl und Einwanderung – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 17 – Ausschluss vom subsidiären Schutzstatus – Gründe – Verurteilung wegen einer schweren Straftat – Bestimmung der Schwere anhand des nach dem nationalen Recht vorgesehenen Strafmaßes – Zulässigkeit – Notwendigkeit einer Einzelfallbeurteilung“

    In der Rechtssache C‑369/17

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) mit Entscheidung vom 29. Mai 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Juni 2017, in dem Verfahren

    Shajin Ahmed

    gegen

    Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Rosas (Berichterstatter), der Richterinnen C. Toader und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,

    Generalanwalt: P. Mengozzi,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von Herrn Shajin Ahmed, vertreten durch G. Győző, ügyvéd,

    der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,

    der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Brabcová als Bevollmächtigte,

    der französischen Regierung, vertreten durch E. Armoët, E. de Moustier und D. Colas als Bevollmächtigte,

    der niederländischen Regierung, vertreten durch M. H. S. Gijzen und M. K. Bulterman als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Tokár und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Shajin Ahmed, einem afghanischen Staatsangehörigen, und dem Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Amt für Einwanderung und Asyl, Ungarn), vormals: Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal (Amt für Einwanderung und Staatsangehörigkeit, Ungarn) (im Folgenden: Amt), wegen der Zurückweisung des von Herrn Ahmed gestellten Antrags auf internationalen Schutz durch das Amt.

    Rechtlicher Rahmen

    Internationales Recht

    3

    Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) trat am 22. April 1954 in Kraft und wurde ergänzt und geändert durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat.

    4

    Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention definiert in Abschnitt A zunächst u. a. den Begriff „Flüchtling“ und sieht sodann in Abschnitt F vor:

    „Die Bestimmungen dieses Abkommens finden keine Anwendung auf Personen, in Bezug auf die aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist,

    a)

    dass sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen haben, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen;

    b)

    dass sie ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb des Aufnahmelandes begangen haben, bevor sie dort als Flüchtling aufgenommen wurden;

    c)

    dass sie sich Handlungen zuschulden kommen ließen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.“

    Unionsrecht

    5

    Art. 78 Abs. 1 und 2 AEUV bestimmt:

    „(1)   Die [Europäische] Union entwickelt eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll. Diese Politik muss mit [der Genfer Flüchtlingskonvention] sowie den anderen einschlägigen Verträgen im Einklang stehen.

    (2)   Für die Zwecke des Absatzes 1 erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem, das Folgendes umfasst:

    a)

    einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige;

    b)

    einen einheitlichen subsidiären Schutzstatus für Drittstaatsangehörige, die keinen europäischen Asylstatus erhalten, aber internationalen Schutz benötigen;

    …“

    6

    Mit der auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 Buchst. a und b AEUV erlassenen Richtlinie 2011/95 wurde die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12) aufgehoben.

    7

    In den Erwägungsgründen 3, 4, 8, 9, 12, 23, 24, 33 und 39 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

    „(3)

    Der Europäische Rat kam auf seiner Sondertagung in Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999 überein, auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des Genfer Abkommens … stützt …

    (4)

    Die Genfer Flüchtlingskonvention … stell[t] einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

    (8)

    In dem am 15. und 16. Oktober 2008 angenommenen Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl hat der Europäische Rat festgestellt, dass zwischen den Mitgliedstaaten weiterhin beträchtliche Unterschiede bei der Gewährung von Schutz und den Formen dieses Schutzes bestehen und gefordert, dass neue Initiativen ergriffen werden sollten, um die Einführung des [in dem vom Europäischen Rat am 4. November 2004 angenommenen] Haager Programm [zur Festlegung der im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Zeitraum 2005–2010 zu erreichenden Ziele] vorgesehenen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu vollenden und so ein höheres Schutzniveau zu bieten.

    (9)

    Im [2010 angenommenen] Programm von Stockholm hat der Europäische Rat wiederholt sein Ziel betont, bis spätestens 2012 auf der Grundlage eines gemeinsamen Asylverfahrens und eines einheitlichen Status gemäß Artikel 78 [AEUV] für Personen, denen internationaler Schutz gewährt wurde, einen gemeinsamen Raum des Schutzes und der Solidarität zu errichten.

    (12)

    Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

    (23)

    Es sollten Normen für die Bestimmung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft festgelegt werden, um die zuständigen innerstaatlichen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention zu leiten.

    (24)

    Es müssen gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention eingeführt werden.

    (33)

    Ferner sollten Normen für die Bestimmung und die Merkmale des subsidiären Schutzstatus festgelegt werden. Der subsidiäre Schutzstatus sollte den in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Schutz für Flüchtlinge ergänzen.

    (39)

    Bei der Berücksichtigung der Forderung des Stockholmer Programms nach Einführung eines einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz und abgesehen von den Ausnahmeregelungen, die notwendig und sachlich gerechtfertigt sind, sollten Personen, denen subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, dieselben Rechte und Leistungen zu denselben Bedingungen gewährt werden wie Flüchtlingen gemäß dieser Richtlinie.“

    8

    Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

    „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

    a)

    ‚internationaler Schutz‘ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus im Sinne der Buchstaben e und g;

    f)

    ‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will;

    g)

    ‚subsidiärer Schutzstatus‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen durch einen Mitgliedstaat als Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat;

    …“

    9

    Art. 12 („Ausschluss“) in Kapitel III („Anerkennung als Flüchtling“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 2 und 3:

    „(2)   Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er

    a)

    ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen;

    b)

    eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, das heißt vor dem Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; insbesondere grausame Handlungen können als schwere nichtpolitische Straftaten eingestuft werden, auch wenn mit ihnen vorgeblich politische Ziele verfolgt werden;

    c)

    sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und in den Artikeln 1 und 2 der [am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichneten] Charta der Vereinten Nationen verankert sind, zuwiderlaufen.

    (3)   Absatz 2 findet auf Personen Anwendung, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.“

    10

    Art. 14 („Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft“) der Richtlinie 2011/95, der in deren Kapitel IV steht, bestimmt in Abs. 4:

    „Die Mitgliedstaaten können einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn

    a)

    es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält;

    b)

    er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.“

    11

    Art. 17 („Ausschluss“) in Kapitel V („Voraussetzungen für subsidiären Schutz“) der Richtlinie 2011/95 lautet:

    „(1)   Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

    a)

    ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen;

    b)

    eine schwere Straftat begangen hat;

    c)

    sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, zuwiderlaufen;

    d)

    eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

    (2)   Absatz 1 findet auf Personen Anwendung, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

    (3)   Die Mitgliedstaaten können einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen von der Gewährung subsidiären Schutzes ausschließen, wenn er vor seiner Aufnahme in dem betreffenden Mitgliedstaat ein oder mehrere nicht unter Absatz 1 fallende Straftaten begangen hat, die mit Freiheitsstrafe bestraft würden, wenn sie in dem betreffenden Mitgliedstaat begangen worden wären, und er sein Herkunftsland nur verlassen hat, um einer Bestrafung wegen dieser Straftaten zu entgehen.“

    Ungarisches Recht

    12

    § 8 Menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény (Gesetz Nr. LXXX von 2007 über das Aslyrecht) (Magyar Közlöny 2007/83, im Folgenden: Asylgesetz) sieht vor:

    „(1)   Ein Ausländer, bei dem einer der Ausschlussgründe in Art. 1 Abschnitte D, E oder F der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegt, kann nicht als Flüchtling anerkannt werden.

    (2)   Bei der Anwendung von Art. 1 Abschnitt F Buchst. b der Genfer Flüchtlingskonvention ist unter schwerem nichtpolitischen Verbrechen jede Handlung zu verstehen, bei deren Begehung – unter Berücksichtigung aller Umstände wie des angestrebten Zwecks der Straftat, ihres Beweggrundes, der Art ihrer Begehung oder der verwendeten oder dafür vorgesehenen Mittel – der nichtpolitische Charakter des Verbrechens den politischen überwiegt und die nach ungarischem Recht mit einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht ist.“

    13

    § 11 Abs. 3 dieses Gesetzes lautet:

    „Die Asylbehörde erkennt den Flüchtlingsstatus ab, wenn der Flüchtling von einem Gericht mit rechtskräftiger Entscheidung wegen Begehung einer Straftat verurteilt wird, die mit einer gesetzlichen Mindeststrafe von fünf Jahren bedroht ist.“

    14

    § 15 des Asylgesetzes, der die Gründe für einen Ausschluss vom subsidiären Schutz regelt, bestimmt:

    „Ein Ausländer kann nicht als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt werden,

    a)

    wenn bei ihm hinreichende Gründe für die Annahme vorliegen, dass

    aa)

    er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne völkerrechtlicher Instrumente begangen hat;

    ab)

    er eine Straftat begangen hat, die nach ungarischem Recht mit einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren bestraft wird;

    ac)

    er eine Straftat unter Verstoß gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen begangen hat;

    b)

    [wenn sein] Aufenthalt auf dem Hoheitsgebiet Ungarns eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt.“

    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

    15

    Herr Ahmed wurde mit Entscheidung des Amtes vom 13. Oktober 2000 als Flüchtling anerkannt, da er in seinem Herkunftsstaat Verfolgung ausgesetzt war, weil sein Vater während der Regierung von Nadschibullah ein hochrangiger Armeeoffizier gewesen war.

    16

    Später wurde gegen Herrn Ahmed in Ungarn ein Strafverfahren eingeleitet. In diesem Verfahren ersuchte er darum, das Konsulat der Islamischen Republik Afghanistan vollständig über seine Lage zu unterrichten.

    17

    Da sich aus dem Antrag auf Schutz, den Herr Ahmed von sich aus an seinen Herkunftsstaat gerichtet hatte, der Schluss ableiten ließ, dass die Verfolgungsgefahr weggefallen war, leitete das Amt im Jahr 2014 von Amts wegen ein Verfahren zur Überprüfung der Flüchtlingseigenschaft von Herrn Ahmed ein.

    18

    Mit rechtskräftigem Urteil vom 21. Mai 2014 verurteilte das Fővárosi Ítélőtábla (regionales Berufungsgericht Budapest, Ungarn) Herrn Ahmed wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zu einem vierjährigen Verbot der Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten. Mit Urteil vom 14. Juli 2014 verurteilte ihn das Budapest Környéki Törvényszék (Bezirksgericht Budapest, Ungarn) wegen versuchter Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zu einem dreijährigen Verbot der Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten.

    19

    Mit Entscheidung vom 4. November 2014 entzog das Amt Herrn Ahmed gemäß § 11 Abs. 3 des Asylgesetzes den Flüchtlingsstatus.

    20

    Am 30. Juni 2015 stellte Herr Ahmed einen neuen Antrag auf Anerkennung als Flüchtling und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Das Amt lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 9. Dezember 2015 ab.

    21

    Gegen diesen Bescheid erhob Herr Ahmed Klage beim Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn). Dieses Gericht gab der Klage statt und gab dem Amt auf, ein neues Verwaltungsverfahren einzuleiten.

    22

    In diesem neuen Verfahren wies das Amt mit Entscheidung vom 10. Oktober 2016 den Antrag von Herrn Ahmed sowohl hinsichtlich des Begehrens auf Anerkennung als Flüchtling als auch hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus zurück, sprach jedoch zugleich ein Abschiebungsverbot aus. Es war der Ansicht, dass Herrn Ahmed kein subsidiärer Schutz gewährt werden könne, da ein Ausschlussgrund im Sinne des Asylgesetzes vorliege, weil Herr Ahmed eine Straftat begangen habe, die nach ungarischem Recht mit einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht sei. Hierzu berücksichtigte das Amt die Verurteilungen von Herrn Ahmed, wie sie sich aus den in Rn. 18 des vorliegenden Urteils genannten Urteilen ergeben.

    23

    Herr Ahmed focht diese Entscheidung beim vorlegenden Gericht, dem Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest), an, soweit sein Antrag auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus zurückgewiesen wurde.

    24

    Nach Ansicht von Herrn Ahmed entzieht die nationale Regelung, indem sie als Grund für den Ausschluss von der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus auf die Begehung einer Straftat abstelle, die im ungarischen Recht mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht sei, den rechtsanwendenden Verwaltungsorganen und den die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsbescheiden kontrollierenden Gerichten jede Möglichkeit zur Abwägung. Die Wendung „dass er eine schwere Straftat begangen hat“ in Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, der die Gründe für den Ausschluss vom subsidiären Schutzstatus betreffe, impliziere, dass alle Umstände des betreffenden Einzelfalls zu würdigen seien.

    25

    Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach der ungarischen Regelung ein und dasselbe Kriterium, nämlich die Tatsache, „wegen Begehung einer Straftat, die nach ungarischem Recht mit einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht ist“ verurteilt worden zu sein, als Grundlage sowohl für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 11 Abs. 3 des Asylgesetzes als auch für den Ausschluss vom subsidiären Schutzstatus nach § 15 Buchst. a Unterbuchst. ab dieses Gesetzes diene. Demgegenüber sehe die Richtlinie 2011/95 für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft einerseits und den Ausschluss vom subsidiären Schutzstatus andererseits unterschiedliche Kriterien vor.

    26

    Hinsichtlich der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft ziehe Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 als Kriterium die Verurteilung des Betroffenen wegen einer „besonders schweren“ Straftat heran, was impliziere, dass der Verurteilte offensichtlich eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstelle, wohingegen der Ausschluss vom subsidiären Schutz nach Art. 17 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie auf der Begehung einer „schweren Straftat“ beruhe, was darauf schließen lasse, dass es sich dabei um weniger schwerwiegende Verhaltensweisen handele als bei den von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie erfassten.

    27

    Das im ungarischen Recht herangezogene Kriterium des Strafmaßes erlaube es nicht, die Schwere der tatsächlich begangenen Straftat zu würdigen.

    28

    Eine Definition des Begriffs „schwere Straftat“ ausschließlich anhand des Strafmaßes bedeutete, dass jede Straftat, die nach ungarischem Recht mit einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren geahndet werden könne, automatisch als schwer erachtet würde; umfasst wären auch Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von höchstens fünf Jahren bedroht seien. Mit einem Ausschlussgrund, der auf das Strafmaß abstelle, lasse sich auch nicht die etwaige Aussetzung der Vollziehung der Strafe berücksichtigen.

    29

    Die in Art. 14 Abs. 4 und in Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 verwendeten Begriffe erforderten indes eine sorgfältige Prüfung aller Umstände des betreffenden Einzelfalls und, soweit es um den vorliegenden Fall gehe, der strafgerichtlichen Entscheidung.

    30

    Das vorlegende Gericht hält es daher für erforderlich, die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, der den Ausschluss vom subsidiären Schutz betreffe, insbesondere im Hinblick auf die vom Gerichtshof im Urteil vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 87), vorgenommene Auslegung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2004/83, jetzt Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2011/95, betreffend den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling zu klären. Diesem Urteil zufolge darf die zuständige Stelle des betreffenden Mitgliedstaats diese Bestimmung erst anwenden, nachdem sie in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vorgenommen hat, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen des Betreffenden, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt, unter einen der beiden in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausschlusstatbestände fallen.

    31

    Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Folgt aus der Formulierung „eine schwere Straftat begangen hat“ in Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, dass ausschließlich anhand des Strafmaßes, das für die betreffende Straftat nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehen ist, bestimmt werden kann, ob der Antragsteller eine Straftat begangen hat, derentwegen er von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen werden kann?

    Zur Vorlagefrage

    32

    Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ausschließlich anhand des Strafmaßes, das für eine bestimmte Straftat nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehen ist, davon ausgegangen wird, dass die Person, die subsidiären Schutz beantragt, „eine schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung begangen hat, derentwegen sie von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen werden kann.

    33

    Der in Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 verwendete Begriff „schwere Straftat“ wird in dieser Richtlinie nicht definiert; die Richtlinie verweist zur Bestimmung des Sinnes und der Tragweite dieses Begriffs auch nicht ausdrücklich auf das nationale Recht.

    34

    Selbiges gilt für den Begriff „besonders schwere Straftat“ in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 (bezüglich der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) und für den Begriff „schwere nichtpolitische Straftat“ in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie (bezüglich des Ausschlusses von der Anerkennung als Flüchtling).

    35

    Nach Ansicht der tschechischen und der ungarischen Regierung ist es, da der Unionsgesetzgeber den Begriff „schwere Straftat“ im Kontext von Anträgen auf internationalen Schutz nicht definiert habe, Sache des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers, diesen Begriff zu bestimmen. Dagegen machen Herr Ahmed, die französische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission geltend, dass dieser Begriff im Kontext von Anträgen auf internationalen Schutz unter Berücksichtigung der Ziele und allgemeinen Grundsätze des auf Flüchtlinge anzuwendenden Unionsrechts auszulegen sei, weshalb Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 im Licht der Genfer Flüchtlingskonvention, insbesondere ihres Art. 1 Abschnitt F Buchst. b, und von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 auszulegen sei, der diese Bestimmung der Genfer Flüchtlingskonvention inhaltlich im Wesentlichen übernehme.

    36

    Insoweit ist zunächst daran zu erinnern, dass aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung ihres Kontexts und des mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Juli 2016, JZ, C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 35 bis 37, vom 26. Juli 2017, Ouhrami, C‑225/16, EU:C:2017:590, Rn. 38, und vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 41).

    37

    Aus dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ergibt sich, dass eines ihrer wesentlichen Ziele darin besteht, zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen. Zudem geht aus Art. 78 Abs. 1 AEUV hervor, dass die gemeinsame Politik, die die Union im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz entwickelt, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Schutz angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll, im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention stehen muss.

    38

    In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2011/95, wie die Richtlinie 2004/83, im Rahmen des „internationalen Schutzes“ zwei unterschiedliche Schutzsysteme regelt, nämlich die Flüchtlingseigenschaft einerseits und den subsidiären Schutzstatus andererseits (vgl. zur Richtlinie 2004/83 Urteil vom 8. Mai 2014, N., C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 26).

    39

    Wie sich aus den Erwägungsgründen 6 und 33 der Richtlinie 2011/95 ergibt, soll der subsidiäre Schutz den in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Schutz der Flüchtlinge ergänzen (Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso, C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 31).

    40

    Aus den Erwägungsgründen 4, 23 und 24 der Richtlinie 2011/95 geht hervor, dass die Genfer Flüchtlingskonvention einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt und dass die Bestimmungen der Richtlinie über die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und über deren Inhalt erlassen wurden, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Konvention auf der Grundlage gemeinsamer Konzepte und Kriterien zu leiten (Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso, C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 28 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    41

    Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie, wie die der Richtlinie 2004/83, daher im Licht ihrer allgemeinen Systematik und ihres Zwecks unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der in Art. 78 Abs. 1 AEUV angesprochenen anderen einschlägigen Verträge auszulegen sind (Urteile vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 78, vom 1. März 2016, Alo und Osso, C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 29, und vom 31. Januar 2017, Lounani, C‑573/14, EU:C:2017:71, Rn. 42).

    42

    Diese Erwägungen sind, soweit sie sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention beziehen, zwar nur für die Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und deren Inhalt relevant, da die in dieser Konvention vorgesehene Regelung nur für Flüchtlinge gilt und nicht für Personen mit subsidiärem Schutzstatus, doch ergibt sich aus den Erwägungsgründen 8, 9 und 39 der Richtlinie 2011/95, dass der Unionsgesetzgeber einen einheitlichen Status für alle Personen, denen internationaler Schutz gewährt wird, einführen wollte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso, C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 31 und 32).

    43

    Was die Gründe für den Ausschluss vom subsidiären Schutzstatus angeht, ist darauf hinzuweisen, dass sich der Unionsgesetzgeber an den auf Flüchtlinge anzuwendenden Regelungen orientiert hat, um sie – soweit möglich – auf die Personen auszuweiten, denen subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist.

    44

    Der Inhalt und die Struktur von Art. 17 Abs. 1 Buchst. a bis c der Richtlinie 2011/95 betreffend den Ausschluss von der Gewährung subsidiären Schutzes weisen nämlich Ähnlichkeiten mit Art. 12 Abs. 2 Buchst. a bis c dieser Richtlinie betreffend den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling auf, der seinerseits die Bestimmungen von Art. 1 Abschnitt F Buchst. a bis c der Genfer Konvention inhaltlich im Wesentlichen übernimmt.

    45

    Im Übrigen folgt aus den Materialien zur Richtlinie 2011/95 wie auch aus denen zur Richtlinie 2004/83 (vgl. Punkte 4.5 und 7 der Begründung des von der Kommission am 30. Oktober 2001 vorgelegten Richtlinienvorschlags [KOM(2001) 510 final] [ABl. 2002, C 51 E, S. 325] sowie den von der Kommission am 21. Oktober 2009 vorgelegten Richtlinienvorschlag [KOM(2009) 551 final]), dass Art. 17 Abs. 1 Buchst. a bis c der Richtlinie 2011/95 auf dem Willen des Unionsgesetzgebers beruht, Gründe für den Ausschluss vom subsidiären Schutz einzuführen, die den für Flüchtlinge geltenden Gründen vergleichbar sind.

    46

    Obwohl diese Ausschlussgründe den Begriff „schwere Straftat“ betreffen, ist der Anwendungsbereich des in Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Ausschlussgrundes weiter als der in Art. 1 Abschnitt F Buchst. b der Genfer Flüchtlingskonvention und in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehene Grund für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling.

    47

    Während der in der letztgenannten Bestimmung vorgesehene Grund für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling eine schwere nicht politische Straftat betrifft, die der Betreffende außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, erfasst der in Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehene Grund für den Ausschluss vom subsidiären Schutz nämlich ganz allgemein eine schwere Straftat und ist somit weder territorial noch zeitlich noch in Bezug auf die Art der in Rede stehenden Straftaten beschränkt.

    48

    Nach der vom Gerichtshof im Urteil vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 87), vertretenen Auffassung geht aus dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2004/83, jetzt Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2011/95, hervor, dass die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats diese Bestimmung erst anwenden darf, nachdem sie in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vorgenommen hat, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen des Betreffenden, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt, unter einen der beiden in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausschlusstatbestände fallen.

    49

    Daraus folgt, dass jeder Entscheidung, eine Person von der Anerkennung als Flüchtling auszuschließen, eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des Einzelfalls vorausgehen muss, was dem automatischen Erlass einer Entscheidung entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 91 und 93).

    50

    Dieses Erfordernis ist auf Entscheidungen über den Ausschluss vom subsidiären Schutz zu übertragen.

    51

    Wie bei den Gründen für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling liegt der Zweck der Gründe für den Ausschluss vom subsidiären Schutz nämlich darin, Personen auszuschließen, die als des sich aus ihm ergebenden Schutzes unwürdig angesehen werden, und die Glaubwürdigkeit des gemeinsamen europäischen Asylsystems zu erhalten, das sowohl die Annäherung der Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft als auch die Maßnahmen über die Formen des subsidiären Schutzes umfasst, die einer Person, die eines solchen Schutzes bedarf, einen angemessenen Status verleihen (vgl. in diesem Sinne in Bezug auf die Richtlinie 2004/83 und die Rechtsstellung des Flüchtlings, Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 104 und 115).

    52

    Nach Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 darf eine Person von der Gewährung subsidiären Schutzes nur dann ausgeschlossen werden, wenn „schwerwiegende Gründe“ die Annahme rechtfertigen, dass sie eine schwere Straftat begangen hat. Diese Bestimmung sieht einen Ausschlussgrund vor, der eine Ausnahme von der in Art. 18 der Richtlinie 2011/95 aufgestellten allgemeinen Regel bildet und daher restriktiv auszulegen ist.

    53

    Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts führt das Asylgesetz indes dazu, jede Straftat, die nach ungarischem Recht mit einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren geahndet werden kann, automatisch als schwere Straftat einzuordnen.

    54

    Die Kommission macht zu Recht geltend, dass diese Einordnung eine große Bandbreite von Verhaltensweisen unterschiedlicher Schwere umfassen kann. Es sei jedoch erforderlich, dass die zuständige nationale Behörde bzw. das zuständige nationale Gericht, die oder das über den Antrag auf subsidiären Schutz entscheidet, auf der Grundlage anderer Kriterien als des Strafmaßes prüfen könne, ob die Straftat, die der Antragsteller, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfülle, begangen habe, so schwer sei, dass sie zur Zurückweisung seines Antrags auf internationalen Schutz führen müsse.

    55

    Hierzu ist hervorzuheben, dass dem Kriterium des in den strafrechtlichen Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Strafmaßes zwar eine besondere Bedeutung bei der Beurteilung der Schwere der Straftat zukommt, die den Ausschluss vom subsidiären Schutz nach Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 rechtfertigt, dass sich die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats gleichwohl erst dann auf den in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausschlussgrund berufen darf, nachdem sie in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vorgenommen hat, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen des Betreffenden, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfüllt, unter diesen Ausschlusstatbestand fallen (vgl. entsprechend Urteile vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 87, und vom 31. Januar 2017, Lounani, C‑573/14, EU:C:2017:71, Rn. 72).

    56

    Diese Auslegung wird durch den Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) von Januar 2016 mit dem Titel „Ausschluss: Artikel 12 und Artikel 17 der Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU)“ gestützt, der in Punkt 3.2.2 in Bezug auf Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 empfiehlt, dass die Schwere der Straftat, aufgrund deren eine Person vom subsidiären Schutz ausgeschlossen werden könne, anhand einer Vielzahl von Kriterien, wie u. a. der Art der Straftat, der verursachten Schäden, der Form des zur Verfolgung herangezogenen Verfahrens, der Art der Strafmaßnahme und der Berücksichtigung der Frage beurteilt werden solle, ob die fragliche Straftat in den anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als schwere Straftat angesehen werde. Das EASO führt hierzu bestimmte Entscheidungen aus der Rechtsprechung der mitgliedstaatlichen Höchstgerichte an.

    57

    Ähnliche Empfehlungen sind im Übrigen im Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen [UNHCR], 1992, Punkte 155 bis 157) enthalten.

    58

    Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ausschließlich anhand des Strafmaßes, das nach dem Recht dieses Mitgliedstaats für eine bestimmte Straftat vorgesehen ist, davon ausgegangen wird, dass die Person, die einen Antrag auf subsidiären Schutz gestellt hat, „eine schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung begangen hat, derentwegen sie von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen werden kann. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörde bzw. des zuständigen nationalen Gerichts, die oder das über den Antrag auf subsidiären Schutz entscheidet, die Schwere der fraglichen Straftat zu würdigen, wobei eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen ist.

    Kosten

    59

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ist dahin auszulegen, dass er einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ausschließlich anhand des Strafmaßes, das für eine bestimmte Straftat nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehen ist, davon ausgegangen wird, dass die Person, die einen Antrag auf subsidiären Schutz gestellt hat, „eine schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung begangen hat, derentwegen sie von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen werden kann. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörde bzw. des zuständigen nationalen Gerichts, die oder das über den Antrag auf subsidiären Schutz entscheidet, die Schwere der fraglichen Straftat zu würdigen, wobei eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen ist.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.

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