EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62016CC0201

Schlussanträge der Generalanwältin E. Sharpston vom 20. Juli 2017.
Majid Shiri.
Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Art. 27 – Rechtsbehelf – Umfang der gerichtlichen Kontrolle – Art. 29 – Frist für die Überstellung – Keine Durchführung der Überstellung innerhalb der vorgeschriebenen Frist – Pflichten des zuständigen Mitgliedstaats – Übergang der Zuständigkeit – Erfordernis einer Entscheidung des zuständigen Mitgliedstaats.
Rechtssache C-201/16.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2017:579

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 20. Juli 2017 ( 1 )

Rechtssache C‑201/16

Majid (auch Madzhdi) Shiri,

Beteiligte:

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs [Österreich])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Recht auf ein wirksames Rechtsmittel nach Art. 27 Abs. 1 – Modalitäten und Fristen nach Art. 29 für die Überstellung einer Person aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den ersuchten Mitgliedstaat – Zeitpunkt, zu dem die Frist nach Art. 29 Abs. 1 zu laufen beginnt“

1.

Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen wird der Gerichtshof nochmals um Hinweise zum Geltungsbereich des Rechts auf ein wirksames Rechtsmittel nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung ersucht ( 2 ). Der Verwaltungsgerichtshof (Österreich) möchte geklärt wissen, ob ein um internationalen Schutz ersuchender Antragsteller im Wege seiner Rechte nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung geltend machen kann, dass Mitgliedstaat „A“ (der ersuchende Staat) seine Entscheidung, ihn in Mitgliedstaat „B“ (den ersuchten Staat) zu überstellen, nicht innerhalb der Frist nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung durchgeführt hat. Wie ist Art. 29 Abs. 2, der die Rechtslage zwischen dem ersuchenden Staat und dem ersuchten Staat regelt, dann anzuwenden, wenn die Überstellung nicht innerhalb der vorgesehenen Frist durchgeführt wird?

Dublin-III-Verordnung

2.

Nach dem fünften Erwägungsgrund soll u. a. eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats möglich sein, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bewilligung von Anträgen auf internationalen Schutz zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung dieser Anträge nicht zu gefährden. Der 19. Erwägungsgrund erläutert, dass „[u]m einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, … im Einklang insbesondere mit Artikel 47 [der Charta ( 3 )] Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden [sollten]. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.“

3.

Der 32. Erwägungsgrund weist in Bezug auf Antragsteller, die um internationalen Schutz ersuchen, darauf hin, dass „die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden [sind]“. Dem 39. Erwägungsgrund zufolge steht die Dublin-III-Verordnung im Einklang mit den durch die Charta geschützten Grundrechten und Grundsätzen.

4.

Nach Art. 1 legt die Dublin-III-Verordnung die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen ( 4 ).

5.

Nach Art. 3 Abs. 1 ist der in der Dublin-III-Verordnung verankerte allgemeine Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt, prüfen müssen. Ein solcher Antrag ist von einem einzigen Mitgliedstaat zu prüfen, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird ( 5 ).

6.

Antragstellern auf internationalen Schutz sind bestimmte Rechte im Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags zuständigen Mitgliedstaats zuerkannt worden. So gewährt Art. 4 Abs. 1 Antragstellern ein Recht auf Information, wozu u. a. Angaben zur Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung und gegebenenfalls zur Beantragung einer Aussetzung der Überstellung gehören. Nach Art. 5 Abs. 1 haben Antragsteller ferner das Recht auf ein persönliches Gespräch.

7.

Kapitel III hat die Überschrift „Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats“. Nach Art. 7 Abs. 1 finden die Kriterien nach der in diesem Kapitel geregelten Rangfolge Anwendung. Bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal stellt (Art. 7 Abs. 2). Die erste Rangstelle wird den Kriterien in Bezug auf Minderjährige (Art. 8) und Familienangehörige (Art. 9, 10 und 11) eingeräumt. Das am häufigsten zur Anwendung kommende Kriterium ist dasjenige nach Art. 13 Abs. 1 in Bezug auf Antragsteller, die aus einem Drittstaat kommend die Grenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten haben. In diesen Fällen ist der Mitgliedstaat der ersten Einreise in das Unionsgebiet für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.

8.

Die Pflichten des zuständigen Mitgliedstaats sind in Kapitel V geregelt. Hierzu gehört die Pflicht, einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, wieder aufzunehmen (Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) ( 6 ).

9.

Das Verfahren der Stellung von Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuchen ist in Kapitel VI Abschnitt III geregelt. Nach Art. 23 Abs. 1 kann ein Mitgliedstaat, in dem eine Person einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn er der Auffassung ist, dass ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist, den anderen Mitgliedstaat ersuchen, die betreffende Person wieder aufzunehmen. Nach Art. 25 Abs. 1 muss der ersuchte Mitgliedstaat über ein solches Gesuch so rasch wie möglich entscheiden ( 7 ). Wird innerhalb der vorgesehenen Frist keine Antwort erteilt, wird davon ausgegangen, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird (Art. 25 Abs. 2).

10.

Kapitel VI Abschnitt IV regelt bestimmte Verfahrensgarantien für Antragsteller. Nach Art. 26 Abs. 1 müssen die Mitgliedstaaten Antragsteller von Überstellungsentscheidungen in Kenntnis setzen. Diese Mitteilung muss eine Rechtsbehelfsbelehrung, u. a. über das Recht, aufschiebende Wirkung zu beantragen, und die Fristen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs sowie Informationen über die Frist für die Durchführung der Überstellung enthalten (Art. 26 Abs. 2).

11.

Nach Art. 27 Abs. 1 muss ein Antragsteller „das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht [haben]“. Nach Art. 27 Abs. 3 müssen die Mitgliedstaaten zum Zweck eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung Vorschriften zum Schutz der Rechtsstellung eines Antragstellers bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung vorsehen, indem sie der betreffenden Person gestatten, bis zum Abschluss dieses Verfahrens im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu bleiben (Option a); indem sie die Überstellung automatisch aussetzen (Option b); oder indem sie sicherstellen, dass der Antragsteller eine Möglichkeit hat, bei einem Gericht eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung zu beantragen, solange über den Rechtsbehelf oder die Überprüfung nicht entschieden ist (Option c).

12.

Abschnitt VI hat die Überschrift „Überstellung“. Art. 29 lautet:

„(1)   Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

(2)   Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

(3)   Wurde eine Person irrtümlich überstellt oder wird einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung oder der Überprüfung einer Überstellungentscheidung nach Vollzug der Überstellung stattgegeben, nimmt der Mitgliedstaat, der die Überstellung durchgeführt hat, die Person unverzüglich wieder auf.

…“

13.

Praktische Modalitäten zur wirkungsvollen Durchführung der Dublin-III-Verordnung sind in der Durchführungsverordnung ( 8 ) geregelt. Art. 9 Abs. 2 lautet: „Ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Artikel 29 Absatz 2 [der Dublin-III-Verordnung] genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Frist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Annahme des Gesuchs um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betroffenen Person oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat, vornehmen kann, unterrichtet den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist. Ansonsten fallen die Zuständigkeit für die Behandlung des Antrags auf internationalen Schutz bzw. die sonstigen Verpflichtungen aus [der Dublin-III-Verordnung] gemäß Artikel 29 Absatz 2 der genannten Verordnung dem ersuchenden Mitgliedstaat zu.“

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

14.

Herr Majid (auch Madzhdi) Shiri ist iranischer Staatsangehöriger. Es liegen keine näheren Angaben dazu vor, wann genau er den Iran verlassen hat, offenbar erfolgte dies etwa Ende 2014. Er begab sich über die Türkei in die Europäische Union. Herr Shiri kam in Bulgarien an und stellte am 19. Februar 2015 in diesem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz. Anschließend begab er sich nach Österreich und stellte dort am 7. März 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

15.

Die österreichischen Behörden ersuchten am 9. März 2015 die entsprechenden bulgarischen Behörden um die Wiederaufnahme Herrn Shiris nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin-III-Verordnung. Bulgarien stimmte diesem Wiederaufnahmegesuch am 23. März 2015 ausdrücklich zu.

16.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) wies am 2. Juli 2015 den Antrag von Herrn Shiri auf internationalen Schutz als unzulässig zurück. Das BFA ordnete zudem die Abschiebung von Herrn Shiri an und stellte fest, dass er nach Bulgarien überstellt werden könne (im Folgenden: erster Bescheid des BFA). Gegen diese Entscheidung erhob Herr Shiri Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (Österreich), u. a. mit dem Antrag, die Überstellungsentscheidung auszusetzen. Mit Beschluss vom 20. Juli 2015 gab das vorgenannte Gericht der Beschwerde von Herrn Shiri statt, hob den ersten Bescheid des BFA auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an das BFA zurück. Über den Antrag auf Aussetzung der Überstellungsentscheidung entschied es nicht. Die Zurückverweisung der Angelegenheit von Herrn Shiri an die zuständigen Behörden durch die nationalen Gerichte erfolgte mit dem Hinweis an das BFA, insbesondere eine gesundheitliche Vulnerabilität von Herrn Shiri zu prüfen, da Bedenken im Hinblick auf seine Gesundheit aufgeworfen worden seien. Die nationalen Gerichte wollten sicherstellen, dass die über seine Überstellung getroffene Entscheidung mit der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ( 9 ) im Einklang stand.

17.

Mit weiterem Bescheid vom 3. September 2015 wies das BFA den von Herrn Shiri gestellten Antrag auf internationalen Schutz erneut als unzulässig zurück (im Folgenden: zweiter Bescheid des BFA). Es vertrat die Ansicht, dass Bulgarien der für die Prüfung des von Herrn Shiri gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat sei, und ordnete erneut seine Abschiebung und Überstellung nach Bulgarien an.

18.

Gegen diesen Bescheid legte Herr Shiri am 17. September 2015 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ein, das über den mit dieser Beschwerde gestellten Antrag auf aufschiebende Wirkung nicht entschied. Gestützt auf den ersten Bescheid des BFA, trug Herr Shiri vor, dass die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz auf Österreich übergegangen sei, weil die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung abgelaufen sei, ohne dass seine Überstellung nach Bulgarien durchgeführt worden sei. Die Frist für die Durchführung der Überstellung habe am 23. März 2015 (dem Zeitpunkt der Zustimmung Bulgariens zu dem von Österreich gestellten Wiederaufnahmegesuch) begonnen, so dass die Sechsmonatsfrist am 23. September 2015 abgelaufen sei, da das nationale Gericht nicht darauf erkannt habe, dass sein Rechtsmittel gegen die erste Überstellungsentscheidung des BFA aufschiebende Wirkung habe.

19.

Die Beschwerde von Herrn Shiri wurde am 30. September 2015 abgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht war der Auffassung, dass die Aufhebung des ersten Bescheids des BFA und die Zurückverweisung der Angelegenheit von Herrn Shiri zur erneuten Entscheidung durch das BFA rechtlich die Wirkung gehabt hätten, dass er nicht nach Bulgarien habe zurückgeschickt werden können, bevor das BFA seine Angelegenheit erneut geprüft habe. Seine Entscheidung vom 20. Juli 2015 sei somit als Aussetzung der Überstellungsentscheidung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung anzusehen.

20.

Gegen diese Entscheidung legte Herr Shiri mit Antrag vom 4. Oktober 2015 Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein ( 10 ). Er trägt vor, dass die Überstellungsentscheidung nach österreichischem Recht nicht automatisch ausgesetzt werde, weil Österreich Art. 27 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung dahin umgesetzt habe, dass es Antragstellern nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. c die Möglichkeit einräume, eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung zu beantragen ( 11 ).

21.

Das vorlegende Gericht ersucht um Hinweise zu der Frage, ob ein Antragsteller auf internationalen Schutz grundsätzlich Anspruch auf ein wirksames Rechtsmittel in Form eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung im Sinne von Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung hat, mit dem er geltend machen kann, dass die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz beim ersuchenden Mitgliedstaat liegt, weil die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung abgelaufen ist.

22.

Dementsprechend stellt das vorlegende Gericht folgende Fragen:

1.

Sind die das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung vorsehenden Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung, insbesondere Art. 27 Abs. 1, vor dem Hintergrund des 19. Erwägungsgrundes dahin gehend auszulegen, dass ein Antragsteller auf internationalen Schutz den Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat wegen Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist (Art. 29 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung) geltend machen kann?

Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird:

2.

Tritt der Zuständigkeitsübergang gemäß Artikel 29 Abs. 2 erster Satz der Dublin-III-Verordnung allein mit dem ungenutzten Ablauf der Überstellungsfrist ein oder erfordert ein Zuständigkeitsübergang wegen Fristablaufs auch die Ablehnung der Verpflichtung zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person durch den zuständigen Mitgliedstaat?

23.

Schriftliche Erklärungen sind von Herrn Shiri, Österreich, der Tschechischen Republik, der Schweiz, dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Kommission eingereicht worden. In der Sitzung vom 14. März 2017 haben diese Beteiligten, mit Ausnahme der Tschechischen Republik und der Schweiz, mündliche Ausführungen gemacht.

Würdigung

Vorbemerkungen

24.

Wie vom vorlegenden Gericht ausgeführt, ist die im Fall von Herrn Shiri aufgeworfene wichtige grundsätzliche Frage, ob der Umstand, dass ein Mitgliedstaat die in der Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Fristen für die Durchführung einer Entscheidung, einen um internationalen Schutz ersuchenden Antragsteller von Mitgliedstaat „A“ in den Mitgliedstaat „B“ zu überstellen, nicht eingehalten hat, der gerichtlichen Kontrolle unterliegen muss ( 12 ).

25.

Herr Shiri ersucht den Gerichtshof, bei seiner Entscheidung über diese Grundsatzfrage auch weiter gehende Fragen zu prüfen, etwa ob die Dublin-III-Verordnung mit den in der Charta verankerten Grundrechten vereinbar ist. Dies ist eine Frage, die den Kern der Gültigkeit der Verordnung selbst betrifft. Da das vorlegende Gericht diese konkrete Frage jedoch nicht stellt, ist sie vom vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen nicht umfasst. Über diese Frage muss auch nicht entschieden werden, um die tatsächlich gestellten Fragen zu beantworten.

Frage 1

26.

Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung, die ein Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung vorsehen, insbesondere Art. 27 Abs. 1, dahin auszulegen sind, dass ein Antragsteller geltend machen kann, dass die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz beim ersuchenden Mitgliedstaat (hier Österreich) liegt, weil die sechsmonatige Frist für die Durchführung der Überstellungsentscheidung nach Art. 29 Abs. 1 dieser Verordnung abgelaufen ist.

27.

Herr Shiri, Österreich, die Tschechische Republik und die Schweiz sind sämtlich der Ansicht, dass ein auf diese Begründung gestützter Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung vom Geltungsbereich des Art. 27 Abs. 1 umfasst sei. Die Kommission hat in ihren schriftlichen Erklärungen ebenfalls diese Ansicht vertreten. Sie hat ihre Ansicht jedoch im Laufe der mündlichen Verhandlung geändert und unterstützt nun den Standpunkt des Vereinigten Königreichs, das die Gegenansicht zu derjenigen der sonstigen Beteiligten des vorliegenden Verfahrens einnimmt.

28.

Ich erkenne an, dass die Dublin-III-Verordnung die Tragweite des Rechts auf ein wirksames Rechtsmittel in Art. 27 Abs. 1 nicht ausdrücklich definiert. Gleichwohl sprechen der Zweck, die Systematik und der Kontext der Verordnung meines Erachtens für die Ansicht, dass diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass sie die Nichteinhaltung der vorgesehenen Fristen durch einen Mitgliedstaat, insbesondere der Sechsmonatsfrist für die Durchführung einer Überstellungsentscheidung nach Art. 29 Abs. 1, umfasst ( 13 ).

29.

Infolge der durch die Dublin-III-Verordnung (der dritten Fassung der Regeln zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Antragsteller in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist ( 14 )) eingeführten Änderungen ist die Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil Abdullahi ( 15 ) zur Auslegung der Dublin-II-Verordnung ( 16 ) meines Erachtens überlagert worden. Diese Ansicht wird durch die späteren Urteile der Großen Kammer in den Rechtssachen Ghezelbash ( 17 ) und Karim ( 18 ) bestätigt.

30.

Der Gerichtshof entschied im Urteil Abdullahi, dass das zwischen Mitgliedstaaten bestehende Einvernehmen in Bezug auf ein Aufnahmegesuch auf der Grundlage, dass der Mitgliedstaat der ersten Einreise in das Unionsgebiet die Zuständigkeit für die Prüfung des von der betreffenden Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz übernimmt, nur angefochten werden konnte, wenn der Antragsteller systemische Mängel der Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden, wenn er in diesen Mitgliedstaat geschickt würde ( 19 ).

31.

Der Gerichtshof hat das Urteil Abdullahi ( 20 ) im Licht der Änderungen an den Regeln der Dublin-II-Verordnung, die durch die Dublin-III-Verordnung eingeführt wurden, im Rahmen der Auslegung von Art. 27 Abs. 1 der letzteren Verordnung im Urteil Ghezelbash überprüft. Dort stellte der Gerichtshof fest, dass i) das in Art. 27 Abs. 1 vorgesehene Rechtsmittel wirksam und auf Sach- und Rechtsfragen gerichtet sein muss; ii) es keine Beschränkung des Vorbringens gibt, auf das sich ein Antragsteller auf internationalen Schutz nach dieser Bestimmung stützen kann; iii) es keinen besonderen Zusammenhang zwischen dem Recht auf einen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung und Art. 3 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung gibt; und iv) dass im 19. Erwägungsgrund der Dublin-III-Verordnung klargestellt wird, dass das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat, in den der Antragsteller überstellt wird, umfassen muss ( 21 ).

32.

Diese allgemeinen Grundsätze gelten auch hier.

33.

Die Fragestellung im Urteil Ghezelbash war, ob die einschlägigen Kriterien nach Kapitel III zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats richtig angewendet worden waren ( 22 ). Die Begründung im Urteil Ghezelbash fand im Urteil Karim Anwendung, wo es um die Frage ging, ob ein Antragsteller auf internationalen Schutz geltend machen konnte, dass Art. 19 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht richtig angewendet worden war ( 23 ). Der Gerichtshof stellte dort fest, dass Art. 19 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung den Rahmen bestimmt, in dem die Prüfung des anzuwendenden Kriteriums nach Kapitel III vorzunehmen ist ( 24 ).

34.

Die Urteile Ghezelbash und Karim betrafen zwar beide Elemente des Verfahrens nach der Dublin-III-Verordnung, die relevant werden, bevor die Behörden eines Mitgliedstaats eine Überstellungsentscheidung erlassen. Der Fall von Herrn Shiri unterscheidet sich davon insoweit, als er das Verfahren nach Erlass einer solchen Entscheidung betrifft ( 25 ). Daraus folgt meines Erachtens jedoch nicht, dass das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel entfällt.

35.

Dieser Unterschied ändert nichts an dem grundsätzlichen Punkt, nämlich dass das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel das Recht umfasst, eine nicht ordnungsgemäße Anwendung der Dublin-III-Verordnung anzufechten. Diese Ansicht steht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs voll im Einklang ( 26 ).

36.

Durch die Dublin-III-Verordnung sind eine Reihe von Änderungen an der früheren Regelung durch die Dublin-II-Verordnung erfolgt. Der 19. Erwägungsgrund hebt eine der wichtigen Änderungen hervor, die vom Unionsgesetzgeber eingeführt wurden, um den einzelnen Antragstellern einen erhöhten Schutz zu gewähren ( 27 ). Die Dublin-III-Verordnung unterscheidet sich also in beachtlichem Maß von der Dublin-II-Verordnung.

37.

Außerdem muss den Zielen der Dublin-III-Verordnung Wirkung verliehen werden, indem ihre Anwendung in einer Weise gewährleistet wird, die den Mitgliedstaaten ermöglicht, im Einklang mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu handeln ( 28 ). Die Verordnung soll ferner die Wahrung der Grundrechte gewährleisten ( 29 ). Das Recht auf eine gute Verwaltung und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 41 und Art. 47 der Charta) sehen Normen vor, die für die richtige Auslegung von Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung von besonderer Bedeutung sind ( 30 ).

38.

Das Vereinigte Königreich trägt eine Reihe von Argumenten für die gegenteilige Auslegung vor. Erstens betont es, dass bei der Auslegung der Dublin-III-Verordnung ein teleologischer Ansatz verfolgt werden müsse. Das Hauptziel sei nach Art. 3 Abs. 1, dass ein einziger Mitgliedstaat für die Prüfung jedes Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei ( 31 ). Diesem Vorbringen stimme ich zu; zu diesem fundamentalen Grundsatz des Dublin-Systems sehe ich aber keinen Widerspruch, wenn die Nichteinhaltung der in der Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Fristen durch einen Mitgliedstaat einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich gemacht wird.

39.

Zweitens äußert das Vereinigte Königreich Bedenken dahin, dass es mit dem erklärten Ziel der Dublin-III-Verordnung, „forum shopping“ zu vermeiden, unvereinbar sei, wenn Antragsteller Überstellungsentscheidungen anfechten könnten, weil die Frist für die Durchführung dieser Entscheidungen abgelaufen sei. Soweit mit „forum shopping“ auch mehrere, vom selben Antragsteller in mehreren Mitgliedstaaten gestellte Anträge auf internationalen Schutz bezeichnet werden ( 32 ), sieht jedoch die Dublin-III-Verordnung zur Regelung dieser Frage selbst konkrete Vorschriften vor ( 33 ).

40.

Nach Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung hat die Nichteinhaltung der für die Durchführung einer Überstellung geltenden Sechsmonatsfrist durch den ersuchenden Mitgliedstaat zur Folge, dass er selbst für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Die betreffende Person würde somit im ersuchenden Mitgliedstaat verbleiben. Diese Folge ergibt sich aus der Anwendung der Regeln der Dublin-III-Verordnung selbst. Der Zweck von Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung ist, den ersuchenden Mitgliedstaat dazu anzuhalten, das gemeinsame Ziel zu wahren, die vorgeschriebenen Fristen einzuhalten, um sicherzustellen, dass Anträge zügig bearbeitet werden, und die Situation zu vermeiden, dass ein Antragsteller auf internationalen Schutz „im Orbit“ verharrt, ohne dass ein für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird ( 34 ). Für den Fall, dass ein Antragsteller in der Situation von Herrn Shiri in mehr als einem Mitgliedstaat Anträge auf internationalen Schutz stellt, wollte der Unionsgesetzgeber bewusst einen Anreiz für den ersuchenden Mitgliedstaat schaffen, die Überstellung zügig durchzuführen. Erfüllt der ersuchende Mitgliedstaat dieses Hauptziel nicht, hat dies zur Folge, dass der Antragsteller im ersuchenden Mitgliedstaat verbleibt. Dies ist gerade die beabsichtigte Wirkung der Regelungen. Dies ist mit einem „forum shopping“ weder identisch noch gleichwertig.

41.

Drittens ist die Unterscheidung, die das Vereinigte Königreich zwischen materiellen und verfahrensbezogenen Fragen vornehmen möchte, zwar auf den ersten Blick attraktiv, sie hält einer näheren Prüfung jedoch nicht stand. Diese Unterscheidung löst nicht die Frage, um die es geht. Die in der Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Fristen betreffen sicherlich verfahrensbezogene Fragen, haben aber auch materielle Auswirkungen sowohl für die Antragsteller als auch für die betreffenden Mitgliedstaaten. Was die Antragsteller angeht, geben die Fristen ihnen ein gewisses Maß an Sicherheit und haben zudem materielle Auswirkungen dahin, welcher Mitgliedstaat den Antrag auf internationalen Schutz prüfen wird. Die materiellen und verfahrensbezogenen Aspekte der vorgesehenen Fristen sind in gleicher Weise miteinander verwoben, was die Mitgliedstaaten angeht.

42.

Viertens gehen die Bedenken des Vereinigten Königreichs in Bezug auf die nationale Verfahrensautonomie meines Erachtens fehl. Die Grundsatzfrage, über die der Gerichtshof zu entscheiden hat, betrifft nicht die Anwendung nationaler Verfahrensvorschriften als solcher.

43.

Schließlich folgt aus einem Recht des Antragstellers auf einen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung wegen Ablaufs der Sechsmonatsfrist für die Durchführung dieser Entscheidung nicht, dass solche Anträge zwangsläufig stets erfolgreich sind. Vielmehr dürften die nationalen Gerichte meines Erachtens die Begründetheit jedes Rechtsbehelfs prüfen können und müssen. Dabei ist der Zweck der in Rede stehenden Bestimmungen zu berücksichtigen. Die Sechsmonatsfrist für die Durchführung der Überstellungsentscheidung wurde ursprünglich vorgesehen, um den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, die Modalitäten für die Durchführung der Überstellung festzulegen ( 35 ). Wie bereits erwähnt, liegt ein Ziel sowohl der Frist als auch des die Mitgliedstaaten zu ihrer Wahrung anhaltenden Anreizes darin, sicherzustellen, dass Antragsteller nicht in einer Situation verharren, in der kein Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Prüfung ihrer Anträge auf internationalen Schutz übernimmt. Bei der Entscheidung darüber, ob Art. 29 Abs. 2 im Einzelfall Anwendung findet, ist auch festzustellen, ob für die betreffende Person ein solches Risiko besteht oder wahrscheinlich ist ( 36 ).

44.

Daher ist Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung meines Erachtens dahin auszulegen, dass ein Antragsteller auf internationalen Schutz gegen eine Überstellungsentscheidung grundsätzlich einwenden kann, dass der ersuchende Mitgliedstaat die Überstellung nicht innerhalb der Sechsmonatsfrist nach Art. 29 Abs. 1 dieser Verordnung durchgeführt hat.

Frage 2

45.

Mit Frage 2 ersucht das vorlegende Gericht um Hinweise zur Auslegung von Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung ( 37 ). Ist in dem Fall, dass der ersuchende Mitgliedstaat eine Überstellungsentscheidung nicht innerhalb der Sechsmonatsfrist nach Art. 29 Abs. 1 durchführt, der ersuchte Mitgliedstaat allein aufgrund des Ablaufs dieser Frist nicht mehr für die Prüfung des von der betreffenden Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig? Oder gibt es eine weitere Voraussetzung dafür, dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dem ersuchenden Mitgliedstaat übertragen wird, nämlich dass der ersuchte Mitgliedstaat dem ersuchenden Mitgliedstaat mitteilt, dass er die Wiederaufnahme des Antragstellers auf internationalen Schutz nun ablehnt?

46.

Mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs stimmen alle, die im vorliegenden Verfahren schriftliche Erklärungen eingereicht haben, darin überein, dass Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung nicht dahin auszulegen sei, dass er eine solche weitere Voraussetzung vorsehe. Das Vereinigte Königreich ist dagegen der Ansicht, dass der Ablauf einer Frist für sich genommen nicht dafür ausreiche, dass der ersuchende Mitgliedstaat zuständig werde, und der ersuchte Mitgliedstaat ein Ermessen behalte, den von der betreffenden Person gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen.

47.

Ich teile die Ansicht des Vereinigten Königreichs nicht.

48.

Der Wortlaut von Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung („Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über....“) enthält keine Formulierung, die darauf hindeutet, dass der Gesetzgeber eine weitere Voraussetzung in das Verfahren zwischen dem ersuchenden Mitgliedstaat und dem ersuchten Mitgliedstaat aufgenommen hätte. Das Vereinigte Königreich stützt sich auf die Formulierung „responsibility shall then be transferred to the requesting Member State“ in der englischen Sprachfassung dieser Bestimmung, die belege, dass der ersuchte Mitgliedstaat tätig werden müsse, um von seinen Verpflichtungen befreit zu werden. Ich verstehe diesen Wortlaut indes einfach dahin, dass die Zuständigkeit nach Ablauf der Sechsmonatsfrist dem ersuchenden Mitgliedstaat übertragen wird. Der Wortlaut deutet nicht darauf hin, dass es zusätzlich zum Ablauf der Sechsmonatsfrist nach Art. 29 Abs. 1 einen späteren (unspezifizierten) Schritt im Verfahren gibt, der gegeben sein muss, damit die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz beim ersuchenden Mitgliedstaat liegt. Dieser Übergang der Zuständigkeit ergibt sich aus der Anwendung von Art. 29 Abs. 2 selbst ( 38 ).

49.

Diese Ansicht steht mit dem Zweck der Bestimmung voll im Einklang ( 39 ). Eine weitere Voraussetzung in das Verfahren zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Mitgliedstaat einzuführen, widerspricht dem Ziel einer zügigen Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Es wäre auch mit einem Hauptziel des Dublin-Systems unvereinbar, nämlich sicherzustellen, dass ein Antragsteller nicht in einer Situation verharrt, in der kein Staat die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz übernimmt.

50.

Hinzuweisen ist auch darauf, dass nach der gesetzlichen Systematik der Dublin-III-Verordnung die Zuständigkeit an den ersuchenden Mitgliedstaat zurückfällt, wenn dieser Staat die Fristen für Aufnahmegesuche (Art. 22 Abs. 7) und Wiederaufnahmegesuche (Art. 25 Abs. 2) nicht einhält. Weitere Voraussetzungen bestehen in keinem dieser Fälle. Mit dieser Systematik wäre es unvereinbar, eine solche Voraussetzung einzuführen, wenn der ersuchende Mitgliedstaat die Frist für die Durchführung einer Überstellungsentscheidung nicht einhält (Art. 29 Abs. 1 und 2). Schließlich zeigt, wie von Österreich, der Tschechischen Republik und der Schweiz vorgetragen, die weiter gehende Systematik des Dublin-Systems, dass es eine solche zusätzliche Voraussetzung für das zwischenstaatliche Verfahren nicht gibt. In Art. 9 Abs. 2 der Dublin-Durchführungsverordnung findet sich nichts dergleichen ( 40 ).

51.

Daher ist Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung meines Erachtens dahin auszulegen, dass im Rahmen der Modalitäten zwischen dem ersuchenden Mitgliedstaat und dem ersuchten Mitgliedstaat für die Überstellung der Ablauf der Sechsmonatsfrist nach Art. 29 Abs. 1 für sich genommen dafür ausreicht, dass der ersuchende Staat für die Prüfung des von der betreffenden Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig wird.

Fall von Herrn Shiri

52.

Der Fall von Herrn Shiri wirft die schwierige Frage auf, wie die Regelungen des Rechts eines Antragstellers auf ein wirksames Rechtsmittel in Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung in Verbindung mit Art. 29 auszulegen sind, der die Modalitäten und Fristen für die Durchführung von Überstellungsentscheidungen betrifft.

53.

Nach Ansicht von Herrn Shiri begann die Frist für die Durchführung der Überstellungsentscheidung in seinem Fall am 23. März 2015 zu laufen, als die bulgarischen Behörden das Wiederaufnahmegesuch der entsprechenden österreichischen Behörden annahmen. Diese Frist sei sechs Monate später, am 23. September 2015, abgelaufen. Folglich könne er nach Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung nicht nach Bulgarien überstellt werden: Dieser Mitgliedstaat sei zu seiner Wiederaufnahme nicht mehr verpflichtet, weil die Überstellung nicht während der vorgeschriebenen Sechsmonatsfrist durchgeführt worden sei. Kurz gesagt, ist es nach Ansicht von Herrn Shiri für eine Durchführung der Überstellungsentscheidung jetzt zu spät. Er fügt hinzu, dass das Bundesverwaltungsgericht über seinen Antrag auf Aussetzung der Überstellungsentscheidung nicht entschieden habe.

54.

Meines Erachtens ist die Rechtslage nicht so einfach, wie Herr Shiri vorträgt.

55.

Für die Prüfung der besonderen Umstände seines Falles ist zunächst zwischen den Bestimmungen in Art. 27 Abs. 3 über die Aussetzung der Durchführung von Überstellungsentscheidungen und den Bestimmungen über die Modalitäten und Fristen für die Durchführung dieser Entscheidungen in Art. 29 der Dublin-III-Verordnung zu unterscheiden und dann zu prüfen, wie diese Bestimmungen in Verbindung miteinander auszulegen sind.

56.

Nach Art. 27 Abs. 3 müssen die Mitgliedstaaten Vorschriften für die Aussetzung der Durchführung von Überstellungsentscheidungen vorsehen. Die Mitgliedstaaten können sich dafür entscheiden, i) der betroffenen Person die Berechtigung einzuräumen, bis zum Abschluss ihres Rechtsbehelfs oder der von ihr beantragten Überprüfung im Hoheitsgebiet des betreffenden Landes zu bleiben ( 41 ), ii) die automatische Aussetzung der Überstellungsentscheidung vorzusehen ( 42 ) oder iii) sicherzustellen, dass die betreffende Person die Möglichkeit hat, bei einem Gericht eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung zu beantragen, solange über das Rechtsbehelfs- oder Überprüfungsverfahren nicht entschieden ist ( 43 ). Das Ziel, das der Gesetzgeber damit verfolgt hat, dass die zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten über die Aussetzung des Vollzugs einer Überstellungsentscheidung entscheiden können, bestand darin, die Antragstellern auf internationalen Schutz eingeräumten Rechtsgarantien und deren Rechtsschutz zu stärken ( 44 ).

57.

Der Wortlaut von Art. 27 Abs. 1 und 3 und die allgemeinen Ziele dieser Bestimmungen erstrecken sich nicht auf die Regelung der Anwendung der Fristen nach Art. 29 der Dublin-III-Verordnung. Wird jedoch (wie im Fall von Herrn Shiri) eine Überstellungsentscheidung angefochten, sind beide Gruppen von Bestimmungen in einer Weise auszulegen, die mit der gesetzlichen Systematik im Einklang steht und kohärent ist. Allgemein finden die Regelungen in dem Fall, dass ein Antragsteller auf internationalen Schutz eine Überstellungsentscheidung wegen Nichteinhaltung der Sechsmonatsfrist nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung durch den betreffenden Mitgliedstaat anficht, nach meinem Verständnis wie folgt Anwendung. Zu erinnern ist daran, dass eine solche Anfechtung erfolgt, nachdem über die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach den Kriterien nach Kapitel III entschieden worden ist. Der zuständige Mitgliedstaat (im Fall von Herrn Shiri Bulgarien) ist verpflichtet, den Antragsteller wieder aufzunehmen ( 45 ).

58.

Möglicherweise werden Überstellungsentscheidungen in Österreich vollziehbar, sobald sie von den zuständigen Stellen erlassen werden; ob dies der Fall ist, ist eine Frage des nationalen Rechts.

59.

Nach Art. 29 Abs. 1 erfolgt die Überstellung des Antragstellers aus dem ersuchenden Mitgliedstaat (hier Österreich) in den zuständigen Mitgliedstaat (hier Bulgarien) gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat (im Folgenden: erste Voraussetzung) oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser gemäß Art. 27 Abs. 3 aufschiebende Wirkung hat (im Folgenden: zweite Voraussetzung). Die erste Voraussetzung beruht auf der Prämisse, dass lediglich die Modalitäten für die Durchführung zu regeln und insbesondere deren Datum festzusetzen bleiben ( 46 ). Die zweite Voraussetzung beruht auf der Prämisse, dass der betreffende Mitgliedstaat das Verfahren zur Aussetzung des Vollzugs von Überstellungsentscheidungen nach Art. 27 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung durchführt.

60.

Hinzuzufügen ist, dass nach Art. 29 Abs. 3 in dem Fall, dass eine Person irrtümlich überstellt oder einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung nach ihrem Vollzug stattgegeben wird, der Mitgliedstaat, der die Überstellung durchgeführt hat, die Person unverzüglich wieder aufnehmen muss. Wird eine Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des gerichtlichen Verfahrens ausgesetzt, kommt es natürlich nicht zu einer Anwendung von Art. 29 Abs. 3 ( 47 ). Auch wenn die Überstellungsentscheidung in Bezug auf Herrn Shiri nicht ausgesetzt wurde, verblieb er tatsächlich in Österreich. Art. 29 Abs. 3 ist somit nicht einschlägig.

61.

Auf den Fall von Herrn Shiri trifft weder die erste noch die zweite Voraussetzung des Art. 29 Abs. 1 genau zu. Das vorlegende Gericht wird sich jedoch mit der komplexen Frage auseinanderzusetzen haben, wie die Regeln der Dublin-III-Verordnung und die einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts miteinander verflochten und anzuwenden sind, um über die von Herrn Shiri erhobene Klage gegen die Überstellungsentscheidung des BFA zu entscheiden. Ich möchte folgende Anmerkungen beitragen.

62.

Was den ersten Bescheid des BFA angeht, hat Österreich zwar Art. 27 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung dahin umgesetzt, dass es vorsieht, dass Antragsteller bei einem Gericht eine Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung beantragen können, eine solche Entscheidung ist jedoch im Fall von Herrn Shiri unstreitig nicht ergangen. De facto wurde ihm jedoch gestattet, in Österreich zu bleiben. Die Frist für die Durchführung der Überstellung nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung begann am 23. März 2015 zu laufen. Diese Frist hörte auf zu laufen, als der erste Bescheid des BFA am 20. Juli 2015 aufgehoben wurde. Von diesem Zeitpunkt an gab es keine zu vollziehende Überstellungsentscheidung mehr; das nationale Gericht verwies die Angelegenheit von Herrn Shiri zur Erlassung eines neuen Bescheids an das BFA zurück ( 48 ). Die Frage, ob es sich bei der Aufhebung des ersten Bescheids des BFA um eine ex nunc wirkende Entscheidung (Ungültigkeit ab 20. Juli 2015, dem Datum der Entscheidung) oder um eine ex tunc wirkende Entscheidung (Behandlung, als ob der erste Bescheid des BFA vom 2. Juli 2015 nicht erlassen worden wäre) handelt, regelt die Dublin-III-Verordnung nicht. Dies ist allein Sache des österreichischen Rechts.

63.

Da es somit (zumindest) mit Wirkung ab 20. Juli 2015 keine Überstellungsentscheidung gab, waren zu diesem Zeitpunkt weder die erste noch die zweite Voraussetzung des Art. 29 Abs. 1 erfüllt. Dementsprechend ergibt sich aus Art. 29 Abs. 2 nicht die Folge, dass Bulgarien zu seiner Wiederaufnahme nicht mehr verpflichtet war.

64.

Was den zweiten Bescheid des BFA angeht, der vor dem 23. September 2015 (dem Ende der Sechsmonatsfrist) erlassen wurde, ist den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge von den bulgarischen Behörden hierzu keine weitere Stellungnahme erfolgt. Dies ist nicht überraschend, da Bulgarien nach der Verordnung keineswegs verpflichtet ist, seine Annahme zu bestätigen.

65.

Der Fall von Herrn Shiri entspricht indes trotzdem nicht der der ersten oder zweiten Voraussetzung in Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung zugrunde liegenden Prämisse. Diese Bestimmung gibt nicht an, wann die Frist für die Durchführung einer Überstellungsentscheidung in einem solchen Fall beginnt. Ihrem Wortlaut ist zu entnehmen, dass Grundlage der ersten Voraussetzung ist, dass sie dann gilt, wenn ein Rechtsmittel nach Art. 27 Abs. 1 nicht gegeben ist. Insoweit steht die Überstellungsentscheidung vorbehaltlich der Festlegung der Modalitäten in der Tat mit Sicherheit fest ( 49 ). Dies ist im Fall von Herrn Shiri ganz offenkundig nicht der Fall, in dem es nacheinander mehrere gerichtliche Verfahren gab und der zweite Bescheid des BFA derzeit angefochten wird. Über die Begründetheit in Bezug auf diesen Bescheid steht eine Entscheidung noch aus. Diese Voraussetzung ist im Fall von Herrn Shiri daher nicht erfüllt.

66.

Herr Shiri hat gegen den zweiten Bescheid des BFA einen Rechtsbehelf eingelegt. Eine aufschiebende Wirkung besteht de iure nicht, da die nationalen Gerichte über den von ihm nach den Art. 27 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung umsetzenden nationalen Regelungen gestellten Antrag nicht entschieden haben. Die zweite Voraussetzung des Art. 29 Abs. 1 ist somit im Fall von Herrn Shiri ebenfalls nicht erfüllt ( 50 ). Der Grund hierfür könnte sein, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung an sich schon ausreicht, um sicherzustellen, dass die betreffende Person nach den Bestimmungen des österreichischen Rechts nicht in einen anderen Mitgliedstaat überstellt wird; oder es könnte eine allgemeine Praxis in Österreich bestehen, über Anträge auf aufschiebende Wirkung nicht zu entscheiden (wie von Herrn Shiri behauptet). Der Fall von Herrn Shiri zeigt, dass in den Rechtsvorschriften, wie sie in Österreich angewandt werden, möglicherweise eine Regelungslücke besteht ( 51 ).

67.

Meines Erachtens soll nach Art. 29 Abs. 1 die Frist für die Durchführung der Überstellung zu laufen beginnen, sobald grundsätzlich vereinbart und sichergestellt ist, dass die Überstellung in Zukunft erfolgen wird, und lediglich deren Modalitäten zu regeln bleiben ( 52 ). Dies gilt erst recht, wenn das nationale Gericht, das über den Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung entscheidet, noch nicht über die Begründetheit entschieden hat und das Verfahren ausgesetzt wird, weil ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof erfolgt. Eine Durchführung der Überstellungsentscheidung kann bis zum Abschluss dieses Verfahrens nicht mit Sicherheit feststehen.

68.

Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass unter den im Fall von Herrn Shiri vorliegenden besonderen Umständen die Frist für die Durchführung der Überstellung erst zu laufen beginnen kann, wenn grundsätzlich vereinbart und sichergestellt ist, dass die Überstellung in Zukunft erfolgen wird, und lediglich deren Modalitäten zu regeln bleiben. Es wird Sache der zuständigen nationalen Stellen sein, hierzu auf der Grundlage des nationalen Rechts des ersuchenden Mitgliedstaats Feststellungen zu treffen. Eine solche Überstellung eines Antragstellers auf internationalen Schutz aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den ersuchten Mitgliedstaat ist sobald wie möglich und spätestens sechs Monate nach dem Zeitpunkt durchzuführen, zu dem die Entscheidung über die Begründetheit eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung mit Sicherheit feststeht.

Ergebnis

69.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) gestellten Fragen zur Auslegung, wie folgt zu beantworten:

Nach Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, kann ein Antragsteller auf internationalen Schutz gegen eine Überstellungsentscheidung grundsätzlich einwenden, dass der ersuchende Mitgliedstaat diese Entscheidung nicht innerhalb der Sechsmonatsfrist nach Art. 29 Abs. 1 dieser Verordnung durchgeführt hat.

Nach Art. 29 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 reicht der Ablauf der Sechsmonatsfrist nach Art. 29 Abs. 1 der Verordnung für sich genommen dafür aus, dass der ersuchende Mitgliedstaat für die Prüfung des von der betreffenden Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig wird.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung). Siehe unten, Nr. 29, zu älteren Rechtssachen und unten, Fn. 12, zu drei anhängigen Rechtssachen, in denen es um diese Verordnung geht.

( 3 ) Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 389, im Folgenden: Charta).

( 4 ) Die Dublin-III-Verordnung gilt nach dem Abkommen und dem Protokoll mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Fürstentum Liechtenstein für die Schweiz; diese traten am 1. März 2008 in Kraft (ABl. 2008, L 53, S. 5). Sie wurden durch den Beschluss 2008/147/EG des Rates vom 28. Januar 2008 (ABl. 2008, L 53, S. 3) und den Beschluss 2009/487/EG des Rates vom 24. Oktober 2008 (ABl. 2009, L 161, S. 6) genehmigt. Island und Norwegen wenden das Dublin-System aufgrund bilateraler Abkommen mit der Europäischen Union an, die durch den Beschluss 2001/258/EG des Rates vom 15. März 2001 (ABl. 2001, L 93, S. 38) genehmigt wurden. Siehe ferner meine Schlussanträge in den Rechtssachen A.S. und Jafari (C‑490/16 und C‑646/16, EU:C:2017:443, Nr. 23 und Fn. 32).

( 5 ) Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 sieht eine Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz nach Art. 3 Abs. 1 vor, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta mit sich bringen.

( 6 ) Die Pflichten nach Art. 18 Abs. 1 erlöschen, wenn der zuständige Mitgliedstaat nachweisen kann, dass die betreffende Person das Unionsgebiet für mindestens drei Monate verlassen hat (Art. 19 Abs. 2).

( 7 ) Stützt sich ein Wiederaufnahmeantrag auf Angaben aus dem Eurodac-System, verkürzt sich diese Frist auf zwei Wochen.

( 8 ) Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (ABl. 2014, L 39, S. 1, die beiden Durchführungsverordnungen der Kommission bilden zusammen die „Dublin-Durchführungsverordnung“).

( 9 ) Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950.

( 10 ) Nach eigener Prüfung der Akten des nationalen Gerichts kann ich bestätigen, dass das Rechtsmittel von den Rechtsbeiständen von Herrn Shiri an diesem Tag unterzeichnet, allerdings offenbar am 6. Oktober 2015 eingereicht wurde.

( 11 ) Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht nicht klar hervor, ob Österreich die Verpflichtung zum Erlass von Vorschriften zum Schutz der Rechtsstellung eines Antragstellers bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung durch die Einführung von Maßnahmen nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. b oder c der Dublin-III-Verordnung umgesetzt hat. Das vorlegende Gericht führt in Rn. 9 des Vorabentscheidungsersuchens an, dass Österreich Art. 27 Abs. 3 Buchst. b umgesetzt habe (wonach eine Überstellung automatisch ausgesetzt wird). Es führt jedoch im Weiteren aus, dass einem Rechtsbehelf „… gegen eine Überstellungsentscheidung nicht automatisch aufschiebende Wirkung zu[komme], sondern … das Bundesverwaltungsgericht über die Gewährung der aufschiebenden Wirkung nach eingehender und gründlicher Prüfung entscheiden [müsse]“. Diese Darstellung entspricht dem Wortlaut von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c und spricht dafür, dass Österreich diese Option gewählt hat. Vgl. auch unten, Nrn. 52 bis 68.

( 12 ) Vgl. meine Schlussanträge in den Rechtssachen A.S. und Jafari (C‑490/16 und C‑646/16, EU:C:2017:443) und Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:480, noch anhängig); vgl. auch Hasan (C‑360/16, noch anhängig).

( 13 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache A.S. und Jafari (C‑490/16 und C‑646/16, EU:C:2017:443, Nrn. 244 bis 247) und meine Schlussanträge in der Rechtssache Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:480, Nrn. 77 bis 110).

( 14 ) Vgl. eingehender hierzu meine jüngsten Schlussanträge in der Rechtssache Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:480, Nr. 79).

( 15 ) Urteil vom 10. Dezember 2013 (C‑394/12, EU:C:2013:813).

( 16 ) Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1) (im Folgenden: Dublin‑II-Verordnung – diese Verordnung wurde ihrerseits durch die Dublin-III-Verordnung ersetzt). Das Urteil Abdullahi betraf die Auslegung von Art. 19 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung, der ein Recht auf ein Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung vorsah, wenn der ersuchte Mitgliedstaat zugestimmt hatte, einen Antragsteller auf internationalen Schutz nach dieser Verordnung aufzunehmen.

( 17 ) Urteil vom 7. Juni 2016 (C‑63/15, EU:C:2016:409).

( 18 ) Urteil vom 7. Juni 2016 (C‑155/15, EU:C:2016:410).

( 19 ) Urteil vom 10. Dezember 2013 (C‑394/12, EU:C:2013:813, Rn. 62).

( 20 ) Urteil vom 10. Dezember 2013 (C‑394/12, EU:C:2013:813).

( 21 ) Urteil vom 7. Juni 2016 (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 36, 37 bzw. 38).

( 22 ) Diese die Ausstellung von Visa betreffenden Kriterien sind in Art. 12 Abs. 1 und 4 der Dublin-III-Verordnung geregelt.

( 23 ) Art. 19 der Dublin-III-Verordnung legt die Regeln für den Fall fest, dass ein Mitgliedstaat einem Antragsteller einen Aufenthaltstitel erteilt und der für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat wird (Art. 19 Abs. 1). Diese Zuständigkeit erlischt, wenn der so bestimmte Mitgliedstaat nachweisen kann, dass die betreffende Person das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, es sei denn, die betreffende Person ist im Besitz eines vom zuständigen Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltstitels (Art. 19 Abs. 2).

( 24 ) Urteil vom 7. Juni 2016, Karim (C‑155/15, EU:C:2016:410, Rn. 23).

( 25 ) Siehe unten, Nr. 57.

( 26 ) Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 40 bis 44).

( 27 ) Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 45 bis 52). Vgl. auch den Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist vom 3. Dezember 2008 (KOM[2008] 820 endg.), auf S. 6 und 7.

( 28 ) 32. Erwägungsgrund.

( 29 ) 39. Erwägungsgrund.

( 30 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:480, Nr. 104 und Fn. 97).

( 31 ) Im Fall von Herrn Shiri sind die Regeln, nach denen sich der zuständige Mitgliedstaat bestimmt, diejenigen des Art. 29 der Dublin-III-Verordnung. Um die Anwendung der Kriterien nach Kapitel III geht es nicht, siehe oben, Nr. 34.

( 32 ) Nach meinem Verständnis bezeichnet der Begriff „forum shopping“ den Missbrauch von Asylverfahren durch Personen, die in mehreren Mitgliedstaaten Asylanträge allein zu dem Zweck stellen, ihren Aufenthalt in den Mitgliedstaaten zu verlängern, vgl. KOM(2008) 820 endgültig vom 3. Dezember 2008, S. 4. Der Begriff wird im weiteren Sinne auch für Drittstaatsangehörige verwendet, die ihren Antrag auf internationalen Schutz in einem bestimmten Mitgliedstaat stellen möchten. Ich verwende den Begriff „forum shopping“ in den vorliegenden Schlussanträgen jedoch nicht in diesem Sinne. Wie in Nr. 69 und Fn. 66 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:480) ausgeführt, wird die letztere Verwendung des Ausdrucks „forum shopping“ als irreführend und unangemessen kritisiert, vgl. „The reform of the Dublin III Regulation“ (Studie für den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres [LIBE] im Auftrag der Fachabteilung Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten des Europäischen Parlaments), S. 21.

( 33 ) Art. 23 bis 25 der Dublin-III-Verordnung.

( 34 ) Fünfter Erwägungsgrund der Dublin-III-Verordnung.

( 35 ) Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian u. a. (C‑19/08, EU:C:2009:41, Rn. 40 und 41).

( 36 ) Vgl. auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Mengesteab, (C‑670/16, EU:C:2017:480, Nrn. 96 bis 98).

( 37 ) Vgl. auch meine Schlussanträge in der Rechtssache A.S. und Jafari (C‑490/16 und C‑646/16, EU:C:2017:443, Nrn. 248 bis 257).

( 38 ) Während Art. 9 Abs. 2 der Dublin-Durchführungsverordnung (siehe oben, Nr. 13) nahelegt, dass die Frist verlängert werden kann unter der Voraussetzung, dass der ersuchende Mitgliedstaat den ersuchten Mitgliedstaat ordnungsgemäß darüber unterrichtet, dass er die Überstellung nicht innerhalb von sechs Monaten durchführen kann, ist diese Möglichkeit ausdrücklich auf die in Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung genannten speziellen Umstände beschränkt. Tut der ersuchende Mitgliedstaat dies nicht, wird er nach der normalen Sechsmonatsregel zuständig für die Prüfung des Antrags in der Sache.

( 39 ) Siehe oben, Nr. 40.

( 40 ) Siehe hierzu oben, Fn. 38.

( 41 ) Art. 27 Abs. 3 Buchst. a der Dublin-III-Verordnung.

( 42 ) Art. 27 Abs. 3 Buchst. b der Dublin-III-Verordnung.

( 43 ) Art. 27 Abs. 3 Buchst. c der Dublin-III-Verordnung; siehe auch oben, Nr. 20 und Fn. 11.

( 44 ) KOM(2008) 820 endg. vom 3. Dezember 2008, S. 7.

( 45 ) Nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b ist Bulgarien (der ersuchte Mitgliedstaat) verpflichtet, Herrn Shiri nach Maßgabe der Art. 23, 24, 25 und 29 der Dublin-III-Verordnung wieder aufzunehmen.

( 46 ) Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian u. a. (C‑19/08, EU:C:2009:41).

( 47 ) Auch wenn es unzweifelhaft richtig ist, eine Bestimmung vorzusehen, die den zuständigen Stellen ermöglicht, Fehler zu korrigieren, ist Art. 29 Abs. 3 meines Erachtens als Ausnahme und nicht als Regel anzuwenden, da es mit dem Ziel nicht im Einklang steht, Überstellungen unter uneingeschränkter Wahrung der Menschenrechte und der Menschenwürde durchzuführen (vgl. 24. Erwägungsgrund und Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung), wenn Antragsteller routinemäßig zwischen den Mitgliedstaaten hin und her geschickt werden.

( 48 ) Siehe oben, Nr. 16.

( 49 ) Siehe oben, Nr. 59.

( 50 ) Obwohl eine gerichtliche Entscheidung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c der Dublin-III-Verordnung nicht ergangen ist, wurde Herrn Shiri tatsächlich gestattet, in Österreich zu bleiben.

( 51 ) Es ist Sache der Kommission, festzustellen, ob eine in bestimmtem Grad verfestigte und allgemeine Praxis besteht und sie eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV erheben sollte, vgl. entsprechend Urteil vom 26. April 2005, Kommission/Irland (C‑494/01, EU:C:2005:250, Rn. 28), vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed in der Rechtssache Kommission/Irland (C‑494/01, EU:C:2004:546, Nr. 48).

( 52 ) Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian u. a. (C‑19/08, EU:C:2009:41, Rn. 45).

Top