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Document 62015CJ0430

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 1. Februar 2017.
Secretary of State for Work and Pensions gegen Tolley.
Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court of the United Kingdom.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Pflegekomponente der Unterhaltsbeihilfe für Behinderte (‚disability living allowance‘) – Gegen das Risiko ‚Alter‘ versicherte Person, die jede Berufstätigkeit endgültig eingestellt hat – Begriffe ‚Leistung bei Krankheit‘ und ‚Leistung bei Invalidität‘ – Exportierbarkeit.
Rechtssache C-430/15.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2017:74

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

1. Februar 2017 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Soziale Sicherheit — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Pflegekomponente der Unterhaltsbeihilfe für Behinderte (‚disability living allowance‘) — Gegen das Risiko ‚Alter‘ versicherte Person, die jede Berufstätigkeit endgültig eingestellt hat — Begriffe ‚Leistung bei Krankheit‘ und ‚Leistung bei Invalidität‘ — Exportierbarkeit“

In der Rechtssache C‑430/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) mit Entscheidung vom 29. Juli 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 5. August 2015, in dem Verfahren

Secretary of State for Work and Pensions

gegen

Tolley

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev (Berichterstatter), C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Juni 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Frau Tolley (verstorben, im Verfahren vertreten durch ihren Nachlassverwalter), vertreten durch R. Drabble, QC, und T. Buley, Barrister, beauftragt von S. Clarke, Solicitor,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch M. Holt und C. Crane als Bevollmächtigte im Beistand von B. Kennelly, QC, und D. Blundell, Barrister,

der norwegischen Regierung, vertreten durch P. Wennerås, M. Schei und C. Rydning als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Oktober 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1), in der durch die Verordnung (EG) Nr. 307/1999 des Rates vom 8. Februar 1999 (ABl. 1999, L 38, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Secretary of State for Work and Pensions (Minister für Arbeit und Renten, Vereinigtes Königreich, im Folgenden: Minister) und Frau Tolley, verstorben am 10. Mai 2011 und im Ausgangsverfahren vertreten durch ihren Ehemann in seiner Eigenschaft als Verwalter ihres Nachlasses, wegen der Streichung ihres Anspruchs auf Erhalt der Pflegekomponente der Unterhaltsbeihilfe für Behinderte („disability living allowance“, im Folgenden: DLA), die damit begründet wurde, dass sie die Voraussetzungen des Wohnsitzes und des Aufenthalts in Großbritannien nicht mehr erfülle.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde durch die seit dem 1. Mai 2010 geltende Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, und – Berichtigung – ABl. 2004, L 200, S. 1) ersetzt. In Anbetracht des Zeitraums, in den die im Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Ereignisse fallen, ist auf den Rechtsstreit jedoch weiterhin die Verordnung Nr. 1408/71 anwendbar.

4

In Art. 1 dieser Verordnung heißt es:

„Für die Anwendung dieser Verordnung werden die nachstehenden Begriffe wie folgt definiert:

a)

Arbeitnehmer‘ oder ‚Selbständiger‘: jede Person,

i)

die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist;

ii)

die im Rahmen eines für alle Einwohner oder die gesamte erwerbstätige Bevölkerung geltenden Systems der sozialen Sicherheit gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken pflichtversichert ist, die von den Zweigen erfasst werden, auf die diese Verordnung anzuwenden ist,

wenn diese Person aufgrund der Art der Verwaltung oder der Finanzierung dieses Systems als Arbeitnehmer oder Selbständiger unterschieden werden kann oder

wenn sie bei Fehlen solcher Kriterien im Rahmen eines für Arbeitnehmer oder Selbständige errichteten Systems oder eines Systems der Ziffer iii) gegen ein anderes in Anhang I bestimmtes Risiko pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist oder wenn auf sie bei Fehlen eines solchen Systems in dem betreffenden Mitgliedstaat die in Anhang I enthaltene Definition zutrifft;

o)

‚Zuständiger Träger‘:

i)

der Träger, bei dem die in Betracht kommende Person im Zeitpunkt des Antrags auf Leistungen versichert ist, …

q)

Zuständiger Staat‘: der Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der zuständige Träger seinen Sitz hat;

…“

5

Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:

„Diese Verordnung gilt für Arbeitnehmer und Selbständige sowie für Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene.“

6

Art. 4 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„(1)   Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:

a)

Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft,

b)

Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind,

c)

Leistungen bei Alter,

(2)   Diese Verordnung gilt für die allgemeinen und die besonderen, die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme der sozialen Sicherheit sowie für die Systeme, nach denen die Arbeitgeber, einschließlich der Reeder, zu Leistungen gemäß Absatz 1 verpflichtet sind.

…“

7

Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:

„Die Geldleistungen bei Invalidität, Alter oder für die Hinterbliebenen, die Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten und die Sterbegelder, auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten Anspruch erhoben worden ist, dürfen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.“

8

In Art. 13 der Verordnung Nr. 1408/71 heißt es:

„(1)   Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2)   Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:

a)

Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;

f)

eine Person, die den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiterhin unterliegt, ohne dass die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gemäß einer der Vorschriften in den vorhergehenden Buchstaben oder einer der Ausnahmen bzw. Sonderregelungen der Artikel 14 bis 17 auf sie anwendbar würden, unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, nach Maßgabe allein dieser Rechtsvorschriften.“

9

Titel III („Besondere Vorschriften für die einzelnen Leistungsarten“) der Verordnung Nr. 1408/71 ist in acht Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel betrifft Krankheit und Mutterschaft. In seinem Abschnitt 2 („Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige“) befindet sich Art. 19 der Verordnung, der in seinem Abs. 1 bestimmt:

„Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des zuständigen Staates wohnt und die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Artikels 18, erfüllt, erhält in dem Staat, in dem er wohnt,

b)

Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften. Im Einvernehmen zwischen dem zuständigen Träger und dem Träger des Wohnorts können die Leistungen jedoch vom Träger des Wohnorts nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für Rechnung des zuständigen Trägers gewährt werden.“

10

Im selben Abschnitt sieht Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71 vor:

„(1)   Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Artikels 18, erfüllt und

b)

der, nachdem er zu Lasten des zuständigen Trägers leistungsberechtigt geworden ist, von diesem Träger die Genehmigung erhalten hat, in das Gebiet des Mitgliedstaats, in dem er wohnt, zurückzukehren oder einen Wohnortwechsel in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats vorzunehmen, …

hat Anspruch auf:

ii)

Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften. Im Einvernehmen zwischen dem zuständigen Träger und dem Träger des Aufenthalts‑ oder Wohnorts können diese Leistungen jedoch vom Träger des Aufenthalts‑ oder Wohnorts nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für Rechnung des zuständigen Trägers gewährt werden.

(2)   Die nach Absatz 1 Buchstabe b) erforderliche Genehmigung darf nur verweigert werden, wenn die Rückkehr oder der Wohnortwechsel des Arbeitnehmers oder Selbständigen dessen Gesundheitszustand gefährden oder die Durchführung der ärztlichen Behandlung in Frage stellen würde.

…“

11

Art. 89 der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:

„Die Besonderheiten bei der Anwendung der Rechtsvorschriften bestimmter Mitgliedstaaten sind im Anhang VI aufgeführt.“

12

Anhang I („Persönlicher Geltungsbereich der Verordnung“) der Verordnung Nr. 1408/71 enthält einen Abschnitt O betreffend das Vereinigte Königreich, der folgenden Wortlaut hat:

„Als Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a) Ziffer ii) der Verordnung gilt jede Person, die im Sinne der Rechtsvorschriften von Großbritannien oder der Rechtsvorschriften von Nordirland Arbeitnehmer (employed earner) oder Selbständiger (self-employed earner) ist, sowie jede Person, für die Beiträge als Arbeitnehmer (employed person) oder Selbständiger (self-employed person) im Sinne der Rechtsvorschriften von Gibraltar geschuldet werden.“

13

Abschnitt O betreffend das Vereinigte Königreich des Anhangs VI („Besondere Bestimmungen über die Anwendung der Rechtsvorschriften bestimmter Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt in Nr. 19:

„Für eine Person, die als Arbeitnehmer oder Selbständiger früher den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs unterlag, gelten vorbehaltlich mit einzelnen Mitgliedstaaten geschlossener Vereinbarungen für die Anwendung des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe f) der Verordnung und des Artikels 10b der Durchführungsverordnung die Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs nach Ablauf des letzten der drei folgenden Tage nicht weiter:

c)

de[s] letzten Tag[s] eines Zeitraums, in dem britische Leistungen wegen Krankheit, Mutterschaft (einschließlich Sachleistungen, für deren Gewährung das Vereinigte Königreich der zuständige Staat ist) oder Arbeitslosigkeit bezogen wurden und der

i)

vor dem Tag des Wohnsitzwechsels in einen anderen Mitgliedstaat begann oder – bei späterem Beginn –

ii)

unmittelbar auf die Aufnahme einer Beschäftigung oder Selbständigentätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat folgte, während diese Person noch Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs unterlag.“

14

Nr. 20 dieses Abschnitts lautet:

„Die Tatsache, dass eine Person nach Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f) der Verordnung, Artikel 10b der Durchführungsverordnung und Nummer 19 oben den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats unterstellt wird, steht folgender Regelung nicht entgegen:

a)

Die Bestimmungen für Arbeitnehmer oder Selbständige in Titel III Kapitel 1 und Kapitel 2 Abschnitt 1 sowie in Artikel 40 Absatz 2 der Verordnung werden vom Vereinigten Königreich als dem zuständigen Staat auf sie angewandt, wenn sie im Sinne dieser Bestimmungen Arbeitnehmer oder Selbständiger bleibt und zuletzt nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs als solcher versichert war.

b)

Für die Anwendung des Titels III Kapitel 7 und 8 der Verordnung oder des Artikels 10 oder 10a der Durchführungsverordnung wird sie als Arbeitnehmer oder Selbständiger behandelt, sofern nach Buchstabe a) Leistungen des Vereinigten Königreichs gemäß Titel III Kapitel 1 zu zahlen sind.“

Recht des Vereinigten Königreichs

15

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass die DLA eine beitragsunabhängige Leistung ist, deren Zweck darin besteht, die Mehrkosten der Inanspruchnahme bestimmter Pflegearten oder bei völlig oder fast völlig fehlender Gehfähigkeit auszugleichen. Die aus einer Pflege- und einer Mobilitätskomponente zusammengesetzte DLA ist unabhängig von der Bedürftigkeit und keine Lohnersatzzahlung, da der Begünstigte einer Berufstätigkeit nachgehen darf.

16

Nach Section 71(6) des Social Security Contributions and Benefits Act 1992 (Gesetz über die Beiträge und Leistungen der sozialen Sicherheit von 1992, im Folgenden: Gesetz von 1992) hat „[e]ine Person … nur dann Anspruch auf eine [DLA], wenn sie die vorgeschriebenen Voraussetzungen hinsichtlich des Wohnorts und des Aufenthaltsorts in Großbritannien erfüllt“.

17

Diese Voraussetzungen des Wohnorts und des Aufenthaltsorts in Großbritannien werden insbesondere in Regulation 2(1) Buchst. a der Social Security (Disability Living Allowance) Regulations 1991 (Verordnung über die Unterhaltsbeihilfe für Behinderte im Bereich der sozialen Sicherheit von 1991) im Einzelnen festgelegt.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18

Frau Tolley, eine am 17. April 1952 geborene britische Staatsangehörige, zahlte von 1967 bis 1984 im Vereinigten Königreich Sozialversicherungsbeiträge. Danach wurden ihr Beiträge bis 1993 angerechnet. Wenn sie die Beitragsvoraussetzungen bei Erreichen des gesetzlichen Rentenalters erfüllt hätte, hätte sie Anspruch auf eine staatliche Altersrente gehabt.

19

Ab dem 26. Juli 1993 erhielt Frau Tolley für unbestimmte Zeit die Pflegekomponente der DLA, weil sie nicht in der Lage war, sich ihre Mahlzeiten selbst zuzubereiten.

20

Am 5. November 2002 zogen Frau Tolley und ihr Ehemann dauerhaft nach Spanien, um sich dort niederzulassen. Frau Tolley war in diesem Mitgliedstaat weder als Arbeitnehmerin noch als Selbständige beruflich tätig.

21

Im Jahr 2007 entschied der Minister, dass der Anspruch von Frau Tolley auf Erhalt der Pflegekomponente der DLA am 6. November 2002 erloschen sei. Es ist unstreitig, dass die Betroffene nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs an diesem Datum ihren Anspruch auf diese Beihilfe verloren hat.

22

Frau Tolley erhob daraufhin gegen diese Entscheidung Klage beim First-tier Tribunal (Gericht erster Instanz, Vereinigtes Königreich). Dieses gab der Klage statt und entschied, dass Frau Tolley nach ihrem Umzug nach Spanien gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 Anspruch auf Fortzahlung dieser Beihilfe habe.

23

Gegen das Urteil des First-tier Tribunal (Gericht erster Instanz) legte der Minister ein Rechtsmittel beim Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz, Vereinigtes Königreich) ein. Dieses Gericht entschied, dass Frau Tolley nach Art. 22 der Verordnung Anspruch auf die Pflegekomponente der DLA habe, weil sie, da sie aufgrund ihrer Sozialversicherungsbeiträge gegen das Risiko des Alters versichert sei, eine Arbeitnehmerin im Sinne von Art. 1 Buchst. a der Verordnung sei.

24

Der Court of Appeal (England & Wales) (Berufungsgericht [England und Wales], Vereinigtes Königreich) wies die Berufung des Ministers gegen die Entscheidung des Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) zurück. Daraufhin rief der Minister den Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) an.

25

Dieses Gericht weist darauf hin, dass die Pflegekomponente der DLA als eine nach Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 in einen anderen Mitgliedstaat exportierbare Leistung bei Invalidität im Sinne dieser Verordnung angesehen werden könnte. Allgemeines Merkmal der in dieser Bestimmung angeführten Leistungen sei, dass es sich um langfristige Zahlungen oder einmalige Zahlungen wegen dauerhafter Umstände handele. Wenn die betreffende Beihilfe hingegen als Leistung bei Krankheit anzusehen sei, stelle sich die Frage, ob die Definition des Begriffs „Arbeitnehmer“ in Art. 1 Buchst. a Ziff. ii dieser Verordnung auch für die Bestimmungen von Titel III Kapitel 1 der Verordnung über Krankheit gelte. In diesem Zusammenhang sei es nicht logisch, Nichterwerbstätige als Arbeitnehmer anzusehen, die besser zu stellen seien als Personen, die sich aktiv um Arbeit bemühten.

26

Da zudem ein eventueller Anspruch von Frau Tolley auf eine Altersrente nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs nach ihrem Umzug nach Spanien aufrechterhalten worden sei, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Wortfolge „eine Person, die den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiterhin unterliegt“ in Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 auf sämtliche Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats abzielt oder aber nur auf diejenigen seiner Rechtsvorschriften, die sich auf die in Rede stehende Leistung beziehen. Falls nur die letztgenannten Rechtsvorschriften in Bezug genommen seien, könne man sich fragen, ob sich Nr. 19 Buchst. c in Anhang VI Abschnitt O dieser Verordnung, wo der Zeitpunkt präzisiert werde, ab dem die Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs nicht mehr gälten, auf den tatsächlichen Bezug der Leistung oder aber auf den bloßen Anspruch auf diese beziehe. Darüber hinaus sei fraglich, ob Nr. 20 desselben Abschnitts das Vereinigte Königreich dazu verpflichte, die Pflegekomponente der DLA gemäß den Bestimmungen von Titel III Kapitel 1 der Verordnung zu zahlen.

27

Unter diesen Umständen hat der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist die Pflegekomponente der DLA für die Zwecke der Verordnung Nr. 1408/71 zutreffend als eine Leistung bei Invalidität und nicht als eine Geldleistung bei Krankheit eingestuft?

2.

a)

Unterliegt eine Person, die nach dem Recht des Vereinigten Königreichs den Anspruch auf die [Pflegekomponente der] DLA verliert, weil sie in einen anderen Mitgliedstaat umgezogen ist, und die vor diesem Umzug jede Berufstätigkeit eingestellt hat, aber nach dem Sozialversicherungssystem des Vereinigten Königreichs für den Fall des Alters versichert bleibt, für die Zwecke von Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 nicht mehr den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs?

b)

Unterliegt eine solche Person jedenfalls im Licht von Nr. 19 Buchst. c des Abschnitts O von Anhang VI der Verordnung Nr. 1408/71 weiterhin den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs?

c)

Sofern sie den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs nicht im Sinne von Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 weiterhin unterliegt, ist das Vereinigte Königreich dann aufgrund von Nr. 20 des Abschnitts O in Anhang VI der Verordnung verpflichtet oder lediglich berechtigt, die Bestimmungen in Titel III Kapitel 1 der Verordnung auf sie anzuwenden?

3.

a)

Ist die weite Definition des Arbeitnehmerbegriffs im Urteil vom 7. Juni 2005, Dodl und Oberhollenzer (C‑543/03, EU:C:2005:364), für die Zwecke der Art. 19 bis 22 der Verordnung Nr. 1408/71 anzuwenden, wenn die Person vor ihrem Umzug in einen anderen Mitgliedstaat jede Berufstätigkeit eingestellt hat, ungeachtet der Unterscheidung in Titel III Kapitel 1 der Verordnung zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen einerseits und Arbeitslosen andererseits?

b)

Hat eine Person, falls die Definition anzuwenden ist, Anspruch darauf, dass die Leistung entweder aufgrund von Art. 19 oder aufgrund von Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71 exportiert wird? Verhindert Art. 22 Abs. 1 Buchst. b den Ausschluss des Anspruchs eines Antragstellers auf die Pflegekomponente der DLA durch eine Wohnortvoraussetzung in nationalen Rechtsvorschriften bei einem Wohnortwechsel in einen anderen Mitgliedstaat?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

28

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Leistung wie die Pflegekomponente der DLA im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 eine Leistung bei Krankheit oder eine Leistung bei Invalidität darstellt.

Zur Zulässigkeit

29

Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht die Unzulässigkeit der ersten Vorlagefrage geltend und bringt zur Begründung zum einen vor, dass sie vor dem vorlegenden Gericht nicht erörtert worden sei, und zum anderen, dass sie mit einer in der Rechtssache, die zu dem Urteil vom 18. Oktober 2007, Kommission/Parlament und Rat (C‑299/05, EU:C:2007:608), geführt habe, aufgeworfenen Frage identisch sei.

30

Hinsichtlich des ersten von dieser Regierung vorgebrachten Unzulässigkeitsgrundes ist darauf hinzuweisen, dass die nationalen Gerichte gemäß Art. 267 AEUV ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof haben, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit von unionsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, und sie eine Entscheidung darüber zur Entscheidung des ihnen unterbreiteten Rechtsstreits für erforderlich halten. Die nationalen Gerichte sind somit zur Vorlage berechtigt und gegebenenfalls verpflichtet, wenn sie von Amts wegen oder auf Anregung der Parteien feststellen, dass es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf eine von Abs. 1 dieses Artikels erfasste Frage ankommt. Darum steht der Umstand, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens vor dem vorlegenden Gericht ein unionsrechtliches Problem nicht aufgeworfen haben, der Anrufung des Gerichtshofs durch dieses Gericht nicht entgegen (Urteil vom 15. Januar 2013, Križan u. a., C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 64 und 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Die Vorlage zur Vorabentscheidung beruht nämlich auf einem Dialog des einen mit dem anderen Gericht, dessen Aufnahme ausschließlich von der Beurteilung der Erheblichkeit und der Notwendigkeit der Vorlage durch das nationale Gericht abhängt (Urteil vom 15. Januar 2013, Križan u. a., C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 66).

32

Zudem kann es zwar im Interesse einer geordneten Rechtspflege liegen, dass eine Vorlagefrage erst im Anschluss an eine streitige Verhandlung vorgelegt wird. Es ist jedoch festzustellen, dass eine vorherige streitige Verhandlung nicht zu den Voraussetzungen für die Durchführung des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 1994, Eurico Italia u. a., C‑332/92, C‑333/92 und C‑335/92, EU:C:1994:79, Rn. 11).

33

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Umstand, dass eine unionsrechtliche Frage von den Parteien eines Rechtsstreits nicht zuvor vor dem nationalen Gericht erörtert wurde, einer Anrufung des Gerichtshofs bezüglich einer solchen Frage nicht entgegensteht.

34

Zu dem zweiten Unzulässigkeitsgrund genügt der Hinweis, dass es den innerstaatlichen Gerichten, selbst bei Vorliegen einer Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der betreffenden Rechtsfrage, unbenommen bleibt, den Gerichtshof zu befassen, wenn sie es für angebracht halten, ohne dass der Umstand, dass die Bestimmungen, um deren Auslegung ersucht wird, bereits vom Gerichtshof ausgelegt worden sind, einer neuerlichen Entscheidung des Gerichtshofs entgegenstünde (Urteil vom 17. Juli 2014, Torresi, C‑58/13 und C‑59/13, EU:C:2014:2088, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Daher ist die erste Vorlagefrage zulässig.

Zur Beantwortung der Frage

36

Zunächst ist zu prüfen, ob die Situation von Frau Tolley in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt.

37

Im Hinblick hierauf bestimmt Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung, dass sie für Arbeitnehmer und Selbständige sowie für Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene gilt.

38

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs besitzt eine Person die Arbeitnehmereigenschaft – bzw. die Eigenschaft als Selbständiger – im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko im Rahmen eines der in Art. 1 Buchst. a dieser Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, und zwar unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses (Urteil vom 10. März 2011, Borger, C‑516/09, EU:C:2011:136, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Das vorlegende Gericht und die Regierung des Vereinigten Königreichs machen jedoch geltend, dass die Situation von Frau Tolley unter Art. 1 Buchst. a Ziff. ii zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1408/71 falle, da die Pflegekomponente der DLA allen Einwohnern unabhängig von deren Erwerbstätigkeit zugutekomme. Da diese Bestimmung auf Anhang I der Verordnung verweise, könne Frau Tolley nur dann als „Arbeitnehmer“ qualifiziert werden, wenn sie die in den britischen Rechtsvorschriften aufgestellten Voraussetzungen erfülle. Diese Rechtsvorschriften zielten jedoch nur auf Erwerbstätige ab.

40

Im vorliegenden Fall ist den dem Gerichtshof vorliegenden Akten zu entnehmen, dass Frau Tolley von 1967 bis 1993 im Vereinigten Königreich im Rahmen eines für alle Einwohner geltenden Sozialversicherungssystems gegen das Risiko des Alters versichert war. Es wird nicht bestritten, dass diese Person aufgrund der Art der Verwaltung und der Finanzierung dieses Systems als Arbeitnehmerin unterschieden werden konnte. Da Frau Tolley somit gegen die in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Eventualität versichert war, ist sie als Arbeitnehmerin im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. ii erster Gedankenstrich dieser Verordnung anzusehen.

41

Dass Frau Tolley vor Erreichen des Rentenalters verstarb, kann dieses Ergebnis nicht in Frage stellen. Ob der persönliche Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 eröffnet ist, hängt nämlich nicht von der Verwirklichung des gedeckten Risikos ab (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2011, Borger, C‑516/09, EU:C:2011:136, Rn. 30).

42

Daher ist festzustellen, dass der persönliche Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eröffnet ist.

43

Sodann ist darauf hinzuweisen, dass eine Leistung dann eine Leistung der sozialen Sicherheit ist, wenn sie den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird, ohne dass im Einzelfall eine in das Ermessen gestellte Prüfung des persönlichen Bedarfs erfolgt, und wenn sie sich auf eines der in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (Urteil vom 18. Oktober 2007, Kommission/Parlament und Rat, C‑299/05, EU:C:2007:608, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Diese Verordnung gilt nach ihrem Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und b für die Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die Leistungen bei Krankheit und Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen betreffen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind.

45

Für die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Kategorien von Leistungen der sozialen Sicherheit ist das von der jeweiligen Leistung gedeckte Risiko zu berücksichtigen (Urteil vom 18. Juli 2006, De Cuyper, C‑406/04, EU:C:2006:491, Rn. 27).

46

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass Leistungen, die objektiv aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt werden und die darauf abzielen, den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen Pflegebedürftiger zu verbessern, im Wesentlichen eine Ergänzung der Leistungen der Krankenversicherung bezwecken und damit als „Leistungen bei Krankheit“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 zu betrachten sind (Urteile vom 5. März 1998, Molenaar, C‑160/96, EU:C:1998:84, Rn. 23 bis 25, und vom 18. Oktober 2007, Kommission/Parlament und Rat, C‑299/05, EU:C:2007:608, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Hinsichtlich der Pflegekomponente der DLA ergibt sich aus den von dem vorlegenden Gericht übermittelten Informationen, dass diese beitragsunabhängige Geldleistung, die unabhängig vom Einkommensniveau ihres Empfängers gewährt wird, die Mehrkosten ausgleichen soll, die einer Person insbesondere wegen ihrer völlig oder fast völlig fehlenden Gehfähigkeit entstehen können.

48

Es steht fest, dass die Gewährung der Leistung nicht von einer individuellen Beurteilung des persönlichen Bedarfs des Antragstellers abhängig ist und auf der Grundlage objektiver, im Gesetz von 1992 definierter Kriterien durchgeführt wird, wie dem Kriterium, dass sich der Betroffene seine Mahlzeiten nicht selbst zubereiten kann.

49

Darüber hinaus wird nicht in Abrede gestellt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung dieselben Merkmale aufweist und denselben Zweck verfolgt wie die DLA, die zur Zeit des Sachverhalts der Rechtssache galt, in der das Urteil vom 18. Oktober 2007, Kommission/Parlament und Rat (C‑299/05, EU:C:2007:608), erging.

50

In den Rn. 65 ff. jenes Urteils ist der Gerichtshof jedoch im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Leistung, selbst wenn damit nicht hauptsächlich bezweckt wurde, die Leistungen der Krankenversicherung zu ergänzen, mit Ausnahme ihrer Mobilitätskomponente als eine Leistung bei Krankheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen ist.

51

Unter diesen Umständen stellt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung eine Leistung bei Krankheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 dar.

52

Dieses Ergebnis wird nicht durch das Argument des vorlegenden Gerichts entkräftet, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung als „Leistung bei Invalidität“ qualifiziert werden könnte, da sie den in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführten Leistungen ähnele, nämlich insbesondere den Geldleistungen bei Invalidität, deren Hauptmerkmal darin bestehe, dass es sich um langfristige Zahlungen oder einmalige Zahlungen wegen dauerhafter Umstände handele.

53

Der Umstand, dass für die Gewährung der Pflegekomponente der DLA die Mobilitätseinschränkung einen erheblichen Zeitraum umfassen muss, ist nämlich nicht geeignet, den Zweck dieser Beihilfe zu ändern, der darin besteht, das Leben Pflegebedürftiger zu verbessern (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Oktober 2007, Kommission/Parlament und Rat, C‑299/05, EU:C:2007:608, Rn. 63).

54

Zudem hat der Gerichtshof entschieden, dass Leistungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die das Risiko der Pflegebedürftigkeit betreffen, Leistungen bei Krankheit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzustellen sind, auch wenn sie, anders als die Leistungen bei Krankheit im eigentlichen Sinne, grundsätzlich nicht darauf angelegt sind, für kurze Zeit gezahlt zu werden, und insbesondere durch ihre Anwendungsmodalitäten Merkmale aufweisen können, die in der Sache in einem gewissem Maß den Zweigen Invalidität und Alter nahekommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Juni 2011, da Silva Martins, C‑388/09, EU:C:2011:439, Rn. 47 und 48).

55

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass eine Leistung wie die Pflegekomponente der DLA eine Leistung bei Krankheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 darstellt.

Zum ersten und zum zweiten Teil der zweiten Vorlagefrage

56

Mit dem ersten und dem zweiten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass eine Person aufgrund während eines bestimmten Zeitraums in das Sozialversicherungssystem eines Mitgliedstaats eingezahlter Beiträge Ansprüche auf eine Altersrente erworben hat, dem entgegensteht, dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats möglicherweise später für diese Person nicht weiter gelten. Sollte diese Frage verneint werden, möchte das vorlegende Gericht zum anderen wissen, ab welchem Zeitpunkt die Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs für Frau Tolley nicht mehr galten, und zwar angesichts dessen, dass sie bis 2007 weiter Zahlungen aufgrund der Pflegekomponente der DLA erhielt, obwohl sie nach diesen Rechtsvorschriften den Anspruch auf diese Leistung wegen ihres Umzugs nach Spanien im Jahr 2002 verloren hatte.

57

Die Verordnung Nr. 1408/71 schafft kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lässt unterschiedliche nationale Systeme bestehen und soll diese nur koordinieren. Sie lässt somit unterschiedliche Systeme bestehen, die zu unterschiedlichen Forderungen gegen unterschiedliche Träger führen, gegen die dem Leistungsberechtigten unmittelbare Ansprüche entweder allein nach dem nationalen Recht oder nach dem erforderlichenfalls durch Unionsrecht ergänzten nationalen Recht zustehen (Urteil vom 21. Februar 2013, Dumont de Chassart, C‑619/11, EU:C:2013:92, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Die Vorschriften des Titels II der genannten Verordnung, zu denen ihr Art. 13 gehört, bilden ein geschlossenes und einheitliches System von Kollisionsnormen. Mit diesen Vorschriften sollen nicht nur die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden, sondern sie sollen auch verhindern, dass Personen, die in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen, der Schutz auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine nationalen Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind (Urteil vom 11. Juni 1998, Kuusijärvi, C‑275/96, EU:C:1998:279, Rn. 28).

59

Wenn eine Person in den nach Art. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 definierten persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt, ist somit die in ihrem Art. 13 Abs. 1 festgelegte Regel der Einheitlichkeit grundsätzlich anwendbar und bestimmen sich die anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften nach den Vorschriften des Titels II der Verordnung (Urteil vom 19. März 2015, Kik, C‑266/13, EU:C:2015:188, Rn. 47).

60

Art. 13 Abs. 2 der Verordnung soll nur festlegen, welche nationalen Rechtsvorschriften für Personen gelten, bei denen einer der in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a bis f aufgeführten Fälle vorliegt (Urteil vom 11. Juni 1998, Kuusijärvi, C‑275/96, EU:C:1998:279, Rn. 29).

61

Was insbesondere Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Beendigung der Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine Voraussetzung für die Anwendung dieser Bestimmung darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2015, Kik, C‑266/13, EU:C:2015:188, Rn. 51).

62

Hingegen lässt nichts im Wortlaut dieser Bestimmung darauf schließen, dass der Umstand, dass eine Person aufgrund während eines bestimmten Zeitraums in das Sozialversicherungssystem eines Mitgliedstaats eingezahlter Beiträge Ansprüche auf eine Altersrente hat, dem entgegensteht, dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats möglicherweise ab einem späteren Zeitpunkt für diese Person nicht weiter gelten.

63

Da der Erwerb von Ansprüchen auf eine Altersrente die normale Folge der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit ist, verlöre Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 zudem seinen Sinn, wenn eine Person nur den Rechtsvorschriften desjenigen Mitgliedstaats unterliegen könnte, in dem sie solche Ansprüche erstmalig erworben hat, und keinen anderen.

64

Hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiter auf eine Person anwendbar sind, ist darauf hinzuweisen, dass diese in Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 nicht festgelegt werden. Somit ist es Sache der nationalen Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaats, diese Voraussetzungen festzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2015, Kik, C‑266/13, EU:C:2015:188, Rn. 51).

65

Wie Art. 10b der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. 1972, L 74, S. 1) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2195/91 des Rates vom 25. Juni 1991 (ABl. 1991, L 206, S. 2) geänderten Fassung präzisiert, werden nämlich der Zeitpunkt und die Voraussetzungen, zu denen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiter für die in Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 genannte Person gelten, nach diesen Rechtsvorschriften bestimmt.

66

Darüber hinaus sind bei der Ermittlung des Zeitpunkts, ab dem die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats für eine Person nicht weiter gelten, gegebenenfalls auch die Vorschriften des Anhangs VI der Verordnung Nr. 1408/71 zu berücksichtigen, der besondere Bestimmungen über die Anwendung der Rechtsvorschriften bestimmter Mitgliedstaaten enthält.

67

Da Frau Tolley ab dem Jahr 1993 keine Beiträge mehr in das Sozialversicherungssystem des Vereinigten Königreichs eingezahlt hatte, sie jede Berufstätigkeit eingestellt hatte und im Jahr 2002 aus diesem Mitgliedstaat weggezogen war, ist es im vorliegenden Fall Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Umstände nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Beendigung der Zugehörigkeit von Frau Tolley zu diesem System und ihr Ausscheiden hieraus zur Folge hatten.

68

Gleiches gilt für den Umstand, dass Frau Tolley bis ins Jahr 2007 weiterhin Zahlungen auf der Grundlage der Pflegekomponente der DLA erhielt, obwohl sie nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs ihren Anspruch auf diese Leistung wegen ihres Umzugs nach Spanien im Jahr 2002 verloren hatte.

69

Nach alledem ist auf den ersten und den zweiten Teil der zweiten Frage zu antworten, dass Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass eine Person aufgrund während eines bestimmten Zeitraums in das Sozialversicherungssystem eines Mitgliedstaats eingezahlter Beiträge Ansprüche auf eine Altersrente erworben hat, dem nicht entgegensteht, dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats möglicherweise später für diese Person nicht weiter gelten. Es ist Sache des nationalen Gerichts, im Hinblick auf die Umstände des bei ihm anhängigen Rechtsstreits und die Bestimmungen des anwendbaren nationalen Rechts zu ermitteln, ab welchem Zeitpunkt die Rechtsvorschriften für diese Person nicht weiter galten.

Zum dritten Teil der zweiten Frage und zur dritten Frage

70

Mit dem dritten Teil seiner zweiten Frage und mit seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 1 und/oder Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats den Bezug einer Beihilfe wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden von einer wie in Section 71(6) des Gesetzes von 1992 vorgesehenen Voraussetzung des Wohnsitzes und des Aufenthaltsorts abhängig machen.

71

Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass Art. 19 („Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat – Allgemeine Regelung“) dieser Verordnung Arbeitnehmern und Selbständigen sowie ihren Familienangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen und der ärztlichen Behandlung im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ihres Wohnorts bedürfen, zulasten des zuständigen Staates einen Anspruch auf Sachleistungen vom Träger des Wohnortmitgliedstaats gewährleistet (Urteil vom 16. Juli 2009, von Chamier‑Glisczinski, C‑208/07, EU:C:2009:455, Rn. 42).

72

Folglich erfasst – wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 84 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – diese Bestimmung nur die Fälle, in denen ein Arbeitnehmer bzw. Selbständiger, der beim zuständigen Träger eines Mitgliedstaats den Bezug einer Leistung bei Krankheit beantragt, zum Zeitpunkt seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat wohnt.

73

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass Frau Tolley noch im Vereinigten Königreich wohnte, als sie bei den zuständigen Trägern dieses Mitgliedstaats den Bezug der Pflegekomponente der DLA beantragte. Somit wird ihr Fall offenkundig nicht von dem genannten Art. 19 erfasst.

74

Was sodann Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 betrifft, so regelt er u. a. den Fall des Wohnortwechsels eines Arbeitnehmers oder Selbständigen während einer Krankheit in einen anderen Mitgliedstaat als den des zuständigen Trägers (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2009, von Chamier‑Glisczinski, C‑208/07, EU:C:2009:455, Rn. 45).

75

Daher ist zu prüfen, ob der Fall von Frau Tolley von Art. 22 Abs. 1 Buchst. b erfasst wird.

76

Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht zum einen geltend, dass sich der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Arbeitnehmer“ nur auf Personen beziehe, die – im Unterschied zu Frau Tolley – nicht jede Berufstätigkeit endgültig eingestellt hätten.

77

Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

78

Nach Art. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 werden die darin enthaltenen Definitionen, darunter die der Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Selbständiger“, „[f]ür die Anwendung dieser Verordnung“ vorgenommen, ohne dass eine Ausnahme bezüglich bestimmter Vorschriften dieser Verordnung vorgesehen wäre.

79

Aus den Rn. 38 bis 40 des vorliegenden Urteils geht jedoch hervor, dass Frau Tolley als „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. ii erster Gedankenstrich der genannten Verordnung anzusehen ist, und zwar unabhängig davon, dass sie jede Berufstätigkeit endgültig eingestellt hat.

80

Darüber hinaus hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass mit der in Art. 22 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 enthaltenen Anknüpfung an den Begriff „Arbeitnehmer“ der Geltungsbereich dieser Bestimmung nicht auf tätige Arbeitnehmer im Gegensatz zu nicht mehr tätigen Arbeitnehmern begrenzt werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Mai 1979, Pierik, 182/78, EU:C:1979:142, Rn. 7).

81

Die Regierung des Vereinigten Königreichs bringt zum anderen vor, dass die Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs für Frau Tolley ab dem Zeitpunkt ihres Umzugs nach Spanien nicht weiter gegolten hätten und dass sie gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterlegen habe. Somit sei Spanien der zuständige Staat im Sinne von Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung.

82

Hierzu ergibt sich aus Art. 1 Buchst. o Ziff. i in Verbindung mit Art. 1 Buchst. q der Verordnung Nr. 1408/71, dass der Begriff „zuständiger Staat“ u. a. den Mitgliedstaat bezeichnet, in dessen Gebiet der Träger seinen Sitz hat, bei dem der Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Antrags auf Leistungen versichert ist.

83

Außerdem ergibt sich aus der Systematik von Art. 22 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, der die Voraussetzungen dafür nennt, dass die Leistungen, auf die ein Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates Anspruch hat, u. a. bei einem Wohnortwechsel „in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats“ weiter gewährt werden, dass in diesem Fall zwingend derjenige Mitgliedstaat „zuständiger Staat“ im Sinne dieser Vorschrift ist, der für die Gewährung dieser Leistungen vor dem Wohnortwechsel zuständig war.

84

Hinsichtlich des konkreten Ausgangsfalls ist der Vorlageentscheidung zu entnehmen, dass Frau Tolley zu dem Zeitpunkt, als sie den Bezug der DLA bei den zuständigen Trägern des Vereinigten Königreichs beantragte, im Sozialversicherungssystem dieses Mitgliedstaats versichert war. Daher ist das Vereinigte Königreich, selbst wenn seine Rechtsvorschriften in der Folge für Frau Tolley nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 nicht weiter gegolten haben sollten, zuständiger Staat im Sinne von Art. 22 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung.

85

Diese Auslegung wird durch Anhang VI Abschnitt O Nr. 20 der Verordnung Nr. 1408/71 gestützt, wonach „[d]ie Tatsache, dass eine Person nach Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f) [dieser] Verordnung … den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats unterstellt wird, … [insbesondere] folgender Regelung nicht entgegen[steht]: … Die Bestimmungen für Arbeitnehmer oder Selbständige in Titel III Kapitel 1 … werden vom Vereinigten Königreich als dem zuständigen Staat auf sie angewandt, wenn sie im Sinne dieser Bestimmungen Arbeitnehmer oder Selbständiger bleibt und zuletzt nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs als solcher versichert war“. Diese Bestimmung sieht ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass das Vereinigte Königreich zuständiger Staat im Sinne der Vorschriften von Titel III Kapitel 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bleibt, wenn seine Rechtsvorschriften für den Arbeitnehmer oder Selbständigen nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung nicht weiter gelten.

86

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass ein Fall wie der des Ausgangsverfahrens von Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 erfasst wird.

87

Diese Bestimmung sieht nämlich für einen Arbeitnehmer oder Selbständigen, der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates erforderlichen Voraussetzungen erfüllt, den Anspruch vor, die von dem zuständigen Träger gewährten Geldleistungen nach seinem Wohnortwechsel in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu erhalten.

88

Insoweit kann das Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs, dass es die Wortfolge „der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates … erforderlichen Voraussetzungen … erfüllt“ den Mitgliedstaaten erlaube, für die Gewährung der von dieser Bestimmung erfassten Geldleistungen eine Wohnortvoraussetzung vorzusehen, nicht durchgreifen. Wie der Generalanwalt in Nr. 119 seiner Schlussanträge unter Bezugnahme auf die Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Kuusijärvi (C‑275/96, EU:C:1997:613) ausgeführt hat, würde diese Bestimmung nämlich durch diese Auslegung ihren Zweck völlig verlieren, da hierdurch der durch Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 verliehene Anspruch mit Hilfe einer nationalen Wohnortvoraussetzung vereitelt werden könnte.

89

Folglich steht Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 dem entgegen, dass ein zuständiger Staat den fortdauernden Bezug einer Leistung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden von der Voraussetzung des Wohnorts und des Aufenthaltsorts in seinem Hoheitsgebiet abhängig macht.

90

Allerdings ist hervorzuheben, dass dieselbe Bestimmung das Recht, eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu exportieren, von der Voraussetzung abhängig macht, dass der Arbeitnehmer oder Selbständige bei dem zuständigen Träger die Genehmigung zum Wohnortwechsel in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats beantragt und sie erhalten hat.

91

Zwar darf diese Genehmigung – wie aus Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 hervorgeht – nur verweigert werden, wenn die Rückkehr oder der Wohnortwechsel des Arbeitnehmers oder Selbständigen dessen Gesundheitszustand gefährden oder die Durchführung der ärztlichen Behandlung in Frage stellen würde.

92

Jedoch kann diese Bestimmung – wie der Generalanwalt in den Nrn. 124 bis 126 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – die Mitgliedstaaten nicht verpflichten, einen Arbeitnehmer oder Selbständigen in den Genuss von Art. 22 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung kommen zu lassen, wenn dieser ohne jegliche Genehmigung durch den zuständigen Träger seinen Wohnort in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt hat.

93

Nach alledem ist auf den dritten Teil der zweiten Frage und auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass die Rechtsvorschriften des zuständigen Staates den Bezug einer Beihilfe wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden von der Voraussetzung des Wohnorts und des Aufenthaltsorts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats abhängig machen. Art. 22 Abs. 1 Buchst. b und Art. 22 Abs. 2 dieser Verordnung sind dahin auszulegen, dass eine Person, die sich in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden befindet, den Anspruch auf Bezug der von Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung erfassten Leistungen nach Verlegung ihres Wohnorts in einen anderen Mitgliedstaat als den zuständigen Staat unter der Voraussetzung behält, dass sie hierfür eine Genehmigung erhalten hat.

Kosten

94

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Eine Leistung wie die Pflegekomponente der Unterhaltsbeihilfe für Behinderte („disability living allowance“) stellt eine Leistung bei Krankheit im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996, in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 307/1999 des Rates vom 8. Februar 1999 dar.

 

2.

Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71, geändert und aktualisiert durch die Verordnung Nr. 118/97, in der Fassung der Verordnung Nr. 307/1999 ist dahin auszulegen, dass der Umstand, dass eine Person aufgrund während eines bestimmten Zeitraums in das Sozialversicherungssystem eines Mitgliedstaats eingezahlter Beiträge Ansprüche auf eine Altersrente erworben hat, dem nicht entgegensteht, dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats möglicherweise später für diese Person nicht weiter gelten. Es ist Sache des nationalen Gerichts, im Hinblick auf die Umstände des bei ihm anhängigen Rechtsstreits und die Bestimmungen des anwendbaren nationalen Rechts zu ermitteln, ab welchem Zeitpunkt die Rechtsvorschriften für diese Person nicht weiter galten.

 

3.

Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71, geändert und aktualisiert durch die Verordnung Nr. 118/97, in der Fassung der Verordnung Nr. 307/1999 ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass die Rechtsvorschriften des zuständigen Staates den Bezug einer Beihilfe wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden von der Voraussetzung des Wohnorts und des Aufenthaltsorts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats abhängig machen.

Art. 22 Abs. 1 Buchst. b und Art. 22 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71, geändert und aktualisiert durch die Verordnung Nr. 118/97, in der Fassung der Verordnung Nr. 307/1999 sind dahin auszulegen, dass eine Person, die sich in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden befindet, den Anspruch auf Bezug der von Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung erfassten Leistungen nach Verlegung ihres Wohnorts in einen anderen Mitgliedstaat als den zuständigen Staat unter der Voraussetzung behält, dass sie hierfür eine Genehmigung erhalten hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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