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Document 62014CJ0298

    Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 6. Oktober 2015.
    Alain Laurent Brouillard gegen Jury du concours de recrutement de référendaires près la Cour de cassation und État belge.
    Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État (Belgien).
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit – Art. 45 AEUV und 49 AEUV – Arbeitnehmer – Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung – Richtlinie 2005/36/EG – Anerkennung von Berufsqualifikationen – Begriff ‚reglementierter Beruf‘ – Zulassung zu einem Auswahlverfahren zur Einstellung von Referenten bei der Cour de cassation (Belgien).
    Rechtssache C-298/14.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2015:652

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

    6. Oktober 2015 ( *1 ) ( i )

    „„Vorlage zur Vorabentscheidung — Freizügigkeit — Art. 45 AEUV und 49 AEUV — Arbeitnehmer — Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung — Richtlinie 2005/36/EG — Anerkennung von Berufsqualifikationen — Begriff ‚reglementierter Beruf‘ — Zulassung zu einem Auswahlverfahren zur Einstellung von Referenten bei der Cour de cassation (Belgien)““

    In der Rechtssache C‑298/14

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Belgien) mit Entscheidung vom 15. Mai 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Juni 2014, in dem Verfahren

    Alain Brouillard

    gegen

    Jury du concours de recrutement de référendaires près la Cour de cassation,

    État belge

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, J. L. da Cruz Vilaça und C. Lycourgos,

    Generalanwältin: E. Sharpston,

    Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. März 2015,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von Herrn Brouillard, der sich selbst vertritt,

    der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von P. Levert und P.‑E. Paris, avocats,

    der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Hottiaux und H. Støvlbæk als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 18. Juni 2015

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 45 AEUV und 49 AEUV sowie der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. L 255, S. 22).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Brouillard und der Jury du concours de recrutement de référendaires près la Cour de cassation (Prüfungsausschuss der Prüfung im Wettbewerbsverfahren zur Einstellung von Referenten am Kassationshof, im Folgenden: Prüfungsausschuss) und dem État belge wegen der Entscheidung des Prüfungsausschusses, die Anmeldung von Herrn Brouillard zur Prüfung im Wettbewerbsverfahren zurückzuweisen.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Im 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/36 heißt es:

    „Diese Richtlinie berührt nicht die Anwendung des Artikels [45] Absatz 4 [AEUV] und des Artikels [51 AEUV], insbesondere auf Notare.“

    4

    Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2005/36 lautet:

    „Diese Richtlinie legt die Vorschriften fest, nach denen ein Mitgliedstaat, der den Zugang zu einem reglementierten Beruf oder dessen Ausübung in seinem Hoheitsgebiet an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen knüpft (im Folgenden ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ genannt), für den Zugang zu diesem Beruf und dessen Ausübung die in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten (im Folgenden ‚Herkunftsmitgliedstaat‘ genannt) erworbenen Berufsqualifikationen anerkennt, die ihren Inhaber berechtigen, dort denselben Beruf auszuüben.“

    5

    Art. 2 („Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie bestimmt:

    „(1)   Diese Richtlinie gilt für alle Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die als Selbständige oder abhängig Beschäftigte, einschließlich der Angehörigen der freien Berufe, einen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihre Berufsqualifikationen erworben haben, ausüben wollen.

    …“

    6

    Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2005/36 bestimmt:

    „(1)   Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

    a)

    ‚reglementierter Beruf‘ ist eine berufliche Tätigkeit oder eine Gruppe beruflicher Tätigkeiten, bei der die Aufnahme oder Ausübung oder eine der Arten der Ausübung direkt oder indirekt durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen gebunden ist; eine Art der Ausübung ist insbesondere die Führung einer Berufsbezeichnung, die durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften auf Personen beschränkt ist, die über eine bestimmte Berufsqualifikation verfügen. Trifft Satz 1 dieser Begriffsbestimmung nicht zu, so wird ein unter Absatz 2 fallender Beruf als reglementierter Beruf behandelt;

    b)

    ‚Berufsqualifikationen‘ sind die Qualifikationen, die durch einen Ausbildungsnachweis, einen Befähigungsnachweis nach Artikel 11 Buchstabe a Ziffer i und/oder Berufserfahrung nachgewiesen werden;

    c)

    ‚Ausbildungsnachweise‘ sind Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise, die von einer Behörde eines Mitgliedstaats, die entsprechend dessen Rechts- und Verwaltungsvorschriften benannt wurde, für den Abschluss einer überwiegend in der Gemeinschaft absolvierten Berufsausbildung ausgestellt werden. Findet Satz 1 keine Anwendung, so sind Ausbildungsnachweise im Sinne des Absatzes 3 den hier genannten Ausbildungsnachweisen gleichgestellt;

    e)

    ‚reglementierte Ausbildung‘ ist eine Ausbildung, die speziell auf die Ausübung eines bestimmten Berufes ausgerichtet ist und aus einem abgeschlossenen Ausbildungsgang oder mehreren abgeschlossenen Ausbildungsgängen besteht, der gegebenenfalls durch eine Berufsausbildung, durch ein Berufspraktikum oder durch Berufspraxis ergänzt wird;

    …“

    7

    Art. 4 („Wirkungen der Anerkennung“) dieser Richtlinie sieht vor:

    „(1)   Die Anerkennung der Berufsqualifikationen durch den Aufnahmemitgliedstaat ermöglicht der begünstigten Person, in diesem Mitgliedstaat denselben Beruf wie den, für den sie in ihrem Herkunftsmitgliedstaat qualifiziert ist, aufzunehmen und unter denselben Voraussetzungen wie Inländer auszuüben.

    (2)   Für die Zwecke dieser Richtlinie ist der Beruf, den der Antragsteller im Aufnahmemitgliedstaat ausüben möchte, derselbe wie derjenige, für den er in seinem Herkunftsmitgliedstaat qualifiziert ist, wenn die Tätigkeiten, die er umfasst, vergleichbar sind.“

    8

    Art. 13 („Anerkennungsbedingungen“) der Richtlinie 2005/36 bestimmt:

    „(1)   Wird die Aufnahme oder Ausübung eines reglementierten Berufs in einem Aufnahmemitgliedstaat von dem Besitz bestimmter Berufsqualifikationen abhängig gemacht, so gestattet die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats den Antragstellern, die den Befähigungs- oder Ausbildungsnachweis besitzen, der in einem anderen Mitgliedstaat erforderlich ist, um in dessen Hoheitsgebiet die Erlaubnis zur Aufnahme und Ausübung dieses Berufs zu erhalten, die Aufnahme oder Ausübung dieses Berufs unter denselben Voraussetzungen wie Inländern.

    …“

    Belgisches Recht

    9

    Art. 135 bis des Code judiciaire (Gerichtsgesetzbuch) lautet:

    „Dem Kassationshof stehen mindestens fünf und höchstens dreißig Referenten bei, deren Anzahl vom Minister der Justiz bestimmt wird.

    Der Erste Präsident und der Generalprokurator bestimmen in gegenseitigem Einvernehmen die Anzahl der Referenten, die ihrer jeweiligen Amtsgewalt unterstehen.

    Die Referenten bereiten die Arbeit der Gerichtsräte und der Mitglieder der Staatsanwaltschaft vor; sie beteiligen sich an Dokumentationsaufgaben und arbeiten an der Übersetzung und Veröffentlichung der Entscheide und an dem In-Übereinstimmung-Bringen der französischen und niederländischen Texte mit.“

    10

    Art. 259 duodecies des Code judiciaire sieht vor:

    „Um zum Referenten am Kassationshof ernannt werden zu können, muss der Bewerber das fünfundzwanzigste Lebensjahr vollendet haben und Doktor oder Lizentiat der Rechte sein.

    Die Bewerber werden im Hinblick auf ihre Ernennung durch eine Prüfung im Wettbewerbsverfahren eingestuft.

    Der Gerichtshof bestimmt den Prüfungslehrstoff unter Berücksichtigung der Erfordernisse des Dienstes. Er legt die Bedingungen für die Prüfung im Wettbewerbsverfahren fest und bildet die Prüfungsausschüsse.

    Unter Berücksichtigung des Sprachengleichgewichts setzt sich jeder Prüfungsausschuss zusammen aus zwei Mitgliedern des Gerichtshofes, die vom Ersten Präsidenten des Kassationshofes bestimmt werden, aus zwei Mitgliedern der Staatsanwaltschaft, die vom Generalprokurator bei diesem Gerichtshof bestimmt werden, und aus vier Personen, die nicht zur Einrichtung gehören und vom König aus zwei Listen mit jeweils vier Bewerbern bestimmt werden, wobei jede Liste das Sprachengleichgewicht berücksichtigt und vom Ersten Präsidenten beziehungsweise vom Generalprokurator vorgeschlagen wird.

    Die Gültigkeitsdauer einer Prüfung im Wettbewerbsverfahren beträgt [sechs] Jahre.“

    11

    Art. 259 terdecies des Code judiciaire lautet:

    „Referenten werden vom König entsprechend der in Art. 259 duodecies erwähnten Einstufung für eine Probezeit von drei Jahren ernannt. Nach diesen drei Jahren wird die Ernennung endgültig, es sei denn, der König trifft ausschließlich auf Vorschlag des Ersten Präsidenten beziehungsweise des Generalprokurators spätestens während des dritten Quartals des dritten Jahres der Probezeit eine anders lautende Entscheidung.

    Der Erste Präsident des Kassationshofes und der Generalprokurator bei diesem Gerichtshof bestimmen in gegenseitigem Einvernehmen die Probezeitreferenten und die endgültig ernannten Referenten, die der Amtsgewalt des einen und diejenigen, die der Amtsgewalt des anderen unterstehen.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    12

    Herr Brouillard, ein belgischer Staatsangehöriger, ist bei der Cour de cassation in der Dienststelle Dokumentation und Textkonkordanz als Attaché beschäftigt. Er ist Inhaber einer „Licence en traduction“ (Diplom Übersetzungswissenschaft), einer an einer belgischen Universität erworbenen „Candidature en droit“ (Vordiplom Rechtswissenschaft), eines ebenso an einer belgischen Universität erworbenen „Diplôme d’études spécialisées en droits de l’homme“ (Diplom Aufbaustudium Menschenrechte) und eines an der Université de Poitiers (Frankreich) im Fernstudium erworbenen „Master en droit, économie, gestion, à finalité professionnelle, mention droit privé, spécialité juriste-linguiste“ (anwendungsorientierter Master Recht, Wirtschaft und Verwaltung, Schwerpunkt: Privatrecht, Spezialisierung: Jurist im Sprachendienst, im Folgenden: französischer Master).

    13

    Herr Brouillard meldete sich am 24. Mai 2011 zu einer Prüfung im Wettbewerbsverfahren zur Einstellung von Referenten bei der Cour de cassation an.

    14

    Am 23. Juni 2011 beantragte er bei der Communauté française de Belgique (Französische Gemeinschaft Belgiens) die Anerkennung der vollständigen Gleichwertigkeit seines französischen Masters mit einem „Master 2“ (nach Abschluss eines zweijährigen Studiums erlangter Master) im belgischen Recht.

    15

    Der Präsident der Cour de cassation gab Herrn Brouillard am 6. September 2011 die Entscheidung des Prüfungsausschusses bekannt, seine Anmeldung zum Auswahlverfahren zurückzuweisen. Er wies darauf hin, dass ein Bewerber, um zum Referenten bei der Cour de cassation ernannt werden zu können, Inhaber eines an einer belgischen Universität erworbenen „Diplôme de docteur en droit“ (Promotion Rechtswissenschaft), „Diplôme de licencié en droit“ (Diplom Rechtswissenschaft) oder „Diplôme de master en droit“ (Master Rechtswissenschaft) sein müsse. Nur so sei gewährleistet, dass der Bewerber die Befähigung zur Ausübung des Berufs eines Referenten bei der Cour de cassation in Belgien habe. Bei ihm sei die genannte Voraussetzung nicht erfüllt. Denn weder habe die Communauté française de Belgique die Gleichwertigkeit seines französischen Masters mit einem in Belgien verliehenen „Diplôme de docteur en droit“, „Diplôme de licencié en droit“ oder „Diplôme de master en droit“ anerkannt, noch habe er an einer belgischen Universität an einem Gleichwertigkeitslehrgang teilgenommen.

    16

    Am 27. Oktober 2011 lehnte die Communauté française de Belgique den Antrag von Herrn Brouillard ab, seinen französischen Master als mit dem akademischen Grad eines „Master en droit“ gleichwertig anzuerkennen. Sie erkannte lediglich die Gleichwertigkeit mit dem akademischen Grad eines Masters im Allgemeinen an. Die Entscheidung beruhte auf der ablehnenden Stellungnahme der Commission d’équivalence, section droit et criminologie, de la Communauté française de Belgique (Gleichwertigkeitsausschuss, Abteilung Recht und Kriminologie, der Französischen Gemeinschaft Belgiens), die wie folgt begründet worden war:

    „–

    Ein Diplom, mit dem ein rechtswissenschaftliches Studium abgeschlossen wird, bescheinigt eine Befähigung und ein technisches Können, die auf die Merkmale der Rechtsordnung bezogen sind, in der das Diplom erteilt wurde; ein rechtswissenschaftliches Studium im Ausland entspricht daher nicht den Anforderungen der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Communauté française de Belgique, die ihre Studenten für Tätigkeiten als Juristen in der belgischen Rechtsordnung ausbilden.

    Bestimmte Studienleistungen, die in der Communauté française de Belgique für den Abschluss eines rechtswissenschaftlichen Hauptstudiums obligatorisch sind (u. a. Schuldrecht, Vertragsrecht, Verwaltungsrecht und Sozialrecht …), sind zur Erlangung des [französischen Masters], dessen Gleichwertigkeit hier festgestellt werden soll, nicht erbracht worden.“

    17

    Einer Bekanntmachung des Service public fédéral Justice (Föderaler Öffentlicher Dienst Justiz) zufolge wurden mit Arrêtés royaux (Königliche Erlasse) vom 20. September 2012 bei der Cour de cassation drei Referenten für eine Probezeit von drei Jahren ernannt (Moniteur belge vom 28. September 2012, S. 59905).

    18

    Herr Brouillard erhob beim vorlegenden Gericht zwei Klagen, mit denen er die Nichtigerklärung der Entscheidung des Prüfungsausschusses und der genannten Arrêtés royaux begehrt.

    19

    Vor diesem Hintergrund hat der Conseil d’État das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Sind die Art. 45 AEUV und 49 AEUV sowie die Richtlinie 2005/36 dahin auszulegen, dass sie in einer Situation anwendbar sind, in der ein belgischer Staatsangehöriger, der in Belgien wohnt und keine berufliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt hat, sich zur Stützung seiner Anmeldung zu einer Prüfung im Wettbewerbsverfahren zur Einstellung von Referenten bei der belgischen Cour de cassation auf ein von einer französischen Universität ausgestelltes Diplom – einen am 22. November 2010 von der französischen Universität Poitiers erteilten französischen Master – beruft?

    2.

    Ist das Amt eines Referenten bei der belgischen Cour de cassation, für das Art. 259 duodecies des Code judiciaire vorsieht, dass die Ernennung von der Voraussetzung abhängig ist, „Docteur en droit“ oder „Licencié en droit“ zu sein, ein reglementiertes Amt im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2005/36?

    3.

    Ist das Amt eines Referenten bei der Cour de cassation, dessen Aufgaben in Art. 135 bis des Code judiciaire definiert sind, eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung im Sinne von Art. 45 Abs. 4 AEUV und wird die Anwendung der Art. 45 AEUV und 49 AEUV sowie der Richtlinie 2005/36 daher durch Art. 45 Abs. 4 AEUV ausgeschlossen?

    4.

    Sind die Art. 45 AEUV und 49 AEUV sowie die Richtlinie 2005/36, sofern sie im vorliegenden Fall anwendbar sind, dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass der Prüfungsausschuss die Teilnahme an dieser Prüfung im Wettbewerbsverfahren vom Besitz eines von einer belgischen Universität verliehenen „Diplôme de docteur en droit“ oder „Diplôme de licencié en droit“ oder von der Anerkennung der akademischen Gleichwertigkeit des dem Kläger von der französischen Universität Poitiers erteilten französischen Masters mit einem von einer belgischen Universität erteilten Grad eines „Docteur en droit“, eines „Licencié en droit“ oder eines „Master en droit“ durch die im Bereich der Ausbildung zuständige Communauté française de Belgique abhängig macht?

    5.

    Sind die Art. 45 AEUV und 49 AEUV sowie die Richtlinie 2005/36, sofern sie im vorliegenden Fall anwendbar sind, dahin auszulegen, dass sie dem Prüfungsausschuss vorschreiben, die Qualifikationen des Klägers, die sich aus seinen Diplomen sowie aus seiner Berufserfahrung ergeben, mit denen zu vergleichen, die sich aus einem von einer belgischen Universität verliehenen Grad eines „Docteur en droit“ oder „Licencié en droit“ ergeben, und ist ihm gegebenenfalls eine nach Art. 14 der Richtlinie 2005/36 vorgesehene Ausgleichsmaßnahme aufzuerlegen?

    Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

    20

    Nach Stellung der Schlussanträge durch die Generalanwältin beantragte der Kläger des Ausgangsverfahrens mit einem am 17. August 2015 eingereichten Schriftsatz die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens. Er macht im Wesentlichen geltend, bestimmte Sprachfassungen des Vorabentscheidungsersuchens und der Schlussanträge der Generalanwältin enthielten Übersetzungsfehler. Außerdem bestehe die Gefahr eines Widerspruchs zwischen dem Urteil des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache und dem Urteil des Gerichts Brouillard/Gerichtshof (T‑420/13, EU:T:2015:633), falls er nicht geltend machen könne, dass in den Schlussanträgen die Frage der „Anerkennung der erworbenen Erfahrung“, auf die er sich in den beiden genannten Rechtssachen berufe, nicht eingehend geprüft worden sei.

    21

    Nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

    22

    Nach Auffassung des Gerichtshofs besteht im vorliegenden Fall kein Grund, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beschließen, da sich das Vorbringen von Herrn Brouillard insbesondere keinem der in Art. 83 der Verfahrensordnung genannten Fälle zuordnen lässt.

    23

    Der Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens ist daher zurückzuweisen.

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten und zur dritten Frage

    24

    Mit seiner ersten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 45 AEUV und 49 AEUV anwendbar sind, wenn jemand, der – wie im Ausgangsverfahren – in dem Mitgliedstaat wohnt und arbeitet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Diploms ist und sich hierauf bei seiner Anmeldung zu einem Auswahlverfahren zur Einstellung von Referenten bei der Cour de cassation des erstgenannten Mitgliedstaats beruft, und ob diese Situation unter Art. 45 Abs. 4 AEUV fällt.

    25

    Hierzu ist zunächst festzustellen, dass der die Niederlassungsfreiheit betreffende Art. 49 AEUV hier nicht anwendbar ist.

    26

    Zu Art. 45 AEUV ist als Erstes festzustellen, dass die Vorschriften des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit nach ständiger Rechtsprechung zwar nicht auf Tätigkeiten anwendbar sind, die keinerlei Berührungspunkte mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Unionsrecht abstellt, und die mit keinem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (vgl. Urteile López Brea und Hidalgo Palacios, C‑330/90 und C‑331/90, EU:C:1992:39, Rn. 7, sowie Uecker und Jacquet, C‑64/96 und C‑65/96, EU:C:1997:285, Rn. 16).

    27

    Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass die Freizügigkeit nicht voll verwirklicht wäre, wenn die Mitgliedstaaten die Anwendung der Vorschriften des AEU-Vertrags denjenigen ihrer Staatsangehörigen versagen dürften, die von den darin vorgesehenen Erleichterungen Gebrauch gemacht und dank dieser Erleichterungen berufliche Qualifikationen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen erworben haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Dasselbe gilt, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat eine seine Grundausbildung ergänzende akademische Qualifikation erworben hat, auf die er sich nach seiner Rückkehr in sein Herkunftsland berufen will (vgl. Urteil Kraus, C‑19/92, EU:C:1993:125, Rn. 16 und 17).

    28

    Im vorliegenden Fall beruft sich Herr Brouillard in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, auf ein in einem anderen Mitgliedstaat erworbenes Hochschuldiplom.

    29

    Folglich darf ihm die Anwendung der Vorschriften des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit nicht versagt werden. Dass das Diplom durch ein Fernstudium erlangt wurde, ist insoweit unerheblich.

    30

    Als Zweites ist festzustellen, dass Art. 45 AEUV nach seinem Abs. 4 auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung keine Anwendung findet.

    31

    Allerdings betrifft diese Ausnahme nur den Zugang Staatsangehöriger anderer Mitgliedstaaten zu bestimmten Tätigkeiten in der öffentlichen Verwaltung (vgl. Urteile Vougioukas, C‑443/93, EU:C:1995:394, Rn. 19, Grahame und Hollanders, C‑248/96, EU:C:1997:543, Rn. 32, Schöning-Kougebetopoulou, C‑15/96, EU:C:1998:3, Rn. 13, und Österreichischer Gewerkschaftsbund, C‑195/98, EU:C:2000:655, Rn. 36).

    32

    Art. 45 Abs. 4 AEUV trägt nämlich dem berechtigten Interesse der Mitgliedstaaten Rechnung, ihren eigenen Staatsangehörigen diejenigen Stellen vorzubehalten, die einen Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und der Wahrung allgemeiner Belange aufweisen (vgl. Urteile Kommission/Belgien, 149/79, EU:C:1980:297, Rn. 19, und Vougioukas, C‑443/93, EU:C:1995:394, Rn. 20).

    33

    Da Herr Brouillard eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung des Mitgliedstaats anstrebt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, ist Art. 45 Abs. 4 AEUV also unabhängig davon, ob das angestrebte Amt in seinen Anwendungsbereich fällt, auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar.

    34

    Daher ist auf die erste und die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er anwendbar ist, wenn jemand, der – wie im Ausgangsverfahren – in dem Mitgliedstaat wohnt und arbeitet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Diploms ist und sich hierauf bei seiner Anmeldung zu einem Auswahlverfahren zur Einstellung von Referenten bei der Cour de cassation des erstgenannten Mitgliedstaats beruft, und dass diese Situation nicht unter Art. 45 Abs. 4 AEUV fällt.

    Zur zweiten Frage

    35

    Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Amt eines Referenten bei der Cour de cassation ein „reglementierter Beruf“ im Sinne der Richtlinie 2005/36 ist.

    36

    Hierzu ist festzustellen, dass die Definition des Begriffs „reglementierter Beruf“ im Sinne der Richtlinie 2005/36 unter das Unionsrecht fällt (vgl. Urteile Rubino, C‑586/08, EU:C:2009:801, Rn. 23, und Peñarroja Fa, C‑372/09 und C‑373/09, EU:C:2011:156, Rn. 27).

    37

    Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2005/36 ist „reglementierter Beruf“ eine berufliche Tätigkeit oder eine Gruppe beruflicher Tätigkeiten, bei der die Aufnahme oder Ausübung oder eine der Arten der Ausübung direkt oder indirekt durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen gebunden ist.

    38

    Wie die Generalanwältin in den Nrn. 53 bis 55 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. b, c und e der Richtlinie 2005/36, dass unter den Begriff „bestimmte Berufsqualifikation“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie nicht jede durch einen allgemeinen Ausbildungsnachweis bescheinigte Qualifikation fällt, sondern nur eine solche, die speziell dazu dient, die Inhaber auf die Ausübung eines bestimmten Berufs vorzubereiten.

    39

    Im vorliegenden Fall dienen die Ausbildungsnachweise, die Art. 259 duodecies des Code judiciaire für den Zugang zum Amt eines Referenten bei der Cour de cassation verlangt, nicht speziell dazu, die Inhaber auf die Ausübung dieses Amtes vorzubereiten, sondern gewähren Zugang zu einer ganzen Bandbreite juristischer Berufe.

    40

    Mithin werden durch diese Ausbildungsnachweise keine bestimmten Berufsqualifikationen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2005/36 erworben, von denen der Zugang zum oder die Ausübung des Amtes eines Referenten bei der Cour de cassation abhängig wäre.

    41

    Außerdem ähneln die Vorschriften über dieses Amt eher Vorschriften über einen Dienstposten bei einem Gericht als Vorschriften über einen Beruf als solchen.

    42

    Folglich ist das Amt eines „Referenten bei der Cour de cassation kein „reglementierter Beruf“ im Sinne der Richtlinie 2005/36, so dass diese auf den Fall des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar ist.

    43

    Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Referenten bei der Cour de cassation aufgrund eines Auswahlverfahrens ernannt werden, dessen Prüfungslehrstoff unter Berücksichtigung der Erfordernisse des Dienstes bestimmt wird und dessen Gültigkeitsdauer sechs Jahre beträgt. Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass der erfolgreiche Abschluss eines Verfahrens, mit dem eine im Voraus festgelegte Anzahl von Personen auf der Grundlage einer vergleichenden Bewertung der Kandidaten statt durch die Anwendung absoluter Kriterien ausgewählt wird und mit dem ein Titel verliehen wird, dessen Gültigkeit zeitlich streng begrenzt ist, nicht als „Berufsqualifikation“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2005/36 angesehen werden kann (vgl. Urteil Rubino, C‑586/08, EU:C:2009:801, Rn. 32).

    44

    Es kommt auch nicht darauf an, dass die Ernennung der Referenten bei der Cour de cassation nach den Bestimmungen des Code judiciaire erst nach einem Praktikum von drei Jahren endgültig wird. Wie sich aus den Vorschriften des Code judiciaire ergibt und von der belgischen Regierung in der mündlichen Verhandlung erläutert wurde, ist dieses Praktikum nämlich mit einer Probezeit vergleichbar, nach deren Ablauf entschieden werden kann, keine endgültige Ernennung vorzunehmen. Ein solches Praktikum entspricht also nicht einer Ausbildungsphase, die für die Ausübung des Amtes eines Referenten bei der Cour de cassation erforderlich wäre.

    45

    Mithin ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2005/36 dahin auszulegen ist, dass das Amt eines Referenten bei der Cour de cassation kein „reglementierter Beruf“ im Sinne dieser Richtlinie ist.

    Zur vierten und zur fünften Frage

    46

    In Anbetracht der Antworten auf die Fragen 1 bis 3 sind die vierte und die fünfte Frage allein im Hinblick auf Art. 45 AEUV zu prüfen.

    47

    Mit seiner vierten und seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass der Prüfungsausschuss eines Auswahlverfahrens zur Einstellung von Referenten bei einem Gericht eines Mitgliedstaats bei der Prüfung einer Anmeldung eines Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats zu diesem Auswahlverfahren die Teilnahme daran vom Besitz der nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats erforderlichen Diplome oder von der Anerkennung der akademischen Gleichwertigkeit eines von der Universität eines anderen Mitgliedstaats erteilten Masterdiploms abhängig macht, ohne dabei sämtliche Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise sowie die einschlägige Berufserfahrung des Betroffenen in der Weise zu berücksichtigen, dass er die dadurch bescheinigten Berufsqualifikationen mit den durch die genannten Rechtsvorschriften vorgeschriebenen vergleicht.

    48

    Hierzu ist zu bemerken, dass die Mitgliedstaaten, solange es an einer Harmonisierung der Voraussetzungen für den Zugang zu einem Beruf fehlt, festlegen dürfen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten zu dessen Ausübung notwendig sind, und die Vorlage eines Diploms verlangen dürfen, mit dem diese Kenntnisse und Fähigkeiten bescheinigt werden (vgl. Urteile Vlassopoulou, C‑340/89, EU:C:1991:193, Rn. 9, und Peśla, C‑345/08, EU:C:2009:771, Rn. 34).

    49

    Da die Bedingungen für den Zugang zum Amt eines Referenten bei einem Gericht eines Mitgliedstaats bisher nicht auf Unionsebene harmonisiert worden sind, bleiben die Mitgliedstaaten befugt, diese Bedingungen festzulegen.

    50

    Im vorliegenden Fall steht das Unionsrecht folglich dem nicht entgegen, dass die belgischen Rechtsvorschriften den Zugang zum Amt eines Referenten bei der Cour de cassation vom Besitz der für notwendig erachteten Kenntnisse und Fähigkeiten abhängig machen.

    51

    Die Mitgliedstaaten müssen ihre Befugnisse in diesem Bereich jedoch unter Beachtung der durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten ausüben (vgl. Urteile Kommission/Frankreich, C‑496/01, EU:C:2004:137, Rn. 55, Colegio de Ingenieros de Caminos, Canales y Puertos, C‑330/03, EU:C:2006:45, Rn. 29, und Nasiopoulos, C‑575/11, EU:C:2013:430, Rn. 20).

    52

    Insbesondere dürfen die hierzu ergangenen nationalen Rechtsvorschriften keine ungerechtfertigte Behinderung der tatsächlichen Ausübung der durch Art. 45 AEUV garantierten Grundfreiheit darstellen (vgl. Urteile Kraus, C‑19/92, EU:C:1993:125, Rn. 28, und Peśla, C‑345/08, EU:C:2009:771, Rn. 35).

    53

    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können sich nationale Qualifikationsvoraussetzungen, selbst wenn sie ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit angewandt werden, dahin auswirken, dass sie die Ausübung dieser Grundfreiheiten beeinträchtigen, wenn die fraglichen nationalen Vorschriften die von dem Betroffenen in einem anderen Mitgliedstaat bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unberücksichtigt lassen (vgl. Urteile Vlassopoulou, C‑340/89, EU:C:1991:193, Rn. 15, Morgenbesser, C‑313/01, EU:C:2003:612, Rn. 62, und Peśla, C‑345/08, EU:C:2009:771, Rn. 36).

    54

    Dabei müssen die Behörden eines Mitgliedstaats, die mit einem Antrag eines Unionsbürgers auf Zulassung zu einem Beruf befasst sind, dessen Aufnahme nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation oder von Zeiten praktischer Erfahrung abhängt, sämtliche Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise sowie die einschlägige Erfahrung des Betroffenen in der Weise berücksichtigen, dass sie die durch diese Nachweise und diese Erfahrung belegten Fachkenntnisse mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleichen (vgl. Urteile Vlassopoulou, C‑340/89, EU:C:1991:193, Rn. 16, Fernández de Bobadilla, C‑234/97, EU:C:1999:367, Rn. 31, Dreessen, C‑31/00, EU:C:2002:35, Rn. 24, und Morgenbesser, C‑313/01, EU:C:2003:612, Rn. 57 und 58).

    55

    Dieses Prüfungsverfahren muss es den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen, objektiv festzustellen, ob ein ausländisches Diplom seinem Inhaber die gleichen Kenntnisse und Fähigkeiten wie das innerstaatliche Diplom oder diesen zumindest gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten bescheinigt. Diese Beurteilung der Gleichwertigkeit eines ausländischen Diploms muss ausschließlich danach erfolgen, welches Maß an Kenntnissen und Fähigkeiten dieses Diplom unter Berücksichtigung von Art und Dauer des Studiums und einer entsprechenden praktischen Ausbildung bei seinem Besitzer vermuten lässt (vgl. Urteile Vlassopoulou, C‑340/89, EU:C:1991:193, Rn. 17, Morgenbesser, C‑313/01, EU:C:2003:612, Rn. 68, und Peśla, C‑345/08, EU:C:2009:771, Rn. 39).

    56

    Im Rahmen dieser Prüfung kann ein Mitgliedstaat jedoch objektiven Unterschieden Rechnung tragen, die sowohl hinsichtlich des im Herkunftsmitgliedstaat für den fraglichen Beruf bestehenden rechtlichen Rahmens als auch hinsichtlich des Tätigkeitsbereichs dieses Berufs vorhanden sind (vgl. Urteile Vlassopoulou, C‑340/89, EU:C:1991:193, Rn. 18, Morgenbesser, C‑313/01, EU:C:2003:612, Rn. 69, und Peśla, C‑345/08, EU:C:2009:771, Rn. 44).

    57

    Führt diese vergleichende Prüfung zu der Feststellung, dass die durch das ausländische Diplom bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten den nach den nationalen Rechtsvorschriften verlangten entsprechen, so hat der Mitgliedstaat anzuerkennen, dass dieses Diplom die in diesen Vorschriften aufgestellten Voraussetzungen erfüllt. Ergibt der Vergleich hingegen, dass diese Kenntnisse und Fähigkeiten einander nur teilweise entsprechen, so kann der Aufnahmemitgliedstaat von dem Betroffenen den Nachweis, dass er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, verlangen (vgl. Urteile Vlassopoulou, C‑340/89, EU:C:1991:193, Rn. 19, Fernández de Bobadilla, C‑234/97, EU:C:1999:367, Rn. 32, Morgenbesser, C‑313/01, EU:C:2003:612, Rn. 70, und Peśla, C‑345/08, EU:C:2009:771, Rn. 40).

    58

    Insoweit müssen die zuständigen nationalen Behörden beurteilen, ob die im Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen eines Studiengangs oder praktischer Erfahrung erworbenen Kenntnisse für den Nachweis des Erwerbs der fehlenden Kenntnisse ausreichen (vgl. Urteile Vlassopoulou, C‑340/89, EU:C:1991:193, Rn. 20, Fernández de Bobadilla, C‑234/97, EU:C:1999:367, Rn. 33, Morgenbesser, C‑313/01, EU:C:2003:612, Rn. 71, und Peśla, C‑345/08, EU:C:2009:771, Rn. 41).

    59

    Da jede praktische Erfahrung in der Ausübung verwandter Tätigkeiten die Kenntnisse eines Antragstellers erweitern kann, muss die zuständige Behörde jede praktische Erfahrung berücksichtigen, die für die Ausübung des Berufs, zu dem der Zugang beantragt wird, nützlich ist. Den genauen Wert, der dieser Erfahrung beizumessen ist, hat die zuständige Behörde in Anbetracht der spezifischen wahrgenommenen Aufgaben, der in Wahrnehmung dieser Aufgaben erworbenen und angewandten Kenntnisse sowie der übertragenen Verantwortung und des Grades der dem Betroffenen gewährten Unabhängigkeit zu bestimmen (siehe Urteil Vandorou u. a., C‑422/09, C‑425/09 und C‑426/09, EU:C:2010:732, Rn. 69).

    60

    Mit der in den Rn. 53 bis 59 des vorliegenden Urteils dargestellten Rechtsprechung ist vereinbar, dass sich eine Einstellungsbehörde wie der Prüfungsausschuss bei der Prüfung, ob der betreffende ausländische Befähigungsnachweis mit dem erforderlichen nationalen gleichwertig ist, auf eine von einer zuständigen Behörde wie der Commission d’équivalence, section droit et criminologie, de la Communauté française de Belgique erlassene Entscheidung stützt.

    61

    Im Ausgangsverfahren hat der Prüfungsausschuss, wie aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, die Anmeldung von Herrn Brouillard zum Auswahlverfahren für die Einstellung von Referenten bei der Cour de cassation aber zurückgewiesen, noch bevor die genannte Commission d‘équivalence über den Antrag des Betroffenen, seinen französischen Master als mit dem akademischen Grad eines Masters im belgischen Recht gleichwertig anzuerkennen, entschieden hatte.

    62

    Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ist ferner ersichtlich, dass Herr Brouillard keine vollständige juristische Ausbildung absolviert hat, wie sie mit einem bei einer belgischen Universität erworbenen „Diplôme de docteur en droit“, „Diplôme de licencié en droit“ oder „Diplôme de master en droit“ abgeschlossen wird.

    63

    Wie in der mündlichen Verhandlung bestätigt worden ist, wird ferner im Rahmen des französischen Masters, auf den sich Herr Brouillard beruft, kein belgisches Recht unterrichtet und ist eine Ausbildung im Verwaltungs- und Sozialrecht nicht Gegenstand dieses Abschlusses, während nach Auffassung der genannten Commission d’équivalence Studienleistungen in diesen Fächern in der Communauté française de Belgique für den Abschluss eines rechtswissenschaftlichen Studiums des zweiten Studienabschnitts obligatorisch sind.

    64

    In der mündlichen Verhandlung wurde aber auch darauf hingewiesen, dass im Rahmen des französischen Masters französisches Zivilrecht, einschließlich Schuld- und Vertragsrecht unterrichtet wird. Es konnte daher nicht ausgeschlossen werden, dass die mit dem französischen Master bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten bei der Beurteilung, ob die für die Ausübung des Amtes eines Referenten bei der Cour de cassation erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten vorliegen, von gewisser Bedeutung sind.

    65

    Im Übrigen hat sich Herr Brouillard auf seine Berufserfahrung, insbesondere als Attaché der Dienststelle Dokumentation und Textkonkordanz der Cour de cassation, berufen. Diese Berufserfahrung konnte im Rahmen der Beurteilung der für die Ausübung des Amts eines Referenten bei der Cour de cassation erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten aber von Bedeutung sein.

    66

    Der Prüfungsausschuss hatte also zu prüfen, ob der französische Master und die Berufserfahrung von Herrn Brouillard belegten, dass dieser die genannten erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat. Die Beurteilung der Frage, ob der Prüfungsausschuss dieser Verpflichtung in Anbetracht aller maßgebenden Umstände des Ausgangsverfahrens tatsächlich nachgekommen ist und, gegebenenfalls, ob der Betroffene, den Besitz der erforderlichen Qualifikationen hinreichend nachgewiesen hat, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

    67

    Somit ist auf die vierte und die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsrechtsstreits dem entgegensteht, dass der Prüfungsausschuss eines Auswahlverfahrens zur Einstellung von Referenten bei einem Gericht eines Mitgliedstaats bei der Prüfung einer Anmeldung eines Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats zu diesem Auswahlverfahren die Teilnahme daran vom Besitz nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats erforderlichen Diplome oder von der Anerkennung der akademischen Gleichwertigkeit eines von der Universität eines anderen Mitgliedstaats erteilten Masterdiploms abhängig macht, ohne dabei sämtliche Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise sowie die einschlägige Berufserfahrung des Betroffenen in der Weise zu berücksichtigen, dass er die dadurch bescheinigten Berufsqualifikationen mit den durch die genannten Rechtsvorschriften vorgeschriebenen vergleicht.

    Kosten

    68

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er anwendbar ist, wenn jemand, der – wie im Ausgangsverfahren – in dem Mitgliedstaat wohnt und arbeitet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Diploms ist und sich hierauf bei seiner Anmeldung zu einem Auswahlverfahren zur Einstellung von Referenten bei der Cour de cassation des erstgenannten Mitgliedstaats beruft, und dass diese Situation nicht unter Art. 45 Abs. 4 AEUV fällt.

     

    2.

    Die Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen ist dahin auszulegen, dass das Amt eines Referenten bei der Cour de cassation kein „reglementierter Beruf“ im Sinne dieser Richtlinie 2005/36 ist.

     

    3.

    Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsrechtsstreits dem entgegensteht, dass der Prüfungsausschuss eines Auswahlverfahrens zur Einstellung von Referenten bei einem Gericht eines Mitgliedstaats bei der Prüfung einer Anmeldung eines Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats zu diesem Auswahlverfahren die Teilnahme daran vom Besitz der nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats erforderlichen Diplome oder von der Anerkennung der akademischen Gleichwertigkeit eines von der Universität eines anderen Mitgliedstaats erteilten Masterdiploms abhängig macht, ohne dabei sämtliche Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise sowie die einschlägige Berufserfahrung des Betroffenen in der Weise zu berücksichtigen, dass er die dadurch bescheinigten Berufsqualifikationen mit den durch die genannten Rechtsvorschriften vorgeschriebenen vergleicht.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

    ( i ) Randnummer 67 sowie der Tenor der vorliegenden Sprachfassung sind gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.

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