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Document 62014CJ0528

    Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 27. April 2016.
    X gegen Staatssecretaris van Financiën.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsamer Zolltarif – Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 – Art. 3 – Befreiung von den Einfuhrabgaben – Übersiedlungsgut – Verlegung des Wohnsitzes von einem Drittland in einen Mitgliedstaat – Begriff ,gewöhnlicher Wohnsitz‘ – Unmöglichkeit, einen gewöhnlichen Wohnsitz gleichzeitig in einem Mitgliedstaat und in einem Drittland zu haben – Kriterien zur Bestimmung des Ortes des gewöhnlichen Wohnsitzes.
    Rechtssache C-528/14.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:304

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

    27. April 2016 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Gemeinsamer Zolltarif — Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 — Art. 3 — Befreiung von den Einfuhrabgaben — Übersiedlungsgut — Verlegung des Wohnsitzes von einem Drittland in einen Mitgliedstaat — Begriff ‚gewöhnlicher Wohnsitz‘ — Unmöglichkeit, einen gewöhnlichen Wohnsitz gleichzeitig in einem Mitgliedstaat und in einem Drittland zu haben — Kriterien zur Bestimmung des Ortes des gewöhnlichen Wohnsitzes“

    In der Rechtssache C‑528/14

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande, Niederlande) mit Entscheidung vom 14. November 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 21. November 2014, in dem Verfahren

    X

    gegen

    Staatssecretaris van Financiën

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Richter C. Lycourgos, E. Juhász und C. Vajda sowie der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin),

    Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von X, vertreten durch B. J. B. Boersma, adviseur,

    der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. Noort als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Grønfeldt und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Dezember 2015

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 des Rates vom 16. November 2009 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen (ABl. L 324, S. 23).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen) wegen dessen Weigerung, die Verbringung des Übersiedlungsguts von X von Katar nach den Niederlanden von den Einfuhrabgaben zu befreien.

    Rechtlicher Rahmen

    Richtlinie 83/182/EWG

    3

    Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 83/182/EWG des Rates vom 28. März 1983 über Steuerbefreiungen innerhalb der Gemeinschaft bei vorübergehender Einfuhr bestimmter Verkehrsmittel (ABl. L 105, S. 59) in der durch die Richtlinie 2006/98/EG des Rates vom 20. November 2006 (ABl. L 363, S. 129) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 83/182) bestimmt:

    „Im Sinne dieser Richtlinie gilt als ‚gewöhnlicher Wohnsitz‘ der Ort, an dem eine Person wegen persönlicher und beruflicher Bindungen oder – im Falle einer Person ohne berufliche Bindungen – wegen persönlicher Bindungen, die enge Beziehungen zwischen der Person und dem Wohnort erkennen lassen, gewöhnlich, d. h. während mindestens 185 Tagen im Kalenderjahr, wohnt.

    Jedoch gilt als gewöhnlicher Wohnsitz einer Person, deren berufliche Bindungen an einem anderen Ort als dem seiner persönlichen Bindungen liegen und die daher veranlasst ist, sich abwechselnd an verschiedenen Orten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten aufzuhalten, der Ort ihrer persönlichen Bindungen, sofern sie regelmäßig dorthin zurückkehrt. …“

    Richtlinie 83/183/EWG

    4

    Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 83/183/EWG des Rates vom 28. März 1983 über Steuerbefreiungen bei der endgültigen Einfuhr persönlicher Gegenstände durch Privatpersonen aus einem Mitgliedstaat (ABl. L 105, S. 64), die durch die Richtlinie 2009/55/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über Steuerbefreiungen bei der endgültigen Verbringung persönlicher Gegenstände durch Privatpersonen aus einem Mitgliedstaat (ABl. L 145, S. 36) aufgehoben wurde, stimmte mit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 83/182 überein.

    Verordnung Nr. 1186/2009

    5

    Mit der Verordnung Nr. 1186/2009 wurde die Verordnung (EWG) Nr. 918/83 des Rates vom 28. März 1983 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen (ABl. L 105, S. 1) aufgehoben.

    6

    Die Erwägungsgründe 3 und 4 der Verordnung Nr. 1186/2009 lauten:

    „(3)

    Eine … Abgabenerhebung ist … unter bestimmten Umständen nicht gerechtfertigt, wenn zum Beispiel die besonderen Bedingungen der Einfuhr keine Anwendung der üblichen Maßnahmen zum Schutz der Wirtschaft erfordern.

    (4)

    Es ist ratsam, für derartige Fälle – wie üblicherweise schon in den meisten Zollgesetzen verankert – vorzusehen, dass die Einfuhr nach einem Zollbefreiungsverfahren erfolgen kann, dem zufolge auf die Waren die normalerweise auf sie anwendbaren Eingangsabgaben nicht erhoben werden.“

    7

    Art. 2 Abs. 1 Buchst. c dieser Verordnung bestimmt:

    „… Das Übersiedlungsgut darf seiner Art und Menge nach keinen kommerziellen Zweck erkennen lassen“.

    8

    Art. 3 der Verordnung lautet:

    „Von den Eingangsabgaben befreit ist vorbehaltlich der Artikel 4 bis 11 das Übersiedlungsgut natürlicher Personen, die ihren gewöhnlichen Wohnsitz in das Zollgebiet der Gemeinschaft verlegen.“

    9

    Art. 4 der Verordnung sieht vor:

    „Die Befreiung gilt nur für Übersiedlungsgut, das

    a)

    außer in umständehalber gerechtfertigten Sonderfällen dem Beteiligten gehört und, falls es sich um nicht verbrauchbare Waren handelt, von ihm an seinem früheren gewöhnlichen Wohnsitz mindestens sechs Monate vor dem Zeitpunkt der Aufgabe seines gewöhnlichen Wohnsitzes in dem Herkunfts-Drittland benutzt worden ist;

    b)

    am neuen gewöhnlichen Wohnsitz zu den gleichen Zwecken benutzt werden soll.

    ...“

    10

    In Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1186/2009 heißt es:

    „Die Befreiung kann nur Personen gewährt werden, die ihren gewöhnlichen Wohnsitz mindestens zwölf aufeinander folgende Monate außerhalb des Zollgebiets der Gemeinschaft gehabt haben.“

    11

    Nach Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung wird die Befreiung nur für Übersiedlungsgut gewährt, das von dem Beteiligten innerhalb von zwölf Monaten nach der Begründung seines gewöhnlichen Wohnsitzes im Zollgebiet der Europäischen Union zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr angemeldet wird.

    12

    Gemäß Art. 9 der Verordnung kann die Befreiung jedoch für vor Begründung des gewöhnlichen Wohnsitzes durch den Beteiligten im Zollgebiet der Union zur Abfertigung zum zollrechtlich freien Verkehr angemeldetes Übersiedlungsgut genehmigt werden, sofern dieser sich verpflichtet, seinen gewöhnlichen Wohnsitz tatsächlich innerhalb von sechs Monaten dort zu begründen.

    13

    Verlässt der Beteiligte das Drittland, in dem er seinen gewöhnlichen Wohnsitz hatte, aufgrund beruflicher Verpflichtungen ohne gleichzeitige Begründung des gewöhnlichen Wohnsitzes im Zollgebiet der Union, jedoch in der Absicht, ihn in der Folge dort zu begründen, so können die zuständigen Behörden gemäß Art. 10 der Verordnung das vom Beteiligten zu diesem Zweck eingeführte Übersiedlungsgut von den Eingangsabgaben befreien.

    14

    Art. 11 der Verordnung Nr. 1186/2009 ermöglicht es den zuständigen Behörden, von bestimmten Voraussetzungen für die in Art. 3 der Verordnung vorgesehene Einfuhrabgabenbefreiung abzuweichen.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    15

    Der Kläger des Ausgangsverfahrens wohnte und arbeitete bis zum 1. März 2008 in den Niederlanden. Vom 1. März 2008 bis zum 1. August 2011 arbeitete er in Katar, wo ihm sein Arbeitgeber eine Wohnung zur Verfügung stellte. In diesem Drittland unterhielt er sowohl berufliche als auch persönliche Beziehungen. Seine Ehefrau wohnte und arbeitete weiterhin in den Niederlanden. Sie besuchte ihn sechsmal für insgesamt 83 Tage. In dem fraglichen Zeitraum verbrachte der Kläger des Ausgangsverfahrens 281 Tage außerhalb Katars, an denen er seine Ehefrau, seine volljährigen Kinder und seine Familie in den Niederlanden besuchte und in anderen Ländern im Urlaub war.

    16

    Im Hinblick auf seine Rückkehr in die Niederlande beantragte der Kläger des Ausgangsverfahrens, ihm die Genehmigung zu erteilen, sein Übersiedlungsgut gemäß Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 unter Befreiung von den Einfuhrabgaben aus Katar in die Union einzuführen. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Finanzamts abgelehnt, da es sich nicht um eine Verlegung des gewöhnlichen Wohnsitzes in die Niederlande im Sinne dieses Artikels handele. Der Kläger des Ausgangsverfahrens habe nämlich während seines Aufenthalts in Katar seinen gewöhnlichen Wohnsitz in den Niederlanden behalten, so dass sich sein gewöhnlicher Wohnsitz nie in diesem Drittland befunden habe.

    17

    Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob gegen diesen Versagungsbescheid Klage bei der Rechtbank te Haarlem (Gericht Haarlem), die ihr stattgab. Das Finanzamt legte gegen dieses Urteil Berufung beim Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) ein. Dieses wies darauf hin, dass der gewöhnliche Wohnsitz nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Ort sei, an dem der Betroffene den ständigen Mittelpunkt seiner Interessen habe. In Anbetracht der persönlichen und beruflichen Bindungen des Klägers des Ausgangsverfahrens lasse sich nicht bestimmen, wo sich der ständige Mittelpunkt seiner Interessen befunden habe. Unter diesen Umständen sei den persönlichen Bindungen Vorrang einzuräumen, so dass der Kläger des Ausgangsverfahrens seinen gewöhnlichen Wohnsitz im maßgeblichen Zeitraum nicht in Katar, sondern in den Niederlanden gehabt habe.

    18

    Hiergegen legte der Kläger des Ausgangsverfahrens Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein. Dieses hat zunächst darauf hingewiesen, dass die Verordnung Nr. 1186/2009 keine Definition des Begriffs „gewöhnlicher Wohnsitz“ enthalte, und dann ausgeführt, dass die Auffassung des Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) die Frage aufwerfe, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens im betreffenden Zeitraum einen gewöhnlichen Wohnsitz sowohl in den Niederlanden als auch in Katar gehabt habe. Die Ziele dieser Verordnung schienen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens weder dem Bestehen eines gewöhnlichen Wohnsitzes sowohl in den Niederlanden als auch in Katar noch der in Art. 3 dieser Verordnung vorgesehenen Befreiung von den Einfuhrabgaben entgegenzustehen, da der Kläger des Ausgangsverfahrens seinen Wohnsitz in Katar aufgegeben und sein Übersiedlungsgut in die Niederlande verbracht habe.

    19

    Sollte die Verordnung Nr. 1186/2009 dahin auszulegen sein, dass kein doppelter gewöhnlicher Wohnsitz bestehen könne, stelle sich die Frage, welche Kriterien in einem solchen Fall heranzuziehen seien, um zu bestimmen, welcher der beiden Wohnsitze für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnung als der gewöhnliche anzusehen sei. In diesem Zusammenhang fragt das vorlegende Gericht, ob die vom Gerichtshof in den Urteilen Louloudakis (C‑262/99, EU:C:2001:407) und Alevizos (C‑392/05, EU:C:2007:251) für die Bestimmung des Ortes des „gewöhnlichen Wohnsitzes“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 83/182 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 83/183 aufgestellten Kriterien, insbesondere der insoweit den persönlichen Bindungen eingeräumte Vorrang, maßgebend sind.

    20

    Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Schließt die Verordnung Nr. 1186/2009 die Möglichkeit ein, dass eine natürliche Person ihren gewöhnlichen Wohnsitz gleichzeitig sowohl in einem Mitgliedstaat als auch in einem Drittland hat, und, wenn ja, gilt die in Art. 3 vorgesehene Befreiung von den Einfuhrabgaben dann für Güter, die im Rahmen der Aufgabe des gewöhnlichen Wohnsitzes im Drittland in die Union verbracht werden?

    2.

    Falls die Verordnung Nr. 1186/2009 einen doppelten gewöhnlichen Wohnsitz ausschließt und eine Abwägung aller Umstände nicht ausreicht, um den gewöhnlichen Wohnsitz zu bestimmen: Anhand welcher Regel oder mit Hilfe welcher Kriterien ist dann für die Anwendung dieser Verordnung zu bestimmen, in welchem Land der Betroffene seinen gewöhnlichen Wohnsitz in einem Fall wie dem vorliegenden hat, in dem er in dem Drittland sowohl über persönliche als auch über berufliche Bindungen und in dem Mitgliedstaat über persönliche Bindungen verfügt?

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten Frage

    21

    Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 dahin auszulegen ist, dass eine natürliche Person für die Zwecke der Anwendung dieser Bestimmung ihren gewöhnlichen Wohnsitz gleichzeitig in einem Mitgliedstaat und in einem Drittland haben kann. Wenn ja, möchte dieses Gericht ferner wissen, ob die in dieser Bestimmung vorgesehene Befreiung von den Einfuhrabgaben für das Übersiedlungsgut gilt, das von dieser natürlichen Person in die Union eingeführt wird, wenn sie ihren gewöhnlichen Wohnsitz im Drittland aufgibt.

    22

    Da die Verordnung Nr. 1186/2009 keine Definition des in Art. 3 verwendeten Begriffs „gewöhnlicher Wohnsitz“ enthält, sind zur Bestimmung der Bedeutung dieses Artikels sowohl sein Wortlaut als auch sein Zusammenhang und seine Ziele zu berücksichtigen (Urteil Angerer, C‑477/13, EU:C:2015:239, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    23

    Zum Wortlaut von Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 ist zum einen festzustellen, dass der Begriff „gewöhnlicher Wohnsitz“ dort im Singular verwendet wird, was dafür spricht, dass eine natürliche Person zu einem gegebenen Zeitpunkt nur einen gewöhnlichen Wohnsitz haben kann. Zum anderen ist die Befreiung von den Einfuhrabgaben nach dieser Vorschrift an die Verlegung des gewöhnlichen Wohnsitzes von einem Drittland in das Zollgebiet der Union geknüpft. Wie der Generalanwalt in Nr. 37 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, setzt das verwendete Verb „verlegen“ notwendig eine Transferierung des gewöhnlichen Wohnsitzes von einem Ort außerhalb des Zollgebiets an einen Ort in diesem Gebiet voraus und steht somit dem entgegen, dass im selben Zeitraum ein gewöhnlicher Wohnsitz in einem Mitgliedstaat und ein weiterer in einem Drittland bestehen.

    24

    Was den Zusammenhang betrifft, in dem Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 steht, so wird der Begriff „gewöhnlicher Wohnsitz“ in den Art. 4, 5, 7 und 9 bis 11 dieser Verordnung, die speziell die Voraussetzungen für die Gewährung der in Art. 3 vorgesehenen Zollbefreiung betreffen, ebenfalls im Singular verwendet. So verhält es sich auch bei den anderen Vorschriften der Verordnung, in denen der Begriff „gewöhnlicher Wohnsitz“ vorkommt.

    25

    Eine Auslegung des Begriffs „gewöhnlicher Wohnsitz“ dahin, dass eine natürliche Person zu einem gegebenen Zeitpunkt nur einen gewöhnlichen Wohnsitz haben kann, wird ferner durch den Wortlaut der Art. 4, 7 und 9 bis 11 der Verordnung Nr. 1186/2009 bestätigt. So heißt es zunächst in Art. 4 der Verordnung, dass die Befreiung nur für Übersiedlungsgut gilt, das zum einen vom Beteiligten „an seinem früheren gewöhnlichen Wohnsitz“ mindestens sechs Monate vor dem Zeitpunkt der „Aufgabe seines gewöhnlichen Wohnsitzes“ in dem Herkunfts-Drittland benutzt worden ist und zum anderen „am neuen gewöhnlichen Wohnsitz“ benutzt werden soll. Sodann verweisen die Art. 7, 9 und 10 der Verordnung auf den gleichen zeitlichen Ablauf, nämlich dass der Beteiligte in einem ersten Schritt seinen gewöhnlichen Wohnsitz in einem Drittland aufgibt und dann in einem zweiten Schritt diesen Wohnsitz im Zollgebiet der Union begründet. Schließlich wird das auch in Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 verwendete Verb „verlegen“ in Art. 11 der Verordnung wieder aufgenommen, um die Transferierung des Wohnsitzes von einem Drittland in einen Mitgliedstaat zu bezeichnen.

    26

    Hinsichtlich der Ziele der Verordnung Nr. 1186/2009 heißt es im dritten Erwägungsgrund, dass die Verordnung Zollbefreiungen vorsieht, da „[e]ine … Abgabenerhebung … unter bestimmten Umständen nicht gerechtfertigt [ist], wenn zum Beispiel die besonderen Bedingungen der Einfuhr keine Anwendung der üblichen Maßnahmen zum Schutz der Wirtschaft erfordern“.

    27

    Aus der Rechtsprechung zum zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 918/83, der mit dem dritten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1186/2009 übereinstimmt, ergibt sich, dass die vom Unionsgesetzgeber beim Erlass der erstgenannten Verordnung verfolgten Ziele darin bestanden, zum einen die Übersiedlung einer natürlichen Person in den jeweiligen Mitgliedstaat zu erleichtern und zum anderen die Arbeit der Zollbehörden der Mitgliedstaaten zu vereinfachen (Urteil Treimanis, C‑487/11, EU:C:2012:556, Rn. 24). Diese Erwägungen gelten auch für die Verordnung Nr. 1186/2009, da der Unionsgesetzgeber mit ihr die verschiedenen Bestimmungen des Systems der Zollbefreiungen, einschließlich der Bestimmungen der Verordnung Nr. 918/83, kodifizieren wollte.

    28

    Eine Auslegung, nach der eine natürliche Person zwei gewöhnliche Wohnsitze im Sinne von Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 – einen in einem Drittland und einen weiteren in einem Mitgliedstaat – haben kann, läuft dem Ziel zuwider, die Übersiedlung in einen Mitgliedstaat zu erleichtern.

    29

    Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 dahin auszulegen ist, dass eine natürliche Person für die Zwecke der Anwendung dieser Bestimmung ihren gewöhnlichen Wohnsitz nicht gleichzeitig in einem Mitgliedstaat und in einem Drittland haben kann. In Anbetracht dieser Antwort ist der zweite Teil der ersten Frage nicht mehr zu beantworten.

    Zur zweiten Frage

    30

    Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, anhand welcher Kriterien in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem der Beteiligte in einem Drittland sowohl berufliche als auch persönliche Bindungen und in einem Mitgliedstaat persönliche Bindungen hat, zu bestimmen ist, wo sich sein gewöhnlicher Wohnort im Sinne von Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 befindet.

    31

    Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der gewöhnliche Wohnsitz nach einer in verschiedenen Bereichen des Unionsrechts entwickelten Rechtsprechung als der Ort zu verstehen ist, den der Betroffene als ständigen Mittelpunkt seiner Interessen gewählt hat (vgl. entsprechend Urteile Schäflein/Kommission, 284/87, EU:C:1988:414, Rn. 9, Ryborg, C‑297/89, EU:C:1991:160, Rn. 19, Louloudakis, C‑262/99, EU:C:2001:407, Rn. 51, Alevizos, C‑392/05, EU:C:2007:251, Rn. 55, I, C‑255/13, EU:C:2014:1291, Rn. 44, und B., C‑394/13, EU:C:2014:2199, Rn. 26).

    32

    Ferner wurde entschieden, dass zur Bestimmung des gewöhnlichen Wohnsitzes als des ständigen Mittelpunkts der Interessen des Betroffenen alle erheblichen Tatsachen zu berücksichtigen sind (vgl. entsprechend Urteile Schäflein/Kommission, 284/87, EU:C:1988:414, Rn. 10, Ryborg, C‑297/89, EU:C:1991:160, Rn. 20, Louloudakis, C‑262/99, EU:C:2001:407, Rn. 55, Alevizos, C‑392/05, EU:C:2007:251, Rn. 57, und I, C‑255/13, EU:C:2014:1291, Rn. 45 und 46).

    33

    In den Urteilen Louloudakis (C‑262/99, EU:C:2001:407) und Alevizos (C‑392/05, EU:C:2007:251), nach deren Einschlägigkeit für die Bestimmung des Ortes, an dem sich der gewöhnliche Wohnsitz im Sinne von Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 befindet, mit der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts gefragt wird, hat der Gerichtshof zu Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 83/182 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 83/183 festgestellt, dass zu den zur Bestimmung des gewöhnlichen Wohnsitzes als des ständigen Mittelpunkts der Interessen des Betroffenen zu berücksichtigenden erheblichen Tatsachen insbesondere die körperliche Anwesenheit des Betroffenen gehört, diejenige seiner Familienangehörigen, die Einrichtung einer Wohnung, der Ort des tatsächlichen Schulbesuchs der Kinder, der Ort der Ausübung der beruflichen Tätigkeiten, der Ort, an dem die Vermögensinteressen liegen, und der Ort, an dem die verwaltungsmäßigen Beziehungen zu den staatlichen Stellen und den gesellschaftlichen Einrichtungen bestehen, soweit diese Faktoren den Willen des Betroffenen zum Ausdruck bringen, dem Ort, an dem die Bindungen bestehen, aufgrund einer Kontinuität, die aus einer Lebensgewohnheit und aus der Entwicklung normaler sozialer und beruflicher Beziehungen folgt, eine gewisse Beständigkeit zu verleihen (Urteile Louloudakis, C‑262/99, EU:C:2001:407, Rn. 55, und Alevizos, C‑392/05, EU:C:2007:251, Rn. 57).

    34

    Der Gerichtshof hat in diesen Urteilen weiter ausgeführt, dass, wenn eine Gesamtbewertung aller erheblichen Tatsachen es nicht ermöglicht, den ständigen Mittelpunkt der Interessen des Betroffenen örtlich zu bestimmen, bei dieser Ortsbestimmung den persönlichen Bindungen der Vorrang einzuräumen ist (Urteile Louloudakis, C‑262/99, EU:C:2001:407, Rn. 53, und Alevizos, C‑392/05, EU:C:2007:251, Rn. 61).

    35

    Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass das vorlegende Gericht vor allem deshalb wissen möchte, ob diese Erwägung – dass den persönlichen Bindungen der Vorrang einzuräumen ist – auf die Auslegung des Begriffs „gewöhnlicher Wohnsitz“ im Sinne von Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 übertragbar ist, weil der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam), dessen Urteil Gegenstand des Verfahrens vor diesem Gericht ist, festgestellt hat, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens den persönlichen Bindungen der Vorrang einzuräumen sei.

    36

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich aus den Urteilen Louloudakis (C‑262/99, EU:C:2001:407, Rn. 53) und Alevizos (C‑392/05, EU:C:2007:251, Rn. 61) ergibt, dass dieser Vorrang auf der Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 83/182 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 83/183 beruht. Die Verordnung Nr. 1186/2009 enthält jedoch keine diesen Bestimmungen entsprechende Vorschrift.

    37

    Darüber hinaus betreffen diese Richtlinien Steuerbefreiungen innerhalb der Union, während die Verordnung Zollbefreiungen für aus Drittländern in die Union eingeführte Güter vorsieht. Die Richtlinien und die Verordnung Nr. 1186/2009 unterscheiden sich daher in ihren Zielen. Laut ihren Erwägungsgründen sollen die Richtlinien die Freizügigkeit innerhalb der Union erleichtern, indem steuerliche Hindernisse für die Einfuhr persönlicher Gegenstände und von Verkehrsmitteln aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat ausgeräumt werden. Dagegen sieht die Verordnung, wie aus ihrem dritten Erwägungsgrund hervorgeht, eine Zollbefreiung für Einfuhren aus Drittländern von Waren, die gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung ihrer Art und Menge nach keinen kommerziellen Zweck erkennen lassen, vor, wenn diese Einfuhren „keine Anwendung der üblichen Maßnahmen zum Schutz der Wirtschaft erfordern“.

    38

    Unter diesen Umständen ist die Auslegung des Begriffs „gewöhnlicher Wohnsitz“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 83/182 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 83/183, nach der den persönlichen Bindungen der Vorrang einzuräumen ist, wenn es nicht möglich ist, den ständigen Mittelpunkt der Interessen des Betroffenen örtlich zu bestimmen, nicht auf den Begriff „gewöhnlicher Wohnsitz“ im Sinne von Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 übertragbar.

    39

    Daraus folgt, dass der Begriff „gewöhnlicher Wohnsitz“ im Sinne von Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 als der Ort zu verstehen ist, den der Betroffene als ständigen Mittelpunkt seiner Interessen gewählt hat. Um zu bestimmen, ob sich dieser gewöhnliche Wohnsitz im Hinblick auf die Gewährung der in diesem Art. 3 vorgesehenen Zollbefreiung in einem Drittland befindet, sind alle erheblichen Tatsachen – einschließlich der vom Gerichtshof in den Urteilen Louloudakis (C‑262/99, EU:C:2001:407) und Alevizos (C‑392/05, EU:C:2007:251) nicht abschließend aufgeführten und in Rn. 33 des vorliegenden Urteils genannten – zu berücksichtigen, ohne dass den persönlichen Bindungen der Vorrang einzuräumen wäre.

    40

    Im Rahmen dieser Prüfung ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 1186/2009 der Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im fraglichen Drittland besondere Bedeutung zumisst. So kann die in Art. 3 der Verordnung vorgesehene Zollbefreiung nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung nur Personen gewährt werden, die ihren gewöhnlichen Wohnsitz mindestens zwölf aufeinander folgende Monate außerhalb des Zollgebiets der Union gehabt haben. Außerdem hat der Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens, jetzt Weltzollorganisation (WZO) – dem Beitrittsantrag der Union wurde im Laufe des Jahres 2007 stattgegeben –, in seiner Empfehlung vom 5. Dezember 1962 über die Zollbefreiung von im Zusammenhang mit einem Wohnsitzwechsel eingeführten Möbeln ausgeführt, dass die Zollbefreiung insbesondere davon abhängig gemacht werden kann, dass die Dauer des Aufenthalts im Ausland ausreichend erscheint.

    41

    Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem der Beteiligte in einem Drittland sowohl berufliche als auch persönliche Bindungen und in einem Mitgliedstaat persönliche Bindungen hat, bei der Gesamtbewertung der erheblichen Tatsachen zur Bestimmung, ob sich sein gewöhnlicher Wohnsitz im Sinne von Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 im Drittland befindet, der Dauer seines Aufenthalts in diesem Drittland besondere Bedeutung zukommt.

    Kosten

    42

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 des Rates vom 16. November 2009 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen ist dahin auszulegen, dass eine natürliche Person für die Zwecke der Anwendung dieser Bestimmung ihren gewöhnlichen Wohnsitz nicht gleichzeitig in einem Mitgliedstaat und in einem Drittland haben kann.

     

    2.

    In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem der Beteiligte in einem Drittland sowohl berufliche als auch persönliche Bindungen und in einem Mitgliedstaat persönliche Bindungen hat, kommt bei der Gesamtbewertung der erheblichen Tatsachen zur Bestimmung, ob sich sein gewöhnlicher Wohnsitz im Sinne von Art. 3 der Verordnung Nr. 1186/2009 im Drittland befindet, der Dauer seines Aufenthalts in diesem Drittland besondere Bedeutung zu.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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