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Document 62015CJ0303

    Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 13. Oktober 2016.
    Naczelnik Urzędu Celnego I w Ł. gegen G. M. und M. S.
    Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Łodzi.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Technische Vorschriften im Glücksspielsektor – Richtlinie 98/34/EG – Begriff ‚technische Vorschrift‘ – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission jeden Entwurf einer technischen Vorschrift zu übermitteln – Unanwendbarkeit von Vorschriften, bei denen es sich um der Kommission nicht notifizierte technische Vorschriften handelt.
    Rechtssache C-303/15.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:771

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

    13. Oktober 2016 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Technische Vorschriften im Glücksspielsektor — Richtlinie 98/34/EG — Begriff ‚technische Vorschrift‘ — Verpflichtung der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission jeden Entwurf einer technischen Vorschrift zu übermitteln — Unanwendbarkeit von Vorschriften, bei denen es sich um der Kommission nicht notifizierte technische Vorschriften handelt“

    In der Rechtssache C‑303/15

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Łodzi (Bezirksgericht Lodz, Polen) mit Entscheidung vom 24. April 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juni 2015, in dem Verfahren

    Naczelnik Urzędu Celnego I w Ł.

    gegen

    G. M.,

    M. S.,

    Beteiligte:

    Colin Wiliams sp. z o.o.,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, A. Arabadjiev, C. G. Fernlund und S. Rodin (Berichterstatter),

    Generalanwalt: M. Bobek,

    Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. April 2016,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    des Naczelnik Urzędu Celnego I w Ł., vertreten durch M. Gruszka und M. Ziarko als Bevollmächtigte,

    von Herrn M., vertreten durch S. Sołtysik und M. Górski, adwokaci,

    der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und D. Lutostańska als Bevollmächtigte,

    der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vlaemminck und B. Van Vooren, advocaten,

    der griechischen Regierung, vertreten durch K. Nasopoulou und S. Lekkou als Bevollmächtigte,

    der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und P. Fragoso Martins als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braga da Cruz, A. Szmytkowska, H. Tserepa-Lacombe und A. Stobiecka-Kuik als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Juli 2016

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (ABl. 1998, L 204, S. 37) in der durch die Richtlinie 98/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juli 1998 (ABl. 1998, L 217, S. 18) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 98/34).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zwischen dem Naczelnik Urzędu Celnego I w Ł. (Leiter des Zollamts I in L.) einerseits und Herrn G. M. und Frau M. S. andererseits wegen einer Steuerstraftat.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    In Art. 1 der Richtlinie 98/34 heißt es:

    „Für diese Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

    1.

    ‚Erzeugnis‘ Erzeugnisse, die gewerblich hergestellt werden, und landwirtschaftliche Erzeugnisse, einschließlich Fischprodukte;

    2.

    ‚Dienst‘: eine Dienstleistung der Informationsgesellschaft, d. h. jede in der Regel gegen Entgelt elektronisch im Fernabsatz und auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung.

    3.

    ‚technische Spezifikation‘ Spezifikation, die in einem Schriftstück enthalten ist, das Merkmale für ein Erzeugnis vorschreibt, wie Qualitätsstufen, Gebrauchstauglichkeit, Sicherheit oder Abmessungen, einschließlich der Vorschriften über Verkaufsbezeichnung, Terminologie, Symbole, Prüfungen und Prüfverfahren, Verpackung, Kennzeichnung und Beschriftung des Erzeugnisses sowie über Konformitätsbewertungsverfahren.

    4.

    ‚sonstige Vorschrift‘ eine Vorschrift für ein Erzeugnis, die keine technische Spezifikation ist und insbesondere zum Schutz der Verbraucher oder der Umwelt erlassen wird und den Lebenszyklus des Erzeugnisses nach dem Inverkehrbringen betrifft, wie Vorschriften für Gebrauch, Wiederverwertung, Wiederverwendung oder Beseitigung, sofern diese Vorschriften die Zusammensetzung oder die Art des Erzeugnisses oder seine Vermarktung wesentlich beeinflussen können;

    5.

    ‚Vorschrift betreffend Dienste‘: eine allgemein gehaltene Vorschrift über den Zugang zu den Aktivitäten der unter Nummer 2 genannten Dienste und über deren Betreibung, insbesondere Bestimmungen über den Erbringer von Diensten, die Dienste und den Empfänger von Diensten, unter Ausschluss von Regelungen, die nicht speziell auf die unter dieser Nummer definierten Dienste abzielen.

    11.

    ‚Technische Vorschrift‘: [t]echnische Spezifikationen oder sonstige Vorschriften oder Vorschriften betreffend Dienste, einschließlich der einschlägigen Verwaltungsvorschriften, deren Beachtung rechtlich oder de facto für das Inverkehrbringen, die Erbringung des Dienstes, die Niederlassung eines Erbringers von Diensten oder die Verwendung in einem Mitgliedstaat oder in einem großen Teil dieses Staates verbindlich ist, sowie – vorbehaltlich der in Artikel 10 genannten Bestimmungen – die Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, mit denen Herstellung, Einfuhr, Inverkehrbringen oder Verwendung eines Erzeugnisses oder Erbringung oder Nutzung eines Dienstes oder die Niederlassung als Erbringer von Diensten verboten werden.

    …“

    4

    Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet wie folgt:

    „Vorbehaltlich des Artikels 10 übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission unverzüglich jeden Entwurf einer technischen Vorschrift, sofern es sich nicht um eine vollständige Übertragung einer internationalen oder europäischen Norm handelt; in diesem Fall reicht die Mitteilung aus, um welche Norm es sich handelt. Sie unterrichten die Kommission gleichzeitig in einer Mitteilung über die Gründe, die die Festlegung einer derartigen technischen Vorschrift erforderlich machen, es sei denn, die Gründe gehen bereits aus dem Entwurf hervor.

    …“

    Polnisches Recht

    5

    Art. 6 Abs. 1 der Ustawa o grach hazardowych (Glücksspielgesetz) vom 19. November 2009 (Dz. U. 2009, Nr. 201, Position 1540) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Glücksspielgesetz) sieht vor:

    „Die Betätigung auf dem Gebiet der Roulettespiele, Kartenspiele, Würfelspiele und Automatenspiele kann auf der Grundlage einer Konzession zum Betrieb eines Spielkasinos ausgeübt werden.“

    6

    Art. 14 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

    „Die Veranstaltung von Roulettespielen, Kartenspielen, Würfelspielen und Automatenspielen ist nur in Spielkasinos zulässig.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

    7

    Gegen Herrn M. und Frau S. wurde vom Leiter des Zollamts I in L. vor dem Sąd Rejonowy dla Łodzi-Widzewa w Łodzi (Rayongericht Lodz‑Widzew in Lodz, Polen) Anklage erhoben, weil sie in der Zeit vom 6. Juli 2012 bis zum 23. Januar 2013 ohne Konzession zum Betrieb eines Spielkasinos im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Glücksspielgesetzes Automatenspiele veranstaltet hatten. Dies wird als Verstoß gegen die polnischen Steuervorschriften angesehen.

    8

    Mit Beschluss vom 13. Januar 2015 stellte der Sąd Rejonowy dla Łodzi-Widzewa w Łodzi (Rayongericht Lodz‑Widzew in Lodz) das gegen Herrn M. und Frau S. eingeleitete Verfahren ein.

    9

    Dieses Gericht stellte im Licht des Urteils vom 19. Juli 2012, Fortuna u. a. (C‑213/11, C‑214/11 und C‑217/11, EU:C:2012:495), fest, dass Art. 6 Abs. 1 des Glücksspielgesetzes, wonach die Betätigung auf dem Gebiet der Automatenspiele eine Konzession zum Betrieb eines Spielkasinos voraussetze, eine technische Vorschrift sei und dass dieser Artikel, da er der Kommission nicht notifiziert worden sei, den Angeklagten nicht entgegengehalten werden könne.

    10

    Der Leiter des Zollamts I in L. legte gegen den Beschluss des Sąd Rejonowy dla Łodzi-Widzewa w Łodzi (Rayongericht Lodz‑Widzew in Lodz) beim vorlegenden Gericht Beschwerde ein.

    11

    Da die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Spielautomaten in der Tschechischen Republik erworben wurden, wendet sich das vorlegende Gericht den Folgen der fehlenden Notifizierung von Art. 6 Abs. 1 des Glücksspielgesetzes an die Kommission zu.

    12

    Zum einen ist dem vorlegenden Gericht die Rechtsprechung des Gerichtshofs bekannt, wonach die Nichterfüllung der Verpflichtung zur Notifizierung technischer Vorschriften deren Unwirksamkeit nach sich zieht, so dass sie Dritten nicht entgegengehalten werden können. Zum anderen weist dieses Gericht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hin, wonach es den Mitgliedstaaten freisteht, die Ziele ihrer Politik auf dem Gebiet der Veranstaltung von Glücksspielen festzulegen. Im Übrigen führt es aus, dass die festgelegten Beschränkungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs allein im Hinblick auf die von den nationalen Stellen des betreffenden Mitgliedstaats verfolgten Ziele und das angestrebte Schutzniveau zu beurteilen seien und den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit genügen müssten.

    13

    Außerdem ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass sich das Ausgangsverfahren von den Verfahren, in denen die Urteile vom 30. April 1996, CIA Security International (C‑194/94, EU:C:1996:172), und vom 8. September 2005, Lidl Italia (C‑303/04, EU:C:2005:528), ergangen seien, unterscheide, weil die in den entsprechenden Rechtssachen nicht notifizierten technischen Vorschriften Regelungsbereiche betroffen hätten, die nicht denselben Beschränkungen unterlegen hätten wie Glücksspiele. Es sei daher erforderlich, Art. 8 der Richtlinie 98/34 im Hinblick auf die Frage auszulegen, ob er in der Weise verstanden werden könne, dass es in Anbetracht von Art. 36 AEUV zulässig sei, nicht notifizierte Vorschriften im Licht dieses Artikels zu prüfen und die Anwendung nicht notifizierter Vorschriften nur dann zu verweigern, wenn sie keine mit diesem Artikel des AEU-Vertrags vereinbare Beschränkung darstellten.

    14

    Schließlich führt das vorlegende Gericht aus, dass der unbedingte Charakter der Folge der fehlenden Notifizierung technischer Vorschriften, ohne dass geprüft werden könnte, ob sie in den in Art. 36 AEUV vorgegebenen Rahmen fielen, kaum ohne Vorbehalt hingenommen werden könne. Die automatische Unanwendbarkeit der betreffenden Vorschriften würde dazu führen, dass in Bezug auf die Veranstaltung von Glücksspielen völlige Freiheit herrschte. Der unbedingte Charakter der Folge der fehlenden Notifizierung könnte sich auch destabilisierend auf die Politik eines Mitgliedstaats in anderen Bereichen auswirken.

    15

    Der Sąd Okręgowy w Łodzi (Bezirksgericht Lodz, Polen) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Kann Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 dahin ausgelegt werden, dass bei einer fehlenden Notifizierung von Vorschriften, die als technische Vorschriften eingestuft worden sind, eine Differenzierung der Folgen derart möglich ist, dass im Fall von Vorschriften, die Freiheiten betreffen, die nicht den Beschränkungen des Art. 36 AEUV unterliegen, die fehlende Notifizierung zur Folge haben muss, dass diese Vorschriften in einem bestimmten zu entscheidenden Verfahren nicht angewandt werden dürfen, wohingegen im Fall von Vorschriften, die Freiheiten betreffen, die den Beschränkungen des Art. 36 AEUV unterliegen, das nationale Gericht, das zugleich ein Unionsgericht ist, prüfen kann, ob diese Vorschriften trotz fehlender Notifizierung den Anforderungen in Art. 36 AEUV genügen und angewandt werden können?

    Zur Vorlagefrage

    16

    Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2016, Oniors Bio, C‑233/15, EU:C:2016:305, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Beschluss vom 14. Juli 2016, BASF, C‑456/15, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:567, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    17

    Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht von der Prämisse ausgeht, dass eine Vorschrift wie die in Art. 6 Abs. 1 des Glücksspielgesetzes enthaltene unter den Begriff „technische Vorschrift“ im Sinne der Richtlinie 98/34 fällt, für die die Verpflichtung zur Notifizierung gemäß Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie gilt, deren Nichterfüllung zur Unanwendbarkeit der betreffenden Vorschrift führt.

    18

    In diesem Kontext ist festzustellen, dass der Begriff „technische Vorschrift“ vier Kategorien von Maßnahmen umfasst, nämlich erstens „technische Spezifikationen“ im Sinne von Art. 1 Nr. 3 der Richtlinie 98/34, zweitens „sonstige Vorschriften“ gemäß der Definition in Art. 1 Nr. 4 dieser Richtlinie, drittens „Vorschriften betreffend Dienste“ nach Art. 1 Nr. 5 der Richtlinie und viertens „Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, mit denen Herstellung, Einfuhr, Inverkehrbringen oder Verwendung eines Erzeugnisses oder Erbringung oder Nutzung eines Dienstes oder die Niederlassung als Erbringer von Diensten verboten werden“, im Sinne von Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie (vgl. Urteil vom 4. Februar 2016, Ince, C‑336/14, EU:C:2016:72, Rn. 70).

    19

    Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Begriff „technische Spezifikation“ voraussetzt, dass sich die nationale Maßnahme auf das Erzeugnis oder seine Verpackung als solche bezieht und daher eines der Merkmale für ein Erzeugnis vorschreibt. Wenn eine nationale Maßnahme hingegen Voraussetzungen für die Gründung von Unternehmen – wie Bestimmungen, die die Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit von einer vorherigen Erlaubnis abhängig machen – vorsieht, stellen diese Voraussetzungen keine technischen Spezifikationen dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. April 2005, Lindberg, C‑267/03, EU:C:2005:246, Rn. 57 und 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    20

    Zweitens kann eine nationale Maßnahme nur dann als „sonstige Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34 eingestuft werden, wenn sie eine „Vorschrift“ darstellt, die die Zusammensetzung, die Art oder die Vermarktung des betreffenden Erzeugnisses wesentlich beeinflussen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Fortuna u. a., C‑213/11, C‑214/11 und C‑217/11, EU:C:2012:495, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es ist jedoch zu überprüfen, ob eine solche Maßnahme als „Vorschrift“ für den Gebrauch des betreffenden Erzeugnisses einzustufen ist oder ob es sich vielmehr um eine nationale Maßnahme handelt, die zur in Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34 aufgeführten Kategorie technischer Vorschriften gehört. Welcher der beiden Kategorien technischer Vorschriften eine nationale Maßnahme angehört, hängt von der Tragweite des Verbots ab, das durch diese Maßnahme ausgesprochen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. April 2005, Lindberg, C‑267/03, EU:C:2005:246, Rn. 73 und 74).

    21

    Drittens erfasst der Begriff „technische Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 5 der Richtlinie 98/34 nur Vorschriften über Dienstleistungen der Informationsgesellschaft, also über jede elektronisch im Fernabsatz und auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juni 2005, Mediakabel, C‑89/04, EU:C:2005:348, Rn. 19).

    22

    Unter Berücksichtigung dieser einleitenden Erwägungen ist die vorgelegte Frage in dem Sinne zu verstehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob Art. 1 der Richtlinie 98/34 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende unter den Begriff „technische Vorschrift“ im Sinne dieser Richtlinie fällt.

    23

    Zunächst ist festzustellen, dass eine solche Vorschrift, die für die Ausübung einer Betätigung auf dem Gebiet der Roulettespiele, Kartenspiele, Würfelspiele und Automatenspiele eine Konzession zum Betrieb eines Spielkasinos verlangt, keine „technische Spezifikation“ im Sinne von Art. 1 Nr. 3 der Richtlinie 98/34 darstellt, da sie sich nicht auf das Erzeugnis oder seine Verpackung als solche bezieht und nicht eines der Merkmale für ein Erzeugnis vorschreibt.

    24

    Außerdem fällt diese Vorschrift nicht unter die Kategorie der „Vorschriften betreffend Dienste“ der Informationsgesellschaft im Sinne von Art. 1 Nr. 5 der Richtlinie 98/34, da sie keine „Dienstleistungen der Informationsgesellschaft“ im Sinne von Art. 1 Nr. 2 dieser Richtlinie betrifft.

    25

    Um festzustellen, ob Art. 6 Abs. 1 des Glücksspielgesetzes unter Art. 1 Nr. 4 oder Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34 fällt, ist schließlich zu prüfen, ob eine solche Vorschrift als „Vorschrift“ über den Gebrauch des betreffenden Erzeugnisses die Zusammensetzung, die Art oder die Vermarktung dieses Erzeugnisses – im vorliegenden Fall Spielautomaten – wesentlich beeinflussen kann oder ob es sich dabei um eine nationale Maßnahme handelt, die zur in Art. 1 Nr. 11 dieser Richtlinie aufgeführten Kategorie der Verbote gehört.

    26

    Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Veranstaltung von Roulettespielen, Kartenspielen, Würfelspielen und Automatenspielen durch Art. 14 Abs. 1 des Glücksspielgesetzes Spielkasinos vorbehalten wird. Diese Vorschrift wurde der Kommission als „technische Vorschrift“ notifiziert, und zwar angesichts dessen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass zum einen eine nationale Maßnahme, nach der ausschließlich Spielkasinos bestimmte Glücksspiele veranstalten dürfen, eine „technische Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34 darstellt, soweit sie die Art oder die Vermarktung der in diesem Zusammenhang verwendeten Erzeugnisse wesentlich beeinflussen kann, und dass zum anderen ein Verbot, bestimmte Produkte außerhalb von Spielkasinos zu betreiben, die Vermarktung dieser Produkte wesentlich beeinflussen kann, indem es die Nutzungskanäle für sie verringert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 98 und 99).

    27

    Art. 6 Abs. 1 dieses Gesetzes, wonach für die Ausübung einer Betätigung auf dem Gebiet der Roulettespiele, Kartenspiele, Würfelspiele und Automatenspiele eine Konzession zum Betrieb eines Spielkasinos erforderlich ist, wurde hingegen nicht notifiziert.

    28

    Der Ansicht der Kommission, dass eine enge Verbindung zwischen diesen beiden nationalen Vorschriften bestehe, die bewirke, dass Art. 14 Abs. 1 des Glücksspielgesetzes nicht losgelöst von Art. 6 Abs. 1 dieses Gesetzes betrachtet werden könne, kann nicht gefolgt werden. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 38 bis 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, haben Art. 6 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 dieses Gesetzes nämlich unterschiedliche Funktionen und Anwendungsbereiche. Das beschreibende Element in Art. 6 Abs. 1 dieses Gesetzes, das der Bezeichnung der fraglichen Konzession als Konzession „zum Betrieb eines Spielkasinos“ dient, ändert daran nichts.

    29

    Art. 6 Abs. 1 des Glücksspielgesetzes kann daher nicht als „sonstige Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34 angesehen werden, da die nach dieser nationalen Vorschrift für die Veranstaltung von Glücksspielen erforderliche Konzession eine Bedingung darstellt, die hinsichtlich der Tätigkeit der Veranstaltung solcher Spiele aufgestellt wird, wohingegen Art. 14 Abs. 1 dieses Gesetzes Bedingungen hinsichtlich der betroffenen Produkte aufstellt, indem er ihren Betrieb außerhalb von Kasinos verbietet.

    30

    Im Übrigen sind nach ständiger Rechtsprechung nationale Bestimmungen, die lediglich die Voraussetzungen für die Niederlassung von Unternehmen oder die Erbringung von Dienstleistungen durch Unternehmen vorsehen, wie Bestimmungen, die die Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit von einer vorherigen Erlaubnis abhängig machen, keine technischen Vorschriften im Sinne von Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34 (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Februar 2016, Ince, C‑336/14, EU:C:2016:72, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    31

    Folglich ist festzustellen, dass eine Vorschrift wie Art. 6 Abs. 1 des Glücksspielgesetzes keine „technische Vorschrift“ im Sinne der Richtlinie 98/34 darstellt.

    32

    Die Folgen der Nichterfüllung der Verpflichtung zur Notifizierung einer technischen Vorschrift sind daher nicht zu prüfen.

    33

    Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 1 der Richtlinie 98/34 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht unter den Begriff „technische Vorschrift“ im Sinne dieser Richtlinie fällt, für die die Verpflichtung zur Notifizierung gemäß Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie gilt, deren Nichterfüllung zur Unanwendbarkeit der betreffenden Vorschrift führt.

    Kosten

    34

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 1 der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft in der durch die Richtlinie 98/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juli 1998 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine nationale Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht unter den Begriff „technische Vorschrift“ im Sinne dieser Richtlinie fällt, für die die Verpflichtung zur Notifizierung gemäß Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie gilt, deren Nichterfüllung zur Unanwendbarkeit der betreffenden Vorschrift führt.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

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