EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62017CJ0107

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 25. Juli 2018.
„Aviabaltika“ UAB gegen "Ūkio bankas" AB.
Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2002/47/EG – Verwertung von Finanzsicherheiten – Einleitung eines Insolvenzverfahrens gegenüber dem Finanzsicherheitsnehmer – Eintritt des Verwertungs- bzw. Beendigungsfalls – Zurechnung der Finanzsicherheit zur Insolvenzmasse – Verpflichtung, die Forderungen zuerst aus der Finanzsicherheit zu befriedigen.
Rechtssache C-107/17.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2018:600

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

25. Juli 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2002/47/EG – Verwertung von Finanzsicherheiten – Einleitung eines Insolvenzverfahrens gegenüber dem Finanzsicherheitsnehmer – Eintritt des Verwertungs- bzw. Beendigungsfalls – Zurechnung der Finanzsicherheit zur Insolvenzmasse – Verpflichtung, die Forderungen zuerst aus der Finanzsicherheit zu befriedigen“

In der Rechtssache C‑107/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof, Litauen) mit Entscheidung vom 24. Februar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 3. März 2017, in dem Verfahren

„Aviabaltika“ UAB

gegen

„Ūkio bankas“ AB, in Liquidation,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter), der Richter C. Vajda und E. Juhász, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters C. Lycourgos,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der „Aviabaltika“ UAB, vertreten durch E. Baranauskas, advokatas,

der „Ūkio bankas“ AB, vertreten durch T. Bairašauskas und D. Ušinskaitė-Filonovienė, advokatai,

der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis, D. Kriaučiūnas, L. Bendoraitytė und R. Butvydytė als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Rius, A. Nijenhuis und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. April 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 5 sowie von Art. 8 der Richtlinie 2002/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten (ABl. 2002, L 168, S. 43) in der durch die Richtlinie 2009/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 (ABl. 2009, L 146, S. 37) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2002/47).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Aviabaltika“ UAB und der „Ūkio bankas“ AB wegen einer Zahlungsaufforderung des Bankinstituts Ūkio bankas an Aviabaltika, die in Durchführung der Vereinbarungen über die Bestellung von Sicherheiten erfolgte, die die Parteien untereinander geschlossen hatten.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/47 lautet:

„Es sollte eine gemeinschaftsweite Regelung für die Bereitstellung von Wertpapieren und Barguthaben als Sicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Sicherungsrechts oder im Wege der Vollrechtsübertragung, einschließlich Wertpapierpensionsgeschäften (Repos), geschaffen werden. Dies wird zu einer weiteren Integration und höheren Kostenwirksamkeit des Finanzmarkts sowie zur Stabilität des Finanzsystems in der Gemeinschaft beitragen und dadurch den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr im Finanzbinnenmarkt fördern. Im Zentrum dieser Richtlinie stehen zweiseitige Vereinbarungen über die Bestellung von Finanzsicherheiten.“

4

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie bestimmt in ihrem Abs. 1:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

c)

‚Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts‘ ist ein Sicherungsrecht an einem Finanzaktivum durch einen Sicherungsgeber, wobei das volle oder bedingte/beschränkte Eigentum oder die Inhaberschaft an der Sicherheit zum Zeitpunkt der Bestellung beim Sicherungsgeber verbleibt.

f)

‚Maßgebliche Verbindlichkeiten‘ sind Verbindlichkeiten, die durch Finanzsicherheiten besichert sind und ein Recht auf Barzahlung und/oder Lieferung von Finanzinstrumenten begründen.

j)

‚Liquidationsverfahren‘ ist ein Gesamtverfahren, bei dem das Vermögen verwertet und der Erlös in angemessener Weise unter den Gläubigern, Anteilseignern oder Mitgliedern verteilt wird, wozu das Tätigwerden einer Behörde oder eines Gerichts erforderlich ist; dazu zählen auch Gesamtverfahren, die durch einen Vergleich oder eine ähnliche Maßnahme abgeschlossen werden; es ist unerheblich, ob das Verfahren infolge Zahlungsunfähigkeit eröffnet wird oder nicht oder ob es freiwillig oder zwangsweise eingeleitet wird.

l)

‚Verwertungs- bzw. Beendigungsfall‘ ist eine Vertragsverletzung oder jedes Ereignis, das die Vertragsparteien kraft Vereinbarung einer Vertragsverletzung gleichstellen, bei deren/dessen Eintreten der Sicherungsnehmer vertraglich oder kraft Gesetzes zur Verwertung bzw. Aneignung der Finanzsicherheit bzw. zur Aufrechnung infolge Beendigung (‚close out netting‘) berechtigt ist.

…“

5

In Art. 4 („Verwertung der Sicherheit“) der Richtlinie 2002/47 heißt es:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Verwertungs- bzw. Beendigungsfall der Sicherungsnehmer jede in Form eines beschränkten dinglichen Sicherungsrechts bestellte Finanzsicherheit vereinbarungsgemäß wie folgt verwerten kann:

b)

bei Barsicherheiten durch Aufrechnung des Betrags gegen die maßgeblichen Verbindlichkeiten oder durch Verwendung an Zahlungs statt.

(4)   Finanzsicherheiten können vorbehaltlich der Bedingungen der Sicherheitsvereinbarung in der vorgenannten Weise verwertet werden, ohne dass

a)

eine Verwertungsandrohung erforderlich ist;

(5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Finanzsicherheit vereinbarungsgemäß wirksam werden kann, auch wenn gegenüber dem Sicherungsgeber oder ‑nehmer ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde oder Sanierungsmaßnahmen eingeleitet wurden oder das Verfahren bzw. die Maßnahmen andauern.

…“

6

Art. 8 („Nichtanwendung bestimmter Insolvenzbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Bestellung einer Finanzsicherheit sowie die Besitzverschaffung daran nicht allein deshalb für unwirksam oder nichtig erklärt oder rückgängig gemacht werden dürfen, weil die Bestellung oder die Besitzverschaffung

a)

am Tag der Eröffnung eines Liquidationsverfahrens oder der Einleitung von Sanierungsmaßnahmen, jedoch vor Erlass des hierfür erforderlichen Gerichtsbeschlusses oder Verwaltungsakts, oder

b)

innerhalb eines bestimmten Zeitraums vor der Eröffnung eines Liquidationsverfahrens oder der Einleitung von Sanierungsmaßnahmen oder vor dem Erlass eines Gerichtsbeschlusses oder Verwaltungsakts oder vor sonstigen Maßnahmen oder Ereignissen im Laufe derartiger Verfahren bzw. Maßnahmen erfolgte.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Bestellung einer Finanzsicherheit oder die Besicherung einer Verbindlichkeit oder die Besitzverschaffung an einer Finanzsicherheit, die am Tag der Eröffnung, jedoch nach der Eröffnung eines Liquidationsverfahrens oder der Einleitung von Sanierungsmaßnahmen erfolgt, rechtlich verbindlich und absolut wirksam ist, wenn der Sicherungsnehmer nachweisen kann, dass er von der Eröffnung des Verfahrens bzw. der Einleitung der Maßnahmen keine Kenntnis hatte und auch nicht haben konnte.

…“

Litauisches Recht

7

Das Lietuvos Respublikos finansinio užtikrinimo susitarimų įstatymas (Gesetz der Republik Litauen über Finanzsicherheiten, im Folgenden: litauisches Gesetz über Finanzsicherheiten), das die Richtlinie 2002/47 umsetzt, bestimmt in seinem Art. 2 Abs. 8 und 32:

„(8)   Eine ‚Finanzsicherheit ohne Vollrechtsübertragung‘ ist eine Vereinbarung, durch die der Sicherungsgeber dem Sicherungsnehmer oder zu seinen Gunsten eine Finanzsicherheit zur Sicherung der Verwertung der besicherten Verbindlichkeiten bestellt, bei der aber das volle oder bedingte/beschränkte Eigentum an der Finanzsicherheit beim Sicherungsgeber verbleibt.

(32)   ‚Besicherte Verbindlichkeit‘ ist eine Verbindlichkeit, deren Verwertung durch eine Finanzsicherheit gesichert ist und die ein Recht auf Barzahlung und/oder Lieferung von Finanzinstrumenten und/oder durch solche Finanzinstrumente gedeckte Vermögenswerte begründet. …“

8

In Art. 9 Abs. 3 und 8 des litauischen Gesetzes über Finanzsicherheiten heißt es:

„(3)   Tritt ein Ereignis ein, das die Verwertung der Finanzsicherheit auslöst, so ist der Sicherungsnehmer berechtigt, die gemäß der Sicherungsvereinbarung bestellte Finanzsicherheit einseitig – nach den in der Sicherungsvereinbarung niedergelegten Bestimmungen – auf die folgende Art und Weise zu verwerten:

2.

bei Barsicherheiten durch Aufrechnung des Betrags gegen die besicherten Verbindlichkeiten oder durch Verwendung an Zahlungs statt.

(8)   Eine Finanzsicherheit wird ungeachtet der Eröffnung eines Liquidationsverfahrens oder der Einleitung von Sanierungsmaßnahmen gegenüber dem Sicherungsgeber oder dem Sicherungsnehmer gemäß den in der Sicherungsvereinbarung genannten Fristen wirksam.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9

Am 10. Oktober 2011 und am 16. August 2012 schlossen Aviabaltika und das Bankinstitut Ūkio bankas zwei Garantiestellungsvereinbarungen, auf deren Grundlage den Vertragspartnern der Aviabaltika Bürgschaften gewährt wurden (im Folgenden: Vereinbarungen von 2011 und 2012). Aviabaltika stellte als Sicherheit für ihre Verbindlichkeiten auf ein in ihrem Namen bei Ūkio bankas eröffnetes Konto eingezahlte Geldmittel.

10

Die Vereinbarungen von 2011 und 2012 sahen vor, dass die auf dieses Konto eingezahlten Geldmittel ebenso wie die Forderung auf Rückzahlung dieser Mittel der Bank als Sicherheit für die ordnungsgemäße Erfüllung der aus diesen Vereinbarungen entstehenden Verpflichtungen gestellt würden und als Finanzsicherheiten im Sinne des litauischen Gesetzes über Finanzsicherheiten einzustufen seien.

11

Im Anschluss hieran schloss Ūkio bankas Rückbürgschaftsvereinbarungen mit der Commerzbank AG, auf deren Grundlage sich die Commerzbank der State Bank of India gegenüber verbürgte. Letztgenannte verbürgte sich wiederum gegenüber den endgültigen Bürgschaftsbegünstigten, d. h. den Vertragspartnern von Aviabaltika. Als Sicherheit überließ Ūkio bankas Einlagen in Höhe der von der Commerzbank gestellten Bürgschaften.

12

Am 2. Mai 2013 wurde vom Kaunas apygardos teismas (Bezirksgericht Kaunas, Litauen) gegen Ūkio bankas ein Insolvenzverfahren eröffnet.

13

Da Aviabaltika ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Vertragspartnern, zu deren Gunsten Bürgschaften gemäß den Vereinbarungen von 2011 und 2012 erteilt worden waren, nicht erfüllte, musste die Commerzbank am 12. März 2014 ihre Verpflichtungen aus den Rückbürgschaftsverträgen erfüllen und belastete einen Teil der von Ūkio bankas als Sicherheit gestellten Einlagen.

14

Am 28. Oktober 2014 erkannte das Kaunas apygardos teismas (Bezirksgericht Kaunas) die Forderung von Aviabaltika, die insbesondere aus den dieser Bank als Finanzsicherheit im Rahmen der Vereinbarungen von 2011 und 2012 gestellten Einlagen bestand, als Insolvenzforderung an.

15

Ūkio bankas glich einen Teil der von der Commerzbank durchgeführten Entnahmen nicht mit den Geldmitteln aus, die von Aviabaltika als Sicherheit gestellt worden waren, sondern mit der gemäß den litauischen Bestimmungen über die Einlagensicherung erhaltenen Entschädigung, die sich auf einem anderen Konto von Aviabaltika befand. Sodann verlangte Ūkio bankas, dass Aviabaltika dazu verurteilt werde, ihr den nach diesem Ausgleich noch geschuldeten Restsaldo gemäß den Vereinbarungen von 2011 und 2012 zuzüglich Zinsen zu zahlen.

16

Mit Urteil vom 14. Dezember 2015 gab das Kaunas apygardos teismas (Bezirksgericht Kaunas) diesen Anträgen statt. Das Lietuvos apeliacinis teismas (Litauisches Appellationsgericht) bestätigte dieses Urteil durch seine Entscheidung vom 31. Mai 2016. Diese Gerichte vertraten die Auffassung, dass die Vereinbarungen von 2011 und 2012 eine Vereinbarung über Finanzsicherheiten umfassten, die die Geldmittel zum Gegenstand hatten, die sich auf dem im Namen von Aviabaltika bei der Bank eröffneten Konto befanden. Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen Ūkio bankas seien diese Mittel in die Insolvenzmasse gefallen. Das Recht der Bank, darüber zu verfügen, sei durch das nach dem nationalen Recht in diesem Bereich bestehende Verbot, zum Zeitpunkt der Eröffnung dieses Verfahrens nicht verwertete Verbindlichkeiten zu verwerten, beschränkt. Aviabaltika legte beim Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof, Litauen) Revision ein.

17

Das vorlegende Gericht führt aus, dass Aviabaltika und Ūkio bankas einen Vertrag über die Bestellung einer Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2002/47 geschlossen hätten und dass nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen den Sicherungsnehmer, also im vorliegenden Fall Ūkio bankas, ein Verwertungsfall eingetreten sei. Somit stellt sich das vorlegende Gericht insbesondere die Frage, ob diese Sicherheit vom Sicherungsnehmer verwertet werden kann, damit er seine Forderung gegenüber dem Sicherungsgeber, d. h. Aviabaltika, befriedigen kann, die durch die unterbliebene Erfüllung der durch diese Finanzsicherheit besicherten Verbindlichkeiten entstanden ist.

18

Aviabaltika macht geltend, Ūkio bankas müsse auf der Grundlage der Richtlinie 2002/47, insbesondere deren Art. 4, zur Befriedigung ihrer Forderung die Mittel verwenden, die sie ihr als Sicherheit gestellt habe, und nicht anderes ihr gehörendes Vermögen. Darüber hinaus könne sie, wenn den Anträgen von Ūkio bankas stattgegeben würde, diese Mittel im Rahmen des Insolvenzverfahrens nicht zurückerlangen und müsse in der Praxis der Bank den Betrag der Finanzsicherheit ein zweites Mal zahlen. Demgegenüber bringt Ūkio bankas vor, dass die genannten Mittel nach den nationalen bank- und insolvenzrechtlichen Bestimmungen in die Insolvenzmasse gefallen seien und nicht verwendet werden könnten, um ihre eigenen Forderungen zu befriedigen. Zudem sei sie nach der Richtlinie als Sicherungsnehmerin der Finanzsicherheit berechtigt, aber nicht verpflichtet, die hierfür gestellten Geldmittel zu verwenden, und könne ihre Forderung wahlweise auch aus dem anderen Vermögen von Aviabaltika befriedigen.

19

Dass sich auf einem Bankkonto befindliche Geldmittel als Finanzsicherheit gestellt wurden, bewirkte nach den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass die Forderung auf Rückzahlung dieser Mittel als Sicherheit gegeben wurde, wobei das Eigentum an diesen Mitteln auf die Bank überging. Darüber hinaus seien die nationalen bank- und insolvenzrechtlichen Bestimmungen, auf die sich die Gerichte des ersten und des zweiten Rechtszugs gestützt hatten, auf die Situation des Ausgangsverfahrens anwendbar; dies gelte insbesondere für das Verbot, zum Zeitpunkt der Einleitung des Insolvenzverfahrens noch nicht verwertete Verbindlichkeiten zu verwerten, das der Verwertung dieser Sicherheit und ihrer effektiven Verwendung durch den Sicherungsnehmer entgegenstehe. Wenn der Sicherungsgeber verpflichtet sei, die besicherten Verbindlichkeiten wegen der genannten unterbliebenen Verwertung mit Hilfe seiner anderen Vermögenswerte zu erfüllen, hinderten ihn in der Praxis insolvenzrechtliche Vorschriften daran, die Sicherheit zurückzuerlangen.

20

Unter diesen Umständen hat der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof, Litauen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

21

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2002/47 dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, eine Regelung zu erlassen, wonach der Sicherungsnehmer einer Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts seine Forderung, die aufgrund der Nichterfüllung der besicherten Verbindlichkeiten entstanden ist, aus dieser Sicherheit befriedigen kann, wenn der Verwertungs- bzw. Beendigungsfall der Sicherheit nach der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegenüber dem Sicherungsnehmer eintritt.

22

Ausweislich des Vorabentscheidungsersuchens ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Finanzsicherheit in die Insolvenzmasse von Ūkio bankas, dem Sicherungsnehmer, gefallen sei und aufgrund eines im innerstaatlichen Recht geltenden Verwertungsverbots nicht zur effektiven Befriedigung seiner Forderung verwertet werde dürfe. Diese Situation soll somit wohl in der Praxis zur Folge haben, dass der Sicherungsgeber verpflichtet ist, den Betrag dieser Sicherheit, die vom Insolvenzverfahren erfasst sei, ein zweites Mal an den Sicherungsnehmer zu zahlen.

23

Zunächst geht aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2002/47 unzweideutig hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, einen rechtlichen Rahmen vorzusehen, nach dem eine Finanzsicherheit vereinbarungsgemäß wirksam werden kann, auch wenn gegenüber dem Sicherungsgeber oder Sicherungsnehmer ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde oder ein solches Verfahren andauert. Diese Vorschrift nennt ausdrücklich beide Parteien der Finanzsicherheit, ohne hinsichtlich deren Verwertung danach zu unterscheiden, ob ein solches Verfahren gegenüber der einen oder der anderen Partei eröffnet wird.

24

Was sodann die Systematik und den Zweck der Richtlinie 2002/47 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese nach ihrem dritten Erwägungsgrund zur weiteren Integration und höheren Kostenwirksamkeit des Finanzmarkts sowie zur Stabilität des Finanzsystems in der Europäischen Union beitragen soll. Zu diesem Zweck wurde durch diese Richtlinie eine Regelung eingeführt, die den Verwaltungsaufwand der Parteien bei der Bestellung von Finanzsicherheiten im Sinne dieser Richtlinie möglichst gering halten und die Rechtssicherheit dieser Finanzsicherheiten erhöhen soll, indem sie von bestimmten nationalen Vorschriften des Insolvenzrechts ausgenommen sind, um die finanzielle Stabilität zu sichern und Dominoeffekte im Fall einer Vertragsverletzung durch eine der Parteien der Sicherungsvereinbarung zu begrenzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Private Equity Insurance Group, C‑156/15, EU:C:2016:851, Rn. 23).

25

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie, wonach der Sicherungsnehmer eine in Form eines beschränkten dinglichen Sicherungsrechts bestellte Finanzsicherheit auf eine der angeführten Arten verwerten können muss, entschieden, dass diese Regelung also Finanzsicherheiten im Vergleich zu anderen Sicherungsarten, die nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, einen Vorteil einräumt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Private Equity Insurance Group, C‑156/15, EU:C:2016:851, Rn. 25 und 50).

26

In der Rechtssache, in der dieses Urteil erging, war dem Gerichtshof allerdings nur eine Frage darüber gestellt worden, ob die Richtlinie 2002/47 dahin auszulegen ist, dass sie den Sicherungsnehmern der genannten Sicherheiten das Recht gibt, diese zu verwerten, auch wenn gegenüber dem Sicherungsgeber ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Da jedoch Art. 4 Abs. 5 dieser Richtlinie, wie sich aus Rn. 23 des vorliegenden Urteils ergibt, nicht danach unterscheidet, ob ein Insolvenzverfahren gegenüber dem Sicherungsgeber oder gegenüber dem Sicherungsnehmer eröffnet wird, ist die Richtlinie dahin auszulegen, dass die durch sie eingeführte Regelung auch den Sicherungsnehmern von Finanzsicherheiten das Recht gibt, diese zu verwerten, auch wenn gegen sie ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde.

27

Wie der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist daher Ziel der Richtlinie 2002/47, eine besondere Regelung für die Finanzsicherheit einzuführen, um die Stabilität des Finanzsystems der Union zu stärken.

28

Eine Auslegung von Art. 4 Abs. 5 dieser Richtlinie, wonach die Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts aufgrund der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegenüber dem Sicherungsnehmer ins Leere liefe, wodurch der Sicherungsnehmer an der effektiven Befriedigung seiner Forderung aus dieser Sicherheit gehindert und der Sicherungsgeber verpflichtet würde, dem Sicherungsnehmer den Betrag der Sicherheit in der Praxis ein zweites Mal zu zahlen, stünde jedoch sowohl zum Wortlaut dieser Vorschrift als auch zu den Zielen der Richtlinie 2002/47 in Widerspruch. Diese Auslegung würde nämlich dazu führen, einer solchen Sicherheit weitgehend ihre Wirksamkeit zu nehmen, und könnte entgegen dem Ziel, Dominoeffekte im Fall einer Vertragsverletzung durch eine der Parteien zu begrenzen, gegebenenfalls beim Sicherungsgeber finanzielle Schwierigkeiten verursachen.

29

Zudem ist es, wie der Generalanwalt in den Nrn. 59 und 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, aufgrund dessen, dass Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2002/47 keine näheren Angaben dazu enthält, wie die praktische Wirksamkeit einer Finanzsicherheit sicherzustellen ist, auch wenn ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, Sache der Mitgliedstaaten, die geeigneten Mittel vorzusehen, um eine solche praktische Wirksamkeit sicherzustellen. Hierzu könnte gehören, dass die Finanzsicherheit nicht in die Insolvenzmasse des Sicherungsnehmers fällt.

30

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2002/47 dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, eine Regelung zu erlassen, wonach der Sicherungsnehmer einer Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts seine Forderung, die aufgrund der Nichterfüllung der besicherten Verbindlichkeiten entstanden ist, aus dieser Sicherheit befriedigen kann, wenn der Verwertungs- bzw. Beendigungsfall der Sicherheit nach der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegenüber dem Sicherungsnehmer eintritt.

Zur zweiten Frage

31

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 2002/47 dahin auszulegen ist, dass er den Sicherungsnehmer einer Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts verpflichtet, seine Forderung, die aufgrund der Nichterfüllung der durch diese Sicherheit besicherten Verbindlichkeiten entstanden ist, vorrangig aus dieser Sicherheit zu befriedigen.

32

Erstens ist hinsichtlich des Wortlauts von Art. 4 der Richtlinie festzustellen, dass die Formulierung „der Sicherungsnehmer … kann“ in Abs. 1 dieser Bestimmung impliziert, dass der Sicherungsnehmer im Verwertungs- bzw. Beendigungsfall die Möglichkeit hat, diese Sicherheit zu verwerten, hierzu aber nicht verpflichtet ist. Darüber hinaus weist der in Art. 4 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 2002/47 enthaltene Begriff „vereinbarungsgemäß“ auf die den Vertragsklauseln von der Richtlinie 2002/47 eingeräumte Priorität hin.

33

Wie der Generalanwalt in Nr. 74 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, soll diese Bestimmung somit wohl sicherstellen, dass die Finanzsicherheit vorrangig gemäß den zwischen den Parteien getroffenen vertraglichen Abmachungen verwertet wird.

34

Was zweitens den Kontext betrifft, in den sich Art. 4 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 2002/47 einfügt, ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 Buchst. l dieser Richtlinie, der den „Verwertungs- bzw. Beendigungsfall“ definiert als „Vertragsverletzung oder jedes Ereignis, das die Vertragsparteien kraft Vereinbarung einer Vertragsverletzung gleichstellen“, bei dessen bzw. deren Eintreten „der Sicherungsnehmer … zur Verwertung [der Finanzsicherheit] … berechtigt ist“, die Bedeutung der zwischen den Parteien getroffenen Vereinbarungen bestätigt. Dies geht ebenfalls aus dem Wortlaut anderer Bestimmungen dieser Richtlinie hervor, wie etwa aus ihrem Art. 4 Abs. 4, der auf „die Bedingungen der Sicherungsvereinbarung“ Bezug nimmt.

35

Vor diesem Hintergrund soll nach Art. 4 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 2002/47 die Finanzsicherheit unter Beachtung des in Rn. 24 des vorliegenden Urteils genannten Zwecks dieser Richtlinie vorrangig nach den zwischen den Parteien getroffenen Vereinbarungen verwertet werden.

36

Ist diese Frage nicht vertraglich geregelt, ergibt sich aus diesem Zweck, dass der Sicherungsnehmer seine Forderung vorrangig aus der hierfür gestellten Sicherheit zu befriedigen hat, bevor er auf andere Vermögenswerte des Sicherungsgebers zurückgreift. Diese Anforderung ist nämlich dadurch, dass der Sicherungsgeber deswegen den Betrag dieser seiner Verbindlichkeit entsprechenden Sicherheit in der Praxis nicht ein zweites Mal zahlen muss, geeignet, einen Dominoeffekt im Fall der Insolvenz des Sicherungsnehmers zu vermeiden.

37

Hinsichtlich der konkret im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation scheint aus den Angaben in der Vorlageentscheidung und insbesondere aus Abs. 6.3 der Vereinbarungen vom 2011 und 2012, wonach die Finanzsicherheit „die ordnungsgemäße Erfüllung der sich aus der Vereinbarung ergebenden Verpflichtungen der Kundin gegenüber der Bank sicher[stellt]“, hervorzugehen, dass die Sicherungsnehmerin ihre Forderung vorrangig aus der Finanzsicherheit zu befriedigen hat, bevor sie auf andere Vermögenswerte der Sicherungsgeberin zurückgreift. Dies ist jedoch vom vorlegenden Gericht zu prüfen.

38

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 2002/47 dahin auszulegen ist, dass er den Sicherungsnehmer einer Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts nicht verpflichtet, seine Forderung, die aufgrund der Nichterfüllung der durch diese Sicherheit besicherten Verbindlichkeiten entstanden ist, vorrangig aus dieser Sicherheit zu befriedigen.

Zur dritten Frage

39

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2002/47, insbesondere ihre Art. 4 und 8, dahin auszulegen ist, dass dann, wenn der Sicherungsnehmer einer Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts seine Forderung, die aufgrund der Nichterfüllung der besicherten Verbindlichkeiten entstanden ist, aus anderen Vermögenswerten des Sicherungsgebers als dieser Sicherheit befriedigt hat, der Sicherungsgeber gegenüber den anderen Gläubigern im Rahmen des Insolvenzverfahrens gegen den Sicherungsnehmer zu bevorzugen ist, damit er die Sicherheit zurückerlangen kann.

40

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt die Rechtfertigung für ein Vorabentscheidungsersuchen nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits über das Unionsrecht erforderlich ist (Urteil vom 10. November 2016, Private Equity Insurance Group, C‑156/15, EU:C:2016:851, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Wie der Generalanwalt in Nr. 93 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stehen sich im Ausgangsrechtsstreit Ūkio bankas und Aviabaltika wegen der Durchführung der zwischen ihnen geschlossenen Vereinbarungen von 2011 und 2012 gegenüber; das Ausgangsverfahren betrifft nicht den Ablauf des Insolvenzverfahrens gegen Ūkio bankas. Aus den im Vorabentscheidungsersuchen enthaltenen Angaben geht weder hervor, dass bei dem vorlegenden Gericht eine gegen die Bank gerichtete Widerklage auf Erstattung der Finanzsicherheit anhängig wäre, noch, dass es über Fragen der Befriedigung der Forderung von Aviabaltika gegen Ūkio bankas aus dieser Finanzsicherheit im Rahmen des Insolvenzverfahrens zu befinden hätte.

42

Außerdem enthält diese Frage keine Angaben zum Bestehen oder dem Inhalt von nationalen Bestimmungen, die sich auf die Reihenfolge der Gläubiger im Rahmen des Insolvenzverfahrens auswirken könnten und die das vorlegende Gericht je nach Antwort des Gerichtshofs gegebenenfalls zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits anwenden könnte.

43

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die dritte Frage hypothetischer Art ist; daher ist sie als unzulässig anzusehen.

Kosten

44

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2002/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten in der durch die Richtlinie 2009/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, eine Regelung zu erlassen, wonach der Sicherungsnehmer einer Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts seine Forderung, die aufgrund der Nichterfüllung der besicherten Verbindlichkeiten entstanden ist, aus dieser Sicherheit befriedigen kann, wenn der Verwertungs- bzw. Beendigungsfall der Sicherheit nach der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegenüber dem Sicherungsnehmer eintritt.

 

2.

Art. 4 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 2002/47 in der durch die Richtlinie 2009/44 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er den Sicherungsnehmer einer Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts nicht verpflichtet, seine Forderung, die aufgrund der Nichterfüllung der durch diese Sicherheit besicherten Verbindlichkeiten entstanden ist, vorrangig aus dieser Sicherheit zu befriedigen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.

Top