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Document 62014CJ0222

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 16. Juli 2015.
Konstantinos Maïstrellis gegen Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton.
Vorabentscheidungsersuchen des Symvoulio tis Epikrateias.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 96/34/EG – Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub – Paragraf 2 Nr. 1 – Individuelles Recht auf Elternurlaub im Fall der Geburt eines Kindes – Nationale Regelung, die einem Beamten, dessen Ehegattin nicht erwerbstätig ist, das Recht auf Elternurlaub vorenthält – Richtlinie 2006/54/EG – Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen – Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14 Abs. 1 Buchst. c – Arbeitsbedingungen – Unmittelbare Diskriminierung.
Rechtssache C-222/14.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2015:473

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

16. Juli 2015 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Sozialpolitik — Richtlinie 96/34/EG — Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub — Paragraf 2 Nr. 1 — Individuelles Recht auf Elternurlaub im Fall der Geburt eines Kindes — Nationale Regelung, die einem Beamten, dessen Ehegattin nicht erwerbstätig ist, das Recht auf Elternurlaub vorenthält — Richtlinie 2006/54/EG — Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen — Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14 Abs. 1 Buchst. c — Arbeitsbedingungen — Unmittelbare Diskriminierung“

In der Rechtssache C‑222/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Symvoulio tis Epikrateias (Griechenland) mit Entscheidung vom 20. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Mai 2014, in dem Verfahren

Konstantinos Maïstrellis

gegen

Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský und M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richterin A. Prechal,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Maïstrellis, im Beistand von K. Daktylidi, dikigoros,

der griechischen Regierung, vertreten durch V. Karageorgos, I. Bakopoulos und S. Lekkou als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Patakia und D. Roussanov als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 16. April 2015

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub (ABl. L 145, S. 4) in der durch die Richtlinie 97/75/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 (ABl. 1998, L 10, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 96/34) und der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. L 204, S. 23).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Maïstrellis und dem Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton (Minister für Justiz, Transparenz und Menschenrechte) wegen dessen Weigerung, dem Betroffenen Elternurlaub zu gewähren, weil seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 96/34

3

Mit der Richtlinie 96/34, die nach Art. 4 der Richtlinie 2010/18/EU des Rates vom 8. März 2010 zur Durchführung der von BUSINESSEUROPE, UEAPME, CEEP und EGB geschlossenen überarbeiteten Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub und zur Aufhebung der Richtlinie 96/34 (ABl. L 68, S. 13) mit Wirkung vom 8. März 2012 aufgehoben wurde, sollte nach ihrem Art. 1 die am 14. Dezember 1995 zwischen den europäischen Sozialpartnern – nämlich der Vereinigung der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE), dem Europäischen Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) und dem Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) – geschlossene Rahmenvereinbarung über Elternurlaub im Anhang dieser Richtlinie (im Folgenden: Rahmenvereinbarung) durchgeführt werden.

4

In Abs. 1 der Präambel der Rahmenvereinbarung hieß es:

„Die … Rahmenvereinbarung stellt ein Engagement von UNICE, CEEP und EGB im Hinblick auf Mindestvorschriften für den Elternurlaub … dar, weil sie dies als ein wichtiges Mittel ansehen, Berufs- und Familienleben zu vereinbaren und Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu fördern.“

5

Die Nrn. 4, 7 und 8 der Allgemeinen Erwägungen der Rahmenvereinbarung lauteten:

„4.

Die [auf der Tagung des Europäischen Rates in Straßburg am 9. Dezember 1989 von den Staats- und Regierungschefs von elf Mitgliedstaaten angenommene] Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer fordert unter Nummer 16 über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen die Entwicklung von Maßnahmen, die es Männern und Frauen ermöglichen, ihren beruflichen und familiären Verpflichtungen gleichermaßen nachzukommen.

7.

Die Familienpolitik muss im Rahmen der demografischen Entwicklungen, der Auswirkungen der Überalterung, der Annäherung zwischen den Generationen und der Förderung einer Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben gesehen werden.

8.

Männer sollten – zum Beispiel durch Sensibilisierungsprogramme – ermutigt werden, in gleichem Maße familiäre Verantwortung zu übernehmen und das Recht auf Elternurlaub in Anspruch zu nehmen.“

6

Paragraf 1 der Rahmenvereinbarung sah vor:

„1.

In dieser Vereinbarung sind Mindestanforderungen niedergelegt, die darauf abzielen, die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben erwerbstätiger Eltern zu erleichtern.

2.

Diese Vereinbarung gilt für alle Arbeitnehmer, Männer und Frauen, die nach den Rechtsvorschriften, Tarifverträgen oder Gepflogenheiten in dem jeweiligen Mitgliedstaat über einen Arbeitsvertrag verfügen oder in einem Arbeitsverhältnis stehen.“

7

Paragraf 2 der Rahmenvereinbarung bestimmte:

„1.

Nach dieser Vereinbarung haben erwerbstätige Männer und Frauen nach Maßgabe des Paragrafen 2 Nummer 2 ein individuelles Recht auf Elternurlaub im Fall der Geburt oder Adoption eines Kindes, damit sie sich bis zu einem bestimmten Alter des Kindes – das Alter kann bis zu acht Jahren gehen – für die Dauer von mindestens drei Monaten um dieses Kind kümmern können. Die genauen Bestimmungen sind von den Mitgliedstaaten und/oder Sozialpartnern festzulegen.

2.

Um Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu fördern, sind die Unterzeichnerparteien der Meinung, dass das in Paragraf 2 Nummer 1 vorgesehene Recht auf Elternurlaub prinzipiell nicht übertragbar sein soll.

3.

Die Voraussetzungen und die Modalitäten für die Inanspruchnahme des Elternurlaubs werden in den Mitgliedstaaten gesetzlich und/oder tarifvertraglich unter Einhaltung der Mindestanforderungen dieser Vereinbarung geregelt. Die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner können insbesondere

a)

entscheiden, ob der Elternurlaub auf Vollzeit- oder Teilzeitbasis, in Teilen oder in Form von ‚Kreditstunden‘ gewährt wird;

b)

das Recht auf Elternurlaub von einer bestimmten Beschäftigungsdauer und/oder Betriebszugehörigkeit (höchstens ein Jahr) abhängig machen;

c)

die Voraussetzungen und die Modalitäten für die Inanspruchnahme des Elternurlaubs an die besonderen Umstände der Adoption anpassen;

d)

Fristen vorschreiben, innerhalb derer der Arbeitnehmer, der sein Recht auf Elternurlaub ausübt, den Arbeitgeber unterrichten muss; dabei hat er Beginn und das Ende des Elternurlaubs anzugeben;

e)

die Bedingungen festlegen, unter denen der Arbeitgeber – nach Konsultation gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, Tarifverträgen und Gepflogenheiten – aus berechtigten betrieblichen Gründen die Gewährung des Elternurlaubs verschieben darf (beispielsweise bei saisonabhängiger Arbeit, wenn innerhalb der festgelegten Frist keine Vertretung gefunden werden kann, wenn ein erheblicher Anteil der Arbeitskräfte gleichzeitig Elternurlaub beantragt, wenn eine bestimmte Funktion von strategischer Bedeutung ist). Sollten sich aus der Anwendung dieser Klausel Schwierigkeiten ergeben, so sind sie gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, Tarifverträgen und Gepflogenheiten zu lösen;

f)

in Ergänzung zu Buchstabe e) die Genehmigung erteilen, dass besondere Vorkehrungen getroffen werden, um den Bedürfnissen der kleinen Unternehmen im Blick auf Arbeitsweise und Organisation gerecht zu werden.“

Richtlinie 2006/54

8

Die Erwägungsgründe 2, 11 und 22 der Richtlinie 2006/54 lauten:

„(2)

Die Gleichstellung von Männern und Frauen stellt nach Artikel 2 und Artikel 3 Absatz 2 [EG] sowie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein grundlegendes Prinzip dar. In diesen Vertragsbestimmungen wird die Gleichstellung von Männern und Frauen als Aufgabe und Ziel der Gemeinschaft bezeichnet, und es wird eine positive Verpflichtung begründet, sie bei allen Tätigkeiten der Gemeinschaft zu fördern.

(11)

Die Mitgliedstaaten sollten weiterhin gemeinsam mit den Sozialpartnern dem Problem des anhaltenden geschlechtsspezifischen Lohngefälles und der nach wie vor ausgeprägten Geschlechtertrennung auf dem Arbeitsmarkt beispielsweise durch flexible Arbeitszeitregelungen entgegenwirken, die es sowohl Männern als auch Frauen ermöglichen, Familie und Beruf besser miteinander in Einklang zu bringen. Dies könnte auch angemessene Regelungen für den Elternurlaub, die von beiden Elternteilen in Anspruch genommen werden könnten, … einschließen.

(22)

In Übereinstimmung mit Artikel 141 Absatz 4 [EG] hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben nicht daran, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen. Angesichts der derzeitigen Lage und in Kenntnis der Erklärung Nr. 28 zum Vertrag von Amsterdam sollten die Mitgliedstaaten in erster Linie darauf hinwirken, die Lage der Frauen im Arbeitsleben zu verbessern.“

9

Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Ziel der vorliegenden Richtlinie ist es, die Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sicherzustellen.

Zu diesem Zweck enthält sie Bestimmungen zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in Bezug auf

b)

Arbeitsbedingungen einschließlich des Entgelts,

…“

10

Art. 2 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie enthält folgende Begriffsbestimmung:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)

‚unmittelbare Diskriminierung‘ eine Situation, in der eine Person aufgrund ihres Geschlechts eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde“.

11

Art. 3 („Positive Maßnahmen“) der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können im Hinblick auf die Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben Maßnahmen im Sinne von Artikel 141 Absatz 4 [EG] beibehalten oder beschließen.“

12

In Art. 14 („Diskriminierungsverbot“) Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 heißt es:

„Im öffentlichen und privaten Sektor einschließlich öffentlicher Stellen darf es in Bezug auf folgende Punkte keinerlei unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geben:

c)

die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen sowie das Arbeitsentgelt nach Maßgabe von Artikel 141 [EG]“.

13

Art. 28 („Verhältnis zu gemeinschaftlichen und einzelstaatlichen Vorschriften“) Abs. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie berührt nicht die Bestimmungen der Richtlinien 96/34… und 92/85/EWG [des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (ABl. L 348, S. 1)].“

Griechisches Recht

14

Art. 44 des Gesetzes über die Organisation der Gerichte und die Stellung der Richter in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Stellung der Richter) sieht in seinen Abs. 20 und 21 vor:

„20.   Eine schwangere Richterin hat Anspruch auf Urlaub vor und nach der Entbindung gemäß den für die Beamten der Zivilverwaltung des Staates geltenden Bestimmungen.

21.   Einer Richterin kann auf Antrag durch Bescheid des Ministers für Justiz, Transparenz und Menschenrechte neun Monate bezahlter Urlaub zur Kinderbetreuung gewährt werden …“

15

Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:

„… Ist die Ehegattin des Beamten nicht erwerbstätig oder übt sie keinerlei Berufstätigkeit aus, hat der Ehegatte keinen Anspruch auf die Erleichterungen des Abs. 2 [zu denen die Gewährung von bezahltem Elternurlaub zur Betreuung eines Kindes gehört], es sei denn, die Ehegattin kann ausweislich einer Bescheinigung des für den Beamten zuständigen gesundheitsrechtlichen Ausschusses (zweite Instanz) wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

16

Am 7. Dezember 2010 beantragte Herr Maïstrellis, Richter in Griechenland, beim Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton bezahlten Urlaub von neun Monaten zur Betreuung seines am 24. Oktober 2010 geborenen Kindes. Als Richter unterliegt Herr Maïstrellis den Sondervorschriften dieses Berufsstands, nämlich dem Gesetz über die Stellung der Richter.

17

Mit Bescheid vom 18. Januar 2011 lehnte der Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton den Antrag von Herrn Maïstrellis mit der Begründung ab, dass der beantragte Urlaub nach Art. 44 Abs. 21 dieses Gesetzes nur weiblichen Richtern gewährt werde.

18

Herr Maïstrellis erhob gegen diesen Bescheid Klage beim Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat). Mit Urteil vom 4. Juli 2011 gab dieser der Klage statt und entschied, dass Art. 44 Abs. 21 des Gesetzes über die Stellung der Richter, ausgelegt im Licht der Richtlinie 96/34, nicht nur auf eine Richterin, die Mutter ist, sondern auch auf einen Richter, der Vater ist, anzuwenden sei. Die Sache wurde an die Verwaltung zurückverwiesen.

19

Mit Bescheid vom 26. September 2011 lehnte der Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton den Antrag von Herrn Maïstrellis erneut ab, und zwar mit der Begründung, dass dieser nach Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz keinen Anspruch auf den Urlaub gemäß Art. 44 Abs. 21 des Gesetzes über die Stellung der Richter habe. Denn ein Richter, der Vater sei, habe zwar grundsätzlich Anspruch auf Elternurlaub zur Betreuung seines Kindes, er stehe ihm aber nicht zu, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig sei oder keine Berufstätigkeit ausübe. Im vorliegenden Fall sei die Ehegattin von Herrn Maïstrellis aber arbeitslos, wie er selbst angegeben habe.

20

Am 10. Oktober 2011 erhob Herr Maïstrellis gegen diesen neuen Bescheid Klage beim Symvoulio tis Epikrateias. Dieser führt aus, dass nach seiner Rechtsprechung für die Bereiche, die für Richter nicht gesondert geregelt seien, die Bestimmungen des Beamtengesetzes, u. a. dessen Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3, ergänzend herangezogen würden.

21

In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, ob diese Bestimmung des Beamtengesetzes mit den Richtlinien 96/34 und 2006/54 im Einklang steht.

22

Unter diesen Umständen hat der Symvoulio tis Epikrateias beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinien 96/34 und 2006/54 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die – wie die streitige Bestimmung des Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz – vorsieht, dass der Beamte keinen Anspruch auf Elternurlaub hat, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt, es sei denn, sie kann wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen?

Zur Vorlagefrage

23

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen der Richtlinien 96/34 und 2006/54 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Beamten das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt, es sei denn, sie kann wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen.

Vorbemerkungen

24

Im vorliegenden Fall unterliegt Herr Maïstrellis als Richter grundsätzlich dem Gesetz über die Stellung der Richter. Das vorlegende Gericht führt jedoch aus, dass nach seiner Rechtsprechung die Bestimmungen des Beamtengesetzes, u. a. dessen in der Vorlagefrage ausdrücklich genannter Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3, ergänzend herangezogen würden, wenn die Regelung für Richter keine Sondervorschriften vorsehe.

25

Herr Maïstrellis trägt dazu vor, dass sich der Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton auf Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz berufen habe, ohne dass die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung auf Richter erfüllt seien.

26

Es ist aber darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (Urteile Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 27, sowie Stanley International Betting und Stanleybet Malta, C‑463/13, EU:C:2015:25, Rn. 26).

27

Insbesondere ist es nicht Sache des Gerichtshofs, über die Auslegung nationaler Vorschriften zu befinden, da diese Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte fällt. Er hat demnach, wenn ihm ein nationales Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegt, von der Auslegung des nationalen Rechts auszugehen, die ihm dieses Gericht vorgetragen hat (Urteil ČEZ, C‑115/08, EU:C:2009:660, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28

Unter diesen Umständen ist auf die so gestellte Vorlagefrage des Symvoulio tis Epikrateias zu antworten.

Zur Richtlinie 96/34

29

Es ist zunächst festzustellen, dass die Richtlinie 96/34 und die Rahmenvereinbarung auf Beamte anwendbar sind (vgl. Urteil Chatzi, C‑149/10, EU:C:2010:534, Rn. 27 bis 30).

30

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung von unionsrechtlichen Vorschriften nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden, und ihr Zusammenhang zu berücksichtigen (vgl. Urteile Adidas, C‑223/98, EU:C:1999:500, Rn. 23, SGAE, C‑306/05, EU:C:2006:764, Rn. 34, und Hoštická u. a., C‑561/13, EU:C:2014:2287, Rn. 29).

31

Nach Paragraf 2 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung haben erwerbstätige Männer und Frauen ein „individuelles Recht“ auf Elternurlaub im Fall der Geburt oder Adoption eines Kindes, damit sie sich für die Dauer von mindestens drei Monaten um dieses Kind kümmern können.

32

Außerdem bestimmt Paragraf 2 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung dass dieses Recht auf Elternurlaub – um Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu fördern – „prinzipiell nicht übertragbar sein soll“.

33

Aus diesen Bestimmungen folgt, dass jeder Elternteil des Kindes ein individuelles Recht auf Elternurlaub von mindestens drei Monaten hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Luxemburg, C‑519/03, EU:C:2005:234, Rn. 33).

34

Dieses Recht auf Elternurlaub für jeden Elternteil eines Kindes stellt eine der in der Rahmenvereinbarung aufgestellten Mindestanforderungen im Sinne von Paragraf 1 Nr. 1 dieser Vereinbarung dar.

35

So heißt es in Paragraf 2 Nr. 3 der Rahmenvereinbarung, dass die Voraussetzungen und die Modalitäten für die Inanspruchnahme des Elternurlaubs in den Mitgliedstaaten gesetzlich und/oder tarifvertraglich unter Einhaltung der Mindestanforderungen dieser Vereinbarung geregelt werden. In dieser Bestimmung wird auch angegeben, welche Voraussetzungen und Modalitäten für die Inanspruchnahme des Elternurlaubs die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner insbesondere vorsehen können.

36

Wie die Generalanwältin in Nr. 42 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ermöglichen diese Voraussetzungen und Modalitäten keineswegs, einem Elternteil – namentlich wegen der Erwerbssituation seines Ehegatten – das Recht auf Elternurlaub vorzuenthalten.

37

Für diese wörtliche Auslegung der Paragrafen 1 und 2 der Rahmenvereinbarung sprechen auch die Ziele und der Regelungszusammenhang dieser Rahmenvereinbarung.

38

Die Rahmenvereinbarung zielt nämlich nach ihrem Paragraf 1 Nr. 1 darauf ab, die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben erwerbstätiger Eltern zu erleichtern, ein Ziel, das, wie Nr. 4 der Allgemeinen Erwägungen der Rahmenvereinbarung zum Ausdruck bringt, in Nr. 16 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer festgelegt ist (Urteil Chatzi, C‑149/10, EU:C:2010:534, Rn. 36).

39

Mit demselben Ziel ist der Anspruch auf Elternurlaub in Art. 33 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unter den sozialen Grundrechten aufgenommen worden, die in Titel IV der Grundrechtecharta unter der Überschrift „Solidarität“ zusammengefasst werden (Urteil Chatzi, C‑149/10, EU:C:2010:534, Rn. 37). Nach dieser Bestimmung hat jeder Mensch u. a. Anspruch auf einen Elternurlaub nach der Geburt oder Adoption eines Kindes, um Familien- und Berufsleben miteinander in Einklang bringen zu können.

40

In diesem Sinne heißt es in den Nrn. 7 und 8 der Allgemeinen Erwägungen der Rahmenvereinbarung, dass die Familienpolitik im Rahmen der „Förderung einer Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben“ gesehen werden müsse und dass Männer ermutigt werden sollten, „in gleichem Maße familiäre Verantwortung“ zu übernehmen, insbesondere indem sie Elternurlaub nehmen.

41

Folglich geht sowohl aus dem Wortlaut der Rahmenvereinbarung als auch ihren Zielen und ihrem Regelungszusammenhang hervor, dass jeder Elternteil über das Recht auf Elternurlaub verfügt, was bedeutet, dass die Mitgliedstaaten keine Regelung erlassen dürfen, nach der einem Beamten, der Vater ist, das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt.

Zur Richtlinie 2006/54

42

Zunächst ist zum einen festzustellen, dass – worauf im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/54 hingewiesen wird – der durch diese Richtlinie verwirklichte Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen allgemeine Geltung hat. Zum anderen ist diese Richtlinie, wie sich u. a. aus ihrem Art. 14 Abs. 1 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, auf Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen und im privaten Sektor anwendbar (vgl. in diesem Sinne Urteil Napoli, C‑595/12, EU:C:2014:128, Rn. 39).

43

Nach dem elften Erwägungsgrund dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten u. a. „angemessene Regelungen für den Elternurlaub, die von beiden Elternteilen in Anspruch genommen werden könnten“, erlassen, um es sowohl Männern als auch Frauen zu ermöglichen, Familie und Beruf besser miteinander in Einklang zu bringen.

44

Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie liegt eine „unmittelbare Diskriminierung“ vor, wenn eine Person aufgrund ihres Geschlechts in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.

45

Die Gewährung von Elternurlaub, die es Personen, die gerade Eltern geworden sind, ermöglicht, ihre Berufstätigkeit zu unterbrechen, um sich ihren familiären Verpflichtungen zu widmen, hat Auswirkungen auf die Ausübung der Berufstätigkeit der betreffenden Beamten. Demnach fallen die Bedingungen für die Erteilung von Elternurlaub unter die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/54.

46

Im vorliegenden Fall betrifft der Elternurlaub im Sinne von Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz Beamte in ihrer Eigenschaft als Eltern.

47

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Lage eines Arbeitnehmers in seiner Eigenschaft als Elternteil und die einer Arbeitnehmerin in derselben Eigenschaft miteinander vergleichbar sind, soweit es um die Erziehung der Kinder geht (vgl. Urteile Kommission/Frankreich, 312/86, EU:C:1988:485, Rn. 14, Griesmar, C‑366/99, EU:C:2001:648, Rn. 56, und Kommission/Griechenland, C‑559/07, EU:C:2009:198, Rn. 69).

48

Nach Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz wird zwar einem Beamten, der Vater ist, das Recht auf Elternurlaub zur Betreuung seines Kindes vorenthalten, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt, es sei denn, sie kann wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen, doch sieht diese Bestimmung umgekehrt nicht vor, dass eine Beamtin, die Mutter ist, ihren Anspruch wegen der beruflichen Situation ihres Ehegatten verliert. Außerdem wird im Vorlagebeschluss auf keine andere Bestimmung des nationalen Rechts verwiesen, die eine solche Bedingung für Beamtinnen, die Mütter sind, vorsehen würde.

49

Daraus folgt, dass nach nationalem Recht Mütter, die Beamtinnen sind, stets Anspruch auf Elternurlaub haben, während Väter, die die gleiche Stellung haben, diesen nur dann in Anspruch nehmen können, wenn die Mutter ihres Kindes erwerbstätig ist oder eine Berufstätigkeit ausübt. Die Eigenschaft als Elternteil allein reicht also für Männer, die Beamte sind, nicht aus, um diesen Urlaub in Anspruch nehmen zu können, wohl aber für Frauen, die die gleiche Stellung haben (vgl. entsprechend Urteil Roca Álvarez, C‑104/09, EU:C:2010:561, Rn. 23).

50

Im Hinblick auf Art. 3 der Richtlinie 2006/54 führt eine Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren streitige, die weit davon entfernt ist, die volle Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben zu gewährleisten, im Übrigen eher zu einer Verfestigung der herkömmlichen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, indem den Männern weiterhin eine im Hinblick auf die Wahrnehmung ihrer Elternschaft subsidiäre Rolle gegenüber den Frauen zugewiesen wird (vgl. in diesem Sinne Urteile Lommers, C‑476/99, EU:C:2002:183, Rn. 41, und Roca Álvarez, C‑104/09, EU:C:2010:561, Rn. 36).

51

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2006/54 nach ihrem Art. 28 Abs. 2 die Bestimmungen der Richtlinien 96/34 und 92/85 nicht berührt. Eine Bestimmung wie Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz kann aber nicht unter den Schutz der Richtlinie 92/85 fallen. Wie die Generalanwältin in Nr. 50 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, stellt es nämlich keineswegs eine Maßnahme zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz dar, wenn dem Vater des Kindes wegen der beruflichen Situation seiner Ehegattin das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird.

52

Unter diesen Umständen stellt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestimmung in Bezug auf die Gewährung von Elternurlaub eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 in Verbindung mit deren Art. 2 Abs. 1 Buchst. a von Beamten dar, die Väter sind.

53

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Bestimmungen der Richtlinien 96/34 und 2006/54 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Beamten das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt, es sei denn, sie kann wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen.

Kosten

54

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Bestimmungen der Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub in der durch die Richtlinie 97/75/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 geänderten Fassung und der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Beamten das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt, es sei denn, sie kann wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Griechisch.

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