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Document 62014CC0555

Schlussanträge der Generalanwältin E. Sharpston vom 12. Mai 2016.
IOS Finance EFC SA gegen Servicio Murciano de Salud.
Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado Contencioso-Administrativo n° 6 de Murcia.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr – Richtlinie 2011/7/EU – Geschäftsverkehr zwischen privaten Unternehmen und öffentlichen Stellen – Nationale Regelung, die die sofortige Begleichung einer Hauptforderung von dem Verzicht auf Verzugszinsen und auf die Entschädigung für Beitreibungskosten abhängig macht.
Rechtssache C-555/14.

Court reports – general ; Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:341

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 12. Mai 2016 ( 1 )

Rechtssache C‑555/14

IOS Finance EFC SA

gegen

Servicio Murciano de Salud

(Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado Contencioso-Administrativo No 6, Murcia [Gericht für Verwaltungsrechtsstreitigkeiten Nr. 6, Murcia, Spanien])

„Richtlinien 2000/35/EG und 2011/7/EU — Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr — Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen — Nachteilige Vertragsklauseln und Praktiken“

Gemä

ß der Zahlungsverzugsrichtlinie

1. ( 2

bestimmen die Mitgliedstaaten, dass eine Vertragsklausel oder eine Praxis im Hinblick auf den Zahlungstermin oder die Zahlungsfrist, auf den für Verzugszinsen geltenden Zinssatz oder auf die Entschädigung für Beitreibungskosten entweder nicht durchsetzbar ist oder einen Schadensersatzanspruch begründet, wenn sie für den Gläubiger grob nachteilig ist. Grob nachteilige Vertragsklauseln und Praktiken in diesem Sinne umfassen solche, in denen Verzugszinsen oder die Entschädigung für Beitreibungskosten ausgeschlossen werden. Die Mitgliedstaaten stellen außerdem sicher, dass bei Geschäftsvorgängen mit einer öffentlichen Stelle als Schuldner der Gläubiger Anspruch auf den gesetzlichen Zins bei Zahlungsverzug hat, ohne dass es einer Mahnung bedarf.

2. 

In Spanien sah das Real Decreto-ley 8/2013, de 28 de junio, de medidas urgentes contra la morosidad de las administraciones públicas y de apoyo a entidades locales con problemas financieros (Königliches Gesetzesdekret 8/2013 vom 28. Juni 2013 über Eilmaßnahmen zur Bekämpfung von Zahlungsverzögerungen auf Seiten der öffentlichen Verwaltung und zur Unterstützung von Gebietskörperschaften in finanziellen Schwierigkeiten, im Folgenden: Gesetz 8/2013) ein Sonderfinanzierungsprogramm vor, durch das Unternehmen mit Forderungen gegen in Zahlungsschwierigkeiten befindliche öffentliche Stellen auf Zinsen, Verfahrenskosten und Beitreibungskosten verzichten und im Gegenzug die sofortige Befriedigung der ihnen zustehenden Hauptforderung erlangen konnten. Dies hatte zur Folge, dass die Verpflichtung zur Erfüllung der gesamten Forderung erlosch und ein etwaiges eingeleitetes Gerichtsverfahren beendet wurde.

3. 

Ein Factoring-Unternehmen erwarb eine Reihe offener Forderungen, die Lieferanten gegen eine regionale Gesundheitsbehörde in Spanien zustanden, und machte diese Forderungen nebst Zinsen und Beitreibungskosten bei den spanischen Gerichten geltend. Es beteiligte sich sodann an dem Sonderfinanzierungsprogramm und trieb die Hauptforderung in (nahezu) voller Höhe bei. Des Weiteren erhob es jedoch auch eine Klage, mit der es sich gegen den Ausschluss der Zinsen und der Beitreibungskosten wandte, da dieser Ausschluss nach Meinung des Unternehmens gegen die Zahlungsverzugsrichtlinie verstößt.

4. 

Zur Entscheidung über die Begründetheit dieses Vorbringens ersucht das Juzgado Contencioso-Administrativo (Gericht für Verwaltungsrechtsstreitigkeiten) Nr. 6, Murcia, um eine Vorabentscheidung betreffend die Auslegung der Zahlungsverzugsrichtlinie. Außerdem wirft die Kommission die Frage auf, ob auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Forderungen die Zahlungsverzugsrichtlinie in ihrer aktuellen Fassung (Richtlinie 2011/7) oder deren Vorgängerrichtlinie (Richtlinie 2000/35) in zeitlicher Hinsicht anwendbar ist.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 2000/35

5.

Die Richtlinie 2000/35 fand Anwendung auf „alle Zahlungen, die als Entgelt im Geschäftsverkehr zu leisten sind“ (Art. 1), nämlich „Geschäftsvorgänge zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen, die zu einer Lieferung von Gütern oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen“ (Art. 2 Nr. 1).

6.

Art. 3 bestimmte insbesondere:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen Folgendes sicher:

a)

Zinsen gemäß Buchstabe d) sind ab dem Tag zu zahlen, der auf den vertraglich festgelegten Zahlungstermin oder das vertraglich festgelegte Ende der Zahlungsfrist folgt.

b)

Ist der Zahlungstermin oder die Zahlungsfrist nicht vertraglich festgelegt, so sind Zinsen, ohne dass es einer Mahnung bedarf, automatisch zu zahlen:

i)

30 Tage nach dem Zeitpunkt des Eingangs der Rechnung oder einer gleichwertigen Zahlungsaufforderung beim Schuldner oder,

…,

c)

Der Gläubiger ist berechtigt, bei Zahlungsverzug Zinsen insoweit geltend zu machen, als er

i)

seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt hat und

ii)

den fälligen Betrag nicht rechtzeitig erhalten hat, es sei denn, dass der Schuldner für die Verzögerung nicht verantwortlich ist.

d)

Die Höhe der Verzugszinsen (‚gesetzlicher Zinssatz‘), zu deren Zahlung der Schuldner verpflichtet ist, ergibt sich aus der Summe des Zinssatzes, der von der Europäischen Zentralbank auf ihre jüngste Hauptrefinanzierungsoperation, die vor dem ersten Kalendertag des betreffenden Halbjahres durchgeführt wurde, angewendet wurde (‚Bezugszinssatz‘), zuzüglich mindestens 7 Prozentpunkten (‚Spanne‘), sofern vertraglich nichts anderes bestimmt ist. …

e)

Der Gläubiger hat gegenüber dem Schuldner Anspruch auf angemessenen Ersatz aller durch den Zahlungsverzug des Schuldners bedingten Beitreibungskosten, es sei denn, dass der Schuldner für den Zahlungsverzug nicht verantwortlich ist. Bei diesen Beitreibungskosten sind die Grundsätze der Transparenz und der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf den betreffenden Schuldbetrag zu beachten. Die Mitgliedstaaten können unter Wahrung der genannten Grundsätze einen Höchstbetrag für die Beitreibungskosten für unterschiedliche Schuldhöhen festlegen.

(3)   Die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine Vereinbarung über den Zahlungstermin oder die Folgen eines Zahlungsverzugs, die nicht im Einklang mit Absatz 1 Buchstaben b) bis d) und Absatz 2 steht, entweder nicht geltend gemacht werden kann oder einen Schadensersatzanspruch begründet, wenn sie bei Prüfung aller Umstände des Falls, einschließlich der guten Handelspraxis und der Art der Ware, als grob nachteilig für den Gläubiger anzusehen ist. Bei der Entscheidung darüber, ob eine Vereinbarung grob nachteilig für den Gläubiger ist, wird unter anderem berücksichtigt, ob der Schuldner einen objektiven Grund für die Abweichung von den Bestimmungen des Absatzes 1 Buchstaben b) bis d) und des Absatzes 2 hat. Wenn eine derartige Vereinbarung für grob nachteilig befunden wurde, sind die gesetzlichen Bestimmungen anzuwenden, es sei denn, die nationalen Gerichte legen andere, faire Bedingungen fest.

(4)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Gläubiger und der Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung von Klauseln, die als grob nachteilig im Sinne von Absatz 3 zu betrachten sind, ein Ende gesetzt wird.

…“

7.

Nach Art. 6 hatten die Mitgliedstaaten die Richtlinie vor dem 8. August 2002 umzusetzen, konnten jedoch Vorschriften beibehalten oder erlassen, die für den Gläubiger günstiger waren als die zur Erfüllung der Richtlinie notwendigen Maßnahmen, und insbesondere Verträge ausschließen, die vor dem 8. August 2002 geschlossen worden waren.

Richtlinie 2011/7

8.

Art. 1 bestimmt:

„(1)   Diese Richtlinie dient der Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr, um sicherzustellen, dass der Binnenmarkt reibungslos funktioniert, und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und insbesondere von KMU zu fördern.

(2)   Diese Richtlinie ist auf alle Zahlungen, die als Entgelt im Geschäftsverkehr zu leisten sind, anzuwenden.

(3)   Die Mitgliedstaaten können Schulden ausnehmen, die Gegenstand eines gegen den Schuldner eingeleiteten Insolvenzverfahrens, einschließlich eines Verfahrens zur Umschuldung, sind.“

9.

Die Definition des Begriffs „Geschäftsverkehr“ in Art. 2 Nr. 1 ist identisch mit der Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2000/35.

10.

Art. 4 regelt den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen. Abs. 1 lautet:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei Geschäftsvorgängen mit einer öffentlichen Stelle als Schuldner der Gläubiger nach Ablauf der in den Absätzen 3, 4 oder 6 festgelegten Fristen Anspruch auf den gesetzlichen Zins bei Zahlungsverzug hat, ohne dass es einer Mahnung bedarf, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

a)

Der Gläubiger hat seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt, und

b)

der Gläubiger hat den fälligen Betrag nicht rechtzeitig erhalten, es sei denn, der Schuldner ist für den Zahlungsverzug nicht verantwortlich.“

11.

Art. 4 Abs. 3, 4 und 6 legt eine Zahlungsfrist von 30 Tagen bzw. in bestimmten Fällen von bis zu 60 Tagen fest.

12.

Art. 6 hat folgenden Wortlaut:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in Fällen, in denen gemäß Artikel 3 oder Artikel 4 im Geschäftsverkehr Verzugszinsen zu zahlen sind, der Gläubiger gegenüber dem Schuldner einen Anspruch auf Zahlung eines Pauschalbetrags von mindestens 40 EUR hat.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der in Absatz 1 genannte Pauschalbetrag ohne Mahnung und als Entschädigung für die Beitreibungskosten des Gläubigers zu zahlen ist.

(3)   Der Gläubiger hat gegenüber dem Schuldner zusätzlich zu dem in Absatz 1 genannten Pauschalbetrag einen Anspruch auf angemessenen Ersatz aller durch den Zahlungsverzug des Schuldners bedingten Beitreibungskosten, die diesen Pauschalbetrag überschreiten. Zu diesen Kosten können auch Ausgaben zählen, die durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts oder eines Inkassounternehmens entstehen.“

13.

Art. 7 sieht insbesondere vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine Vertragsklausel oder eine Praxis im Hinblick auf den Zahlungstermin oder die Zahlungsfrist, auf den für Verzugszinsen geltenden Zinssatz oder auf die Entschädigung für Beitreibungskosten entweder nicht durchsetzbar ist oder einen Schadensersatzanspruch begründet, wenn sie für den Gläubiger grob nachteilig ist.

Bei der Entscheidung darüber, ob eine Vertragsklausel oder eine Praxis im Sinne von Unterabsatz 1 grob nachteilig für den Gläubiger ist, werden alle Umstände des Falls geprüft, einschließlich folgender Aspekte:

a)

jede grobe Abweichung von der guten Handelspraxis, die gegen den Grundsatz des guten Glaubens und der Redlichkeit verstößt;

b)

die Art der Ware oder der Dienstleistung und

c)

ob der Schuldner einen objektiven Grund für die Abweichung vom gesetzlichen Zinssatz bei Zahlungsverzug oder von der … Zahlungsfrist … hat.

(2)   Eine Vertragsklausel oder eine Praxis ist als grob nachteilig im Sinne von Absatz 1 anzusehen, wenn in ihr Verzugszinsen ausgeschlossen werden.

(3)   Es wird vermutet, dass eine Vertragsklausel oder Praxis grob nachteilig im Sinne von Absatz 1 ist, wenn in ihr die in Artikel 6 genannte Entschädigung für Beitreibungskosten ausgeschlossen wird.

…“

14.

Art. 12 bestimmt insbesondere:

„(1)   Die Mitgliedstaaten erlassen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um den Artikeln 1 bis 8 und 10 bis 16. März 2013 nachzukommen. …

(3)   Die Mitgliedstaaten können Vorschriften beibehalten oder erlassen, die für den Gläubiger günstiger sind als die zur Erfüllung dieser Richtlinie notwendigen Maßnahmen.

(4)   Bei der Umsetzung dieser Richtlinie entscheiden die Mitgliedstaaten, ob sie Verträge, die vor dem 16. März 2013 geschlossen worden sind, ausnehmen.“

15.

Art. 13 sieht insbesondere vor:

„Die Richtlinie 2000/35/EG wird mit Wirkung vom 16. März 2013 unbeschadet der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Fristen für die Umsetzung in innerstaatliches Recht und die Anwendung aufgehoben. Sie bleibt jedoch auf Verträge anwendbar, die vor diesem Zeitpunkt geschlossen wurden und für die die vorliegende Richtlinie gemäß Artikel 12 Absatz 4 nicht gilt.

…“

Spanisches Recht

16.

Die Richtlinie 2000/35 wurde durch die Ley 3/2004, de 29 de diciembre, por la que se establecen medidas de lucha contra la morosidad en las operaciones comerciales (Gesetz 3/2004 vom 29. Dezember 2004 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, im Folgenden: Gesetz 3/2004) in spanisches Recht umgesetzt. Das Gesetz galt für nach dem 8. August 2002 geschlossene Verträge.

17.

Die Umsetzung der Richtlinie 2011/7 erfolgte durch das Real Decreto-ley 4/2013, de 22 de febrero, de medidas de apoyo al emprendedor y de estímulo del crecimiento y de la creación de empleo (Königliches Gesetzesdekret 4/2013 vom 22. Februar 2013 über Maßnahmen zur Unterstützung des Unternehmertums sowie zur Förderung des Wachstums und zur Schaffung von Arbeitsplätzen, im Folgenden: Gesetz 4/2013) ( 3 ), durch dessen Art. 33 das Gesetz 3/2004 geändert wurde. Art. 9 Abs. 1 des Gesetzes 3/2004 lautet nunmehr insbesondere:

„Unwirksam sind Vertragsklauseln über Zahlungstermine oder die Folgen eines Zahlungsverzugs, die von der … Auffangfrist bzw. dem … gesetzlichen Zinssatz abweichen; dies gilt ebenso für Vereinbarungen, die von den Voraussetzungen für den Anspruch auf Verzugszinsen nach Art. 6 abweichen, wenn ihr Inhalt zulasten des Gläubigers grob nachteilig ist. Für die Beurteilung sind sämtliche Umstände des konkreten Falls zu berücksichtigen, u. a. die Art der Ware oder der Dienstleistung, die eventuelle Einräumung zusätzlicher Sicherheiten durch den Schuldner sowie die gute Handelspraxis. Es wird vermutet, dass eine Vertragsklausel nachteilig ist …, wenn in ihr die Entschädigung für Beitreibungskosten ausgeschlossen wird.

Für die Beurteilung, ob eine Vertragsklausel oder eine Praxis für den Gläubiger nachteilig ist, ist neben anderen Faktoren zu berücksichtigen, ob der Schuldner einen objektiven Grund dafür hat, von der Zahlungsfrist und dem gesetzlichen Zinssatz bei Zahlungsverzug … abzuweichen; dabei sind die Art der Ware oder der Dienstleistung sowie die Frage zu berücksichtigen, ob es sich um eine grobe Abweichung von der guten Handelspraxis handelt, die gegen den Grundsatz des guten Glaubens und der Redlichkeit verstößt.

Ferner ist für die Beurteilung, ob eine Vertragsklausel oder Praxis nachteilig ist, unter Heranziehung aller Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, ob die [Vertragsklausel oder die Praxis] in erster Linie dem Zweck dient, dem Schuldner zusätzliche Liquidität auf Kosten des Gläubigers zu verschaffen, oder ob der Hauptvertragspartner seinen Zulieferern oder Subunternehmern Zahlungsbedingungen aufzwingt, die in Anbetracht der für ihn selbst geltenden Konditionen oder aus anderen objektiven Gründen nicht gerechtfertigt sind“ ( 4 ).

18.

Hinsichtlich der vor Inkrafttreten des Gesetzes 4/2013 geschlossenen Verträge bestimmt dieses Gesetz in seiner dritten Übergangsbestimmung:

„Nach Ablauf eines Jahres ab Inkrafttreten dieses [Gesetzes] 4/2013 unterliegt die Ausführung sämtlicher Verträge dem [Gesetz 3/2004] mit den hier eingeführten Änderungen, und zwar auch dann, wenn diese Verträge bereits vor seinem Inkrafttreten abgeschlossen wurden.“

19.

Das Gesetz 8/2013 ( 5 ) sah eine dritte und letzte Phase eines Sonderfinanzierungsprogramms zur Leistung von Zahlungen an Lieferanten und Dienstleister u. a. der Autonomen Gemeinschaft der Region Murcia vor, das mit zwei früheren Gesetzen begonnen bzw. fortgeführt worden war. Im Rahmen dieses Programms verzichteten die Lieferanten auf den Teil der Verbindlichkeit, der auf den Zahlungsverzug der Verwaltung zurückzuführen ist, im Gegenzug zur sofortigen Befriedigung der Hauptforderung ( 6 ).

20.

Nach Angaben des vorlegenden Gerichts bezweckte dieses Gesetz kurzfristige und dringende Sondermaßnahmen, um zu einem Abbau und letztendlich einem vollständigen Ausschluss von Zahlungsverzug der öffentlichen Verwaltung als einem ersten Schritt zur Anwendung struktureller Maßnahmen beizutragen, die dem Ziel der Haushaltsstabilität und der finanziellen Nachhaltigkeit dienen.

21.

Art. 6 („Folgen der Begleichung offener Verbindlichkeiten“) des Gesetzes 8/2013 bestimmte:

„Die Zahlung an den Lieferanten führt zum Erlöschen der von der Autonomen Gemeinschaft bzw. der Gebietskörperschaft gegenüber dem Lieferanten eingegangenen Verbindlichkeit; dies gilt für die Hauptforderung, die Zinsen, die Verfahrenskosten sowie alle weiteren entstandenen Kosten.“

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

22.

In der Zeit von 2008 bis 2013 lieferten eine Reihe von Lieferanten des Gesundheitssektors Waren und erbrachten Dienstleistungen an medizinische Einrichtungen des Servicio Murciano de Salud (Gesundheitsdienst von Murcia, im Folgenden: Gesundheitsdienst), die die entsprechenden Rechnungen bei Fälligkeit nicht beglichen.

23.

Die IOS Finance EFC SA erwarb von diesen Lieferanten bestimmte Buchforderungen aus den offenen Rechnungen ( 7 ). Im September 2013 verlangte das Unternehmen vom Gesundheitsdienst 2780463,37 Euro, was dem abgetretenen Betrag der unbezahlten Rechnungen entspricht, 165164,24 Euro für die wegen der Nichtzahlung der Rechnungen bis zum 2. September 2013 angefallenen Verzugszinsen vorbehaltlich der weiteren in Zukunft anfallenden Verzugszinsen sowie 14256,35 Euro als Entschädigung für die Beitreibungskosten. Der Gesundheitsdienst kam der Zahlungsaufforderung nicht nach.

24.

Im September 2013 drohte IOS Finance mit der Erhebung einer verwaltungsgerichtlichen Klage gegen die stillschweigende Ablehnung der Zahlungsaufforderung. In der Folgezeit nahm das Unternehmen aber an dem Sonderfinanzierungsprogramm zur Begleichung von Forderungen der Lieferanten der Autonomen Gemeinschaft der Region Murcia in der Phase 3 des zweiten Teils dieses Programms teil, das mit dem Gesetz 8/2013 eingeführt worden war, und zwar mit den in diesem Rechtsakt vorgesehenen Wirkungen. Von der geltend gemachten Hauptforderung erhielt IOS Finance über das genannte Finanzierungsprogramm 2765621,79 Euro. Ihr wurden jedoch weder Verzugszinsen noch Ersatz für die Beitreibungskosten gezahlt.

25.

Im Mai 2014 erhob IOS Finance Klage beim Juzgado Contencioso-Administrativo No 6, Murcia (Gericht für Verwaltungsrechtsstreitigkeiten Nr. 6, Murcia), mit der sie 272771,03 Euro Verzugszinsen und 14256,35 Euro Entschädigung für Beitreibungskosten geltend machte.

26.

Zur Begründung führt sie an, a) der Anspruch auf die Verzugszinsen und auf Entschädigung für die Beitreibungskosten sei unverzichtbar und entstehe allein durch Gesetz infolge des Ablaufs der Zahlungsfrist, wenn die Verwaltung die geschuldete Hauptforderung bis dahin nicht befriedigt habe, b) das Gesetz 8/2013 verstoße gegen das Unionsrecht, soweit es vorsehe, dass die Befriedigung der Hauptforderung zum Erlöschen des Anspruchs auf Zinsen, auf Ersatz der Verfahrenskosten sowie aller sonstigen Kosten führe, c) die Zahlungsverzugsrichtlinie entfalte insoweit unmittelbare Wirkung, als nach ihr Vertragsklauseln und Praktiken, die Verzugszinsen und die Entschädigung für die Beitreibungskosten ausschlössen, grob nachteilig seien.

27.

Der Gesundheitsdienst hält dem entgegen, dass die Teilnahme am Sonderprogramm für Zahlungen an Lieferanten freiwillig sei und der Verzicht auf den Anspruch auf Verzugszinsen und Entschädigung für die Beitreibungskosten nicht schon vor dem Entstehen der Forderung erfolge, sondern erst dann, wenn diese Forderung entstanden und nicht befriedigt worden sei.

28.

Das vorlegende Gericht ist hinsichtlich der Auslegung des einschlägigen Unionsrechts und der Vereinbarkeit des angewandten spanischen Rechts mit dem Unionsrecht im Ungewissen. Es hat daher folgendes Vorabentscheidungsersuchen gestellt:

Vor dem Hintergrund von Art. 4 Abs. 1, Art. 6 sowie Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/7:

Ist Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie in dem Sinne auszulegen, dass ein Mitgliedstaat die Befriedigung einer Hauptforderung nicht von einem Verzicht auf die Verzugszinsen abhängig machen darf?

Ist Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie in dem Sinne auszulegen, dass ein Mitgliedstaat die Befriedigung einer Hauptforderung nicht von einem Verzicht auf die Beitreibungskosten abhängig machen darf?

Falls beide Fragen zu bejahen sind, kann sich der Schuldner dann, wenn es sich um einen öffentlichen Auftraggeber handelt, auf die Vertragsfreiheit berufen, um sich seiner Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen und Beitreibungskosten zu entziehen?

29.

IOS Finance, die spanische und die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der Sitzung vom 2. März 2016 haben IOS Finance, die spanische Regierung und die Kommission mündlich verhandelt.

Würdigung

Vorbemerkung

30.

Das vorlegende Gericht geht bei seinen Fragen zwar offensichtlich davon aus, dass der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zeitlich anwendbare Rechtsakt die Richtlinie 2011/7 ist, die Kommission weist in ihren schriftlichen Erklärungen jedoch darauf hin, dass die Rechtslage möglicherweise nicht ganz so einfach sei.

31.

Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2011/7 erlaube es nämlich den Mitgliedstaaten, bei der Umsetzung der Richtlinie Verträge von deren Geltungsbereich auszunehmen, die vor dem 16. März 2013 geschlossen worden seien. Sie verweist auf die Übergangsbestimmung im Gesetz 4/2013, wonach die „Ausführung“ sämtlicher Verträge „[n]ach Ablauf eines Jahres ab Inkrafttreten des [Gesetzes] …, und zwar auch dann, wenn diese Verträge bereits vor seinem Inkrafttreten abgeschlossen wurden“, weiterhin dem Gesetz 3/2004 unterliege. Folglich habe der spanische Gesetzgeber Verträge, die vor Inkrafttreten des Gesetzes 4/2013, d. h. vor dem 24. Februar 2014 geschlossen worden seien, vom Geltungsbereich der Richtlinie 2011/7 ausgenommen. Diese Verträge unterlägen mithin weiterhin der Richtlinie 2000/35.

32.

Ich will mich weder zur Bedeutung der betreffenden Übergangsbestimmung noch zu deren Anwendung auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge äußern. Die Beurteilung dieser Problematik fällt in den alleinigen Zuständigkeitsbereich des nationalen Gerichts. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hindert jedoch der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein könnten. Der Gerichtshof habe insoweit aus dem gesamten vom nationalen Gericht gelieferten Material und insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die in Anbetracht des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürften ( 8 ).

33.

Dementsprechend werde ich mich mit den Fragen des vorlegenden Gerichts nacheinander sowohl unter dem Gesichtspunkt der Richtlinie 2000/35 als auch unter dem Gesichtspunkt der Richtlinie 2011/7 befassen.

Zur ersten und zur zweiten Frage

34.

Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die ich zusammen prüfen werde, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Unionsvorschriften über den Zahlungsverzug bei der Begleichung von Forderungen im Geschäftsverkehr nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die a) dem Gläubiger das Recht auf Teilnahme an einem Programm zur „beschleunigten“ Befriedigung einer vertraglich fälligen Hauptforderung geben, wobei die Befriedigung unter der Bedingung erfolgt, dass der Gläubiger seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllt hat und dass er auf den Anspruch auf Verzugszinsen und auf Entschädigung für Beitreibungskosten verzichtet, und gleichzeitig b) dem Gläubiger die Möglichkeit lassen, die Teilnahme an einem solchen Programm abzulehnen mit der Folge, dass sein Anspruch sowohl auf Verzugszinsen als auch auf Entschädigung bestehen bleibt, er allerdings wahrscheinlich erheblich länger auf den Erhalt der Zahlung warten muss. Das vorlegende Gericht stellt seine Fragen insbesondere im Hinblick auf den jetzigen Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/7 über grob nachteilige Vertragsklauseln und Praktiken.

Richtlinie 2000/35

35.

Ziel der Richtlinie 2000/35 ist es, die – wie es dort heißt – „[d]en Unternehmen … [durch] übermäßig lange Zahlungsfristen und Zahlungsverzug [verursachten] große[n] Verwaltungs- und Finanzlasten“ abzubauen ( 9 ). Nach dem zwölften Erwägungsgrund „[kann d]as Ziel der Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Binnenmarkt … von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden, wenn sie einzeln tätig werden; es kann daher besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden. Diese Richtlinie geht nicht über das zur Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus. Sie entspricht daher insgesamt den Erfordernissen des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips nach Artikel 5 des Vertrags“. Gemäß dem 16. Erwägungsgrund „[stellt] Zahlungsverzug … einen Vertragsbruch dar, der für die Schuldner in den meisten Mitgliedstaaten durch niedrige Verzugszinsen und/oder langsame Beitreibungsverfahren finanzielle Vorteile bringt“. Des Weiteren heißt es im 19. Erwägungsgrund, dass „[d]er Missbrauch der Vertragsfreiheit zum Nachteil des Gläubigers … nach dieser Richtlinie verboten sein [sollte]“.

36.

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2000/35 einen nur begrenzten Geltungsbereich hatte. In seinem Urteil Caffaro hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Richtlinie mit Blick auf ihre Ziele und das mit ihr eingeführte System auszulegen sei ( 10 ). Im Weiteren hat er ausgeführt, dass die Richtlinie „nur bezweckt, einige Vorschriften und Zahlungspraktiken in den Mitgliedstaaten so weit wie möglich zu harmonisieren, um den Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr zu bekämpfen“, und „nur ganz bestimmte Vorschriften im Zusammenhang mit Zahlungsverzug [enthält], nämlich Vorschriften über die Zinsen bei Zahlungsverzug …, den Eigentumsvorbehalt … und die Beitreibungsverfahren für unbestrittene Forderungen“ ( 11 ). In ihren Schlussanträgen in der genannten Rechtssache hat Generalanwältin Trstenjak angemerkt, dass die Richtlinie lediglich eine Maßnahme zur „Mindestharmonisierung“ darstelle ( 12 ). Die Richtlinie ist also dahin auszulegen, dass nicht jeder Aspekt des mitgliedstaatlichen Rechts betreffend Zahlungsverzug bei der Begleichung von Forderungen im Geschäftsverkehr harmonisiert werden soll ( 13 ).

37.

Im Folgenden werde ich im Kontext der ersten beiden Vorlagefragen näher auf die mit der Richtlinie angestrebte Harmonisierung eingehen.

38.

Durch Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35 wurden den Gläubigern einige Rechte zum Schutz gegen Zahlungsverzug gewährt. Insbesondere waren in der Richtlinie der Zeitpunkt, ab dem Zinsen zu zahlen sind ( 14 ), und die Höhe der Zinsen festgelegt, zu deren Zahlung der Schuldner bei Zahlungsverzug verpflichtet ist ( 15 ). Außerdem waren Zinsen nur insoweit zu zahlen, als der Gläubiger seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt und den fälligen Betrag nicht rechtzeitig erhalten hatte, es sei denn, dass der Schuldner für die Verzögerung nicht verantwortlich war ( 16 ). Darüber hinaus räumte die Richtlinie dem Gläubiger einen Anspruch auf angemessenen Ersatz aller durch den Zahlungsverzug des Schuldners bedingten Beitreibungskosten ein (es sei denn, dass der Schuldner für den Zahlungsverzug nicht verantwortlich war) ( 17 ). Bei diesen Beitreibungskosten waren die Grundsätze der Transparenz und der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf den betreffenden Schuldbetrag zu beachten, und die Mitgliedstaaten konnten unter Wahrung der genannten Grundsätze einen Höchstbetrag für die Beitreibungskosten für unterschiedliche Schuldhöhen festlegen. Art. 3 Abs. 2 regelte für bestimmte Sachverhalte den Zeitpunkt, ab dem die Zinsen zu zahlen waren, sowie den Zinssatz ( 18 ).

39.

Die durch Art. 3 Abs. 1 gewährten Rechte hinsichtlich des Zahlungstermins und des Zinssatzes bei Zahlungsverzug galten nur, soweit vertraglich nichts anderes bestimmt war. Durch Art. 3 Abs. 3 wurde durch Bestimmungen betreffend grob nachlässige Vertragsklauseln eine andernfalls in den Schutzvorschriften möglicherweise entstehende offensichtliche Lücke geschlossen. Die Mitgliedstaaten hatten zu bestimmen, dass eine Vereinbarung über den Zahlungstermin oder die Folgen eines Zahlungsverzugs, die nicht im Einklang mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis d und Abs. 2 steht, entweder nicht geltend gemacht werden kann oder einen Schadensersatzanspruch begründet, wenn sie bei Prüfung aller Umstände des Falles als grob nachteilig für den Gläubiger anzusehen ist. Bei der Entscheidung darüber, ob dies auf eine Vereinbarung zutrifft, wurde berücksichtigt, ob der Schuldner einen objektiven Grund für die Abweichung von diesen Bestimmungen hatte. Wenn eine Vereinbarung für grob nachteilig befunden wurde, waren die Bestimmungen des Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis d und Abs. 2 (als „gesetzliche Bestimmungen“ bezeichnet) anzuwenden, es sei denn, die nationalen Gerichte legten andere, faire Bedingungen fest. Der Geltungsbereich von Art. 3 Abs. 3 erstreckte sich nicht auf die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. e festgelegten Maßnahmen betreffend Beitreibungskosten. Der durch diese Bestimmung gewährte Schutz konnte vertraglich nicht eingeschränkt werden.

40.

Art. 3 der Richtlinie 2000/35 verlieh den Gläubigern mithin eine Reihe von Rechten bei Zahlungsverzug ( 19 ). Falls und soweit im zugrunde liegenden Vertrag keine Regelung getroffen wurde, galten implizit gesetzliche Bestimmungen hinsichtlich des vertragsgemäßen Zahlungstermins und des geltenden Zinssatzes. Soweit der in Rede stehende Vertrag diese Fragen regelte, aber nicht den in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis d und Abs. 2 festgelegten Schutz vorsah, bestand die Gefahr, dass er nicht geltend gemacht werden konnte oder ein Schadensersatzanspruch entstand. Im nationalen Recht musste der Anspruch auf Entschädigung wegen Zahlungsverzugs verankert werden. Der zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner geschlossene Vertrag wurde entsprechend geändert, allerdings, was Zinsen und Entschädigung bei Zahlungsverzug betrifft, auch nur in diesem Umfang. Die mit der Richtlinie bezweckte Harmonisierung erfolgte also in diesem (begrenzten) Rahmen. Dem Gläubiger wurde mithin eine Reihe von Ansprüchen verliehen, deren Geltendmachung oder Nichtgeltendmachung ihm freigestellt war.

41.

Lässt sich sagen, dass die Richtlinie 2000/35 es einem Gläubiger, dem diese Ansprüche zustanden, verwehrte, auf diese zu verzichten, um im Gegenzug sofortige Zahlung zu erhalten, wenn er dies nach seiner Wahl auch hätte ablehnen und auf Zahlung in voller Höhe hätte warten können? Meines Erachtens hat sie ihm dies nicht verwehrt.

42.

Zwar war ein Vertrag erforderlich, um einen solchen Verzicht wirksam werden zu lassen. Ein solcher Vertrag war jedoch naturgemäß ein Ergänzungsvertrag zum ersten Vertrag, durch den die Forderung selbst begründet wurde. Der Ergänzungsvertrag änderte die dem Gläubiger aufgrund des ersten Vertrags zustehenden Rechte ab und ersetzte sie durch einen neuen Anspruch, nämlich den Anspruch auf sofortige Zahlung. Vorausgesetzt, dass die Möglichkeit, auf Zahlung in voller Höhe zu warten, realistisch ist und nicht nur theoretisch besteht, leuchtet mir nicht ein, weshalb eine solche Vereinbarung als „grob nachteilig“ für den Gläubiger im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2000/35 eingestuft werden sollte. Bereits die bloße Existenz dieser dem Gläubiger offenstehenden Wahlmöglichkeit stünde diesem Ergebnis entgegen.

43.

Ich möchte einige Anmerkungen zur Übertragung dieses Gedankengangs auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens machen. Erstens hat der Gerichtshof, wie IOS Finance in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben hat, entschieden, dass die in einem Vertrag vereinbarten Bedingungen zwar im Allgemeinen durch das Prinzip der Privatautonomie, wonach die Parteien frei darin seien, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen, gekennzeichnet sei, dass sich aus dem anwendbaren Unionsrecht aber Grenzen dieses Prinzips ergeben könnten ( 20 ). Diese Überlegung greift jedoch nur durch, wenn diese Freiheit überhaupt durch das Unionsrecht beschränkt wird. Zwar lässt sich die Ansicht vertreten, dass die Richtlinie aufgrund der Bestimmungen von Art. 3 Abs. 3 eine gewisse Einschränkung der Vertragsfreiheit der Parteien bezüglich der Nichterfüllung der Forderung durch den Schuldner bei Fälligkeit bewirkte, sie entfaltete meiner Meinung nach jedoch keine solche Wirkung bezüglich der oben in Nr. 41 beschriebenen Situation.

44.

Zweitens hatte der Gläubiger bei dem durch das Gesetz 8/2013 eingeführte Finanzierungsprogramm die Wahl. Er konnte an dem Programm teilnehmen – in diesem Fall wurde er bezahlt, wenn nicht umgehend, so doch zumindest bald. Alternativ konnte er sich für die Fortsetzung der bestehenden Situation entscheiden. Dann musste er damit rechnen, länger (möglicherweise sogar sehr viel länger) warten zu müssen, aber er behielt seinen Anspruch auf Verzugszinsen und auf Entschädigung für Beitreibungskosten. Auf Befragung zu diesem Punkt in der mündlichen Verhandlung hat die spanische Regierung erklärt, dass alle Gläubiger, die sich gegen eine Beteiligung am Programm entschieden hätten, inzwischen tatsächlich Zahlung in voller Höhe erhalten hätten. Die Kommission hat dem zwar nachdrücklich entgegengehalten, dass das Programm in gewisser Weise nicht freiwillig gewesen sei und dass die Gläubiger tatsächlich keine Wahl gehabt hätten, jedoch scheint mir eine solche Argumentation angesichts der Ausführungen der spanischen Regierung unbegründet zu sein ( 21 ).

45.

Dieses Element der Wahlfreiheit – und die damit verbundenen Risiken – gehören meiner Ansicht nach nämlich zum normalen Geschäftsleben. Nach Einführung des Finanzierungsprogramms standen zwei Möglichkeiten zur Wahl. Die erste (Teilnahme am Programm) beinhaltete ein geringeres Risiko und einen geringeren Vorteil. Die zweite (Entscheidung, die bisherige Situation fortbestehen zu lassen) umfasste ein größeres Risiko, aber auch die Möglichkeit eines größeren Vorteils. Meiner Ansicht nach war diese Art von Situation kein Sachverhalt, der mit dem Erlass der Richtlinie verhindert werden sollte.

46.

Drittens ist meines Erachtens für das Endergebnis ohne Belang, dass der Schuldner beim Sachverhalt des Ausgangsverfahrens eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung und kein privates Unternehmen ist. Tatsächlich gehen die Verpflichtungen eines Mitgliedstaats aus der Richtlinie über den nationalrechtlichen Erlass von Maßnahmen hinaus, die lediglich die Regelung der Richtlinie inhaltlich widerspiegeln. Er hat diese Regelung auch anzuwenden und in der Praxis durchzusetzen ( 22 ). Dies gilt erst recht, wenn es sich bei dem Schuldner einer Verbindlichkeit um den Staat oder eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung handelt. Die an den Mitgliedstaat insoweit gestellten Anforderungen gehen jedoch naturgemäß nicht über die Grenzen der Verpflichtungen aus der Richtlinie hinaus. Da diese Verpflichtungen entsprechend meiner Schlussfolgerung nicht so weit ging, eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende für die Leistung von Zahlungen an die Gläubiger auszuschließen, können die von mir soeben dargestellten Grundsätze nicht dazu führen, dass der Mitgliedstaat Anforderungen erfüllen muss, die die Richtlinie selbst nicht vorgibt ( 23 ).

47.

Um es anders zu formulieren: Fraglich ist meines Erachtens, ob das Vorgehen des Mitgliedstaats in dem dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Fall rechtmäßig war. Angenommen, Schuldner der Verbindlichkeit wäre nicht der Staat oder eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung, sondern ein privates Unternehmen. Dann könnte man meiner Meinung nach unschwer zu dem Ergebnis gelangen, dass ein solches Unternehmen gemäß der Richtlinie rechtlich einwandfrei dem Gläubiger eine Kompromissregelung vorschlagen kann, die mit dem der IOS Finance angebotenen Finanzierungsprogramm vergleichbar ist, um das es im vorliegenden Fall geht. Sollte die Antwort anders ausfallen, wenn man stattdessen in diese Gleichung den Mitgliedstaat oder eine ihm zuzurechnende Einrichtung als Variable einsetzt? Meiner Ansicht nach ist diese Frage zu verneinen.

48.

Schließlich kam es wiederum in der mündlichen Verhandlung zu einer Diskussion über die Konsequenzen des Umstands, dass der Gläubiger im Ausgangsverfahren nicht der ursprüngliche Lieferant der Waren oder Erbringer von Dienstleistungen an den Gesundheitsdienst ist, sondern ein Factoring-Unternehmen. Wirken sich die Verhältnisse, die ich als zugrunde liegende Beteiligungen bezeichnen möchte, auf das Ergebnis aus, das ich oben in Nr. 41 dargelegt habe?

49.

Meiner Meinung nach ist dies nicht der Fall.

50.

Factoring-Unternehmen erbringen eine Dienstleistung für Unternehmen. Diese Leistung besteht darin, dass sie Buchforderungen von Unternehmen, üblicherweise im Produktions-, Einzelhandels- oder Dienstleistungssektor, mit Abschlag erwerben. Bei der Berechnung dieses Abschlags berücksichtigen die betreffenden Unternehmen alle relevanten Umstände, u. a. den voraussichtlichen Zeitraum bis zur Begleichung der Forderung und das Ausfallrisiko. Dabei bedarf es unweigerlich eines gewissen Urteilsvermögens des Unternehmens. Seine Fähigkeit, aufgrund dieser Beurteilung die angemessene Höhe des Abschlags festzulegen, entscheidet über den Erfolg oder das Scheitern des Unternehmens am Markt. Als Gegenleistung für das Akzeptieren des angebotenen Abschlags erlangt der betreffende Gläubiger sofortige Befriedigung (eines Teils) seiner Forderung. Dem Factoring-Unternehmen hingegen wird die Forderung in voller Höhe abgetreten. Nach der Maxime assignatus utitur iure auctoris entspricht der abgetretene Forderungsbetrag genau dem Betrag, d. h. also weder einem höheren, aber auch nicht einem geringeren Betrag als dem, der vor der Abtretung in den Büchern des Zahlungsempfängers ausgewiesen war. Dass nach dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens das betreffende Factoring-Unternehmen die zugrunde liegenden Forderungen offenbar vor Einführung des Programms beglichen und infolgedessen einen scheinbar unerwarteten Gewinn erzielt hat, ist meines Erachtens für die Grundproblematik ohne Belang.

51.

Folglich sind die Richtlinie 2000/35 und insbesondere deren Art. 3 Abs. 3 dahin auszulegen, dass sie Vorschriften des nationalen Rechts nicht entgegenstehen, die a) dem Gläubiger das Recht auf Teilnahme an einem Programm zur „beschleunigten“ Befriedigung einer vertraglich fälligen Hauptforderung geben, wobei die Befriedigung unter der Bedingung erfolgt, dass der Gläubiger seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllt hat und dass er auf den Anspruch auf Verzugszinsen und auf Entschädigung für Beitreibungskosten verzichtet, und gleichzeitig b) dem Gläubiger die Möglichkeit lassen, die Teilnahme an einem solchen Programm abzulehnen mit der Folge, dass sein Anspruch sowohl auf Verzugszinsen als auch auf Entschädigung bestehen bleibt, er allerdings wahrscheinlich erheblich länger auf den Erhalt der Zahlung warten muss.

Richtlinie 2011/7

52.

Die Richtlinie 2011/7 stellt eine Neufassung der Richtlinie 2000/35 dar und baut dabei auf dem Schutz auf, den die Vorgängerrichtlinie für Gläubiger im Hinblick auf den Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr geschaffen hatte. Offenbar herrschte der Eindruck, dass die Richtlinie 2000/35 ihre Ziele in dieser Beziehung verfehle oder jedenfalls nicht hinreichend erreiche ( 24 ). Nachstehend sind die mit den neuen Vorschriften eingeführten wesentlichen Änderungen dargestellt.

53.

Nach Art. 1 Abs. 3 können die Mitgliedstaaten Schulden ausnehmen, die Gegenstand eines gegen den Schuldner eingeleiteten Insolvenzverfahrens, einschließlich eines Verfahrens zur Umschuldung, sind. Da dem Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung vorgetragen wurde, dass Spanien keine Maßnahmen in dieser Hinsicht erlassen habe, werde ich diesem Punkt nicht weiter nachgehen.

54.

Die Art. 3 und Art. 4 der Richtlinie 2011/7 sehen jeweils einen Anspruch des Gläubigers auf Verzugszinsen vor und entsprechen damit Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35. Allerdings beinhalten sie eine Unterscheidung nach dem Geschäftsverkehr zwischen zwei oder mehreren Unternehmen ( 25 ) (Regelungsgegenstand von Art. 3) und dem Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen (Regelungsgegenstand von Art. 4) ( 26 ). Da bei öffentlichen Stellen davon ausgegangen wird, dass sie im Allgemeinen mit nachhaltigeren Einkünften rechnen können und ihnen Finanzmittel zu günstigeren Bedingungen angeboten werden als Unternehmen ( 27 ), gelten für sie in der Regel strengere Anforderungen. Hinsichtlich der Zahlungstermine bzw. Zahlungsfristen sieht Art. 3 vor, dass diese vorbehaltlich einer Höchstdauer von 60 Tagen vertraglich festgelegt werden können, es sei denn, im Vertrag wurde ausdrücklich etwas anderes vereinbart und vorausgesetzt, dass dies für den Gläubiger nicht grob nachteilig im Sinne von Art. 7 ist ( 28 ). Nach Art. 4 darf diese Frist in den meisten Fällen 30 Tage nicht überschreiten. Der Zins bei Zahlungsverzug gemäß Art. 3 wird von den Parteien vereinbart und unterliegt jeweils den in Art. 7 festgelegten Bestimmungen über nachteilige Vertragsklauseln und Praktiken ( 29 ). Der entsprechende Zinssatz gemäß Art. 4 ist nach jeder Betrachtungsweise ein Strafzinssatz und wird anhand des sogenannten „Bezugszinssatzes“ ( 30 ) zuzüglich mindestens acht Prozentpunkten errechnet.

55.

Art. 6 schafft im Vergleich zu der entsprechenden Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2000/35 größere Sicherheit für Gläubiger bezüglich der Geltendmachung der Entschädigung für Beitreibungskosten. Insbesondere stellen die Mitgliedstaaten nach Art. 6 sicher, dass in Fällen, in denen gemäß Art. 3 oder Art. 4 im Geschäftsverkehr Verzugszinsen zu zahlen sind, der Gläubiger gegenüber dem Schuldner einen Anspruch auf Zahlung eines Pauschalbetrags von mindestens 40 EUR hat.

56.

Art. 7 der Richtlinie 2011/7 ersetzt Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2000/35. Nach Art. 7 Abs. 1 bestimmen die Mitgliedstaaten, dass eine Vertragsklausel oder eine Praxis im Hinblick auf den Zahlungstermin oder die Zahlungsfrist, auf den für Verzugszinsen geltenden Zinssatz oder auf die Entschädigung für Beitreibungskosten, die für den Gläubiger grob nachteilig ist, entweder nicht durchsetzbar ist oder einen Schadensersatzanspruch begründet. Bei der Entscheidung darüber, ob eine Vertragsklausel oder eine Praxis grob nachteilig ist, werden alle Umstände des Falles geprüft. Insoweit unterscheidet sich der den Gläubigern durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 gewährte Schutz – auch wenn die Formulierungen nicht identisch sind – nicht wesentlich von der Vorgängerbestimmung des Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2000/35. Durch Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/7 wurde der Gläubigerschutz jedoch erheblich verstärkt; diese Bestimmungen lohnen eine eingehende Prüfung.

57.

Erstens sieht Art. 7 Abs. 2 vor, dass eine Vertragsklausel oder eine Praxis als grob nachteilig im Sinne von Art. 7 Abs. 1 anzusehen ist, wenn in ihr Verzugszinsen ausgeschlossen werden. Während der Ausdruck „Vertragsklausel“ keiner Erläuterung bedarf, mag eine solche hinsichtlich des Begriffs „Praxis“ angebracht sein. Der Begriff ist in der Richtlinie nicht definiert. Meines Erachtens ist er dahin zu verstehen, dass es dabei um etwas bei Vertragsschluss Wirksames geht. Damit meine ich eine Regelung, die im Vertrag zwar nicht ausdrücklich niedergelegt oder aufgeführt ist, die Parteien aber dennoch bindet, in aller Regel aufgrund des geschäftlichen Verkehrs zwischen ihnen oder infolge der in dem betreffenden Gewerbe oder Geschäftsfeld üblichen Usancen und Gepflogenheiten. Dies entspricht der Systematik und dem Zweck des einschlägigen Teils der Vorschriften, nämlich der Festlegung der materiellen Wirkung von Verträgen zwischen Parteien mit in der Regel unterschiedlich starker Verhandlungsposition. Zur Gewährung des erforderlichen Schutzes sind in Art. 7 Abs. 2 Regeln für die Zahlung und die Konsequenzen eines Zahlungsverzugs aufgeführt, zu deren Übernahme in ihre Verträge die Parteien naturgemäß angehalten werden (Zuckerbrot) und deren Nichtübernahme entweder zur Undurchsetzbarkeit führt (oder in einigen Fällen zur Undurchsetzbarkeit führen könnte) oder einen Schadensersatzanspruch begründet (Peitsche).

58.

Für diese Auslegung des Begriffs „Praxis“ spricht meines Erachtens auch der 28. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/7, dem zufolge „[d]er Missbrauch der Vertragsfreiheit zum Nachteil des Gläubigers … nach dieser Richtlinie verboten sein [sollte]. Wenn sich demzufolge eine Vertragsklausel oder eine Praxis im Hinblick auf den Zahlungstermin oder die Zahlungsfrist, auf den für Verzugszinsen geltenden Zinssatz oder auf die Entschädigung für Beitreibungskosten nicht auf der Grundlage der dem Schuldner gewährten Bedingungen rechtfertigen lässt oder in erster Linie dem Zweck dient, dem Schuldner zusätzliche Liquidität auf Kosten des Gläubigers zu verschaffen, kann dies als ein Faktor gelten, der einen solchen Missbrauch darstellt. In diesem Sinne und entsprechend dem akademischen‚Entwurf eines Gemeinsamen Referenzrahmens‘[ ( 31 )] sollte eine Vertragsklausel oder Praxis, die eine grobe Abweichung von der guten Handelspraxis darstellt und gegen den Grundsatz des guten Glaubens und der Redlichkeit verstößt, als nachteilig für den Gläubiger angesehen werden“. Insoweit weise ich darauf hin, dass im Gemeinsamen Referenzrahmen der Begriff „Vertragsklausel“ wie folgt definiert ist: „Vertragsklauseln können sich aus der ausdrücklichen oder stillschweigenden Vereinbarung der Parteien, aus gesetzlichen Regeln oder aus den zwischen den Parteien geübten Praktiken oder aus Usancen herleiten“ ( 32 ).

59.

Zweitens begründet Art. 7 Abs. 3 die Vermutung, dass eine Vertragsklausel oder Praxis grob nachteilig ist, wenn in ihr die Entschädigung für Beitreibungskosten ausgeschlossen wird. Diese Bestimmung unterscheidet sich insofern von Art. 7 Abs. 2, als nach der letztgenannten Vorschrift der Ausschluss von Verzugszinsen als grob nachteilig „anzusehen ist“. Diese Konsequenz ist also unumstößlich, während die Vermutung in Abs. 3 widerleglich ist. Ein Schuldner, der die Vermutung widerlegen will, muss somit hinreichende Beweise vorlegen, um ein gegenteiliges Vorbringen zu entkräften, und seine Auffassung begründen.

60.

Abgesehen von diesem Punkt ist Art. 7 Abs. 3 in derselben Weise zu verstehen wie Art. 7 Abs. 2.

61.

Auch wenn die Richtlinie 2011/7 den Gläubigerschutz bei Zahlungsverzug zweifellos verstärkt hat, so ist doch ihre Systematik im Wesentlichen die gleiche wie die der Richtlinie 2000/35. So haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass den Gläubigern Ansprüche im Hinblick auf den Zeitpunkt, ab dem Verzugszinsen nach Maßgabe eines Vertrags fällig werden, auf die Höhe dieser Zinsen und auf die Entschädigung für Beitreibungskosten zustehen. Jeder Versuch des Schuldners, im geschlossenen Vertrag grob nachteilige Vertragsklauseln oder Praktiken aufzuzwingen, kann oder wird tatsächlich dazu führen, dass die Bestimmung nicht durchsetzbar ist oder einen Schadensersatzanspruch begründet.

62.

Die Richtlinie 2011/7 enthält meines Erachtens jedoch keine Bestimmungen, die einen Gläubiger, wenn dieser seinerseits den Vertrag erfüllt hat, am Abschluss einer wirksamen freiwilligen Vereinbarung mit dem Schuldner hindern, wonach der Gläubiger die umgehende Befriedigung der vertraglich fälligen Hauptforderung erlangt, wenn er im Gegenzug auf die Ansprüche, die ihm im Hinblick auf Zahlungsverzug zustehen, und auf die Entschädigung für Beitreibungskosten verzichtet. Insbesondere meine ich, dass aus den oben in Nr. 42 dargelegten Gründen eine solche Vereinbarung weder eine „Vertragsklausel oder Praxis“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie darstellt noch infolgedessen „grob nachteilig“ ist. Was die Anwendung der Richtlinie auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens angeht, gelten die Ausführungen oben in den Nrn. 43 bis 50 zur Richtlinie 2000/35 auch für die Richtlinie 2011/7.

63.

Hinzugefügt sei, dass nach Ansicht der deutschen Regierung, wenngleich sie ebenfalls der Auffassung ist, dass Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/7 auf die Fallgestaltung des Ausgangsverfahrens keine Anwendung finde, gleichwohl Art. 7 Abs. 1 einschlägig ist. Mit anderen Worten: Diese Bestimmung unterliege nicht in demselben Grad zeitlichen Beschränkungen wie die Abs. 2 und 3.

64.

Dem stimme ich nicht zu.

65.

Durch die Verwendung des Begriffs „Vertragsklausel oder Praxis“ in Art. 7 Abs. 1, 2 und 3 hat der Gesetzgeber eindeutig seine Absicht zum Ausdruck gebracht, dass alle diese Bestimmungen jeweils denselben Tatbestand regeln. Bei den Abs. 2 und 3 handelt es sich daher lediglich um strengere Vorschriften, die besonders offensichtliche Missbrauchsfälle erfassen. Sie gelten für Konstellationen „im Sinne von Absatz 1“. Die zeitliche Anwendung aller drei Absätze ist identisch.

66.

Folglich ist die Richtlinie 2011/7 und insbesondere deren Art. 7 Abs. 2 und 3 meines Erachtens dahin auszulegen, dass sie Vorschriften des nationalen Rechts nicht entgegenstehen, die a) dem Gläubiger das Recht auf Teilnahme an einem Programm zur „beschleunigten“ Befriedigung einer vertraglich fälligen Hauptforderung geben, wobei die Befriedigung unter der Bedingung erfolgt, dass der Gläubiger seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllt hat und dass er auf den Anspruch auf Verzugszinsen und auf Entschädigung für Beitreibungskosten verzichtet, und gleichzeitig b) dem Gläubiger die Möglichkeit lassen, die Teilnahme an einem solchen Programm abzulehnen mit der Folge, dass sein Anspruch sowohl auf Verzugszinsen als auch auf Entschädigung bestehen bleibt, er allerdings wahrscheinlich erheblich länger auf den Erhalt der Zahlung warten muss.

Zur dritten Frage

67.

Da das vorlegende Gericht die dritte Frage nur für den Fall stellt, dass die erste und die zweite Frage zu bejahen sind, erübrigt sich ihre Beantwortung.

Ergebnis

68.

Nach alledem bin ich der Meinung, dass der Gerichtshof die vom Juzgado Contencioso-Administrativo No 6, Murcia (Gericht für Verwaltungsrechtsstreitigkeiten Nr. 6, Murcia, Spanien) aufgeworfenen Fragen in folgendem Sinne beantworten sollte:

Die Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr und insbesondere deren Art. 3 Abs. 3 sowie die Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr und insbesondere deren Art. 7 Abs. 2 und 3 sind dahin auszulegen, dass sie Vorschriften des nationalen Rechts nicht entgegenstehen, wonach

a)

der Gläubiger das Recht auf Teilnahme an einem Programm zur „beschleunigten“ Befriedigung einer vertraglich fälligen Hauptforderung besitzt, wobei die Befriedigung unter der Bedingung erfolgt, dass der Gläubiger seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllt hat und auf den Anspruch auf Verzugszinsen und auf Entschädigung für Beitreibungskosten verzichtet, während

b)

der Gläubiger die Teilnahme an einem solchen Programm auch ablehnen kann mit der Folge, dass sein Anspruch sowohl auf Verzugszinsen als auch auf Entschädigung bestehen bleibt, er allerdings wahrscheinlich erheblich länger auf den Erhalt der Zahlung warten muss.

Die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten dritten Frage erübrigt sich.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Derzeit kodifiziert in der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2011, L 48, S. 1), bei der es sich um eine neugefasste und geänderte Fassung der Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2000, L 200, S. 35) handelt.

( 3 ) So ist es zumindest im Vorlagebeschluss angegeben. Die spanische Regierung hat in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt, die Umsetzung sei durch die Ley 11/2013, de 26 de julio, de medidas de apoyo al emprendedor y de estímulo del crecimiento y de la creación de empleo (Gesetz 11/2013 vom 26. Juli 2013 über Maßnahmen zur Unterstützung des Unternehmertums sowie zur Förderung des Wachstums und zur Schaffung von Arbeitsplätzen) bewirkt worden. Ich will mich nicht dazu äußern, welche Auffassung zutrifft.

( 4 ) Im Vorlagebeschluss heißt es, dass dieser Absatz seinerseits durch die Ley 17/2014, de 30 de septiembre, por la que se adoptan medidas urgentes en materia de refinanciación y reestructuración de deuda empresarial (Gesetz 17/2014 vom 30. September 2014 zum Erlass von Eilmaßnahmen zur Refinanzierung und Umstrukturierung von Schulden von Unternehmen) geändert worden sei. Es wird jedoch nicht erläutert, worin diese Änderung besteht.

( 5 ) Oben in Nr. 2 angeführt.

( 6 ) In der mündlichen Verhandlung hieß es, dass ein Beitritt zum Programm inzwischen nicht mehr möglich sei, da der letzte Termin hierfür der 31. Dezember 2013 gewesen sei.

( 7 ) Im Vorlagebeschluss sind zwar die Zeitpunkte der betreffenden Abtretungen nicht angegeben, IOS Finance hat in der mündlichen Verhandlung auf eine entsprechende Frage jedoch erklärt, dass sie die Forderungen vor Einführung des im Gesetz 8/2013 vorgesehenen Refinanzierungsprogramms erworben habe.

( 8 ) Vgl. u. a. Urteil vom 17. November 2015 in der Rechtssache RegioPost (C‑115/14, EU:C:2015:760, Rn. 46).

( 9 ) Siebter Erwägungsgrund.

( 10 ) Urteil vom 11. September 2008 in der Rechtssache Caffaro (C‑265/07, EU:C:2008:496, Rn. 14).

( 11 ) Urteil vom 11. September 2008 in der Rechtssache Caffaro (C‑265/07, EU:C:2008:496, Rn. 15 und 16).

( 12 ) Schlussanträge in der Rechtssache Caffaro (C‑265/07, EU:C:2008:250, Nr. 28).

( 13 ) Vgl. auch Urteile vom 26. Oktober 2006 in der Rechtssache Kommission/Italien (C‑302/05, EU:C:2006:683, Rn. 23) und vom 3. April 2008 in der Rechtssache 01051 Telecom (C‑306/06, EU:C:2008:187, Rn. 21), in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass die Richtlinie keine vollständige Harmonisierung aller Vorschriften im Zusammenhang mit dem Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr vornehme, jedoch einige spezifische Bestimmungen in diesem Bereich enthalte.

( 14 ) Unterabs. a und b.

( 15 ) Unterabs. d.

( 16 ) Unterabs. c.

( 17 ) Unterabs. e.

( 18 ) Vgl. zu Art. 3 der Richtlinie 2000/35 auch Urteil vom 11. Dezember 2008 in der Rechtssache Kommission/Spanien (C‑380/06, EU:C:2008:702, Rn. 17 ff.).

( 19 ) Dem Gerichtshof zufolge ist die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 3, sicherzustellen, dass bei Zahlungsverzug Zinsen zu zahlen sind, an keine Bedingung geknüpft und hinreichend genau, um unmittelbare Wirkung zu entfalten – vgl. Urteil vom 24. Mai 2012 in der Rechtssache Amia (C‑97/11, EU:C:2012:306, Rn. 37).

( 20 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2010 in der Rechtssache Harms (C‑434/08, EU:C:2010:285, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 21 ) Ich möchte hervorheben, dass im umgekehrten Fall, bei dem der Gläubiger keine echte Wahl hat, meiner Meinung nach eine solche Regelung gegen die Anforderungen der Richtlinie verstieße und „grob nachteilig“ für den Gläubiger im Sinne von Art. 3 Abs. 3 wäre.

( 22 ) Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 10. April 1984 in der Rechtssache von Colson und Kamann (14/83, EU:C:1984:153, Rn. 23) und vom 2. August 1993 in der Rechtssache Marshall (C‑271/91, EU:C:1993:335, Rn. 24). Vgl. auch Prechal, S., Directives in EC Law, Oxford University Press, Oxford, 2010, S. 51 ff.

( 23 ) Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass zwar laut dem Vorlagebeschluss die Zahlung an IOS Finance vom Gesundheitsdienst geleistet wurde, die spanische Regierung in der mündlichen Verhandlung jedoch ausgeführt hat, dass die Zahlung tatsächlich vom Staat vorgenommen worden sei und gleichzeitig dem Gesundheitsdienst eine spätere Rückzahlungsverpflichtung oblegen habe. Ich meine, dass diese Frage sich nicht auf meine Beurteilung der Grundproblematik auswirkt.

( 24 ) Vgl. z. B. Begründung des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (Neufassung) (KOM[2009] 126 endg.), wo es heißt, dass „[a]lles … darauf hin[deutet], dass trotz des Inkrafttretens der [Richtlinie 2000/35] der Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr innerhalb der EU noch immer ein allgemeines Problem ist“.

( 25 ) „Unternehmen“ ist in Art. 2 Nr. 3 definiert als „jede im Rahmen ihrer unabhängigen wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit handelnde Organisation, ausgenommen öffentliche Stellen, auch wenn die Tätigkeit von einer einzelnen Person ausgeübt wird“.

( 26 ) Der Ausdruck „öffentliche Stelle“ bezeichnet nach Art. 2 Nr. 2 „jeden öffentlichen Auftraggeber im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 2004/17/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste] [ABl. 2004, L 134, S. 1] und von Artikel 1 Absatz 9 der Richtlinie 2004/18/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge] [ABl. 2004, L 134, S. 114], unabhängig vom Gegenstand oder Wert des Auftrags“.

( 27 ) 23. Erwägungsgrund.

( 28 ) Siehe näher unten, Nr. 57 ff.

( 29 ) Siehe näher unten, Nr. 57 ff.

( 30 ) Der Ausdruck bezeichnet nach der Definition in Art. 2 Nr. 7 „a) für Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entweder i) den von der Europäischen Zentralbank auf ihre jüngsten Hauptrefinanzierungsoperationen angewendeten Zinssatz oder ii) den marginalen Zinssatz, der sich aus Tenderverfahren mit variablem Zinssatz für die jüngsten Hauptrefinanzierungsoperationen der Europäischen Zentralbank ergibt; b) für Mitgliedstaaten, deren Währung nicht der Euro ist, den entsprechenden von ihrer nationalen Zentralbank festgesetzten Zinssatz“.

( 31 ) Das Dokument ist im Internet unter der Adresse http://ec.europa.eu/justice/policies/civil/docs/dcfr_outline_edition_en.pdf abrufbar.

( 32 ) Abschnitt II. – 9:101.

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