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Document 62016CJ0003

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 15. März 2017.
Lucio Cesare Aquino gegen Belgische Staat.
Vorabentscheidungsersuchen des Hof van beroep te Brussel.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsrecht – Dem Einzelnen verliehene Rechte – Verletzung durch ein Gericht – Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Anrufung des Gerichtshofs – Letztinstanzliches einzelstaatliches Gericht.
Rechtssache C-3/16.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2017:209

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

15. März 2017 ( 1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Unionsrecht — Dem Einzelnen verliehene Rechte — Verletzung durch ein Gericht — Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen — Anrufung des Gerichtshofs — Letztinstanzliches einzelstaatliches Gericht“

In der Rechtssache C‑3/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 23. Dezember 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Januar 2016, in dem Verfahren

Lucio Cesare Aquino

gegen

Belgische Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. November 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Lucio Cesare Aquino, vertreten durch M. Verwilghen und H. Vandenberghe, advocaten,

der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von E. Matterne, D. Lindemans und F. Judo, advocaten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J.‑P. Keppenne und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie von Art. 47 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Lucio Cesare Aquino und dem Belgische Staat (Belgischer Staat), in dem ein Anspruch aus außervertraglicher Haftung geltend gemacht wird.

Rechtlicher Rahmen

3

In Art. 18 des Koninklijk besluit tot vaststelling van de cassatie-procedure bij de Raad van State (Königlicher Erlass zur Festlegung des Kassationsverfahrens vor dem Staatsrat) vom 30. November 2006 (Belgisch Staatsblad, 1. Dezember 2006, S. 66844) heißt es:

„§ 1 –   Wenn der Auditor auf Unzulässigkeit oder Abweisung der Beschwerde schließt, wird der Bericht vom Chefgreffier der klagenden Partei notifiziert, die über dreißig Tage verfügt, um die Fortsetzung des Verfahrens im Hinblick auf ihre Anhörung zu beantragen.

Wenn die klagende Partei nicht um Anhörung ersucht, übermittelt der Chefgreffier die Akte der Kammer, damit diese die Verfahrensrücknahme … ausspricht. Der Bericht des Auditors wird den Parteien, die ihn noch nicht erhalten haben, zusammen mit dem Entscheid notifiziert.

Ersucht die klagende Partei um Anhörung, legt der Staatsrat per Beschluss das Datum fest, an dem die Parteien erscheinen müssen.

Wenn der Chefgreffier der klagenden Partei den Bericht, in dem auf Unzulässigkeit oder Abweisung der Beschwerde geschlossen wird, notifiziert, vermerkt er den Wortlaut des vorliegenden Paragraphen.

§ 2 –   Wenn der Auditor nicht auf Unzulässigkeit oder Abweisung der Beschwerde schließt, beraumt der Kammerpräsident beziehungsweise der von ihm bestimmte Staatsrat per Beschluss sofort eine Sitzung zur Behandlung der Beschwerde an.“

4

Art. 21 Abs. 7 der Gecoördineerde wetten op de Raad van State (Koordinierte Gesetze über den Staatsrat) vom 12. Januar 1973 (Belgisch Staatsblad, 21. März 1973, S. 3461) in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung, der sowohl auf Nichtigkeitsklagen als auch auf Kassationsbeschwerden gegen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte anwendbar ist, bestimmt:

„Hinsichtlich der klagenden Partei gilt eine Vermutung der Verfahrensrücknahme, wenn die Partei innerhalb einer Frist von dreißig Tagen ab Notifizierung des Berichts des Auditors beziehungsweise der Mitteilung über die Anwendung von Artikel 30 § 1 Absatz 3, worin Abweisung oder Unzulässigkeit der Beschwerde vorgeschlagen werden, nicht die Fortsetzung des Verfahrens beantragt.“

5

Art. 39/60 Abs. 2 der Wet betreffende de toegang tot het grondgebied, het verblijf, de vestiging en de verwijdering van vreemdelingen (Gesetz über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern) vom 15. Dezember 1980 (Belgisch Staatsblad, 31. Dezember 1980, S. 14584) in seiner für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) sieht vor:

„Die Parteien und ihr Rechtsanwalt dürfen in der Sitzung mündlich ihre Anmerkungen vorbringen. Es dürfen keine anderen Gründe als die im Antrag oder Schriftsatz angeführten Gründe geltend gemacht werden.“

6

Art. 39/67 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bestimmt:

„Gegen Beschlüsse des [Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen)] kann weder Einspruch noch Dritteinspruch noch Revision eingelegt werden. Lediglich Kassationsbeschwerde wie in Artikel 14 § 2 der koordinierten Gesetze über den Staatsrat vorgesehen kann gegen sie eingereicht werden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7

Der Kläger des Ausgangsverfahrens, der die italienische Staatsangehörigkeit hat, lebt seit 1970 in Belgien.

8

Mit Urteil des Hof van beroep te Antwerpen (Appellationshof Antwerpen, Belgien) vom 23. November 2006 wurde der Kläger des Ausgangsverfahrens zu einer effektiven Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt.

9

Am 9. November 2011 beantragte der Kläger des Ausgangsverfahrens bei der Gemeinde Maasmechelen (Belgien) eine Anmeldebescheinigung. Am 23. Februar 2012 gab ihm der Dienst Vreemdelingenzaken (Ausländerbehörde, Belgien) einen vom 22. Februar 2012 datierenden Bescheid bekannt, mit dem ihm der Aufenthalt verweigert wurde und er aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der nationalen Sicherheit angewiesen wurde, das Staatsgebiet zu verlassen (im Folgenden: Bescheid vom 22. Februar 2012).

10

Am 6. März 2012 erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens gegen diesen Bescheid Klage beim Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien). Am 15. Mai 2012 ersuchte er diesen unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs auf dem betreffenden Gebiet, eine Frage zur Auslegung von Art. 16 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, Berichtigung ABl. 2004, L 229, S. 35) zur Vorabentscheidung vorzulegen.

11

Mit Urteil vom 24. August 2012 wies der Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) diese Klage mit der Begründung als unzulässig ab, dass die Klageschrift keine Gründe enthalte. Insbesondere lehnte er den Antrag des Klägers des Ausgangsverfahrens, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, mit der Begründung ab, dass dieser Antrag erst kurz vor der mündlichen Verhandlung gestellt worden sei und der Kläger keine Gründe dafür angeführt habe, dass der Antrag nicht schon früher habe gestellt werden können.

12

Am 24. September 2012 legte der Kläger des Ausgangsverfahrens gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Raad van State (Staatsrat, Belgien) ein. Nachdem der Auditor mangels zulässiger Rechtsmittelgründe auf Unzulässigkeit des Rechtsmittels geschlossen hatte, unterließ es der Kläger des Ausgangsverfahrens, innerhalb der vorgesehenen Frist einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens zu stellen, um seine Anhörung zu erreichen. Daraufhin stellte der Raad van State (Staatsrat) am 4. April 2013 auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 7 der Koordinierten Gesetze über den Staatsrat fest, dass eine Vermutung bestehe, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens das Rechtsmittel zurückgenommen habe.

13

In der Zwischenzeit – am 27. Juni 2010 – hatte der Kläger des Ausgangsverfahrens bei der Strafuitvoeringsrechtbank van de Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (Strafvollstreckungsgericht des Niederländischsprachigen Gerichts erster Instanz Brüssel, Belgien) ein Verfahren eingeleitet, um zu erreichen, dass seine Strafe unter elektronischer Überwachung vollstreckt werde. Dieses Gericht lehnte den Antrag mit Entscheidung vom 2. März 2012 ab. Mit Entscheidung vom 23. Mai 2012 lehnte sie einen Antrag des Klägers des Ausgangsverfahrens auf Haftentlassung unter Auflagen ab.

14

Gegen die letztgenannte Entscheidung legte der Kläger des Ausgangsverfahrens daraufhin beim Hof van Cassatie (Kassationshof, Belgien) ein Rechtsmittel ein. Darin machte er u. a. geltend, dass diese Entscheidung gegen die Art. 16 und 28 der Richtlinie 2004/38 verstoße, und beantragte, den Gerichtshof hierzu zu befragen. Der Hof van Cassatie (Kassationshof) wies das Rechtsmittel mit Urteil vom 19. Juni 2012 zurück und wies darauf hin, dass er ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof nicht einzuleiten brauche, da das Vorbringen des Klägers des Ausgangsverfahrens wegen eines dem Verfahren vor dem Hof van Cassatie (Kassationshof) eigenen Grundes unzulässig sei.

15

Die Strafuitvoeringsrechtbank van de Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (Strafvollstreckungsgericht des Niederländischsprachigen Gerichts erster Instanz Brüssel) genehmigte mit Entscheidung vom 21. November 2012 die elektronische Überwachung des Klägers des Ausgangsverfahrens und bewilligte ihm mit Entscheidung vom 14. August 2013 die beantragte Haftentlassung unter Auflagen.

16

Zuvor hatte der Kläger des Ausgangsverfahrens am 6. September 2012 erneut eine Anmeldebescheinigung bei der Gemeinde Maasmechelen beantragt. Am 22. April 2013 stellte diese ihm einen bis zum 3. April 2018 geltenden Aufenthaltstitel aus.

17

Am 31. August 2012 erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens Klage bei der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (Niederländischsprachiges Gericht erster Instanz Brüssel) und beantragte,

den belgischen Staat zu verurteilen, den Bescheid vom 22. Februar 2012 zurückzunehmen, weil dieser Bescheid gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 verstoße;

festzustellen, dass die Strafuitvoeringsrechtbank van de Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (Strafvollstreckungsgericht des Niederländischsprachigen Gerichts erster Instanz Brüssel) in ihrer Entscheidung vom 23. Mai 2012 und der Hof van Cassatie (Kassationshof) in seiner Entscheidung vom 19. Juni 2012 sein Aufenthaltsrecht zu Unrecht als „prekär“ bezeichnet und ihm ebenfalls zu Unrecht die Haftentlassung unter Auflagen versagt hätten;

den belgischen Staat zu verurteilen, Schadensersatz in Höhe von 25000 Euro wegen Verletzung des Unionsrechts durch die Strafuitvoeringsrechtbank van de Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (Strafvollstreckungsgericht des Niederländischsprachigen Gerichts erster Instanz Brüssel), den Hof van Cassatie (Kassationshof) und den Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) zu leisten, da diese letztinstanzlich entscheidenden Gerichte gegen das Unionsrecht verstoßen hätten und ihrer Verpflichtung, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen zu befassen, nicht nachgekommen seien.

18

Mit Urteil vom 27. Mai 2013 wies die Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (Niederländischsprachiges Gericht erster Instanz Brüssel) die Klage als teilweise unzulässig und teilweise unbegründet ab. Gegen dieses Urteil legte der Kläger des Ausgangsverfahrens beim vorlegenden Gericht Berufung ein.

19

Der Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel) stellte fest, dass für den Bescheid vom 22. Februar 2012 entgegen Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ausschließlich die strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers des Ausgangsverfahrens ausschlaggebend gewesen seien. Er verurteilte den belgischen Staat daher, an den Kläger des Ausgangsverfahrens 5000 Euro als Ersatz des aus diesem Bescheid entstandenen immateriellen Schadens zu zahlen.

20

Zu dem Schaden, der aus dem behaupteten Verstoß des Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) gegen das Unionsrecht entstanden sein soll, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens den Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) in einem nach Fristablauf eingegangenen Schriftsatz ersucht habe, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen und dass dieser Antrag mit Urteil vom 24. August 2012 als verspätet zurückgewiesen worden sei. Das vorlegende Gericht weist zudem darauf hin, dass die beim Raad van State (Staatsrat) gegen dieses Urteil eingelegte Kassationsbeschwerde wegen Rücknahme zurückgewiesen worden sei.

21

Nach Auffassung des Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel) stellt sich daher die Frage, ob für jedes dieser drei vom Kläger des Ausgangsverfahrens angeführten Gerichte die Voraussetzungen erfüllt sind, um die Haftung des belgischen Staates auszulösen.

22

Was die Strafuitvoeringsrechtbank van de Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (Strafvollstreckungsgericht des Niederländischsprachigen Gerichts erster Instanz Brüssel) betrifft, lasse sich den Akten nicht entnehmen, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens dieses Gericht ersucht hätte, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Die aufeinanderfolgenden Entscheidungen dieses Gerichts, die alle rechtskräftig geworden seien, seien nicht Gegenstand von Aufhebungsverfahren gewesen, so dass dem Betroffenen aus ihnen kein Schaden entstanden sein könne. Es bestehe somit keine Grundlage für eine Haftung des belgischen Staates wegen der Ausübung der Rechtsprechungsfunktion dieses Gerichts.

23

Was den Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) anbelangt, sei der Antrag, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen zu befassen, im Urteil vom 24. August 2012 mit der Begründung abgelehnt worden, dass dieser Antrag mit einem erst kurz vor der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsatz gestellt worden sei und keine Gründe dafür angeführt worden seien, dass er nicht schon früher habe gestellt werden können.

24

Das vorlegende Gericht weist allerdings darauf hin, dass das gegen dieses Urteil beim Raad van State (Staatsrat) eingereichte Rechtsmittel weder inhaltlich noch wenigstens hinsichtlich seiner Zulässigkeit geprüft worden sei. Weil innerhalb der gesetzlichen Frist nach der Bekanntgabe des Berichts des Auditors kein Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens gestellt worden sei, sei nämlich das Bestehen einer gesetzlichen Vermutung festgestellt worden, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens das Rechtsmittel zurückgenommen habe. Es stelle sich daher die Frage, ob das genannte Urteil unter diesen Umständen als von einem letztinstanzlichen Gericht erlassen anzusehen sei, weil im Rechtsmittelverfahren keine inhaltliche Prüfung stattgefunden habe. Der Antrag, mit dem der Kläger des Ausgangsverfahrens den Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) ersucht habe, den Gerichtshof mit einer Vorlage zur Vorabentscheidung zu befassen, sei nämlich mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass er in einem Verfahrensschriftsatz gestellt worden sei, der aufgrund des Datums seiner Einreichung nicht habe berücksichtigt werden können.

25

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der belgische Staat wegen eines etwaigen Fehlers bei der Ausübung der Rechtsprechungsfunktion für einen Verstoß gegen das Unionsrecht haftbar gemacht werden könne, wenn es sich um einen offenkundigen Verstoß handele. Aus der Weigerung, ein Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten, könne sich ein derartiger Verstoß gegen das Unionsrecht ergeben.

26

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist zu bestimmen, ob unter den Umständen des Ausgangsverfahrens die Weigerung des Hof van Cassatie (Kassationshof), dem Antrag auf Vorlage einer Frage zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof stattzugeben, einen Verstoß gegen Art. 267 AEUV im Licht von Art. 47 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 3 der Charta darstellt.

27

Zudem fragt sich das vorlegende Gericht, ob in dem Verfahren vor dem Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) gegen Art. 47 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 3 der Charta verstoßen wurde, soweit dieser entschieden habe, dass eine Verfahrensvorschrift es verbiete, dem Antrag auf Vorlage einer Frage zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof stattzugeben. Dieser Antrag sei nämlich mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass er in einem Verfahrensschriftsatz gestellt worden sei, der aufgrund des Datums seiner Einreichung nicht habe berücksichtigt werden können.

28

Bleibe schließlich die Frage, ob diese Zurückweisung unter Verstoß gegen Art. 267 AEUV erfolgt ist.

29

Unter diesen Umständen hat der Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist im Hinblick auf die Anwendung der vom Gerichtshof in den Rechtssachen Köbler (Urteil vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513) und Traghetti del Mediterraneo (Urteil vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo, C‑173/03, EU:C:2006:391) entwickelten Rechtsprechung zur staatlichen Haftung für fehlerhafte Handlungen von Gerichten, mit denen ein Verstoß gegen das Unionsrecht verbunden ist, als letztinstanzliches Gericht ein Gericht anzusehen, dessen Entscheidung im Rahmen einer Kassationsbeschwerde nicht überprüft wird, weil in Anwendung einer nationalen Regel des Verfahrensrechts unwiderleglich vermutet wird, dass der Beschwerdeführer, der im Kassationsverfahren einen Schriftsatz eingereicht hat, die Kassationsbeschwerde zurückgenommen hat?

2.

Ist es – auch im Licht von Art. 47 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – mit Art. 267 Abs. 3 AEUV vereinbar, dass ein nationales Gericht, das nach dieser Vertragsbestimmung verpflichtet ist, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, einen darauf gerichteten Antrag allein deshalb ablehnt, weil der Antrag in einem Schriftsatz gestellt wird, der nach dem anwendbaren Verfahrensrecht aufgrund seiner verspäteten Einreichung nicht zu berücksichtigen ist?

3.

Ist in einem Fall, in dem das höchste ordentliche Gericht nicht auf einen Antrag eingeht, eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, anzunehmen, dass – auch im Licht von Art. 47 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – ein Verstoß gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV vorliegt, wenn dieses Gericht den Antrag allein mit der Begründung ablehnt, dass die Frage nicht gestellt werde, „[d]a das Vorbringen wegen eines dem Verfahren vor dem Hof eigenen Grundes unzulässig ist“?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

30

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, dessen Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, gleichwohl als letztinstanzliches Gericht angesehen werden kann, wenn die Kassationsbeschwerde gegen eine Entscheidung dieses Gerichts nicht geprüft wurde, weil der Beschwerdeführer sie zurückgenommen hat.

31

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 1982, Cilfit u. a., 283/81, EU:C:1982:335, Rn. 6).

32

Die in Art. 267 Abs. 3 AEUV vorgesehene Pflicht, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, fügt sich in den Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den innerstaatlichen Gerichten als den mit der Anwendung des Unionsrechts betrauten Gerichten und dem Gerichtshof, durch die die ordnungsgemäße Anwendung und die einheitliche Auslegung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten sichergestellt werden sollen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2015, X und van Dijk, C‑72/14 und C‑197/14, EU:C:2015:564, Rn. 54).

33

Außerdem soll diese in Art. 267 Abs. 3 AEUV vorgesehene Pflicht zur Vorlage insbesondere verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des Unionsrechts nicht im Einklang steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2005, Intermodal Transports, C‑495/03, EU:C:2005:552, Rn. 29).

34

Wie der Gerichtshof wiederholt ausgeführt hat, ist ein letztinstanzliches Gericht definitionsgemäß die letzte Instanz, vor der der Einzelne die ihm aufgrund des Unionsrechts zustehenden Rechte geltend machen kann. Die letztinstanzlichen Gerichte haben die Aufgabe, die einheitliche Auslegung von Rechtsvorschriften auf einzelstaatlicher Ebene zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 34, und vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo, C‑173/03, EU:C:2006:391, Rn. 31).

35

In diesem Zusammenhang geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die Entscheidungen des Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) gemäß Art. 39/67 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 mit der in Art. 14 § 2 der koordinierten Gesetze über den Staatsrat vorgesehenen Kassation angefochten werden können.

36

Daraus ergibt sich, dass der Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) nicht als letztinstanzliches Gericht angesehen werden kann, da seine Entscheidungen von einer höheren Instanz nachgeprüft werden können, vor der der Einzelne die ihm aufgrund des Unionsrechts zustehenden Rechte geltend machen kann. Folglich werden seine Entscheidungen nicht von einem einzelstaatlichen Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV erlassen.

37

Dass nach den Bestimmungen von Art. 18 des Königlichen Erlasses zur Festlegung des Kassationsverfahrens vor dem Staatsrat vom 30. November 2006 unwiderleglich vermutet wird, dass ein Beschwerdeführer, der eine Kassationsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) eingelegt hat, die Beschwerde zurückgenommen hat, wenn er nicht innerhalb von 30 Tagen ab dem Tag, an dem ihm der Bericht des Auditors bekannt gegeben wurde, in dem auf Unzulässigkeit oder Abweisung des Rechtsmittels geschlossen wird, die Fortsetzung des Verfahrens beantragt hat, ändert nichts daran, dass die Entscheidungen des Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen) vor einer höheren Instanz angefochten werden können und daher nicht von einem letztinstanzlichen Gericht erlassen werden.

38

Nach den vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, dessen Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, nicht als letztinstanzliches Gericht angesehen werden kann, wenn die Kassationsbeschwerde gegen eine Entscheidung dieses Gericht nicht geprüft wurde, weil der Beschwerdeführer sie zurückgenommen hat.

Zur zweiten Frage

39

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 267 Abs. 3 AEUV im Licht von Art. 47 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Gericht einen Antrag, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, allein deshalb ablehnen darf, weil dieser Antrag in einem Schriftsatz gestellt wurde, der nach dem anwendbaren Verfahrensrecht aufgrund seiner verspäteten Einreichung nicht zu berücksichtigen ist.

40

Da der Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen), wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, nicht als letztinstanzliches Gericht anzusehen ist und die zweite Frage auf der gegenteiligen Annahme beruht, ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

Zur dritten Frage

41

Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein letztinstanzliches Gericht davon absehen kann, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, wenn eine Kassationsbeschwerde aus Unzulässigkeitsgründen zurückzuweisen ist, die dem Verfahren vor diesem Gericht eigen sind.

42

Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ein einzelstaatliches Gericht, soweit gegen seine Entscheidung kein Rechtsmittel gegeben ist, grundsätzlich verpflichtet ist, den Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen, wenn sich in einem bei ihm anhängigen Verfahren eine Frage nach der Auslegung des AEU-Vertrags stellt (Urteil vom 18. Juli 2013, Consiglio Nazionale dei Geologi, C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 25).

43

Aus dem Verhältnis zwischen Art. 267 Abs. 2 AEUV und Art. 267 Abs. 3 AEUV ergibt sich, dass die in Art. 267 Abs. 3 AEUV genannten Gerichte ebenso wie alle anderen einzelstaatlichen Gerichte die Frage, ob für den Erlass ihrer eigenen Entscheidung eine Entscheidung über eine unionsrechtliche Frage erforderlich ist, in eigener Zuständigkeit beurteilen. Diese Gerichte sind somit nicht zur Vorlage einer vor ihnen aufgeworfenen Frage nach der Auslegung des Unionsrechts verpflichtet, wenn die Frage nicht entscheidungserheblich ist, d. h., wenn die Antwort auf diese Frage, wie auch immer sie ausfällt, keinerlei Einfluss auf die Entscheidung des Rechtsstreits haben kann (Urteil vom 18. Juli 2013, Consiglio Nazionale dei Geologi, C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 26).

44

In dem Fall, dass das vor einem Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV geltend gemachte Vorbringen gemäß den Verfahrensvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats als unzulässig zurückzuweisen ist, ist ein Vorabentscheidungsersuchen somit nicht als notwendig und für eine Entscheidung dieses Gerichts zweckdienlich anzusehen.

45

Die Rechtfertigung einer Vorlagefrage liegt nämlich nicht im Interesse an Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass die Frage für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 2. April 2009, Elshani, C‑459/07, EU:C:2009:224, Rn. 42).

46

Im vorliegenden Fall hat der Hof van Cassatie (Kassationshof), wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, entschieden, dass wegen der Unzulässigkeit des gegen die Entscheidung der Strafuitvoeringsrechtbank van de Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (Strafvollstreckungsgericht des Niederländischsprachigen Gerichts erster Instanz Brüssel) vom 23. Mai 2012 eingelegten Rechtsmittels die Vorlage einer Frage zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof nicht zweckdienlich sei, da die Antwort auf diese Frage keinerlei Einfluss auf die Entscheidung des Rechtsstreits haben könne.

47

Dessen ungeachtet können die nationalen Verfahrensvorschriften weder die Befugnis beeinträchtigen, die dem einzelstaatlichen Gericht nach Art. 267 AEUV zusteht, noch das einzelstaatliche Gericht von den Pflichten entbinden, die ihm nach dieser Bestimmung obliegen.

48

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es mangels einschlägiger Unionsregeln nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der Rechtsbehelfe, die zum Schutz der Rechte der Bürger bestimmt sind, festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 17. März 2016, Bensada Benallal, C‑161/15, EU:C:2016:175, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Daraus ergibt sich, dass zwei kumulative Voraussetzungen, nämlich die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes und des Effektivitätsgrundsatzes, erfüllt sein müssen, damit sich ein Mitgliedstaat in Situationen, die dem Unionsrecht unterliegen, auf den Grundsatz der Verfahrensautonomie berufen kann (Urteil vom 17. März 2016, Bensada Benallal, C‑161/15, EU:C:2016:175, Rn. 25).

50

Zum einen verlangt der Äquivalenzgrundsatz, dass bei der Anwendung sämtlicher für Rechtsbehelfe geltenden Vorschriften nicht danach unterschieden wird, ob ein Verstoß gegen Unionsrecht oder gegen innerstaatliches Recht gerügt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Januar 2014, Pohl, C‑429/12, EU:C:2014:12, Rn. 26, und vom 20. Oktober 2016, Danqua, C‑429/15, EU:C:2016:789, Rn. 30).

51

Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass die im Ausgangsverfahren in Frage stehenden Verfahrensvorschriften mit diesem Grundsatz im Einklang stehen.

52

Zum anderen darf nach dem Effektivitätsgrundsatz eine nationale Verfahrensvorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Frage stehende die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Urteil vom 20. Oktober 2016, Danqua, C‑429/15, EU:C:2016:789, Rn. 29).

53

Im Übrigen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Ausübung der den Bürgern durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (Urteil vom 21. Februar 2008, Tele2 Telecommunication, C‑426/05, EU:C:2008:103, Rn. 55).

54

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung und den Erklärungen der Parteien hervor, dass der Hof van Cassatie (Kassationshof) das Vorbringen, auf das der Kläger des Ausgangsverfahrens das gegen die Entscheidung der Strafuitvoeringsrechtbank van de Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (Strafvollstreckungsgericht des Niederländischsprachigen Gerichts erster Instanz Brüssel) vom 23. Mai 2012 eingelegte Rechtsmittel gestützt hat, nach den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften mit der Begründung für unzulässig erklärt hat, dass sich der Betroffene mit diesem Vorbringen zwar gegen einen der Gründe gewandt habe, die dieses Gericht zur Ablehnung seines Antrags auf Haftentlassung unter Auflagen angeführt habe, die anderen von diesem Gericht festgehaltenen Gründe jedoch für sich allein ausreichten, um diese Entscheidung zu rechtfertigen.

55

Somit ist nicht ersichtlich, dass die im Ausgangsverfahren in Frage stehende innerstaatliche Regelung geeignet ist, die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren.

56

Nach diesen Erwägungen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein letztinstanzliches Gericht davon absehen kann, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, wenn eine Kassationsbeschwerde aus Unzulässigkeitsgründen zurückgewiesen wird, die dem Verfahren vor diesem Gericht eigen sind, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt bleiben.

Kosten

57

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 267 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein Gericht, dessen Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, nicht als letztinstanzliches Gericht angesehen werden kann, wenn die Kassationsbeschwerde gegen eine Entscheidung dieses Gerichts nicht geprüft wurde, weil der Beschwerdeführer sie zurückgenommen hat.

 

2.

Die zweite Frage ist nicht zu beantworten.

 

3.

Art. 267 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein letztinstanzliches Gericht davon absehen kann, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, wenn eine Kassationsbeschwerde aus Unzulässigkeitsgründen zurückgewiesen wird, die dem Verfahren vor diesem Gericht eigen sind, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt bleiben.

 

Unterschriften


( 1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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