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Document 62015CC0212

Schlussanträge des Generalanwalts M. Bobek vom 9. Juni 2016.
ENEFI Energiahatékonysági Nyrt gegen Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Brașov (DGRFP).
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Mureș.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Insolvenzverfahren – Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 – Art. 4 – Wirkungen des Rechts eines Mitgliedstaats auf Forderungen, die nicht Gegenstand des Insolvenzverfahrens waren – Verwirkung – Steuerliche Natur der Forderung – Keine Auswirkung – Art. 15 – Begriff ‚anhängige Rechtsstreitigkeiten‘ – Vollstreckungsverfahren – Ausschluss.
Rechtssache C-212/15.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:427

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 9. Juni 2016 ( 1 )

Rechtssache C‑212/15

ENEFI Energiahatekonysagi Nyrt

gegen

Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Brașov (DGRFP)

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Mureș, Secția civilă [Landgericht Mureș, Kammer für Zivilsachen, Rumänien])

„Insolvenzverfahren — Wirkungen des Rechts des Staates der Verfahrenseröffnung auf eine Steuerforderung, die im Insolvenzverfahren nicht angemeldet worden war und die in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden soll“

I – Vorbemerkung

1.

Dieser Fall betrifft die Vollstreckung einer Steuerforderung in Rumänien gegen ein Unternehmen, das seinen Sitz in Ungarn hat und das sich in Ungarn in einem Insolvenzverfahren befunden hatte. Die Steuerforderung war in dem Insolvenzverfahren nicht angemeldet worden; nach ungarischem Recht ist sie nunmehr verwirkt.

2.

Der Gerichtshof hat die Frage zu klären, ob eine nationale Rechtsvorschrift über die Verwirkung einer im Insolvenzverfahren nicht angemeldeten Forderung oder über die Aussetzung der Vollstreckung einer solchen Forderung mit der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren ( 2 ) vereinbar ist. Der Gerichtshof hat auch zu entscheiden, ob es von Bedeutung ist, dass es sich dabei um eine fiskalische Forderung handelt. In diesen Fragen mitenthalten ist die Frage, ob das Recht, das auf das in einem Mitgliedstaat eröffnete Insolvenzverfahren anwendbar ist, auch die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf eine Vollstreckungsmaßnahme gegen denselben Schuldner in einem anderen Mitgliedstaat regelt.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

3.

Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 sind „[f]ür die Eröffnung des Insolvenzverfahrens … die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.“

4.

Art. 4 der Verordnung Nr. 1346/2000 enthält Bestimmungen über das anwendbare Recht. Art. 4 Abs. 1 stellt den allgemeinen Grundsatz auf, dass „[s]oweit diese Verordnung nichts anderes bestimmt, … für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats [gilt], in dem das Verfahren eröffnet wird, nachstehend, Staat der Verfahrenseröffnung‘ genannt“.

5.

Nach Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1346/2000 regelt das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung, das im 23. Erwägungsgrund als die lex concursus bezeichnet wird, „unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist“. Diese Bestimmung enthält eine nicht abschließende Liste von Materien, die durch die lex concursus geregelt werden, darunter in Buchst. f die Frage, „wie sich die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger auswirkt; ausgenommen sind die Wirkungen auf anhängige Rechtsstreitigkeiten“, und in Buchst. k „die Rechte der Gläubiger nach der Beendigung des Insolvenzverfahrens“.

6.

Art. 15 der Verordnung Nr. 1346/2000 bestimmt, dass „[f]ür die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit über einen Gegenstand oder ein Recht der Masse … ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats [gilt], in dem der Rechtsstreit anhängig ist“.

7.

Grundsätzlich hat nach Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 „[e]in Gläubiger, der nach der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens … auf irgendeine Weise, insbesondere durch Zwangsvollstreckung, vollständig oder teilweise aus einem Gegenstand der Masse befriedigt wird, der in einem anderen Mitgliedstaat belegen ist, … das Erlangte an den Verwalter herauszugeben“.

8.

Schließlich bekräftigt Art. 39 der Verordnung Nr. 1346/2000, dass „[j]eder Gläubiger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt, Wohnsitz oder Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat der Verfahrenseröffnung hat, einschließlich der Steuerbehörden und der Sozialversicherungsträger der Mitgliedstaaten, … seine Forderungen in dem Insolvenzverfahren schriftlich anmelden [kann]“.

B – Nationales Recht

9.

Art. 20 Abs. 3 des ungarischen Insolvenzgesetzes, des Gesetzes XLIX von 1991, bestimmt, dass ein Gläubiger, der die Frist für die Anmeldung seiner Forderung nach Art. 10 Abs. 2 dieses Gesetzes versäumt, nicht an der das Insolvenzverfahren abschließenden Vereinbarung zwischen dem Schuldner und den Gläubigern teilnimmt. Das führt dazu, dass ein Gläubiger, dessen Forderung nicht wirksam angemeldet worden ist, diese Forderung grundsätzlich nicht mehr gegen den Schuldner geltend machen kann.

III – Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen

10.

Die ENEFI-Energiahatekonysagi Nyrt, die Berufungsklägerin, ist ein in Ungarn ansässiges Unternehmen, das in Rumänien eine Zweigniederlassung hat.

11.

Am 13. Dezember 2012 wurde gegen die Berufungsklägerin in Ungarn ein Insolvenzverfahren eröffnet.

12.

Die Berufungsbeklagte, die Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Brașov (Regionale Generaldirektion für Finanzen Brașov, Rumänien), wurde am 7. Januar 2013 über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Ungarn und die Möglichkeit, in diesem Verfahren Forderungen gegen die Berufungsklägerin anzumelden, unterrichtet.

13.

Im Januar 2013 versuchte die Berufungsbeklagte, zwei Forderungen (im Folgenden: ursprüngliche Forderungen) im Insolvenzverfahren anzumelden. Sie versäumte jedoch die vorgeschriebene Frist und die Zahlung der Anmeldegebühr. Die Anmeldung dieser Forderungen war daher nicht wirksam, und die Forderungen wurden gemäß Entscheidung des Insolvenzverwalters vom 2. Mai 2013 im Insolvenzverfahren nicht berücksichtigt.

14.

Zwischen dem 5. und dem 25. Juni 2013, als das Insolvenzverfahren noch lief, führte die Berufungsbeklagte in der Zweigstelle der Berufungsklägerin in Rumänien eine Steuerprüfung durch. Am 25. Juni 2013 erließ die Berufungsbeklagte einen Steuerbescheid über zusätzliche Mehrwertsteuerverbindlichkeiten der Berufungsklägerin (im Folgenden: Steuerbescheid nach Insolvenzeröffnung). Die Forderung aufgrund des Steuerbescheids nach Insolvenzeröffnung wurde von der Berufungsbeklagten im Insolvenzverfahren in Ungarn nicht angemeldet. Vielmehr betrieb sie wegen des Steuerbescheids nach Insolvenzeröffnung die Vollstreckung in Rumänien.

15.

Die Berufungsklägerin legte gegen den Steuerbescheid nach Insolvenzeröffnung zunächst keinen Widerspruch ein. Daraufhin erließen die rumänischen Behörden am 7. August 2013 gegen die Berufungsklägerin einen Vollstreckungsbefehl.

16.

Das Insolvenzverfahren in Ungarn wurde am 7. September 2013 beendet.

17.

Am 3. September 2013 erhob die Berufungsklägerin in Rumänien Vollstreckungsbeschwerde gegen den Vollstreckungsbefehl. Die Berufungsklägerin vertrat die Ansicht, sie sei zur Zahlung des darin geforderten Betrags nicht verpflichtet und die Vollstreckung sei rechtswidrig. Sie wies darauf hin, dass sie sich zum Zeitpunkt der Steuerprüfung, die zum Erlass des Steuerbescheids nach Insolvenzeröffnung geführt habe, bereits in dem Insolvenzverfahren in Ungarn befunden habe. Die Berufungsbeklagte hätte daher, um die Vollstreckung aus dem Steuerbescheid nach Insolvenzeröffnung zu betreiben, die Forderung aus diesem Bescheid in dem Insolvenzverfahren anmelden müssen. Gemäß der Verordnung Nr. 1346/2000 sei auf das Insolvenzverfahren das ungarische Recht anwendbar, und nach diesem Recht könne eine Forderung, die im Insolvenzverfahren nicht angemeldet worden sei, nicht mehr geltend gemacht werden. Die Forderung der Berufungsbeklagten aufgrund des Steuerbescheids nach Insolvenzeröffnung sei daher nunmehr verwirkt.

18.

Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal Mureș, Secția civilă (Landgericht Mureș, Kammer für Zivilsachen) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 4 Abs. 1 und 2 Buchst. f und k der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren dahin auszulegen, dass die im Recht des Staates der Verfahrenseröffnung geregelten Wirkungen des Insolvenzverfahrens die Verwirkung des Rechts eines Gläubigers, der an dem Insolvenzverfahren nicht teilgenommen hat, seine Forderung in einem anderen Mitgliedstaat geltend zu machen, oder die Aussetzung der Zwangsvollstreckung einer solchen Forderung in diesem anderen Mitgliedstaat umfassen können?

2.

Ist der Umstand von Bedeutung, dass es sich bei der Forderung, die im Wege der Zwangsvollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Eröffnungsmitgliedstaat geltend gemacht wird, um eine Steuerforderung handelt?

19.

Die ungarische und die niederländische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen abgegeben. Die ungarische Regierung und die Kommission haben in der Sitzung vom 14. April 2016 mündliche Ausführungen gemacht.

IV – Würdigung

20.

Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts betrifft im Wesentlichen die Bestimmung des Anwendungsbereichs der Verordnung Nr. 1346/2000. Für den Fall, dass die Verordnung Nr. 1346/2000 auf Steuerforderungen tatsächlich anwendbar ist, geht es in der ersten Frage um die sich daraus ergebenden Wirkungen.

21.

Die Frage der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1346/2000 ist vorrangig gegenüber der Frage, welche Wirkungen sie entfaltet. Ich beginne daher meine Würdigung zunächst mit der Prüfung, ob die fiskalische Rechtsnatur des Steuerbescheids nach Insolvenzeröffnung für die Frage der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1346/2000 in irgendeiner Weise erheblich ist (A). Danach werde ich untersuchen, ob eine nationale Rechtsvorschrift über die Verwirkung einer im Insolvenzverfahren nicht angemeldeten Forderung oder über die Aussetzung der Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer solchen Forderung mit der Verordnung Nr. 1346/2000 vereinbar ist (B).

A – Frage 2

22.

Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die besondere Rechtsnatur der Forderung aus dem Steuerbescheid nach Insolvenzeröffnung für die Frage der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1346/2000 erheblich ist.

23.

Das vorlegende Gericht verwendet den Begriff „fiskalische Forderung“, um die sich nach den rumänischen Rechtsvorschriften ergebende Steuerschuld der Berufungsklägerin zu kennzeichnen. Es ist davon auszugehen, dass in diesem Zusammenhang „fiskalisch“ im Wesentlichen gleichbedeutend ist mit „steuerlich“. Das vorlegende Gericht scheint der Ansicht zu sein, dass – weil die Berufungsbeklagte eine Steuerbehörde ist – eine fiskalische Forderung anders zu behandeln sei.

24.

Ebenso wie die ungarische und niederländische Regierung teile ich diese Ansicht nicht.

25.

Die Verordnung Nr. 1346/2000 ist nach ihrem klaren Wortlaut ohne Unterschied auf privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Gläubiger anwendbar. Nach Art. 39 kann „[j]eder Gläubiger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt, Wohnsitz oder Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat der Verfahrenseröffnung hat, einschließlich der Steuerbehörden und der Sozialversicherungsträger der Mitgliedstaaten, … seine Forderungen in dem Insolvenzverfahren schriftlich anmelden“ ( 3 ). Dieselbe Feststellung findet sich auch im 21. Erwägungsgrund ( 4 ).

26.

Der Vorlageentscheidung zufolge hatte die Berufungsbeklagte in Bezug auf die ursprünglichen Forderungen tatsächlich zunächst wie ein normaler Gläubiger in der in einem Insolvenzverfahren üblichen Weise durch Geltendmachung einer eigenen Forderung gegen den Insolvenzschuldner ( 5 ) zu handeln versucht, und sie hätte auch in Bezug auf die Forderung aus dem Steuerbescheid nach Insolvenzeröffnung so handeln können.

27.

Ich bin daher der Ansicht, dass der Gerichtshof die zweite Vorlagefrage dahin gehend beantworten sollte, dass die fiskalische Natur einer Vollstreckungsmaßnahme, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat betrieben wird, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, keinen Einfluss hat auf die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1346/2000 auf diese Vollstreckungsmaßnahme.

28.

Zur Klarstellung sei allerdings darauf hingewiesen, dass etwaige Vorrangrechte, die bestimmten Gläubigergruppen aufgrund nationaler Rechtsvorschriften in Insolvenzverfahren zukommen, durch die Gleichbehandlung der Forderungen der privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Gläubiger in der Verordnung Nr. 1346/2000 nicht beeinträchtigt werden. Die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1346/2000 einerseits und das materielle Recht aufgrund der nationalen Rechtsvorschriften andererseits sind zwei verschiedene Fragen. Hier geht es um Erstere und nicht um Letzteres.

B – Frage 1

29.

Mit der ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob nationale Rechtsvorschriften über die Verwirkung von Forderungen, die im Insolvenzverfahren nicht angemeldet wurden, oder über die Aussetzung der Vollstreckung wegen einer solchen Forderung in einem anderen Mitgliedstaat mit der Verordnung Nr. 1346/2000 vereinbar sind. Ich werde zunächst die Frage der Verwirkung und der Aussetzung prüfen (i). Danach werde ich prüfen, ob das ungarische Recht als die lex concursus auch die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf die Vollstreckungsmaßnahme in Rumänien regelt (ii).

i) Verwirkung von im Insolvenzverfahren nicht angemeldeten Forderungen und Aussetzung der Vollstreckung wegen solcher Forderungen

30.

Das vorlegende Gericht meint, dass im vorliegenden Fall das ungarische Recht als die lex concursus die Verwirkung einer Forderung, die in einem anderen Mitgliedstaat geltend gemacht wird, nicht vorschreiben könne. Eine solche Wirkung sei mit der Möglichkeit der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens unvereinbar ( 6 ). Außerdem könnten sich Schuldner sonst ihren nationalen Steuerschulden entziehen.

31.

Es ist zu beachten, dass sich der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1346/2000 im Wesentlichen auf Kollisionsnormen beschränkt ( 7 ). Die Verordnung enthält nur wenige einheitliche Bestimmungen. Die einheitlichen Bestimmungen, die sie enthält, betreffen nicht die Wirkungen einer Nichtanmeldung von Forderungen im Insolvenzverfahren.

32.

Innerhalb dieses gesetzgeberischen Rahmens obliegt es den Mitgliedstaaten, in Übereinstimmung mit den Grundsätzen von Äquivalenz und Effektivität die Bestimmungen festzulegen, die die Wirkungen der Nichtanmeldung einer Forderung im Insolvenzverfahren regeln ( 8 ). Diese beiden Anforderungen werden im Folgenden nacheinander untersucht.

33.

Der Grundsatz der Äquivalenz verlangt, dass die nationalen Rechtsvorschriften für die Teilnahme von Gläubigern aus anderen Mitgliedstaaten an in Ungarn eröffneten Insolvenzverfahren nicht weniger günstig sind als die Bedingungen, die für die Teilnahme innerstaatlicher Gläubiger gelten.

34.

Zur Verwirkung einer Forderung kommt es nach Art. 20 Abs. 3 des Gesetzes XLIX von 1991, wenn diese nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist im Insolvenzverfahren angemeldet wird. Ob es sich um die Forderung eines innerstaatlichen Gläubigers oder eines Gläubigers aus einem anderen Mitgliedstaat handelt, ist insoweit ohne Bedeutung.

35.

Die Vorlageentscheidung enthält zudem keinen Hinweis darauf, dass Gläubiger, die in einem anderen Mitgliedstaat als Ungarn ansässig sind, hinsichtlich der Forderungsanmeldung in einem in Ungarn eröffneten Insolvenzverfahren oder in Bezug auf ihre Teilnahme an einem solchen Verfahren gegenüber innerstaatlichen Gläubigern einer weniger günstigen Behandlung unterliegen.

36.

Gewiss werden Gläubiger aus anderen Mitgliedstaaten in praktischer Hinsicht wegen der geografischen Entfernung und der sprachlichen und rechtlichen Unterschiede zwischen dem Mitgliedstaat, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wird, und dem Mitgliedstaat, in dem diese Gläubiger ansässig sind, regelmäßig bestimmte Schwierigkeiten zu überwinden haben. Dies ist jedoch ein notwendiges Merkmal eines grenzüberschreitenden Insolvenzverfahrens, ähnlich den Schwierigkeiten, denen sich die Parteien eines grenzüberschreitenden Rechtsstreits gegenübersehen.

37.

Die Verordnung Nr. 1346/2000 trägt diesen Umständen Rechnung, indem Gläubiger in anderen Mitgliedstaaten von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch Übersendung eines Vermerks zu unterrichten sind (vgl. Art. 40), wodurch die Effizienz des Insolvenzverfahrens insgesamt gestärkt wird.

38.

Der hier gegebene Sachverhalt zeigt, dass die Berufungsbeklagte ordnungsgemäß über das Insolvenzverfahren und die für die Anmeldung etwaiger Forderungen geltende Frist unterrichtet wurde. Dies wird durch die Bemühungen der Berufungsbeklagten um Anmeldung der ursprünglichen Forderungen bewiesen.

39.

Der Grundsatz der Effektivität verlangt, dass die Mitgliedstaaten die Ausübung der durch die Rechtsordnung der Union verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen.

40.

Prüft man den Grundsatz der Effektivität unabhängig von dem der Äquivalenz und unter Beachtung der eingeschränkten Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, so kommen nur zwei Arten von Verstößen in Betracht: erstens echte Unmöglichkeit und zweitens ein solcher Grad an Ineffektivität hinsichtlich der Durchsetzung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte, dass dies eine Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne des Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union darstellt. An diese letztere Kategorie werden recht hohe Anforderungen gestellt.

41.

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Geltung einer Frist für die Anmeldung einer Forderung im Insolvenzverfahren als solche mit dem Grundsatz der Effektivität nicht unvereinbar ist. Die Festsetzung einer angemessenen Frist genügt dem Grundsatz der Effektivität und ist eine konkrete Anwendung des Grundsatzes der Rechtssicherheit ( 9 ).

42.

Wie bereits bemerkt, wurde die Berufungsbeklagte von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Ungarn benachrichtigt. Sie wurde auch darüber unterrichtet, innerhalb welcher Frist etwaige Forderungen, wie diejenige aufgrund des Steuerbescheids nach Insolvenzeröffnung, anzumelden waren.

43.

Die Vorlageentscheidung enthält auch keinen Hinweis darauf, dass die Berufungsbeklagte sich besonderen Hindernissen gegenübergesehen hätte, die es ihr (in dem oben dargestellten Sinne) praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert hätten, ihre Forderung aufgrund des Steuerbescheids nach Insolvenzeröffnung anzumelden und sich an dem in Ungarn eröffneten Insolvenzverfahren zu beteiligen.

44.

Vor diesem Hintergrund ist mein erstes Zwischenergebnis, dass die Verordnung Nr. 1346/2000 einer nationalen Rechtsvorschrift wie derjenigen des Art. 20 Abs. 3 des Gesetzes XLIX von 1991, wonach eine im Insolvenzverfahren nicht angemeldete Forderung verwirkt ist, nicht entgegensteht.

45.

Die erste Vorlagefrage bezieht sich nach ihrem Wortlaut nicht nur auf die Verwirkung von im Insolvenzverfahren nicht angemeldeten Forderungen, sondern auch auf die Aussetzung der Vollstreckung, die in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer solchen Forderung durchgeführt wird. Die in der Vorlageentscheidung angeführten ungarischen Rechtsvorschriften beziehen sich jedoch nur auf die Verwirkung nicht angemeldeter Forderungen. Das vorlegende Gericht hat keine ungarischen Rechtsvorschriften benannt, aus denen sich die Aussetzung der Vollstreckung wegen im Insolvenzverfahren nicht angemeldeter Forderungen ergeben würde.

46.

Gleichwohl möchte ich in dem das Vorabentscheidungsverfahren bestimmenden Geist der Zusammenarbeit und um dem nationalen Gericht eine vollständige und hilfreiche Antwort zu geben, Folgendes hinzufügen. Ich habe bereits dargelegt, dass nach meiner Auffassung die Verordnung Nr. 1346/2000 einer Rechtsvorschrift der lex concursus nicht entgegensteht, die eine sehr weitgehende rechtliche Wirkung hat: die Verwirkung nicht eingetragener Forderungen. Wenn eine solche eingreifende Wirkung zulässig ist, dann sollte diese Verordnung erst recht eine Rechtsvorschrift der lex concursus zulassen, nach der das betreffende Vollstreckungsverfahren lediglich ausgesetzt wird, was einen geringeren Eingriff in die Rechte der Parteien darstellen würde als die vollständige Verwirkung der Forderung.

47.

Mein zweites Zwischenergebnis ist daher, dass die Verordnung Nr. 1346/2000 einer Rechtsvorschrift der lex concursus nicht entgegensteht, wonach eine Vollstreckung wegen einer im Insolvenzverfahren nicht eingetragenen Forderung auszusetzen ist, wenn der Mitgliedstaat, in dem die Vollstreckung durchgeführt wird, ein anderer ist als derjenige, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde.

ii) Das Recht, das die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf eine Vollstreckungsmaßnahme in einem anderen Mitgliedstaat regelt

48.

Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob Art. 4 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2 Buchst. f und Art. 4 Abs. 2 Buchst. k der Verordnung Nr. 1346/2000 dahin auszulegen sind, dass das ungarische Recht als die lex concursus auch die Wirkungen des in Ungarn eröffneten Insolvenzverfahrens auf die bei ihm anhängige Vollstreckungsmaßnahme regelt, oder ob sich diese Wirkungen nach rumänischem Recht bestimmen.

49.

Zur Klärung dieser Frage werde ich die Kriterien prüfen, nach denen sich im vorliegenden Fall das anwendbare Recht bestimmt.

50.

Erstens ist unstreitig, dass das Insolvenzverfahren in Ungarn das Hauptinsolvenzverfahren im Sinne des Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 ist. Wie in Art. 16 Abs. 1 vorgesehen und im 22. Erwägungsgrund bekräftigt, sind die Wirkungen eines solchen Verfahrens in allen anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen ( 10 ).

51.

Zweitens ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass in Rumänien kein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet wurde.

52.

Gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 ist daher das ungarische Recht die lex concursus. Aus dieser Bestimmung wie auch aus dem 22. Erwägungsgrund dieser Richtlinie folgt, dass das ungarische Recht regelt, unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist, einschließlich gemäß Art. 4 Abs. 2 Buchst. k der Gläubigerrechte nach Beendigung des Insolvenzverfahrens. Dies ist Ausdruck der universalen Wirkung des Hauptinsolvenzverfahrens ( 11 ).

53.

Von diesem Grundsatz gibt es allerdings einige Ausnahmen. Insoweit verweist das vorlegende Gericht auf Art. 4 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1346/2000, wonach sich nach dem Recht des Staates der Verfahrenseröffnung bestimmt, „wie sich die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger auswirkt; ausgenommen sind die Wirkungen auf anhängige Rechtsstreitigkeiten“.

54.

Art. 4 Abs. 2 Buchst. f ist in Verbindung mit Art. 15 der Verordnung Nr. 1346/2000 zu lesen, wonach „[f]ür die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit über einen Gegenstand oder ein Recht der Masse … ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats [gilt], in dem der Rechtsstreit anhängig ist“.

55.

Wäre demnach, wie das vorlegende Gericht meint, die in Rumänien anhängige Vollstreckungsmaßnahme ein „anhängiger Rechtsstreit“ im Sinne dieser Bestimmungen, wäre das anwendbare Recht hier das rumänische und nicht das ungarische Recht. Das rumänische Recht würde somit die Wirkungen des Insolvenzverfahrens in Ungarn auf diese Vollstreckungsmaßnahme regeln.

56.

Die Anwendung des Art. 15 der Verordnung Nr. 1346/2000 setzt voraus, dass zwei Kriterien kumulativ erfüllt sind: Erstens muss es sich um einen „Rechtsstreit“ handeln, zweitens muss dieser Rechtsstreit zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung „anhängig“ sein.

57.

Dem vorliegenden Sachverhalt ist zu entnehmen, dass die Vollstreckungsmaßnahme in Rumänien offensichtlich nicht anhängig war, als das Insolvenzverfahren in Ungarn eröffnet wurde: Das Vollstreckungsverfahren begann am 7. August 2013 auf der Grundlage des Steuerbescheids nach Insolvenzeröffnung, der am 25. Juni 2013 erlassen worden war. Dieser Bescheid erging aufgrund der zwischen dem 5. und dem 25. Juni 2013 durchgeführten Steuerprüfung. Das Insolvenzverfahren in Ungarn war aber bereits im Dezember 2012 eröffnet worden, also mehrere Monate vor diesen Ereignissen.

58.

Bereits diese Tatsache erlaubt den Schluss, dass die Vollstreckungsmaßnahme im vorliegenden Fall nicht von der Ausnahme in Art. 15 und Art. 4 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1346/2000 erfasst wird.

59.

Der Vollständigkeit halber und wegen der Bedeutung dieser Frage sind einige abschließende Bemerkungen zum ersten Kriterium, nämlich zum Begriff „Rechtsstreit“ in Art. 4 Abs. 2 Buchst. f und Art. 15 der Verordnung Nr. 1346/2000, angebracht. Ist unter „Rechtsstreit“ lediglich das „Verfahren in der Hauptsache“ zu verstehen, oder fallen darunter auch „Vollstreckungsverfahren“ ( 12 )?

60.

Die Bedeutung dieser Auslegungsfrage ist offensichtlich: Wenn der Begriff „Rechtsstreit“ nur Verfahren in der Hauptsache betrifft, fallen Vollstreckungsverfahren nicht unter die Ausnahme in Art. 15 (und Art. 4 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1346/2000).

61.

Art. 15 der Verordnung Nr. 1346/2000 ist kein Muster an Klarheit. Der Wortlaut von Art. 15 ist allgemein und erfasst auf den ersten Blick alle Gerichtsverfahren. Der Begriff „Rechtsstreit“ könnte im Sinne einer Gattungsbezeichnung ( 13 ) verstanden werden, die auf jegliche Art von gerichtlichen Verfahren verweist und daher sowohl Verfahren in der Hauptsache als auch Vollstreckungsverfahren umfasst.

62.

Aus mehreren Gründen sollte die Prüfung des Anwendungsbereichs von Art. 15 der Verordnung Nr. 1346/2000 aber nicht bei diesem unklaren Text stehenbleiben. Nach meiner Ansicht ist der Begriff „Rechtsstreit“ in Art. 15 dahin auszulegen, dass er lediglich Verfahren in der Hauptsache betrifft und Vollstreckungsverfahren nicht erfasst.

63.

Ein Anhaltspunkt dafür ergibt sich erstens aus der Systematik. Art. 15 ist eine Bestimmung, die nicht für sich allein steht. Er ist systematisch mit Art. 4 Abs. 2 Buchst. f verknüpft. Der Begriff „Rechtsstreit“ ist daher im Licht der zwischen diesen beiden Bestimmungen bestehenden Verknüpfung auszulegen.

64.

Art. 4 Abs. 2 Buchst. f unterscheidet zwischen „Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger“ und „anhängigen Rechtsstreitigkeiten“ ( 14 ). Diese Unterscheidung ist auch für die Auslegung des Art. 15 von Bedeutung: Wenn der Begriff „Rechtsstreit“ in Art. 4 Abs. 2 Buchst. f „Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger“ ausschließt, dann hat dies auch für die Auslegung des Begriffs „Rechtsstreit“ in Art. 15 zu gelten.

65.

Zweitens folgt aus Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1346/2000, dass grundsätzlich nur ein einziges Recht (nämlich die lex concursus) auf ein Insolvenzverfahren anwendbar ist. Dazu gehören nach dem ersten Teil von Art. 4 Abs. 2 Buchst. f „Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger“.

66.

Der Wortlaut des Art. 4 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1346/2000 („ausgenommen sind die Wirkungen auf anhängige Rechtsstreitigkeiten“) macht deutlich, dass Art. 15 eine Ausnahme von dem im ersten Teil des Art. 4 Abs. 2 Buchst. f aufgestellten Grundsatz darstellt. Als Ausnahme ist Art. 15 eng und strikt auszulegen ( 15 ).

67.

Drittens hat die Verordnung Nr. 1346/2000 zum Ziel, die Gesamtheit des Schuldnervermögens in einer einzigen Insolvenzmasse zusammenzufassen, um dadurch das System der kollektiven Durchführung des Insolvenzverfahrens und die Gleichbehandlung aller Gläubiger, die jedem Insolvenzverfahren zugrunde liegt, zu gewährleisten. Unbeschadet in der Verordnung Nr. 1346/2000 vorgesehener ausdrücklicher Ausnahmen sind individuelle Versuche von Gläubigern, die Befriedigung ihrer Forderungen außerhalb des Insolvenzverfahrens zu erlangen, mit diesem Ziel nicht vereinbar.

68.

Das Ziel, die Insolvenzmasse als Einheit zusammenzuhalten, kommt auch in Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 zum Ausdruck. Nach dieser Bestimmung hat der Gläubiger, der nach der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens aus einem Gegenstand der Masse befriedigt wird, der in einem anderen Mitgliedstaat belegen ist, das Erlangte an den Insolvenzverwalter herauszugeben.

69.

Eine Vollstreckungsmaßnahme ist auf die Durchsetzung von Ansprüchen einzelner Gläubiger gerichtet und würde daher die gesamtheitliche und kollektive Durchführung des Insolvenzverfahrens beeinträchtigen. Bei einem Verfahren in der Hauptsache besteht diese Gefahr nicht. In einem solchen Verfahren wird lediglich über die Rechte und Pflichten des Schuldners entschieden, nicht über deren Durchsetzung ( 16 ).

70.

Viertens spricht für die Ansicht, dass unter dem Begriff „Rechtsstreit“ in Art. 15 lediglich das Verfahren in der Hauptsache, nicht aber ein Vollstreckungsverfahren zu verstehen ist, auch der Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus Ziff. 142 des „Report on the Convention on Insolvency Proceedings“ ( 17 ) von Virgos-Schmit ergibt. Dieser Bericht, der als ein inoffizieller Leitfaden für die Auslegung der Verordnung Nr. 1346/2000 angesehen wird, erläutert, dass der (derselben Bestimmung in der Verordnung Nr. 1346/2000 entsprechende) Art. 4 Abs. 2 Buchst. f des EU-Übereinkommens über Insolvenzverfahren (im Folgenden: Übereinkommen) zwischen den Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf die Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger und dessen Wirkungen auf anhängige Rechtsstreitigkeiten unterscheidet. Danach werden die Wirkungen von Einzelvollstreckungsmaßnahmen durch die lex concursus geregelt, so dass das Hauptinsolvenzverfahren bewirkt, dass die von Gläubigern gegen das Vermögen des Schuldners angestrengten Einzelvollstreckungsmaßnahmen verhindert werden. Hingegen gilt für die Wirkungen der Insolvenzverfahren auf andere anhängige Rechtsstreitigkeiten in Verbindung mit dem Schuldnervermögen das Recht des Vertragsstaats, in dem diese Rechtsverfolgung betrieben wird.

71.

Fünftens kommt derselbe gesetzgeberische Wille in Art. 18 der Verordnung (EU) 2015/848 ( 18 ) zum Ausdruck, bei der es sich um die Neufassung der Verordnung Nr. 1346/2000 handelt. Diese Bestimmung entspricht im Wesentlichen Art. 15 der Verordnung Nr. 1346/2000. Mit dem neuen Wortlaut des Art. 15 (jetzt Art. 18) wird dessen Anwendbarkeit auf Schiedsverfahren erweitert ( 19 ).

72.

Den Ausführungen der ungarischen Regierung in der Sitzung folgend bin auch ich der Ansicht, dass diese Änderung im Sinne einer Bekräftigung des gesetzgeberischen Willens zu verstehen ist, den Begriff „anhängiger Rechtsstreit“ auf Verfahren in der Hauptsache zu beschränken.

73.

Um diese Auslegung des Art. 15 zu stützen, lassen sich auch weiter gehende Analogien zu anderen Unionsregelungen betreffend Insolvenzfragen herstellen. Im Urteil LBI hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Begriff „anhängiger Rechtsstreit“ in Art. 10 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/24/EG ( 20 ) nur Verfahren in der Hauptsache umfasst und keine Einzelvollstreckungsmaßnahmen. Der Gerichtshof befand, dass eine Auslegung, wonach Letztere vom Begriff „anhängiger Rechtsstreit“ erfasst würden, die praktische Wirksamkeit des durch die Richtlinie 2001/24 aufgestellten Grundsatzes der Universalität in Frage stellen würde, weil eine Einzelvollstreckungsmaßnahme die Verfügbarkeit von Vermögensgegenständen für die betroffenen Kreditinstitute einschränken würde ( 21 ).

74.

Dasselbe gilt auch für die Auslegung des Art. 15 der Verordnung Nr. 1346/2000. Art. 10 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/24 ( 22 ) entspricht Art. 4 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1346/2000, während Art. 32 der Richtlinie 2001/24 ( 23 ) Art. 15 der Verordnung Nr. 1346/2000 entspricht.

75.

Allerdings hat sich der Gerichtshof bei der Auslegung im Urteil LBI auf den 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/24 gestützt, in dem ausdrücklich zwischen einem „anhängigem Rechtsstreit“ und einer „Einzelvollstreckungsmaßnahme“ unterschieden wird ( 24 ).

76.

Obwohl in der Verordnung Nr. 1346/2000 eine derartige ausdrückliche Unterscheidung fehlt, meine ich nicht, dass das Fehlen eines solchen Erwägungsgrundes zu einer anderen Auslegung führen sollte. Sowohl die Verordnung Nr. 1346/2000 als auch die Richtlinie 2001/24 verwenden den Begriff „anhängiger Rechtsstreit“ in vergleichbaren Situationen: Insolvenz in der einen bzw. Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten in der anderen.

77.

In Anbetracht dessen bin ich der Ansicht, dass der Begriff „Rechtsstreit“ in Art. 15 der Verordnung Nr. 1346/2000 dahin auszulegen ist, dass er lediglich Verfahren in der Hauptsache, aber keine Vollstreckungsverfahren erfasst.

78.

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass das ungarische Recht als die lex concursus die Wirkungen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf die bei dem vorlegenden Gericht anhängige Vollstreckungsmaßnahme regelt.

79.

Als Nachbemerkung füge ich noch Folgendes hinzu: Sollte die lex concursus hier tatsächlich zu einer Aussetzung der beim vorlegenden Gericht anhängigen Vollstreckungsmaßnahme führen – was das nationale Gericht zu klären hat –, so wäre diese Folge nicht ungewöhnlich, da die entsprechenden Gesetze vieler Mitgliedstaaten ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Art Aussetzen oder Ruhen der Einzelvollstreckung in das Schuldnervermögen vorschreiben ( 25 ).

80.

Demgemäß bin ich der Ansicht, dass der Gerichtshof die erste Vorlagefrage dahin gehend beantworten sollte, dass die Verordnung Nr. 1346/2000 einer Rechtsvorschrift der lex concursus nicht entgegensteht, wonach eine Forderung, die vom Gläubiger in dem in einem Mitgliedstaat eröffneten Insolvenzverfahren nicht angemeldet wurde, verwirkt ist oder dass die Vollstreckung dieser Forderung in einem anderen Mitgliedstaat auszusetzen ist.

V – Ergebnis

81.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Tribunal Mureș, Secția civilă (Landgericht Mureș, Zivilkammer) wie folgt zu beantworten:

1.

Die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren steht einer Rechtsvorschrift der lex concursus nicht entgegen, wonach eine Forderung, die vom Gläubiger in dem in einem Mitgliedstaat eröffneten Insolvenzverfahren nicht angemeldet wurde, verwirkt ist oder dass die Vollstreckung dieser Forderung in einem anderen Mitgliedstaat auszusetzen ist.

2.

Die fiskalische Natur einer Vollstreckungsmaßnahme, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat betrieben wird, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, hat keinen Einfluss auf die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1346/2000 über das Insolvenzverfahren.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Verordnung des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. 2000, L 160, S. 1).

( 3 ) Hervorhebung nur hier.

( 4 ) „Jeder Gläubiger, der seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz in der Gemeinschaft hat, sollte das Recht haben, seine Forderungen in jedem in der Gemeinschaft anhängigen Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners anzumelden. Dies sollte auch für Steuerbehörden und Sozialversicherungsträger gelten. …“ (Hervorhebung nur hier). Vgl. entsprechend Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Senior Home (C‑195/15, EU:C:2016:369), in denen dieser in den Nrn. 60 bis 73 die Anwendbarkeit von Art. 5 der Verordnung Nr. 1346/2000 auf öffentliche (fiskalische) Lasten bekräftigt und allgemein die Auffassung vertreten hat, dass nichts in dieser Verordnung eine Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Forderungen in diesem besonderen Kontext erlaube.

( 5 ) Vgl. Urteil vom 17. November 2011, Zaza Retail (C‑112/10, EU:C:2011:743, Rn. 31 bis 34). In diesem Urteil hat der Gerichtshof bestimmte Situationen benannt, in denen eine Behörde ausnahmsweise nicht unter den Begriff des Gläubigers im Sinne der Verordnung Nr. 1346/2000 zu fassen ist, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sie normalerweise darunter fällt. Er hat entschieden, dass die belgische Staatsanwaltschaft nicht ermächtigt ist, ein Partikularverfahren nach Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 1346/2000 zu beantragen, weil diese Behörde in dem betreffenden Fall weder als Gläubiger noch für die Gläubiger handelte.

( 6 ) Gemäß dem zwölften Erwägungsgrund, Art. 3 Abs. 2 und Art. 27 der Verordnung Nr. 1346/2000 können Sekundärinsolvenzverfahren in dem Mitgliedstaat eröffnet werden, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat. Das Sekundärinsolvenzverfahren wird parallel zum Hauptinsolvenzverfahren durchgeführt, das in dem Mitgliedstaat eröffnet wird, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Sekundärinsolvenzverfahren stellen daher eine Ausnahme von den universalen Wirkungen dar, die durch das Hauptinsolvenzverfahren ausgelöst werden. Als solche sind Sekundärinsolvenzverfahren Liquidationsverfahren, und ihre Wirkungen sind auf das in dem betreffenden Mitgliedstaat belegene Vermögen des Schuldners beschränkt. Vgl. auch Urteil vom 11. Juni 2015, Comité d’entreprise de Nortel Networks u. a. (C‑649/13, EU:C:2015:384, Rn. 36 und 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 7 ) Urteil vom 11. Juni 2015, Comité d’entreprise de Nortel Networks u. a. (C‑649/13, EU:C:2015:384, Rn. 49), Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Van Buggenhout und Van de Mierop (C‑251/12, EU:C:2013:295, Nr. 15).

( 8 ) Zur Verordnung Nr. 1346/2000 vgl. Urteil vom 15. Oktober 2015, Nike European Operations Netherlands (C‑310/14, EU:C:2015:690, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 9 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 18. September 2003, Pflücke (C‑125/01, EU:C:2003:477, Rn. 35 und 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 10 ) Vorbehaltlich begrenzter Ausnahmen nach Art. 25 Abs. 3 und Art. 26 der Verordnung Nr. 1346/2000.

( 11 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Januar 2010, MG Probud Gdynia (C‑444/07, EU:C:2010:24, Rn. 22 bis 25), und vom 22. November 2012, Bank Handlowy und Adamiak (C‑116/11, EU:C:2012:739, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 12 ) Unter dem Begriff „Verfahren in der Hauptsache“ sind materielle (oder deklaratorische) Verfahren zu verstehen, die darauf gerichtet sind, über die Rechte und Pflichten der betreffenden Parteien zu entscheiden. Solche Verfahren werden unter Verwendung der Terminologie des Gerichtshofs im Urteil vom 24. Oktober 2013, LBI (C‑85/12, EU:C:2013:697, Rn. 54) als auf die „Hauptsache“ gerichtet bezeichnet. Die Verfahren in der Hauptsache sind von Vollstreckungsverfahren zu unterscheiden, die zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden und die in der bloßen Vollstreckung eines bereits vorhandenen Rechtstitels bestehen.

( 13 ) Dies gilt auch für andere Sprachfassungen, die gleichfalls allgemein sind: z. B. „instance en cours“ im Französischen, „anhängiger Rechtsstreit“ im Deutschen und „probíhající soudní řízení“ im Tschechischen.

( 14 ) Die französische, die deutsche und die tschechische Sprachfassung dieser Bestimmung lauten: „les effets de la procédure d’insolvabilité sur les poursuites individuelles, à l’exception des instances en cours“; „wie sich die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger auswirkt; ausgenommen sind die Wirkungen auf anhängige Rechtsstreitigkeiten“; „účinky úpadkového řízení na řízení zahájená jednotlivými věřiteli, s výjimkou probíhajících soudních řízení“.

( 15 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 24. Oktober 2013, LBI (C‑85/12, EU:C:2013:697, Rn. 52).

( 16 ) Vgl. z. B. Virgós, M., und Garcimartín, F., The European Insolvency Regulation: Law and Practice, Kluwer Law International, Den Haag, 2004, S. 140, Ziff. 253 und 254. Ebenso Pannen, K. (Hrsg.), European Insolvency Regulation, De Gruyter Recht, Berlin, 2007, S. 299.

( 17 ) Virgos-Schmit, „Report on the Convention on Insolvency Proceedings“, verfügbar in Moss, G., Fletcher, I. F., und Isaacs, S., The EC Regulation on Insolvency proceedings. A Commentary and Annotated Guide, Second Edition, Oxford University Press, 2009, S. 381 ff. (auf Deutsch als „Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren“ verfügbar unter: http://euzpr.eu/eudocs/01prozessr/40insolvenzverf/01eginsu/eginsu-095-virgosschmitbericht_6500-1-96rev1.pdf).

( 18 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (Neufassung) (ABl. 2015, L 141, S. 19).

( 19 ) Art. 18 der Verordnung 2015/848 lautet: „Für die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit oder ein anhängiges Schiedsverfahren über einen Gegenstand oder ein Recht, der bzw. das Teil der Insolvenzmasse ist, gilt ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Rechtsstreit anhängig oder in dem das Schiedsgericht belegen ist“ (Hervorhebung nur hier).

( 20 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten (ABl. 2001, L 125, S. 15).

( 21 ) Urteil vom 24. Oktober 2013, LBI (C‑85/12, EU:C:2013:697, Rn. 54 und 55).

( 22 ) Art. 10 Abs. 2 Buchst. e bestimmt, dass „[d]as Recht des Herkunftsmitgliedstaats … insbesondere [regelt], wie sich die Eröffnung eines Liquidationsverfahrens auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger auswirkt; ausgenommen sind die Wirkungen auf anhängige Rechtsstreitigkeiten gemäß Artikel 32“.

( 23 ) Art. 32 bestimmt: „Für die Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme oder eines Liquidationsverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit über einen Vermögensgegenstand oder ein Recht der Masse gilt ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Rechtsstreit anhängig ist.“

( 24 ) „Für die Wirkungen der Sanierungsmaßnahmen oder des Liquidationsverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit ist abweichend von der ‚lex concursus‘ das Recht des Mitgliedstaates maßgeblich, in dem der Rechtsstreit anhängig ist. Für die Wirkungen der Maßnahmen oder des Verfahrens auf Einzelvollstreckungsmaßnahmen im Zusammenhang mit diesen Rechtsstreitigkeiten ist gemäß der allgemeinen Vorschrift dieser Richtlinie das Recht des Herkunftsmitgliedstaats maßgeblich“ (Hervorhebung nur hier).

( 25 ) Vgl. z. B. § 89 Abs. 1 Insolvenzordnung (Deutschland), Art. 55 Abs. 2 Ley Concursal 22/2003 (Spanien), Art. L. 622‑21, II, L. 631‑14 und L. 641‑3 Code de commerce (Frankreich), §§ 9 Abs. 1, 11 Abs. 2 Buchst. c, 38 Abs. 1 A csődeljárásról és a felszámolási eljárásról szóló 1991. évi XLIX. törvény (Ungarn), Art. 51, 168, 182bis und 201 Regio Decreto 16 marzo 1942, n. 267, „Disciplina del fallimento, del concordato preventivo, dell'amministrazione controllata e della liquidazione coatta amministrativa“ (GU Nr. 81 vom 6. April 1942) (Italien). Von diesem generellen Grundsatz des Verbots der Fortsetzung von Einzelvollstreckungsverfahren kann es je nach der Art des Insolvenzverfahrens, dem Stand der Vollstreckung und der Rechtsnatur der Forderung oder des Gläubigers Ausnahmen geben. Wie in den vorliegenden Schlussanträgen unter Nr. 28 dargelegt, bestimmt sich dies nach dem jeweiligen nationalen Recht.

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