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Document 62015CC0176

Schlussanträge der Generalanwältin J. Kokott vom 12. April 2016.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:246

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 12. April 2016 ( 1 )

Rechtssache C‑176/15

Guy Riskin,

Geneviève Timmermans

gegen

Belgischer Staat

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal de première instance de Liège [Gericht erster Instanz Lüttich, Belgien])

„Steuerrecht — Freier Kapitalverkehr (Art. 63 Abs. 1 AEUV) — Nationale Einkommensteuer — Einkünfte aus Dividenden — Anrechnung ausländischer Quellensteuer — Doppelbesteuerungsabkommen — Nachteilige Behandlung von Beteiligungen an Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat gegenüber solchen mit Sitz in einem Drittstaat“

I – Einleitung

1.

Die ertragsteuerliche Behandlung grenzüberschreitender Ausschüttungen von Dividenden hat den Gerichtshof schon ein ums andere Mal beschäftigt. Die Besteuerungssysteme der Mitgliedstaaten, insbesondere ihre Maßnahmen zur Verhinderung der rechtlichen und wirtschaftlichen Doppelbesteuerung, sind zum Teil sehr komplex und gerieten einige Male in Konflikt mit den Grundfreiheiten des Vertrags.

2.

Das vorliegende belgische Vorabentscheidungsersuchen betrifft in diesem Zusammenhang eine recht einfache Frage: Darf ein Mitgliedstaat ertragsteuerlich die Investition in Gesellschaften eines Drittstaats gegenüber der Investition in Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten bevorzugen? Der Gerichtshof wird hier im Hinblick auf die belgischen Regelungen zur Anrechnung ausländischer Quellensteuer auf Dividenden zweierlei zu klären haben. Erstens stellt sich die grundsätzliche Frage, ob eine Benachteiligung von Investitionen in anderen Mitgliedstaaten, die allein im Verhältnis zu Drittstaaten, nicht aber zu inländischen Investitionen besteht, überhaupt in der Lage ist, den freien Kapitalverkehr zu beschränken. Gegebenenfalls ist dann zweitens in einer Konstellation, die vom Gerichtshof bislang noch nicht untersucht wurde, der rechtfertigende Einfluss von Doppelbesteuerungsabkommen zu erörtern.

II – Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3.

Art. 4 Abs. 3 EUV ( 2 ) bestimmt:

„(3)   Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben.

…“

4.

Art. 49 AEUV ( 3 ) gewährt das folgende Niederlassungsrecht:

„Die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten. Das Gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind.

…“

5.

Art. 56 AEUV bestimmt zu Dienstleistungen:

„Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten.

…“

6.

Art. 58 AEUV enthält ergänzende Bestimmungen zu Dienstleistungen im Bereich des Verkehrs, der Banken und der Versicherungen.

7.

Art. 63 Abs. 1 AEUV regelt zum Kapitalverkehr:

„(1)   Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten.“

Völkervertragsrecht

8.

Das Königreich Belgien und die Republik Polen haben am 20. August 2001 in Warschau ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung geschlossen (im Folgenden: DBA Belgien/Polen).

9.

Art. 10 des DBA Belgien/Polen führt zu Einkünften aus Dividenden aus:

„(1)   Dividenden, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Gesellschaft an eine in einem anderen Vertragsstaat ansässige Person zahlt, können in dem anderen Staat besteuert werden.

(2)   Diese Dividenden können jedoch auch in dem Vertragsstaat, in dem die die Dividenden zahlende Gesellschaft ansässig ist, nach dem Recht dieses Staates besteuert werden; …“

10.

Zur Vermeidung der Doppelbesteuerung enthält Art. 23 des DBA Belgien/Polen die folgende Regelung:

„(1)   In Bezug auf Belgien wird die Doppelbesteuerung wie folgt vermieden:

b)

Vorbehaltlich der belgischen Rechtsvorschriften über die Anrechnung im Ausland gezahlter Steuern auf die belgische Steuer wird, wenn eine in Belgien ansässige Person Einkünfte erzielt, die zu ihrem in Belgien steuerpflichtigen Gesamteinkommen gehören und aus Dividenden … bestehen, die auf die Einkünfte erhobene polnische Steuer angerechnet, die auf diese Einkünfte entfällt.

…“

Nationales Recht

11.

Im Königreich Belgien wird eine Steuer auf die Einkünfte natürlicher Personen erhoben. Sie erfasst die Einkünfte aller Einwohner des Königreichs unabhängig davon, ob sie im Inland oder im Ausland erzielt werden.

12.

Art. 285 des belgischen Code des impôts sur les revenus 1992 (Einkommensteuergesetzbuch 1992, im Folgenden: belgisches EStG) bestimmt:

„In Bezug auf Einkünfte aus Kapitalvermögen … wird ein Pauschalanteil ausländischer Steuer auf die Steuer angerechnet, sofern diese Einkünfte im Ausland einer ähnlichen Steuer … unterlagen und sofern dieses Kapitalvermögen … in Belgien zur Ausübung der Berufstätigkeit genutzt [wird].

…“

13.

Art. 286 des belgischen EStG in der Fassung, die im Ausgangsrechtsstreit anzuwenden ist, ergänzt:

„Der Pauschalanteil ausländischer Steuer beträgt fünfzehn Fünfundachtzigstel des Nettoeinkommens …

…“

III – Ausgangsrechtsstreit

14.

Der Ausgangsrechtsstreit betrifft die Einkommensteuer des Herrn Guy Riskin und der Frau Geneviève Timmermans (im Folgenden: die Steuerpflichtigen) für das Jahr 2010.

15.

Die Steuerpflichtigen besaßen eine Beteiligung an der in Polen ansässigen Gesellschaft „Auto Truck Centrum“. Von dieser Gesellschaft erhielten sie eine Dividende in Höhe von umgerechnet rund 15000 Euro. Auf die Zahlung dieser Dividende wurde von der Republik Polen Steuer erhoben.

16.

Den Steuerpflichtigen wurde die Anrechnung der polnischen Steuer auf ihre belgische Einkommensteuer gemäß Art. 285 des belgischen EStG versagt, weil sie ihre Beteiligung nicht zur Ausübung einer Berufstätigkeit in Belgien genutzt hatten. Die Steuerpflichtigen haben hiergegen mit der Begründung geklagt, dass sie in unionsrechtswidriger Weise diskriminiert werden. Denn für Steuerpflichtige, die eine Beteiligung an einer Gesellschaft hielten, die in bestimmten Drittstaaten statt in Polen ansässig ist, sei die Anrechnung der ausländischen Steuer auch in ihrem Fall möglich.

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

17.

Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal de première instance de Liège (Gericht erster Instanz Lüttich, Belgien) dem Gerichtshof am 20. April 2015 gemäß Art. 267 AEUV die folgenden Fragen vorgelegt:

1.

Entspricht die in Art. 285 des belgischen EStG enthaltene Rechtsnorm, mit der implizit die Doppelbesteuerung ausländischer Dividenden bei einer in Belgien ansässigen natürlichen Person gebilligt wird, den in Art. 63 AEUV in Verbindung mit Art. 4 EUV verankerten Grundsätzen im Hinblick darauf, dass sie es Belgien gestattet, gemäß den belgischen Rechtsvorschriften, auf die das von Belgien ausgehandelte Doppelbesteuerungsabkommen verweist, d. h. gemäß Art. 285, der die Voraussetzungen für die Anrechnung festlegt, bzw. Art. 286, der lediglich den anzurechnenden Pauschalanteil der Steuer festlegt, Investitionen in Drittstaaten (Vereinigte Staaten) zulasten möglicher Investitionen in Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Polen) nach Belieben zu begünstigen?

2.

Verstößt Art. 285 des belgischen EStG insofern gegen die Art. 49, 56 und 58 AEUV, als er die Möglichkeit, die ausländische Steuer auf die belgische Steuer anzurechnen, davon abhängig macht, dass das Kapitalvermögen und die Güter, die die Einkunftsquelle bilden, in Belgien zur Ausübung der Berufstätigkeit genutzt werden?

18.

Vor dem Gerichtshof haben zu diesen Fragen die Steuerpflichtigen, das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen.

V – Rechtliche Würdigung

19.

Das vorlegende Gericht will mit seinen beiden Fragen im Wesentlichen wissen, ob eine Regelung wie die belgische zur Anrechnung ausländischer Quellensteuer auf Dividenden unter verschiedenen Gesichtspunkten mit den Grundfreiheiten vereinbar ist. Die erste Frage beschäftigt sich dabei mit der unterschiedlichen Anrechnung je nach Erhebung der Quellensteuer in Polen oder in einem Drittstaat. Die zweite Frage ist im Lichte der Begründung der Vorlageentscheidung so zu verstehen, dass sie die unterschiedliche Anrechnung in Abhängigkeit davon betrifft, ob die Berufstätigkeit, der eine Beteiligung zugeordnet ist, im Inland oder in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt wird.

A – Zulässigkeit

20.

Als Erstes ist die Zulässigkeit der beiden Vorlagefragen zu prüfen. Denn nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof die Beantwortung einer Vorlagefrage verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich nicht entscheidungserheblich ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Frage erforderlich sind ( 4 ).

1. Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage

21.

Was zunächst die erforderlichen rechtlichen Angaben für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage angeht, so schildert das vorlegende Gericht nicht die genauen rechtlichen Umstände einer Ungleichbehandlung von Investitionen in Polen und in Drittstaaten. Die Vorlageentscheidung gibt weder den Inhalt von Doppelbesteuerungsabkommen wieder, die das Königreich Belgien mit Drittstaaten abgeschlossen hat, noch beschreibt sie den Einfluss dieser Abkommen auf das im Ausgangsrechtsstreit anzuwendende belgische Recht.

22.

Es kommt hinzu, dass in der Vorlageentscheidung als einziger Drittstaat, für dessen Quellensteuer auf Dividenden nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts eine weiter gehende Anrechnung als für die polnische Quellensteuer bestehen soll, die Vereinigten Staaten (von Amerika) genannt werden. Sowohl die Steuerpflichtigen als auch das Königreich Belgien haben jedoch im Verfahren vor dem Gerichtshof substantiiert bestritten, dass insoweit eine unterschiedliche Behandlung erfolgt. Nicht das Doppelbesteuerungsabkommen des Königreichs Belgien mit den Vereinigten Staaten, sondern u. a. dasjenige mit Japan enthalte eine günstigere Anrechnungsregel als das im Ausgangsrechtsstreit anzuwendende DBA Belgien/Polen.

23.

Auch die tatsächlichen Angaben des vorlegenden Gerichts sind insoweit lückenhaft, als sie keine Auskunft über den Umfang der Beteiligung der Steuerpflichtigen an der polnischen Gesellschaft geben. Da Art. 285 des belgischen EStG nämlich unabhängig von der Beteiligungshöhe zu gelten scheint, ist der Umfang der Beteiligung der Steuerpflichtigen an der polnischen Gesellschaft entscheidend für die Frage, welche Grundfreiheit im vorliegenden Fall zur Anwendung kommt ( 5 ).

24.

Trotz dieser mangelnden Klarheit des tatsächlichen und rechtlichen Rahmens der ersten Vorlagefrage sind die vorhandenen Angaben noch ausreichend, um sie zu beantworten. Dabei muss allerdings von zwei Prämissen ausgegangen werden, die das vorlegende Gericht im Ausgangsrechtsstreit gegebenenfalls noch zu verifizieren hat.

25.

Erstens ist zu unterstellen, dass es zumindest einen Drittstaat gibt (im Folgenden: der Drittstaat), dessen Quellensteuer im vorliegenden Fall auf die belgische Steuer angerechnet würde, wenn die Gesellschaft statt in Polen in jenem Drittstaat ansässig wäre. Weiterhin ist anzunehmen, dass diese Anrechnung auf der Grundlage einer entsprechenden Verpflichtung des Königreichs Belgien aus einem Doppelbesteuerungsabkommen erfolgt, das mit dem Drittstaat besteht.

26.

Zweitens ist aufgrund der vom vorlegenden Gericht begehrten Auslegung von Art. 63 AEUV davon auszugehen, dass die Steuerpflichtigen keine Beteiligung an der polnischen Gesellschaft besaßen, die es ihnen ermöglichte, einen sicheren Einfluss auf ihre Entscheidungen auszuüben und ihre Tätigkeiten zu bestimmen. In einem solchen Fall wären die Steuerpflichtigen nämlich allein durch die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV geschützt ( 6 ).

27.

Vor diesem Hintergrund ist die erste Vorlagefrage zulässig.

2. Zulässigkeit der zweiten Vorlagefrage

28.

Demgegenüber ist die zweite Vorlagefrage – so wie sie im Lichte der Begründung der Vorlageentscheidung zu verstehen ist – unzulässig, weil sie auf der Grundlage der tatsächlichen Angaben des vorlegenden Gerichts offensichtlich nicht entscheidungserheblich ist.

29.

Ob das Unionsrecht verlangt, dass eine Anrechnung der polnischen Quellensteuer gemäß Art. 285 des belgischen EStG auch dann gewährt werden muss, wenn eine Berufstätigkeit, der die Beteiligung zuzuordnen ist, statt in Belgien in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt wird, ist für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht von Bedeutung. Denn der Vorlageentscheidung ist nicht zu entnehmen, dass die Steuerpflichtigen die streitgegenständliche Beteiligung zur Ausübung einer Berufstätigkeit, sei es nun im In- oder Ausland, genutzt haben. Die Steuerpflichtigen haben im Verfahren vor dem Gerichtshof sogar das Gegenteil vorgetragen.

B – Beantwortung der ersten Vorlagefrage

30.

Mit seiner einzig zulässigen ersten Vorlagefrage will das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob eine nationale Regelung wie die vorliegende mit dem freien Kapitalverkehr vereinbar ist, die eine generelle Anrechnung ausländischer Quellensteuer auf Dividenden zwar dann vorsieht, wenn die ausschüttende Gesellschaft in dem Drittstaat, nicht aber, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat, insbesondere in Polen, ansässig ist.

1. Beschränkung des freien Kapitalverkehrs

31.

Zunächst ist insoweit eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zu untersuchen. Art. 63 Abs. 1 AEUV verbietet u. a. alle Maßnahmen, die geeignet sind, Gebietsansässige von Investitionen in anderen Staaten abzuhalten ( 7 ).

32.

Ob die Verweigerung der Anrechnung der polnischen Quellensteuer auf Dividenden als solche – also unabhängig von einem Vergleich mit den Anrechnungsmöglichkeiten im Fall eines Drittstaats – eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit darstellt, ist nicht Gegenstand der Vorlagefrage. Hierzu hat der Gerichtshof auch bereits geurteilt, dass eine rechtliche Doppelbesteuerung von Dividenden grundsätzlich keine Beschränkung einer Grundfreiheit darstellt. Denn sie ist die Folge der parallelen Ausübung der Besteuerungsbefugnisse verschiedener Mitgliedstaaten ( 8 ). Keiner der beteiligten Mitgliedstaaten ist also allein verantwortlich für den Nachteil, der sich aus der rechtlichen Doppelbesteuerung ergibt. Nach der Rechtsprechung können die Grundfreiheiten deshalb den Mitgliedstaat des Anteilseigners grundsätzlich auch nicht verpflichten, die rechtliche Doppelbesteuerung zu verhindern, etwa durch eine Anrechnung der Quellensteuer des anderen Mitgliedstaats auf seine eigene Steuer ( 9 ). Das Königreich Belgien ist im vorliegenden Fall deshalb im Prinzip frei, die polnische Quellensteuer anzurechnen oder nicht.

33.

Von dieser Berechtigung der Mitgliedstaaten zur rechtlichen Doppelbesteuerung zu unterscheiden ist jedoch die Frage, ob das Königreich Belgien im Einklang mit der Kapitalverkehrsfreiheit die generelle Anrechnung einer auf Dividenden im Quellenstaat gezahlten Steuer den Anteilseignern von Gesellschaften bestimmter Staaten vorbehalten kann. Ein daraus für andere Anteilseigner resultierender Nachteil ist nämlich nicht die Folge einer parallelen Ausübung der Besteuerungsbefugnisse verschiedener Mitgliedstaaten, sondern ergibt sich allein aus der Entscheidung des Königreichs Belgien, die Anrechnung der Quellensteuer auf Dividenden je nach Quellenstaat unterschiedlich zu handhaben ( 10 ). Denn Art. 23 Abs. 1 Buchst. b des DBA Belgien/Polen überlässt dem belgischen Recht die Bestimmung des Umfangs der Anrechnung polnischer Quellensteuer.

34.

Insofern wäre im vorliegenden Fall eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit allerdings nur dann festzustellen, wenn Art. 63 Abs. 1 AEUV eine unterschiedliche Behandlung von Investitionen in einem Mitgliedstaat einerseits und in einem Drittstaat andererseits überhaupt verbietet. Denn in erster Linie untersagt diese Bestimmung die Bevorzugung der Dividenden inländischer Gesellschaften gegenüber Dividenden von Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat ( 11 ) oder in einem Drittstaat ( 12 ).

35.

Zur Relevanz einer Ungleichbehandlung von Dividenden aus unterschiedlichen ausländischen Staaten hat der Gerichtshof bislang zweierlei festgestellt. Auf der einen Seite verbietet Art. 63 Abs. 1 AEUV grundsätzlich eine unterschiedliche Behandlung der Dividenden aus verschiedenen Mitgliedstaaten ( 13 ). Auf der anderen Seite verstößt eine unterschiedliche Behandlung von Erträgen aus verschiedenen Drittstaaten nicht gegen die Kapitalverkehrsfreiheit ( 14 ). Auf die besondere Situation von Drittstaaten, die am EWR-Abkommen beteiligt sind, muss im vorliegenden Fall nicht eingegangen werden.

36.

Diese Differenzierung lässt sich nur dadurch erklären, dass der Kapitalverkehr mit anderen Mitgliedstaaten im Rahmen des Art. 63 Abs. 1 AEUV einen höheren Schutz genießt als der Kapitalverkehr mit Drittstaaten. Der Kapitalverkehr mit einem Drittstaat wird nur insoweit geschützt, als er gegenüber dem inländischen Kapitalverkehr benachteiligt wird. Hingegen wird der Kapitalverkehr mit einem anderen Mitgliedstaat darüber hinaus auch davor geschützt, dass für Investitionen in weiteren Mitgliedstaaten günstigere Konditionen bestehen.

37.

Aus dieser unterschiedlichen Reichweite des Schutzes, den Art. 63 Abs. 1 AEUV für Investitionen in anderen Mitgliedstaaten einerseits und in Drittstaaten andererseits bietet, ergibt sich nahezu zwangsläufig, dass die Benachteiligung von Dividenden aus einem anderen Mitgliedstaat gegenüber Dividenden aus einem Drittstaat ebenfalls eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit darstellt. Denn wenn nach der Rechtsprechung bereits die Benachteiligung des Kapitalverkehrs mit einem anderen Mitgliedstaat gegenüber dem Kapitalverkehr mit einem weiteren Mitgliedstaat grundsätzlich verboten ist, so muss Gleiches erst recht gelten, wenn die Benachteiligung gegenüber dem Kapitalverkehr mit einem Drittstaat besteht, dem Art. 63 Abs. 1 AEUV ja nur einen vergleichsweise geringeren Schutz bietet.

38.

Dieser Sichtweise steht nicht entgegen, dass nach der Rechtsprechung das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit (nunmehr Art. 18 AEUV) aufgrund seines begrenzten Anwendungsbereichs einer Benachteiligung von Angehörigen der Mitgliedstaaten gegenüber Angehörigen von Drittstaaten grundsätzlich nicht entgegensteht ( 15 ). Denn der Anwendungsbereich der hier zu untersuchenden Kapitalverkehrsfreiheit ist weiter. Sie findet gemäß Art. 63 Abs. 1 AEUV auf den Kapitalverkehr nicht nur mit anderen Mitgliedstaaten, sondern auch mit Drittstaaten Anwendung.

39.

Da im vorliegenden Fall eine Anrechnung der in der Republik Polen erhobenen Quellensteuer auf Dividenden nicht möglich ist, während diese erfolgen würde, wenn die Gesellschaft in dem Drittstaat ansässig wäre, stellt die vorliegende Regelung somit eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit dar.

2. Rechtfertigung der Beschränkung

40.

Eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs ist nach der Rechtsprechung nur dann mit Art. 63 Abs. 1 AEUV vereinbar, wenn ein hinreichender Grund für die Ungleichbehandlung besteht. Dies ist anzunehmen, wenn die Ungleichbehandlung entweder Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie in sonstiger Weise durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist ( 16 ).

41.

Insofern ist im vorliegenden Fall von Bedeutung, dass das Königreich Belgien die Entscheidung, die Anrechnung ausländischer Quellensteuer je nach Quellenstaat unterschiedlich zu handhaben, vor dem Hintergrund unterschiedlicher völkervertraglicher Verpflichtungen getroffen hat. Während ihm das DBA Belgien/Polen die Wahl lässt, die polnische Quellensteuer im vorliegenden Fall anzurechnen, besteht in dem Doppelbesteuerungsabkommen mit dem Drittstaat eine Verpflichtung, die Quellensteuer dieses Drittstaats anzurechnen ( 17 ).

42.

Der Gerichtshof hat im Urteil D. bereits festgestellt, dass in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässige Gebietsfremde vom Aufnahmemitgliedstaat der Kapitalanlage unterschiedlich behandelt werden dürfen, wenn sich eine steuerliche Vergünstigung aus einem bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen ergibt. Denn eine solche Vergünstigung, die nur für Steuerpflichtige gilt, die in dem Mitgliedstaat ansässig sind, der an dem Abkommen beteiligt ist, lasse sich nicht von den übrigen Bestimmungen des Abkommens trennen, sondern sei Bestandteil seiner allgemeinen Ausgewogenheit ( 18 ).

43.

Zwar geht es im vorliegenden Fall nicht um eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit durch den Aufnahmemitgliedstaat, sondern durch den Herkunftsmitgliedstaat der Kapitalanlage. Denn das Königreich Belgien behandelt Gebietsansässige unterschiedlich, je nach dem Ort ihrer Kapitalanlage. Die Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil D. lässt sich aber auf diesen Fall übertragen. Denn auch hier lassen sich die unterschiedlichen Bestimmungen zur Anrechnung der Quellensteuer in den Doppelbesteuerungsabkommen mit dem jeweiligen Aufnahmemitgliedstaat der Kapitalanlage nicht von den übrigen Bestimmungen dieser Abkommen trennen. Im Übrigen besteht diese Situation in gleicher Weise bei Doppelbesteuerungsabkommen, die mit Mitgliedstaaten geschlossen wurden, wie bei solchen, die mit Drittstaaten bestehen.

44.

Die Kapitalverkehrsfreiheit kann einen Mitgliedstaat somit allgemein nicht verpflichten, steuerliche Vergünstigungen, zu denen er sich in einem Doppelbesteuerungsabkommen im Rahmen eines allgemeinen Ausgleichs sich überlappender Steuerhoheiten der Abkommensstaaten verpflichtet hat, auch in Situationen zu gewähren, die nicht diesem Abkommen und seinen sonstigen Bindungen unterliegen. Dass dies für die Kapitalverkehrsfreiheit in dieser allgemeinen Form festgestellt werden kann, beruht auch auf dem Umstand, dass Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV den Mitgliedstaaten ausdrücklich – wenn auch nur im Rahmen der Bindungen des Abs. 3 der Vorschrift und der hierzu ergangenen Rechtsprechung ( 19 ) – gestattet, Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohn- oder Kapitalanlageort unterschiedlich zu behandeln.

45.

Aufgrund dieses vergleichsweise geringen Gewichts der Kapitalverkehrsfreiheit im Steuerrecht ( 20 ) bedarf es im vorliegenden Fall – ebenso wie im Urteil D. – auch keiner Untersuchung der Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung auf der Grundlage der Doppelbesteuerungsabkommen ( 21 ), wie sie ansonsten Voraussetzung für die Rechtfertigung einer Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit ist ( 22 ). Ebenso wenig vermag daher auch das Loyalitätsgebot, das gemäß Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV zwischen den Mitgliedstaaten besteht und vom vorlegenden Gericht in seiner Vorlagefrage wohl angesprochen werden soll, ein Prinzip der Meistbegünstigung im Hinblick auf Doppelbesteuerungsabkommen der Mitgliedstaaten mit Drittstaaten zu begründen.

46.

Allerdings ist zu betonen, dass Doppelbesteuerungsabkommen keinen Freibrief für die Mitgliedstaaten darstellen, um Kapitalanlageorte innerhalb der Union gegenüber solchen außerhalb der Union zu benachteiligen. Denn nach ständiger Rechtsprechung können die Mitgliedstaaten zwar in Doppelbesteuerungsabkommen ihre Steuerhoheit aufteilen. Bei der Ausübung der in dieser Weise aufgeteilten Steuerhoheit sind sie aber verpflichtet, sowohl den Grundsatz der Gleichbehandlung als auch die Grundfreiheiten zu beachten ( 23 ). Würden in einem Fall wie dem vorliegenden also beide relevanten Doppelbesteuerungsabkommen dem Königreich Belgien die Wahl lassen, die ausländische Quellensteuer auf die belgische Steuer anzurechnen, so würde eine unterschiedliche Anrechnung – vorbehaltlich einer anderweitigen Rechtfertigung – gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstoßen.

47.

Da vorliegend aber das Königreich Belgien aufgrund des Abkommens gegenüber dem Drittstaat verpflichtet ist, eine generelle Anrechnung der Quellensteuer auf Dividenden vorzusehen ( 24 ), ist die bestehende Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit gerechtfertigt.

VI – Entscheidungsvorschlag

48.

Somit ist die einzig zulässige erste Vorlagefrage des Tribunal de première instance de Liège (Gericht erster Instanz Lüttich, Belgien) wie folgt zu beantworten:

Art. 63 Abs. 1 AEUV steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die aufgrund einer Verpflichtung, die aus einem mit einem Drittstaat abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen resultiert, die Quellensteuer des Drittstaats auf Dividenden dort ansässiger Gesellschaften generell auf die Steuer anrechnet, die im Inland bei ihren gebietsansässigen Anteilseignern auf diese Dividenden erhoben wird, während sie eine solche Anrechnung bei Dividenden, die von Gesellschaften ausgeschüttet werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, von weiteren Voraussetzungen abhängig macht.


( 1 ) Originalsprache: Deutsch.

( 2 ) Vertrag über die Europäische Union (ABl. 2012, C 326, S. 13).

( 3 ) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2012, C 326, S. 47).

( 4 ) Vgl. nur Urteile Kachelmann (C‑322/98, EU:C:2000:495, Rn. 17), Lucchini (C‑119/05, EU:C:2007:434, Rn. 44) und Pujante Rivera (C‑422/14, EU:C:2015:743, Rn. 20).

( 5 ) Vgl. nur Urteil X (C‑686/13, EU:C:2015:375, Rn. 16 bis 23).

( 6 ) Vgl. nur Urteil X (C‑686/13, EU:C:2015:375, Rn. 23 bis 25).

( 7 ) Siehe nur Urteil Beker (C‑168/11, EU:C:2013:117, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 8 ) Urteil Haribo Lakritzen Hans Riegel und Österreichische Salinen (C‑436/08 und C‑437/08, EU:C:2011:61, Rn. 167 bis 169 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 9 ) Vgl. Urteile Kerckhaert und Morres (C‑513/04, EU:C:2006:713), Block (C‑67/08, EU:C:2009:92, Rn. 31) sowie Haribo Lakritzen Hans Riegel und Österreichische Salinen (C‑436/08 und C‑437/08, EU:C:2011:61, Rn. 170 und 171 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 10 ) Vgl. in diesem Sinne auch die Urteile Orange European Smallcap Fund (C‑194/06, EU:C:2008:289, Rn. 54) und Renneberg (C‑527/06, EU:C:2008:566, Rn. 57).

( 11 ) Vgl. u. a. Urteile Manninen (C‑319/02, EU:C:2004:484, Rn. 20), Meilicke u. a. (C‑292/04, EU:C:2007:132, Rn. 22) sowie Test Claimants in the FII Group Litigation (C‑35/11, EU:C:2012:707, Rn. 38).

( 12 ) Vgl. nur Urteil Haribo Lakritzen Hans Riegel und Österreichische Salinen (C‑436/08 und C‑437/08, EU:C:2011:61, Rn. 48).

( 13 ) Vgl. Urteil Orange European Smallcap Fund (C‑194/06, EU:C:2008:289, Rn. 56); vgl. in diesem Sinne auch Urteile D. (C‑376/03, EU:C:2005:424, Rn. 53 bis 63) und Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation (C‑374/04, EU:C:2006:773, Rn. 82 und 83).

( 14 ) Urteil Haribo Lakritzen Hans Riegel und Österreichische Salinen (C‑436/08 und C‑437/08, EU:C:2011:61, Rn. 48).

( 15 ) Urteil Vatsouras und Koupatantze (C‑22/08 und C‑23/08, EU:C:2009:344, Rn. 52).

( 16 ) Siehe nur Urteile Kommission/Belgien (C‑387/11, EU:C:2012:670, Rn. 45), K (C‑322/11, EU:C:2013:716, Rn. 36) sowie Miljoen u. a. (C‑10/14, C‑14/14 und C‑17/14, EU:C:2015:608, Rn. 64).

( 17 ) Siehe oben, Nr. 25.

( 18 ) Urteil D. (C‑376/03, EU:C:2005:424, Rn. 61 und 62); vgl. ebenso Urteil Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation (C‑374/04, EU:C:2006:773, Rn. 88) im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit.

( 19 ) Siehe nur Urteil Miljoen u. a. (C‑10/14, C‑14/14 und C‑17/14, EU:C:2015:608, Rn. 62 bis 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 20 ) Vgl. insoweit auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Q (C‑133/13, EU:C:2014:2255, Nr. 48).

( 21 ) Vgl. Urteil D. (C‑376/03, EU:C:2005:424, Rn. 58 bis 63), allerdings ohne Bezugnahme auf Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV; vgl. demgegenüber Urteil Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation (C‑374/04, EU:C:2006:773, Rn. 87), in dem der Gerichtshof im Rahmen der Niederlassungsfreiheit der Sache nach die Verhältnismäßigkeit prüft.

( 22 ) Vgl. nur Urteil Kommission/Deutschland (C‑211/13, EU:C:2014:2148, Rn. 47).

( 23 ) Siehe u. a. Urteile de Groot (C‑385/00, EU:C:2002:750, Rn. 93 und 94), Renneberg (C‑527/06, EU:C:2008:566, Rn. 50 und 51) sowie Bukovansky (C‑241/14, EU:C:2015:766, Rn. 37).

( 24 ) Siehe oben, Nr. 25.

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