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Document 62016CJ0573
Judgment of the Court (Seventh Chamber) of 19 October 2017.#Air Berlin plc v Commissioners for Her Majesty's Revenue & Customs.#Request for a preliminary ruling from the High Court of Justice of England and Wales, Chancery Division.#Reference for a preliminary ruling – – Indirect taxes – – Raising of capital – – Imposition of a duty of 1.5% on the transfer into a clearance service of newly issued shares or shares intended to be listed on a stock exchange of a Member State.#Case C-573/16.
Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 19. Oktober 2017.
Air Berlin plc gegen Commissioners for Her Majesty's Revenue & Customs.
Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Indirekte Steuern – Ansammlung von Kapital – Erhebung einer Steuer in Höhe von 1,5 % auf die Übertragung neu ausgegebener Aktien oder von Aktien, die an einer Börse eines Mitgliedstaats notiert werden sollen, auf einen Abrechnungsdienst (clearance service).
Rechtssache C-573/16.
Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 19. Oktober 2017.
Air Berlin plc gegen Commissioners for Her Majesty's Revenue & Customs.
Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Indirekte Steuern – Ansammlung von Kapital – Erhebung einer Steuer in Höhe von 1,5 % auf die Übertragung neu ausgegebener Aktien oder von Aktien, die an einer Börse eines Mitgliedstaats notiert werden sollen, auf einen Abrechnungsdienst (clearance service).
Rechtssache C-573/16.
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2017:772
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
19. Oktober 2017 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Indirekte Steuern – Ansammlung von Kapital – Erhebung einer Steuer in Höhe von 1,5 % auf die Übertragung neu ausgegebener Aktien oder von Aktien, die an einer Börse eines Mitgliedstaats notiert werden sollen, auf einen Abrechnungsdienst (clearance service)“
In der Rechtssache C‑573/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Hoher Gerichtshof [England & Wales], Abteilung Chancery, Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 20. Oktober 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 14. November 2016, in dem Verfahren
Air Berlin plc
gegen
Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas (Berichterstatter) sowie der Richterinnen A. Prechal und C. Toader,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– |
der Air Berlin plc, vertreten durch S. Grodzinski, QC, und M. Jones, Barrister, durch M. Whitehouse sowie durch D. Pickstone und M. Greene, Solicitors, |
– |
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch D. Robertson als Bevollmächtigten im Beistand von R. Baldry, QC, |
– |
der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und W. Roels als Bevollmächtigte, |
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 10 und 11 der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. 1969, L 249, S. 25), der Art. 4 und 5 der Richtlinie 2008/7/EG des Rates vom 12. Februar 2008 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. 2008, L 46, S. 11) sowie der Art. 12, 43, 48, 49 oder 56 des EG-Vertrags (jetzt Art. 18, 49, 54, 56 und 63 AEUV). |
2 |
Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Air Berlin plc und den Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs (Steuer- und Zollbehörde des Vereinigten Königreichs, im Folgenden: HMRC) wegen der Erhebung einer Steuer gemäß Section 70 des Finance Act 1986 (Finanzgesetz von 1986, im Folgenden: FA 1986) auf bestimmte Übertragungen von Aktien in den Jahren 2006 und 2009. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 69/335
3 |
Nach ihrem ersten Erwägungsgrund soll die Richtlinie 69/335 den freien Kapitalverkehr im Hinblick auf die Schaffung einer Wirtschaftsunion mit ähnlichen Eigenschaften wie ein Binnenmarkt fördern. Zu diesem Zweck soll sie, wie aus ihren Erwägungsgründen 6 bis 8 hervorgeht, die Steuer, die auf die Ansammlung von Kapital von Gesellschaften in der Europäischen Gemeinschaft erhoben wird, durch die Einführung einer einheitlichen Steuer auf die Ansammlung von Kapital, die innerhalb des Gemeinsamen Marktes nur einmal erhoben werden kann, und durch die Aufhebung aller anderen indirekten Steuern mit den gleichen Merkmalen wie diese einheitliche Gesellschaftsteuer harmonisieren. |
4 |
In Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 69/335 sind die Vorgänge aufgeführt, die der Gesellschaftsteuer unterliegen. Zu ihnen gehören u. a. die Gründung einer Kapitalgesellschaft und die Erhöhung ihres Kapitals. |
5 |
Art. 10 der Richtlinie 69/335 sieht die Aufhebung der auf die in Art. 4 der Richtlinie genannten Vorgänge erhobenen Steuern oder Abgaben mit den gleichen Merkmalen wie die Gesellschaftsteuer vor. |
6 |
Art. 11 der Richtlinie 69/335 lautet: „Die Mitgliedstaaten erheben keine Steuer irgendwelcher Art:
|
7 |
Nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie können die Mitgliedstaaten jedoch in Abweichung von den Art. 10 und 11 der Richtlinie „pauschal oder nicht pauschal erhobene Börsenumsatzsteuern“ erheben. |
Richtlinie 2008/7
8 |
Die Richtlinie 2008/7 ist eine Neufassung der Richtlinie 69/335, deren Wortlaut sie im Wesentlichen übernimmt. Nach ihren Erwägungsgründen 4 bis 6 zielt sie jedoch auf die schrittweise Abschaffung der Gesellschaftsteuer ab. |
9 |
Art. 4 der Richtlinie betrifft Umstrukturierungen. |
10 |
Art. 5 („Keinen indirekten Steuern unterliegende Vorgänge“) der Richtlinie bestimmt: „(1) Die Mitgliedstaaten erheben von Kapitalgesellschaften keinerlei indirekte Steuern auf
… (2) Die Mitgliedstaaten erheben keine indirekte Steuer irgendwelcher Art
…“ |
11 |
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten jedoch unbeschadet von Art. 5 „pauschal oder nicht pauschal erhobene Steuern auf die Übertragung von Wertpapieren“ erheben. |
Recht des Vereinigten Königreichs
12 |
Das Vereinigte Königreich erhebt keine Gesellschaftsteuer. Es erhebt jedoch eine Stempelsteuer (stamp duty) auf bestimmte Schriftstücke, mit denen die Übertragung von Aktien bewirkt wird. Bei einem Verkauf mittels eines Schriftstücks beträgt die Stempelsteuer gemäß Rn. 1 von Schedule 13 des Finance Act 1999 0,5 % des Betrags oder Werts der Gegenleistung für die Übertragung. Bei der Übertragung von Aktien in anderer Weise als durch Verkauf beträgt die Stempelsteuer nach Rn. 16 von Schedule 13 des Finance Act 1999 5 Britische Pfund (GBP) (etwa 7 Euro). Diese Steuer in Höhe von 5 GBP wurde 2008 abgeschafft. |
13 |
Wird die Übertragung nicht durch ein Schriftstück bewirkt, z. B. bei elektronischen Übertragungen, wird nach Section 87 des FA 1986 eine die Stempelsteuer ergänzende Steuer (stamp duty reserve tax, im Folgenden: SDRT) in Höhe von 0,5 % des Betrags oder Werts der Gegenleistung für die Übertragung erhoben. |
14 |
Da es Schwierigkeiten bereitet, die Steuer bei jeder im Rahmen von Abrechnungssystemen erfolgenden Eigentumsübertragung zu erheben, gelten dafür Sondervorschriften, im vorliegenden Fall Section 70 oder Section 96 des FA 1986. Danach ist bei der Aufnahme der Wertpapiere in ein Abrechnungssystem die Stempelsteuer oder die SDRT in Höhe von 1,5 % zu entrichten, während nachfolgende Übertragungen innerhalb dieses Systems von Steuern befreit sind. Mit Zustimmung von HMRC kann ein Abrechnungsdienst jedoch für eine alternative, in Section 97A des FA 1986 enthaltene Regelung optieren, wonach die Steuer in Höhe von 1,5 % bei der Aufnahme der Aktien in den Abrechnungsdienst nicht anfällt, aber bei jeder Aktienübertragung innerhalb des Abrechnungsdiensts die SDRT in Höhe von 0,5 % der Gegenleistung für die Übertragung erhoben wird. |
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
15 |
Air Berlin ist eine im Vereinigten Königreich gegründete kommerzielle Fluggesellschaft. Am 11. Mai 2006 nahm sie eine Erstemission (Initial Public Offering) an der Frankfurter Wertpapierbörse vor. |
16 |
Nach deutschem Recht musste Air Berlin, damit ihre Aktien an der Frankfurter Wertpapierbörse notiert werden konnten, ihren Zulassungsantrag auf alle Aktien derselben Gattung erstrecken, einschließlich derjenigen, die bei dem Börsengang nicht veräußert werden sollten. Um diesem Erfordernis zu genügen, war die Fluggesellschaft verpflichtet, das formelle Eigentumsrecht an den bestehenden, ihr gesamtes Aktienkapital darstellenden Stammaktien auf die Clearstream Banking AG (im Folgenden: Clearstream Frankfurt) als Beauftragte für den Abwicklungs- und Abrechnungsdienst der Frankfurter Wertpapierbörse zu übertragen. |
17 |
Die bestehenden, von den bestehenden Aktionären gehaltenen 40177604 Stammaktien, an denen Air Berlin das formelle Eigentumsrecht auf Clearstream Frankfurt übertrug, umfassten
|
18 |
Diese Aktienübertragungen auf Clearstream Frankfurt führten zur Erhebung der im Vereinigten Königreich vorgesehenen Stempelsteuer nach Section 70 des FA 1986 in Höhe von 4971410 GBP (etwa 7282100 Euro), was 1,5 % des Marktwerts der Aktien zum Zeitpunkt der Übertragung entsprach. |
19 |
Die Erstemission war mit der Ausgabe von 19565217 neuen Aktien verbunden, die nicht Teil der 40177604 übertragenen Aktien waren und auf deren Wert nach den Angaben des Vereinigten Königreichs keine Stempelsteuer erhoben wurde. |
20 |
Am 10. Juni 2009 gab Air Berlin weitere 4500000 Stammaktien zu je 3,50 Euro (also insgesamt 15,75 Mio. Euro) an drei verschiedene Aktionäre aus. Die für ihre Notierung an der Frankfurter Wertpapierbörse erforderliche Übertragung des formellen Eigentumsrechts an ihnen auf Clearstream Frankfurt fand am 7. Oktober 2009 statt und führte zur Erhebung von Stempelsteuer in Höhe von 241010 GBP (etwa 260580 Euro), was 1,5 % des Marktwerts der Aktien zum Zeitpunkt der Übertragung entsprach. |
21 |
Voraussetzung für die Zustimmung von HMRC zu der in Section 97A des FA 1986 vorgesehenen Option ist in der Regel, dass der Betreiber des Abrechnungsdiensts Vorkehrungen trifft, die gewährleisten, dass HMRC bei jeder nachfolgenden Übertragung innerhalb des Abrechnungsdiensts die SDRT in Höhe von 0,5 % erheben kann und dass die übrigen relevanten Anforderungen der für die SDRT geltenden Rechtsvorschriften eingehalten werden. |
22 |
Nach dem Recht des Vereinigten Königreichs stand es Clearstream Frankfurt zwar frei, in Bezug auf die beiden Aktienübertragungen von 2006 und 2009 für Section 97A des FA 1986 zu optieren, doch geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das Unternehmen hiervon nicht Gebrauch machte. Air Berlin konnte dies von Clearstream Frankfurt auch nicht verlangen. |
23 |
Die Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs enthalten keine Definition des für die Stempelsteuer Verantwortlichen. Wird diese jedoch bei einer Aktienübertragung nicht entrichtet, kann der Erwerber der Aktien nicht als formeller Eigentümer eingetragen werden, und die Übertragung kann nicht als Beweis in Gerichtsverfahren angeführt werden. Deshalb wird der Erwerber in der Regel dafür Sorge tragen, dass die Stempelsteuer entrichtet wird. Im Verhältnis zu einem Abrechnungsdienst entsprach es allerdings der üblichen Geschäftspraxis des Unternehmens, dessen Aktien bei dem Abrechnungsdienst verwahrt werden sollten, die Stempelsteuer zu entrichten. Air Berlin entrichtete daher die Stempelsteuer für die beiden Aktienübertragungen von 2006 und 2009. |
24 |
Am 23. März 2010 beantragte Air Berlin bei HMRC die Rückzahlung der auf die genannten Transaktionen erhobenen Stempelsteuer. Mit Bescheid vom 5. September 2011 lehnte HMRC dies ab. |
25 |
Der mit einem Rechtsbehelf gegen diesen Bescheid befasste High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Hoher Gerichtshof [England & Wales], Abteilung Chancery, Vereinigtes Königreich), hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
|
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
26 |
Die erste und die zweite Frage sind gemeinsam zu prüfen. Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 10 oder 11 der Richtlinie 69/335, Art. 4 oder 5 der Richtlinie 2008/7 sowie Art. 12, 43, 48, 49 oder 56 EG (jetzt Art. 18, 49, 54, 56 oder 63 AEUV) dahin auszulegen sind, dass sie der Erhebung von Stempelsteuer in Höhe von 1,5 % durch einen Mitgliedstaat auf eine Übertragung von Aktien auf einen Abrechnungsdienst entgegenstehen. Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Antwort auf die erste Frage anders ausfällt, wenn die Aktienübertragung auf den Abrechnungsdienst erforderlich war, um eine Notierung des betreffenden Unternehmens an einer Wertpapierbörse in diesem oder einem anderen Mitgliedstaat zu erleichtern. |
27 |
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 69/335 sowie die Richtlinie 2008/7, mit der sie aufgehoben und ersetzt wurde, die Fälle, in denen die Mitgliedstaaten die Ansammlung von Kapital indirekten Steuern unterwerfen dürfen, abschließend harmonisiert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2007, Kommission/Griechenland, C‑178/05, EU:C:2007:317, Rn. 31, sowie vom 1. Oktober 2009, HSBC Holdings und Vidacos Nominees, C‑569/07, EU:C:2009:594, Rn. 25). |
28 |
Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, sind nationale Maßnahmen, die sich auf eine Frage beziehen, die Gegenstand einer Harmonisierung auf Unionsebene ist, anhand der Bestimmungen dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand des AEU-Vertrags zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2009, HSBC Holdings und Vidacos Nominees, C‑569/07, EU:C:2009:594, Rn. 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
29 |
Folglich hat sich der Gerichtshof bei der Beantwortung der ersten und der zweiten Vorlagefrage auf die Auslegung der Richtlinien 69/335 und 2008/7 zu beschränken. |
30 |
Hierzu ist festzustellen, dass Art. 4 der Richtlinie 2008/7 Umstrukturierungen betrifft und im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht relevant sein dürfte. Demnach sind die Art. 10 und 11 der Richtlinie 69/335 sowie Art. 5 der Richtlinie 2008/7 auszulegen, die u. a. jede Form der Erhebung indirekter Steuern auf Kapitalzuführungen sowie auf die Ausfertigung, die Ausgabe, die Börsenzulassung, das Inverkehrbringen von oder den Handel mit Aktien, Anteilen oder anderen Wertpapieren gleicher Art verbieten. |
31 |
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich eindeutig, dass die Art. 10 und 11 der Richtlinie 69/335 sowie Art. 5 der Richtlinie 2008/7 in Anbetracht der mit diesen Richtlinien verfolgten Ziele weit auszulegen sind, um zu verhindern, dass den in diesen Bestimmungen vorgesehenen Verboten die praktische Wirksamkeit genommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juli 2004, Kommission/Belgien, C‑415/02, EU:C:2004:450, Rn. 33, vom 28. Juni 2007, Albert Reiss Beteiligungsgesellschaft, C‑466/03, EU:C:2007:385, Rn. 39, sowie vom 1. Oktober 2009, HSBC Holdings und Vidacos Nominees, C‑569/07, EU:C:2009:594, Rn. 34). |
32 |
Der Gerichtshof hat dazu entschieden, dass das Verbot der Besteuerung von Kapitalansammlungsvorgängen im Einklang mit den Zielen von Art. 11 der Richtlinie 69/335 und von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2008/7 auch für Vorgänge gilt, deren Besteuerung nicht ausdrücklich verboten ist, sofern diese darauf hinausliefe, dass ein Umsatz als Bestandteil eines Gesamtumsatzes im Hinblick auf die Ansammlung von Kapital besteuert würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Oktober 2014, Gielen, C‑299/13, EU:C:2014:2266, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
33 |
Im Ausgangsverfahren erfüllt die Verwirklichung von zwei gesonderten Vorgängen den Steuertatbestand der SDRT. Der erste Vorgang ist die Übertragung des formellen Eigentumsrechts an 40177604 bestehenden Stammaktien, die von den bestehenden Aktionären gehalten wurden, durch Air Berlin auf Clearstream Frankfurt im Jahr 2006. Beim zweiten Vorgang handelt es sich um die Ausgabe weiterer 4500000 Stammaktien an drei verschiedene Aktionäre im Jahr 2009; das formelle Eigentumsrecht an diesen Aktien wurde dann auf Clearstream Frankfurt übertragen. Die Auslegung der Richtlinie 69/335 ist für den ersten Vorgang relevant und die Auslegung der Richtlinie 2008/7 für den zweiten Vorgang. |
34 |
In Bezug auf den Vorgang im Jahr 2006 macht das Vereinigte Königreich geltend, es habe sich um eine Übertragung bestehender Aktien auf einen Abrechnungsdienst – ohne Einwerbung neuen Kapitals für das Unternehmen – gehandelt. Gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 69/335, wonach die Mitgliedstaaten in Abweichung von den Art. 10 und 11 der Richtlinie Börsenumsatzsteuern erheben könnten, habe darauf die Stempelsteuer erhoben werden können. Die Auslegung von Air Berlin, dass Art. 12 der Richtlinie auf die Fälle zu beschränken sei, in denen ein Eigentumswechsel zwischen als Investoren handelnden Personen stattfinde, so dass eine Übertragung auf einen Abrechnungsdienst nicht unter diese Bestimmung falle, treffe nicht zu. Der Begriff „Übertragung von Wertpapieren“ in Art. 12 erfasse jeden Vorgang, mit dem ein Recht an oder aus Wertpapieren von einer Person auf eine andere übertragen werde, und hänge nicht von der Stellung oder Eigenschaft des Übertragenden oder des Begünstigten der Übertragung ab. Dies sei bei einer Übertragung von Wertpapieren auf einen Abrechnungsdienst der Fall, da sie sich auf das Eigentum an den Wertpapieren auswirke und mit einer grundlegenden Änderung der jeweiligen Rechte der Parteien verbunden sei, auch wenn das wirtschaftliche Eigentum nicht auf den Abrechnungsdienst übertragen werde. |
35 |
Insoweit hat das vorlegende Gericht zwar weder die Funktionsweise des Abrechnungssystems noch die rechtlichen, formalen und tatsächlichen Folgen der Übertragung des formellen Eigentumsrechts an den Aktien auf Clearstream Frankfurt näher dargelegt, doch hat das Vereinigte Königreich anerkannt, dass keine Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums an den Aktien stattfand. Somit war diese nach deutschem Recht erforderliche Übertragung des formellen Eigentumsrechts offenbar lediglich eine auf der Funktionsweise des Abrechnungssystems beruhende Voraussetzung ohne Auswirkungen auf das Verfügungs- oder Nutzungsrecht an den Aktien. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich hierzu, dass die 2177604 Stammaktien, die von Arbeitnehmern gehalten wurden und von ihnen nicht veräußert werden durften, an der Frankfurter Wertpapierbörse notiert werden konnten, obwohl das formelle Eigentumsrecht an ihnen auf den Abrechnungsdienst übertragen worden war. |
36 |
Daraus folgt, dass eine solche Übertragung des formellen Eigentumsrechts, die sich nicht auf das wirtschaftliche Eigentum auswirkt, nicht als eine einen eigenständigen Vorgang darstellende Übertragung von Wertpapieren angesehen werden kann, die gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 69/335 besteuert werden darf. Sie ist als bloßer akzessorischer, zur Zulassung der Aktien an der Frankfurter Wertpapierbörse gehörender Vorgang zu betrachten, auf den gemäß Art. 11 der Richtlinie 69/335 keine Steuer irgendwelcher Art erhoben werden durfte. |
37 |
Dass nach deutschem Recht eine Gesellschaft, um an der Frankfurter Wertpapierbörse notiert werden zu können, die Zulassung aller Aktien derselben Gattung einschließlich derjenigen, die bei dem Börsengang nicht veräußert werden sollen, beantragen muss, kann ein Indiz dafür darstellen, dass es sich um einen Gesamtvorgang mit dem Ziel der Zulassung einer Gesellschaft zur Frankfurter Wertpapierbörse handelt, der auch die Übertragung des formellen Eigentumsrechts an den Aktien auf Clearstream Frankfurt umfasst. Das Bestehen einer gesetzlichen Verpflichtung ist jedoch nicht erforderlich, wenn geklärt werden soll, ob ein Vorgang einen Selbstzweck hat oder als Bestandteil eines Gesamtvorgangs zur Ansammlung von Kapital anzusehen ist. |
38 |
In Bezug auf den Vorgang im Jahr 2009 hebt das Vereinigte Königreich hervor, dass die am 7. Oktober 2009 erfolgte Übertragung von Aktien ein Vorgang sei, der sich von der am 10. Juni 2009 durchgeführten Kapitalerhöhung durch die Ausgabe von 4500000 Aktien an neue Zeichner unterscheide und nach ihr stattgefunden habe, so dass auf ihn gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/7 eine Steuer auf die Übertragung von Wertpapieren habe erhoben werden dürfen. |
39 |
Es ist jedoch festzustellen, dass es sich bei den auf den Abrechnungsdienst übertragenen Aktien von Air Berlin um neue, aus einer Kapitalerhöhung stammende Aktien handelte. |
40 |
Die Erlaubnis zur Erhebung einer Steuer oder Gebühr auf den Ersterwerb eines neu emittierten Wertpapiers läuft jedoch in Wirklichkeit auf die Besteuerung der Emission dieses Wertpapiers selbst als Bestandteil eines Gesamtumsatzes im Hinblick auf die Ansammlung von Kapital hinaus. Eine Emission von Wertpapieren ist nämlich kein Selbstzweck, sondern wird erst in dem Moment sinnvoll, in dem diese Wertpapiere Erwerber finden (Urteile vom 15. Juli 2004, Kommission/Belgien, C‑415/02, EU:C:2004:450, Rn. 32, und vom 1. Oktober 2009, HSBC Holdings und Vidacos Nominees, C‑569/07, EU:C:2009:594, Rn. 32). |
41 |
Die praktische Wirksamkeit von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/7 verlangt somit, dass die „Ausgabe“ im Sinne dieser Bestimmung den Ersterwerb von Wertpapieren umfassen muss, der im Rahmen ihrer Emission erfolgt (vgl. entsprechend Urteile vom 15. Juli 2004, Kommission/Belgien, C‑415/02, EU:C:2004:450, Rn. 33, und vom 1. Oktober 2009, HSBC Holdings und Vidacos Nominees, C‑569/07, EU:C:2009:594, Rn. 33). |
42 |
Daher sind die erste und die zweite Frage wie folgt zu beantworten:
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Zur dritten und zur vierten Frage
43 |
Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Antwort auf die erste und die zweite Frage anders ausfällt, wenn das Recht des Mitgliedstaats es dem Betreiber eines Abrechnungsdiensts, vorbehaltlich der Zustimmung der Steuerbehörde, gestattet, eine Option auszuüben, wonach bei der ersten Übertragung von Aktien auf den Abrechnungsdienst keine Stempelsteuer fällig wird, aber stattdessen jeder nachfolgende Verkauf von Aktien besteuert wird. Mit der vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Antwort anders ausfallen würde, wenn die mit der Option verbundene Vergünstigung nicht in Anspruch genommen werden kann. |
44 |
Diese Fragen beruhen offenbar auf der Prämisse, dass jeder Verkauf von Aktien im Anschluss an ihre Übertragung auf den Abrechnungsdienst zu einer mit der Richtlinie 2008/7 im Einklang stehenden Besteuerung führen könnte. Da sich die Vorlagefragen nicht auf diesen Aspekt der Erwägungen beziehen, bedarf es insoweit keiner Auslegung der Richtlinie 2008/7. |
45 |
In Bezug auf das Bestehen der in Section 97A des FA 1986 vorgesehenen Option ist festzustellen, dass sie dem Abrechnungsdienst die Möglichkeit bietet, die Entrichtung der SDRT in Höhe von 1,5 % bei der Erstaufnahme der Wertpapiere in das Abrechnungssystem zu vermeiden, sofern der Betreiber des Abrechnungsdiensts Vorkehrungen trifft, die gewährleisten, dass HMRC bei jeder nachfolgenden Übertragung innerhalb des Abrechnungsdiensts die SDRT in Höhe von 0,5 % erheben kann und dass die übrigen relevanten Anforderungen der für die SDRT geltenden Rechtsvorschriften eingehalten werden. |
46 |
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Antworten auf die ersten beiden Fragen, dass die Richtlinien 69/335 und 2008/7 es nicht gestatten, bei der Übertragung von Aktien auf einen Abrechnungsdienst, die Bestandteil der Börsenzulassung dieser Aktien oder der Ausgabe neuer Aktien ist, eine Steuer zu erheben. |
47 |
Insoweit ist in Anbetracht dessen, dass der in Rede stehende Optionsmechanismus ein aktives Tun verlangt, ohne das eine dem Unionsrecht zuwiderlaufende Regelung zur Anwendung kommt, und dass im Ausgangsverfahren nach den Angaben des vorlegenden Gerichts Air Berlin, von der die Stempelsteuer entrichtet wurde, diese Option nicht ausüben durfte, den Abrechnungsdienst nicht zu ihrer Ausübung zwingen konnte und dieser an ihrer Ausübung kein Interesse hatte, die Möglichkeit der Ausübung einer Option für die Anwendung des in den Art. 10 und 11 der Richtlinie 69/335 sowie in Art. 5 der Richtlinie 2008/7 aufgestellten Verbots unerheblich (vgl. entsprechend Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache HSBC Holdings und Vidacos Nominees, C‑569/07, EU:C:2009:163, Nr. 71). |
48 |
Folglich ist diese Option nicht zu berücksichtigen. |
49 |
Auf die dritte und die vierte Frage ist deshalb zu antworten, dass die Antwort auf die erste und die zweite Frage nicht anders ausfällt, wenn Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die im Ausgangsverfahren fraglichen es dem Betreiber eines Abrechnungsdiensts, vorbehaltlich der Zustimmung der Steuerbehörde, gestatten, eine Option auszuüben, wonach bei der ersten Übertragung von Aktien auf den Abrechnungsdienst keine Stempelsteuer fällig wird, aber stattdessen auf jeden nachfolgenden Aktienverkauf eine die Stempelsteuer ergänzende Steuer erhoben wird. |
Kosten
50 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt: |
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Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.