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Document 62014CC0074

Schlussanträge des Generalanwalts M. Szpunar vom 16. Juli 2015.
"Eturas" UAB u. a. gegen Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba.
Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Kartelle – Aufeinander abgestimmte Verhaltensweise – Reisebüros, die an einem gemeinsamen rechnergestützten System für Reiseangebote beteiligt sind – Automatische Beschränkung der Rabattsätze für Online-Reisebuchungen – Mitteilung des Systemadministrators zu dieser Beschränkung – Stillschweigende Zustimmung, die als aufeinander abgestimmte Verhaltensweise eingestuft werden kann – Tatbestandsmerkmale einer Vereinbarung und einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise – Beweiswürdigung und Beweismaß – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten – Effektivitätsgrundsatz – Unschuldsvermutung.
Rechtssache C-74/14.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2015:493

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 16. Juli 2015 ( 1 )

Rechtssache C‑74/14

„Eturas“ UAB,

„Freshtravel“ UAB,

„Neoturas“ UAB,

„AAA Wrislit“ UAB,

„Visveta“ UAB,

„Baltic Clipper“ UAB,

„Guliverio kelionės“ UAB,

„Baltic Tours Vilnius“ UAB,

„Kelionių laikas“ UAB,

„Vestekspress“ UAB,

„Daigera“ UAB,

„Ferona“ UAB,

„Kelionių akademija“ UAB,

„Travelonline Baltics“ UAB,

„Kelionių gurmanai“ UAB,

„Litamicus“ UAB,

„Megaturas“ UAB,

„TopTravel“ UAB,

„Zigzag Travel“ UAB,

„ZIP Travel“ UAB

gegen

Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba

(Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas [Litauen])

„Wettbewerb — Art. 101 Abs. 1 AEUV — Tatbestandsmerkmale einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise — Reisebüros, die ein gemeinsames rechnergestütztes Buchungssystem nutzen — Begrenzung des Höchstrabattsatzes für Online-Buchungen — Mitteilung des Systemadministrators zu dieser Beschränkung — Abstimmung — Kausalzusammenhang zwischen Abstimmung und Marktverhalten — Beweislast — Unschuldsvermutung“

I – Einführung

1.

In einer häufig zitierten Analyse zum Begriff „aufeinander abgestimmte Verhaltensweise“ nach Art. 101 Abs. 1 AEUV schrieb der zum Generalanwalt bestellte Richter Vesterdorf: „[D]as Problem [lässt sich] vermutlich auf die Frage eingrenzen, wann eine vollendete Zuwiderhandlung vorliegt“ ( 2 ).

2.

Der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberster Verwaltungsgerichtshof Litauens) wirft eine ähnliche Frage im Rahmen eines Rechtsstreits über die Gültigkeit des Beschlusses des litauischen Wettbewerbsrats auf, mit dem festgestellt wird, dass mehrere Reisebüros die Rabattsätze für ihre Kunden abgesprochen hätten.

3.

Das Besondere an diesem Fall ist der Umstand, dass der Beweis für das Vorliegen einer Abstimmung im Wesentlichen mit den Handlungen eines Dritten zusammenhängt, der Eigentümer und Administrator des von den betreffenden Reisebüros verwendeten Online-Buchungssystems ist und eine technische Rabattbeschränkung einführte sowie eine diese Beschränkung ankündigende Mitteilung versandte. Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob dieses Beweismittel dem für die Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV erforderlichen Beweismaß genügt.

II – Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

4.

Die Eturas UAB (im Folgenden: Eturas) ist Inhaberin ausschließlicher Rechte an dem Online-Reisebuchungssystem E‑TURAS (im Folgenden: E‑TURAS-System) und ist dessen Administrator.

5.

Dieses System wird von einem einzigen Administrator gesteuert und kann in individuelle Websites der Reisebüros, die eine Lizenz von Eturas erworben haben, integriert werden. Der Standardlizenzvertrag von Eturas enthält keine Bestimmungen, die dem Administrator erlauben würden, die Preise für die von den das System nutzenden Reisebüros angebotenen Dienstleistungen zu ändern.

6.

Im Jahr 2010 leitete die Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba (nationale Wettbewerbsbehörde Litauens, im Folgenden: Wettbewerbsrat) aufgrund der Anzeige eines Nutzers des E‑TURAS-Systems, wonach die Pauschalreisen vertreibenden Reisebüros unter sich die Preisnachlässe absprächen, die sie Verbrauchern anböten, die Reisen online über das E-TURAS-System buchten, eine Untersuchung ein.

7.

Diese Untersuchung ergab, dass der Geschäftsführer von Eturas einige Zeit vor der behaupteten Beschränkung der Rabattsätze eine E‑Mail an mehrere Reisebüros versandt hatte, mit der er diese aufforderte, über eine Herabsetzung der Rabattsätze von 4 % auf 1 % bis 3 % abzustimmen. In den Gerichtsakten gibt es zwar Belege dafür, dass eines dieser Reisebüros diese E‑Mail erhielt, allerdings existieren keine Nachweise dafür, dass andere Reisebüros die E‑Mail erhielten oder beantworteten.

8.

Am 27. August 2009 um 12.20 Uhr wurde eine technische Beschränkung im E-TURAS-System geschaltet, durch die die erhältlichen Rabatte für Online-Buchungen auf 3 % reduziert wurden.

9.

Zuvor war am selben Tag in dem Feld „Informationsmitteilungen“ des E-TURAS-Systems (im Folgenden: Systemmitteilung vom 27. August 2009) die folgende Systemmitteilung erschienen:

10.

Der Geschäftsführer von Eturas gab an, diese Mitteilung sei an alle Reisebüros versandt worden, die das System nutzten.

11.

Die Möglichkeit, zusätzlich auch noch Rabatte für bestimmte Kunden anzubieten (z. B. durch Treuerabatt-Codes), wurde nicht beschränkt.

12.

Die Untersuchung ergab zudem, dass die Mehrheit der Reisebüros, die vor dem 27. August 2009 Preisnachlässe von mehr als 3 % gewährt hatten, die Höhe des Rabatts nach diesem Zeitpunkt auf 3 % senkte. Mehrere Reisebüros hatten allerdings bereits vor dem 27. August 2009 einen niedrigeren Rabattsatz angeboten und wandten diesen Satz auch weiterhin an. Einige Reisebüros vertrieben ihre Dienstleistungen über das E-TURAS-System erst nach dem 27. August 2009. Andere Reisebüros wiederum vertrieben in dem für die Untersuchung relevanten Zeitraum nicht eine einzige Reise über das E-TURAS-System.

13.

In seinem Beschluss vom 7. Juni 2012 stellte der Wettbewerbsrat fest, dass 30 Reisebüros sowie Eturas zwischen dem 27. August 2009 und Ende März 2010 an wettbewerbswidrigen Geschäftspraktiken in Verbindung mit den Rabattsätzen für über das E-TURAS-System vorgenommene Buchungen beteiligt gewesen seien.

14.

Dem Beschluss zufolge begann die Zuwiderhandlung an dem Tag, an dem die Mitteilung betreffend die Herabsetzung der Preisnachlässe im E-TURAS-System platziert und die Rabattsätze durch technische Mittel eingeschränkt wurden. Den Reisebüros als umsichtige Wirtschaftsteilnehmer hätte die Beschränkung von diesem Tag an bekannt sein müssen.

15.

Der Wettbewerbsrat war der Auffassung, dass die Reisebüros, die während des relevanten Zeitraums das E‑TURAS-System genutzt und keine Einwände erhoben hätten, eine Zuwiderhandlung begangen hätten. Diese Reisebüros hätten vernünftigerweise annehmen können, dass auch alle anderen Nutzer des Systems ihren Rabatt auf höchstens 3 % begrenzen würden. Daher hätten sie die Preisnachlässe, die sie künftig anzuwenden gedachten, auch einander mitgeteilt und somit mittelbar – durch konkludente oder stillschweigende Zustimmung – ihren gemeinsamen Willen betreffend ihr Vorgehen auf dem relevanten Markt zum Ausdruck gebracht. Dieses Vorgehen der Reisebüros auf dem relevanten Markt sei zudem als aufeinander abgestimmte Verhaltensweise einzustufen. Eturas sei auf dem relevanten Markt zwar nicht tätig gewesen, habe aber eine Rolle gespielt, indem sie die Zuwiderhandlung erleichtert habe.

16.

Der Wettbewerbsrat entschied daher, dass Eturas und die betreffenden Reisebüros gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV sowie gegen Art. 5 des Lietuvos Respublikos konkurencijos įstatymas (Wettbewerbsgesetz der Republik Litauen) verstoßen hätten und verhängte Geldbußen gegen sie. Dem Reisebüro, das dem Wettbewerbsrat den Verstoß angezeigt hatte, wurde nach der Kronzeugenregelung ein Erlass der Geldbuße gewährt.

17.

Gegen den Beschluss des Wettbewerbsrats erhoben die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens Klage beim Vilniaus apygardos administracinis teismas (regionales Verwaltungsgericht von Vilnius). Dieses gab den Klagen mit Urteil vom 8. April 2013 teilweise statt und setzte die Geldbußen herab.

18.

Sowohl die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens als auch der Wettbewerbsrat legten beim Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas Rechtsmittel ein.

19.

Die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens machen geltend, dass sie sich nicht an aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV oder des nationalen Rechts beteiligt hätten. Nach Ansicht der betreffenden Reisebüros ist eine Absicht ihrerseits, die zu gewährenden Preisnachlässe herabzusetzen, nicht nachgewiesen worden; die technische Beschränkung sei die einseitige Handlung von Eturas gewesen. Einige Rechtsmittelführerinnen behaupten, die Systemmitteilung nicht gelesen zu haben. Aufgrund der geringen Bedeutung des Systems – die Einkünfte aus den Reisen, die über das E-TURAS-System vertrieben worden seien, hätten nur einen geringen Teil ihres Gesamtumsatzes ausgemacht (z. B. 0,12 %, 0,2 % oder 0,0025 %) – hätten die Reisebüros es nicht genau beobachtet. Sie hätten das System genutzt, weil dies für Online-Buchungen bequem gewesen sei, es kein alternatives Informationssystem auf dem Markt gegeben habe und die Entwicklung eines eigenen Online-Systems für sie mit extrem hohen Kosten verbunden gewesen wäre. Preisnachlässe seien nicht grundsätzlich beschränkt gewesen, da die Reisebüros auch weiterhin die Möglichkeit gehabt hätten, zusätzliche Treuerabatte für bestimmte Kunden zu gewähren.

20.

Der Wettbewerbsrat trägt vor, das E-TURAS-System habe den Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens als Instrument zur Koordinierung ihres Vorgehens gedient und Zusammenkünfte überflüssig gemacht, da die Bedingungen für die Nutzung des Systems es ihnen ermöglicht hätten, auch ohne unmittelbaren Kontakt zu einer Willensübereinstimmung bezüglich Rabattbeschränkungen zu kommen. Dass sie der Einführung von Preisnachlassbeschränkungen nicht widersprochen hätten, stehe ihrer stillschweigenden Zustimmung gleich. Das E-TURAS-System habe zu einheitlichen Bedingungen funktioniert und sei auf den Websites der Reisebüros, auf denen die Informationen über die anwendbaren Preisnachlässe zu finden gewesen seien, ohne Weiteres erkennbar gewesen. Die Reisebüros hätten den auferlegten Beschränkungen nicht widersprochen und so einander zu verstehen gegeben, dass sie die begrenzten Preisnachlässe anwendeten und auf diese Weise jede Ungewissheit in Bezug auf die Rabattsätze beseitigten. Die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens seien zu einem umsichtigen und verantwortungsbewussten Handeln verpflichtet gewesen und hätten Mitteilungen über die in ihrem wirtschaftlichen Tätigkeitsbereich eingesetzten Praktiken nicht ignorieren oder außer Acht lassen dürfen.

21.

Das Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas hat Zweifel hinsichtlich der richtigen Auslegung von Art. 101 Abs. 1 AEUV und insbesondere hinsichtlich der Verteilung der Beweislast bei der Anwendung dieser Bestimmung.

22.

Das vorlegende Gericht führt aus, dieser Gesichtspunkt sei maßgeblich für die Entscheidung, ob der Wettbewerbsrat hinreichende Tatsachen festgestellt habe, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass eine Zuwiderhandlung vorliege, sowie um den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem die Dauer der Zuwiderhandlung zu berechnen sei. Der angefochtenen Entscheidung sei zu entnehmen, dass der Wettbewerbsrat sich bei der Feststellung einer Zuwiderhandlung hauptsächlich auf die Systemmitteilung von 27. August 2009 gestützt habe. Der Wettbewerbsrat habe damit tatsächlich die Vermutung angewandt, dass die Reisebüros, die die Mitteilung erhalten hätten, von der Beschränkung wussten oder wissen mussten.

23.

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts lässt sich einerseits vertreten, dass die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens das E‑TURAS-System gemeinsam mit ihren Wettbewerbern genutzt hätten und sie daher zu Sorgfalt verpflichtet gewesen seien und die über das System verbreiteten Mitteilungen hätten aufmerksam verfolgen müssen. Einige von ihnen hätten auch tatsächlich eingeräumt, die Rabattbeschränkung gekannt und sie in der Praxis eingehalten zu haben. Angesichts der geheimen Natur wettbewerbswidrigen Verhaltens könne ein auf ein System gestützter Nachweis im Licht aller Umstände des vorliegenden Falles möglicherweise hinreichend sein. Andererseits gelte bei Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht die Unschuldsvermutung. Im vorliegenden Fall gebe es keine Belege dafür, dass die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens die Systemmitteilung tatsächlich gelesen und erkannt hatten, dass es sich dabei um eine aufeinander abgestimmte wettbewerbswidrige Verhaltensweise gehandelt habe, an der alle Nutzer des Systems beteiligt gewesen seien.

24.

Das vorlegende Gericht möchte daher wissen, ob das bloße Versenden einer Systemmitteilung über eine Rabattbeschränkung im Rahmen der im vorliegenden Fall gegebenen Umstände als hinreichender Beweis angesehen werden kann, um festzustellen oder die Vermutung zu begründen, dass die an dem System beteiligten Wirtschaftsteilnehmer von der Rabattbeschränkung wussten oder zwangsläufig wissen mussten, auch wenn einige von ihnen behaupten, von der Beschränkung nichts gewusst zu haben, und einige die tatsächlichen Rabattsätze nicht änderten oder im relevanten Zeitraum. keine einzige Reise über das E-TURAS-System vertrieben.

25.

In diesem Zusammenhang hat das Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas mit Beschluss vom 17. Januar 2014, eingegangen beim Gerichtshof am 10. Februar 2014, folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem Wirtschaftsteilnehmer an einem gemeinsamen rechnergestützten Informationssystem der hier beschriebenen Art beteiligt sind und der Wettbewerbsrat nachgewiesen hat, dass eine Systemmitteilung über die Rabattbeschränkung und eine technische Beschränkung der Eingabe von Rabattsätzen in das System eingeführt wurden, davon ausgegangen werden kann, dass diese Wirtschaftsteilnehmer von der in das rechnergestützte Informationssystem eingeführten Systemmitteilung wussten oder zwangsläufig wissen mussten und dadurch, dass sie der Anwendung einer solchen Rabattbeschränkung nicht widersprachen, ihre stillschweigende Zustimmung zu der Preisnachlassbeschränkung erklärten und aus diesem Grund wegen Beteiligung an aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV zur Verantwortung gezogen werden können?

2.

Falls die erste Frage verneint wird: Welche Faktoren sind bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen, ob sich an einem gemeinsamen rechnergestützten Informationssystem beteiligte Wirtschaftsteilnehmer unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens an aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV beteiligt haben?

26.

Mehrere Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens ( 3 ), die litauische und die österreichische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Einige der Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens ( 4 ), der Wettbewerbsrat, die litauische Regierung sowie die Kommission haben in der Sitzung vom 7. Mai 2015 mündliche Ausführungen gemacht.

III – Würdigung

A – Einführung

27.

Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof die seltene Gelegenheit, den Begriff der aufeinander abgestimmten Verhaltensweise unabhängig von den verwandten Begriffen der Vereinbarung bzw. des Beschlusses einer Unternehmensvereinigung auszulegen ( 5 ).

28.

Zu Beginn werde ich die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ in Erinnerung rufen.

29.

Nach Art. 101 Abs. 1 AEUV sind mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken.

30.

Die Begriffe „Vereinbarung“, „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweise“ erfassen in subjektiver Hinsicht Formen der Kollusion, die in ihrer Art übereinstimmen, und sich nur in ihrer Intensität und ihren Ausdrucksformen unterscheiden ( 6 ).

31.

Der Gerichtshof hat mehrmals dargelegt, dass es sich bei der abgestimmten Verhaltensweise um eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen handele, die zwar noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrags im eigentlichen Sinne gediehen sei, jedoch bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lasse ( 7 ).

32.

Im Hinblick auf das Kriterium der Koordinierung hat er ausgeführt, dass die Wettbewerbsvorschriften des Vertrags auf dem Gedanken beruhten, dass jeder Unternehmer selbständig zu bestimmen habe, welche Politik er auf dem Markt zu betreiben gedenke. Dieses Selbständigkeitspostulat stehe jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen Wirtschaftsteilnehmern entgegen, durch die ein Unternehmen das Marktverhalten seiner Wettbewerber beeinflusse oder sie über seine Entschlüsse oder Erwägungen zu seinem eigenen Marktverhalten ins Bild setze, sofern auf diese Weise Wettbewerbsbedingungen entstehen können, die nicht den normalen Bedingungen des betreffenden Marktes entsprächen ( 8 ).

33.

Nach ständiger Rechtsprechung setzt der Begriff der abgestimmten Verhaltensweise über die Abstimmung zwischen den Unternehmen hinaus ein dieser entsprechendes Marktverhalten und einen ursächlichen Zusammenhang zwischen beiden voraus. Den im Urteil Anic aufgestellten Grundsätzen zufolge gilt vorbehaltlich des den betroffenen Unternehmen obliegenden Gegenbeweises die Vermutung, dass die an der Abstimmung beteiligten und weiterhin auf dem Markt tätigen Unternehmen die mit ihren Wettbewerbern ausgetauschten Informationen bei der Bestimmung ihres Marktverhaltens berücksichtigen; dies gilt umso mehr, wenn die Abstimmung während eines langen Zeitraums regelmäßig stattfindet ( 9 ).

34.

Der Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass die im Urteil Anic aufgestellten Grundsätze – d. h. die Vermutung eines Kausalzusammenhangs zwischen der Abstimmung und dem Marktverhalten der beteiligten Unternehmen – auch bei einer einzigen Kontaktaufnahme der Wettbewerber gelten kann ( 10 ).

35.

Wie der Gerichtshof im Urteil T‑Mobile Netherlands u. a. festgestellt hat, hängt es vom Gegenstand der Abstimmung und von den jeweiligen Marktgegebenheiten ab, wie oft, in welchen Abständen und in welcher Form Wettbewerber untereinander Kontakt aufnehmen müssen, um zu einer Abstimmung ihres Marktverhaltens zu gelangen. Errichten die beteiligten Unternehmen ein Kartell mit einem komplexen System einer Abstimmung im Hinblick auf eine Vielzahl von Aspekten ihres Marktverhaltens, so mag eine regelmäßige Kontaktaufnahme über einen längeren Zeitraum hinweg notwendig sein. Ist hingegen nur eine punktuelle Abstimmung im Hinblick auf eine einmalige Anpassung des Marktverhaltens bezüglich eines einzigen Wettbewerbsparameters bezweckt, so kann auch die einmalige Kontaktaufnahme unter Wettbewerbern bereits eine ausreichende Grundlage bieten, um den von den beteiligten Unternehmen angestrebten wettbewerbswidrigen Zweck in die Tat umzusetzen ( 11 ).

36.

Wie auch im Fall von wettbewerbswidrigen Vereinbarungen brauchen darüber hinaus die konkreten Auswirkungen der aufeinander abgestimmten Verhaltensweise nicht berücksichtigt zu werden, wenn sich ergibt, dass sie eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt ( 12 ).

B – Auslegung von Art. 101 Abs. 1 AEUV

37.

Mit seinen beiden Fragen, die ich im Folgenden zusammen abhandeln werde, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass der Begriff der aufeinander abgestimmten Verhaltensweise einen Sachverhalt erfasst, bei dem mehrere Reisebüros an einem gemeinsamen Buchungssystem beteiligt sind und der Systemadministrator den Nutzern eine Informationsmitteilung über die Begrenzung der Preisnachlässe für Kunden auf einen einheitlich geltenden Höchstsatz sendet, gefolgt von einer technischen Beschränkung der Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Rabattsätze.

38.

Somit möchte das vorlegende Gericht wissen, ob, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen die Reisebüros, denen diese rechtswidrige Initiative bekannt geworden ist und die das Buchungssystem zukünftig weiterhin nutzen, für einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV zur Verantwortung gezogen werden können.

39.

Nach ständiger Rechtsprechung ( 13 ) müssen für das Vorliegen einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise drei Voraussetzungen erfüllt sein: erstens eine Abstimmung zwischen Unternehmen, zweitens Marktverhalten und drittens ein Kausalzusammenhang zwischen der Abstimmung und dem Marktverhalten.

40.

Die vorliegende Rechtssache betrifft primär die erste Voraussetzung – die Abstimmung zwischen Unternehmen.

41.

Steht nämlich fest, dass eine Abstimmung vorliegt, ist es anhand der Umstände des vorliegenden Falles nicht mehr allzu schwierig, das Vorliegen der beiden weiteren Voraussetzungen – nämlich Marktverhalten und Kausalzusammenhang - festzustellen. Nach den im Urteil Anic aufgestellten Grundsätzen kann den an der Abstimmung beteiligten und weiterhin auf dem Markt tätigen Unternehmen ein tatsächliches Marktverhalten unterstellt werden. Darüber hinaus kann das Marktverhalten im vorliegenden Fall dem Umstand entnommen werden, dass die Beschränkung des Rabattsatzes durch technische Mittel vonstattenging und daher automatisch für alle Reisebüros galt, die das E‑TURAS-System weiterhin nutzten.

42.

Ich weise darauf hin, dass die Vorabentscheidungsfragen des vorlegenden Gerichts nicht die Frage betreffen, ob Eturas als Gehilfin eines Kartells verfolgt werden kann. Der Gerichtshof hat bisher noch keine Entscheidung zu der Frage getroffen, ob Dritte, die nicht auf dem entsprechenden Markt tätig sind, sondern lediglich die Rolle eines Kartellsekretariats innehaben, für eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV zur Verantwortung gezogen werden können. Mit dieser Frage hatte sich kürzlich Generalanwalt Wahl in der Rechtssache AC‑Treuhand/Kommission zu befassen - er war der Ansicht, Art. 101 Abs. 1 AEUV gelte nicht für Unternehmen, die nur im Bereich der Beratungsdienstleistungen tätig seien und nicht auf einem relevanten oder verbundenen Markt ( 14 ). Ich beschränke mich auf die Feststellung, dass sich die vorliegende Rechtssache von diesem Szenario unterscheidet, da Eturas Vertragspartnerin aller betreffenden Reisebüros ist, mit denen sie Lizenzvereinbarungen geschlossen hat, und zudem auf dem Markt für Lizenzen für Online-Buchungssysteme tätig ist, bei dem es sich um einen mit dem Reisebüromarkt verbundenen Markt handelt.

43.

In der folgenden Analyse werde ich die rechtlichen Voraussetzungen prüfen, die für das Vorliegen einer Abstimmung zwischen Unternehmen gegeben sein müssen, und außerdem mehrere damit verwandte Fragen behandeln: das behauptete einseitige Verhalten eines Dritten, inwieweit sich Unternehmen von der Zuwiderhandlung distanzieren können und welche Anforderungen an den Beweis zu stellen sind, damit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung Genüge getan wird.

1. Abstimmung zwischen Unternehmen

44.

Der Gerichtshof hatte bisher keine Gelegenheit, zu klären, unter welchen Umständen einseitige Kommunikation eine zwischen den Adressaten und dem Sender abgestimmte Verhaltensweise darstellen kann.

45.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichts setzt der Begriff der aufeinander abgestimmten Verhaltensweise die Existenz gegenseitiger Kontakte voraus. Die Voraussetzung der Gegenseitigkeit ist erfüllt, wenn ein Wettbewerber seine Absichten oder sein künftiges Verhalten auf dem Markt einem anderen auf dessen Wunsch mitteilt oder dieser die Mitteilung zumindest akzeptiert ( 15 ).

46.

Auch nach meiner Auffassung setzt der Begriff der abgestimmten Verhaltensweise Gegenseitigkeit voraus. Eine abgestimmte Verhaltensweise ist zwangsläufig das Ergebnis eines Einvernehmens ( 16 ). Die tatbestandlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Einvernehmens dürfen jedoch nicht zu eng gefasst sein, da anderenfalls den vielseitigen Erscheinungsformen, die gerade charakteristisch für eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise sind, nicht Rechnung getragen würde.

47.

Dies bedeutet insbesondere, dass Gegenseitigkeit auch bei einer stillschweigenden Zustimmung bejaht werden sollte.

48.

Um von einer stillschweigenden Zustimmung ausgehen und somit feststellen zu können, ob der gemeinsame Wille vorliegt, zu kooperieren statt im gegenseitigen Wettbewerb zu stehen, ist der Kontext der Kommunikation entscheidend.

49.

Erstens, erhält ein Unternehmen Informationen zu einer rechtswidrigen Initiative und widerspricht dieser nicht, so kann aus dem Ausbleiben einer Reaktion auf diese Initiative eine stillschweigende Zustimmung geschlossen werden, sofern die Umstände einem stillschweigenden Einvernehmen förderlich sind. Widerspricht der Empfänger der rechtswidrigen Mitteilung nicht, so geht dies zu seinen Lasten, da unter bestimmten Umständen bereits das Ausbleiben einer Reaktion des Adressaten der anderen Partei bzw. den anderen Parteien Anlass zu der Annahme gibt, der Adressat stimme der rechtswidrigen Initiative zu und werde sich daran halten ( 17 ). Um daher eine wissentliche Teilnahme an einer abgestimmten Verhaltensweise seitens des Adressaten annehmen zu können, muss der Kontext der Interaktion dergestalt sein, dass geschlossen werden kann, dass dem Adressaten klar ist, dass der Wettbewerber sein Stillschweigen als Zustimmung auffasst und trotz des Ausbleibens einer Reaktion mit einem gemeinsamen Vorgehen rechnet.

50.

Zweitens, handelt es sich bei dem Sender der Information nicht um einen Wettbewerber, sondern um einen Dritten, so stellt die Interaktion nur dann eine horizontale Kollusion zwischen Wettbewerbern dar, wenn dem Adressaten klar ist, dass die von einem Dritten gesendete Information von einem Wettbewerber stammt oder zumindest ebenfalls an einen Wettbewerber versendet wird.

51.

Um das Vorliegen einer Abstimmung in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens nachzuweisen, bei der indirekte Kommunikation über Dritte gegeben und eine ausdrückliche Reaktion hierauf ausgeblieben ist, muss daher der Kontext der Interaktion dergestalt sein, dass geschlossen werden kann, dass dem Adressaten klar ist, dass die rechtswidrige Initiative von einem Wettbewerber stammt oder zumindest auch einem Wettbewerber oder Wettbewerbern mitgeteilt wird, die auch trotz des Ausbleibens einer Reaktion mit einem gemeinsamen Vorgehen rechnen.

52.

Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob diese rechtliche Analyse auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits zutrifft.

53.

Insbesondere hat das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung der ungewöhnlichen Kommunikationsmethode zunächst festzustellen, ob den betreffenden Unternehmen unterstellt werden kann, dass sie den Inhalt der Systemmitteilung vom 27. August 2009 zur Kenntnis genommen haben.

54.

Insoweit möchte das vorlegende Gericht wissen, ob davon ausgegangen werden kann, dass die Nutzer des E-TURAS-Systems von der Systemmitteilung wussten.

55.

Ich stelle fest, dass der Rückgriff auf Vermutungen im Wettbewerbsrecht zulässig ist, wenn die auf Erfahrungssätzen aus typischen Geschehensabläufen beruhende Schlussfolgerung mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig und die Vermutung widerleglich ist ( 18 ).

56.

Stellt das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung der Eigenschaften des Buchungssystems und der Dauer der Zuwiderhandlung fest, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass ein durchschnittlich aufmerksamer und vorsichtiger Wirtschaftsteilnehmer von der Systemmitteilung und der hiermit verbundenen Beschränkung Kenntnis genommen hätte, dann könnte das Gericht ebenfalls schließen, dass die hohe Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit dieser Schlussfolgerung die Anwendung einer widerleglichen Vermutung dahin, dass die betreffenden Reisebüros von der rechtswidrigen Initiative vom 27. August 2009 Kenntnis genommen haben, rechtfertigt. Es bleibt möglich, dass ein Unternehmen von der Systemmitteilung vom 27. August 2009 nicht unverzüglich Kenntnis genommen hat bzw. bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände gar keine Kenntnis erlangt hat. Die Widerlegungslast muss jedoch bei dem betreffenden Unternehmen liegen, das schließlich am ehesten in der Lage ist, die Angelegenheit aufzuklären.

57.

Die von den nationalen Behörden angewandten Beweisvermutungen sind jedoch Sache des nationalen Rechts, es sei denn, die Vermutung ergibt sich aus Art. 101 Abs. 1 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof und ist daher integraler Bestandteil des anwendbaren Unionsrechts ( 19 ). Nach meiner Ansicht ergeben sich Beweisvermutungen zu der Frage, ob einem Unternehmen unterstellt werden kann, dass es eine bestimmte Mitteilung erhalten und gelesen hat, weder aus dem Begriff der abgestimmten Verhaltensweise in seiner Auslegung durch den Gerichtshof noch aus dem Wesen des Begriffs selbst, und daher sind solche Vermutungen Sache des nationalen Rechts.

58.

Das vorlegende Gericht muss außerdem feststellen, ob geschlossen werden kann, dass den Unternehmen bewusst war, dass die Mitteilung betreffend die Beschränkung der Rabattsätze von ihren Wettbewerbern stammte oder zumindest ebenfalls an diese Wettbewerber verschickt wurde, und dass es glaubhaft war, dass diese Wettbewerber sogar bei Ausbleiben einer ausdrücklichen Zustimmung mit einem gemeinsamen Vorgehen rechneten.

59.

Nach meiner Auffassung ist die Art der Kommunikation für sich allein betrachtet unerheblich, insbesondere weil man davon ausgehen kann, dass die an einer Kollusion beteiligten Unternehmen die Möglichkeiten des technologischen Fortschritts nutzen. Allerdings kann die Kommunikationsart für die Beurteilung des Kontexts der Interaktion bedeutsam sein.

60.

Insoweit teile ich die Auffassung der Kommission nicht, dass eine Mitteilung, die über das Feld „Informationsmitteilungen“ eines rechnergestützten Systems gesendet wird, sonstigen in der Geschäftswelt verwendeten Kommunikationsmethoden, wie Zusammenkünfte oder E‑Mail-Verkehr, vollständig gleichgestellt werden könne. Systemmitteilungen eines Administrators stellen nämlich keine übliche Kommunikationsart im geschäftlichen Verkehr dar. Ferner stehen Unternehmen nicht schon deshalb als Partner in einem geschäftlichen Dialog, weil sie dasselbe rechnergestützte System nutzen. Die Verbindung ist hier weitaus schwächer als bei Unternehmen, die über E‑Mail kommunizieren oder normale Zusammenkünfte abhalten.

61.

In der vorliegenden Rechtssache ändert sich dieses Bild jedoch, da zu der ungewöhnlichen Kommunikationsart noch weitere Umstände hinzutreten.

62.

Die Systemmitteilung vom 27. August 2009 ist klar verständlich und kann nur als Anstoß verstanden werden, sich an einer unerlaubten wettbewerbswidrigen Verhaltensweise zu beteiligen. Aus den Formulierungen der Mitteilung sowie der Kommunikationsmethode kann geschlossen werden, dass die Mitteilung gleichzeitig an alle Wettbewerber gerichtet war, die das E-TURAS-System nutzten. Die Initiative war auch besonders glaubhaft, da sie von einem Dritten stammte, der als gemeinsamer Vertragspartner und Administrator eines gemeinsamen Buchungssystems Verbindungen zu allen anderen Systemnutzern hatte und auch über die technischen Mittel verfügte, um das Ergebnis der Absprache in die Tat umzusetzen. Der Einsatz dieser technischen Mittel durch den Systemadministrator ist eine höchst effektive Methode zur Erleichterung des Vorgehens, was das Vorliegen einer Absprache indirekt beweist.

63.

Daher musste den Unternehmen, die von der Systemmitteilung Kenntnis genommen hatten, klar sein, dass – wenn sie nicht zügig reagierten – die Initiative automatisch und unverzüglich im Hinblick auf alle Nutzer des Systems umgesetzt werden würde.

64.

Darüber hinaus ist die fragliche Wettbewerbsbeschränkung eindeutig horizontaler Natur. Die Anwendung eines einheitlichen Rabattsatzes durch Wettbewerber erfordert gegenseitigen Verlass, und ein Unternehmen würde sich an eine derartige Initiative nur unter der Bedingung halten, dass dieselbe Beschränkung auch horizontal für seine Wettbewerber gilt. Wird die Beschränkung gutgeheißen, verhalten sich die betreffenden Unternehmen nicht wie im Wettbewerb stehende Marktteilnehmer. Daher ist es den Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens meiner Meinung nach verwehrt, die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu vertikalen Beschränkungen analog heranzuziehen, wonach die bloße Fortsetzung von Geschäftsbeziehungen keine stillschweigende Zustimmung der Großhändler zu einer durch einen Hersteller einseitig auferlegten wettbewerbsbeschränkenden Maßnahme darstellen kann ( 20 ).

65.

Ferner gleicht der Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens bei der mündlichen Verhandlung nicht der sogenannten Hub-and-spoke-Kollusion, bei der Wettbewerber Informationen vertikal über einen gemeinsamen Handelspartner austauschen, wie beispielsweise beim Austausch zwischen Vertriebshändlern über einen gemeinsamen Lieferanten ( 21 ). Bei einem solchen indirekten Austausch ist zusätzlich zu prüfen, welche Einstellung bei den Beteiligten vorhanden ist, da die Offenlegung sensibler Marktinformationen zwischen dem Vertriebshändler und seinen Lieferanten auch als erlaubte Geschäftspraktik betrachtet werden kann. Im Gegensatz zu solchen Situationen betrifft die vorliegende Rechtssache eine Mitteilung, die gleichzeitig an alle Unternehmen, die mit ihrem gemeinsamen Handelspartner zu tun hatten, versandt wurde und die angesichts ihres Inhalts unter keinen Umständen als Teil eines zulässigen geschäftlichen Dialogs aufgefasst werden konnte.

66.

Da es sich bei der behaupteten Beschränkung um eine einmalige Anpassung des Marktverhaltens bezüglich eines einzigen Wettbewerbsparameters im Sinne der Ausführungen im Urteil T‑Mobile handelte, war auch eine einzige Interaktion ausreichend, um einen wettbewerbswidrigen Zweck zu erreichen ( 22 ).

67.

Unter diesen Umständen – die vom nationalen Gericht festzustellen sind – muss geschlossen werden, dass das Unternehmen, das von der Systemmitteilung vom 27. August 2009 Kenntnis genommen hat und das System weiterhin nutzte, ohne sich von der rechtswidrigen Initiative öffentlich zu distanzieren oder sie den Verwaltungsbehörden anzuzeigen, der Initiative zugestimmt hat und daher an einer Abstimmung beteiligt war.

68.

Da zudem die in Rede stehende abgestimmte Verhaltensweise einen Versuch zur Beeinflussung der freien Preisabstimmung darstellt, ist ihr Zweck offenkundig die Beschränkung des Wettbewerbs.

69.

Dementsprechend ist es unerheblich, ob diese Maßnahme auch tatsächlich wettbewerbswidrige Auswirkungen auf dem Markt hatte.

70.

Somit ist es entgegen dem Vorbringen einiger Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens irrelevant, ob das betreffende Reisebüro höhere Preisnachlässe gewährt hatte, bevor die Beschränkung eingeführt wurde oder ob es tatsächlich überhaupt Urlaubsreisen über das E-TURAS-System vertrieben hat, nachdem die Beschränkung eingeführt worden war. Irrelevant ist auch, dass die Reisebüros auch weiterhin die Möglichkeit hatten, außerhalb des E-TURAS-Systems zusätzliche Rabatte für bestimmte Kunden anzubieten. Die Beschränkung war potenziell geeignet, das Marktverhalten der Unternehmen, die ihre Dienstleistungen während des maßgeblichen Zeitraums weiterhin über das E-TURAS-System auf dem Markt anboten, zu beeinflussen, was für den Nachweis der Beteiligung des Unternehmens an der Zuwiderhandlung hinreichend ist.

71.

Ich bin daher der Ansicht, dass unter den im Vorlagebeschluss beschriebenen Umständen die Unternehmen, die an einem gemeinsamen Buchungssystem teilnahmen und denen die rechtswidrige Initiative über die Systemmitteilung vom 27. August 2009 bekannt geworden war und die das System weiterhin nutzten, wegen Teilnahme an einer abgestimmten Verhaltensweise zur Verantwortung zu ziehen sind.

2. Das behauptete einseitige Verhalten eines Dritten

72.

Mehrere Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens tragen in ihren Schriftsätzen vor, die behauptete wettbewerbswidrige Beschränkung sei das Ergebnis einer einseitigen Handlung von Eturas.

73.

Einzuräumen ist, dass bei einer rechtswidrigen Initiative, die von einem Dritten kommuniziert wurde, bei dem es sich ebenfalls um ein auf einem verbundenen Markt tätiges Unternehmen handelt, die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass die entstandene Beschränkung dem einseitigen Verhalten des Dritten zuzurechnen ist. Dies kann meines Erachtens der Fall sein, wenn sowohl die rechtswidrige Initiative als solche als auch die damit im Rahmen der Umsetzung zusammenhängenden Maßnahmen ausschließlich dem im eigenen Interesse handelnden Dritten zuzurechnen sind ( 23 ).

74.

Dies scheint jedoch in der vorliegenden Rechtssache in dem im Vorlagebeschluss geschilderten Sachverhalt keine Stütze zu finden.

75.

Zwar bezieht sich die Vorlagefrage lediglich auf die durch Eturas am 27. August 2009 auferlegte technische Beschränkung sowie die entsprechende Systemmitteilung, dem Vorlagebeschluss ist jedoch zu entnehmen, dass diesen Maßnahmen vorbereitende Kontakte zwischen Eturas und zumindest einigen der betreffenden Unternehmen vorausgegangen waren.

76.

Erstens gibt die Systemmitteilung vom 27. August 2009 zur Begründung für die Maßnahme von Eturas ausdrücklich die „von den Reisebüros geäußerten Erklärungen, Vorschläge und Wünsche“ an. Zweitens ist dem Vorlagebeschluss zu entnehmen, dass Eturas vor der Beschränkung der Rabattsätze eine E‑Mail an mehrere Reisebüros sandte, mit der sie diese aufforderte, über eine allgemeine Herabsetzung der Rabattsätze sowie über eine konkrete wünschenswerte Höhe der Preisnachlässe abzustimmen, allerdings existieren – mit Ausnahme bei einem Unternehmen – keine Nachweise dafür, ob die betreffenden Reisebüros die E‑Mail erhielten oder beantworteten. Drittens erklärte der Geschäftsführer von Eturas, er habe eine Umfrage über den Basisrabatt für Online-Buchungen durchgeführt, änderte diese Aussage allerdings später wieder.

77.

Anzumerken ist, dass es bei Fällen, die geheime wettbewerbswidrige Verhaltensweisen betreffen, sehr wichtig ist, die Beweise in ihrer Gesamtheit zu sehen. Die Beweismittel, auf die sich die Verwaltungsbehörde stützt, um das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV nachzuweisen, dürfen nicht einzeln, sondern müssen in ihrer Gesamtheit betrachtet werden ( 24 ).

78.

Daher können die Beweise für vorbereitende Handlungen zwischen Reisebüros und Eturas trotz des Umstands, dass sie lückenhaft und teilweise lediglich indizienartig sind, bei der Prüfung des für die Feststellung einer Zuwiderhandlung herangezogenen Beweismaterials nicht vollständig außer Acht gelassen werden.

79.

Zwar haben die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung eine alternative Erklärung für die Handlungen von Eturas vorgebracht, nämlich, dass diese versucht habe, das System für größere Reisebüros attraktiv zu halten; diese Erklärung schließt jedoch nicht aus, dass die Initiative von den Reisebüros selbst ausging und Eturas lediglich als verlängerter Arm der Kartellmitglieder handelte, was das Beweismaterial in den Akten des vorlegenden Gerichts nahelegt.

80.

Selbst wenn man davon ausginge, dass ein gemeinsamer Geschäftspartner, der als Gehilfe eines Kartells handelte, aus eigenem Antrieb versucht hat, seine Kunden stärker an sich zu binden, indem er darauf hinwirkte, ihnen durch die Beschränkung des Wettbewerbs höhere Gewinne zu verschaffen, schlösse dies die Verantwortlichkeit der Kartellmitglieder, die der rechtswidrigen Initiative stillschweigend zugestimmt haben, nicht aus.

81.

Somit wäre in der vorliegenden Rechtssache die Feststellung, dass die Reisebüros ihre Verhaltensweisen aufeinander abgestimmt haben, nicht ausgeschlossen, selbst wenn man davon ausgeht, dass Eturas aus eigenem Antrieb handelte, um die Loyalität der das E-TURAS-System nutzenden Reisebüros sicherzustellen, da – auch wenn man diese alternative Erklärung zugrunde legt – die Handlungen von Eturas durch die Interessen ihrer der Initiative stillschweigend zustimmenden Kunden motiviert gewesen wären.

3. Distanzierung von der aufeinander abgestimmten Verhaltensweise

82.

Ein verwandtes Problem betrifft die Möglichkeit der betreffenden Unternehmen, sich von der Zuwiderhandlung zu distanzieren.

83.

Weist die Verwaltungsbehörde nach, dass das betreffende Unternehmen an Sitzungen teilnahm, bei denen wettbewerbswidrige Vereinbarungen getroffen wurden, ohne sich offen dagegen auszusprechen, so ist dies nach ständiger Rechtsprechung ein ausreichender Beleg für die Teilnahme dieses Unternehmens am Kartell. In dem Fall obliegt es dem fraglichen Unternehmen, Indizien vorzutragen, die zum Beweis seiner fehlenden wettbewerbswidrigen Einstellung bei der Teilnahme an den Sitzungen geeignet sind, und nachzuweisen, dass es seine Wettbewerber darauf hingewiesen hat, dass es an den Sitzungen mit einer anderen Zielsetzung als diese teilnahm ( 25 ).

84.

Dieser Grundsatz beruht auf der Erwägung, dass das Unternehmen, indem es an dem fraglichen Treffen teilnahm, ohne sich offen von dessen Inhalt zu distanzieren, den anderen Teilnehmern Anlass zu der Annahme gab, dass es dem Ergebnis des Treffens zustimme und sich daran halten werde. Die stillschweigende Billigung einer rechtswidrigen Initiative, ohne sich offen von deren Inhalt zu distanzieren oder sie den Verwaltungsbehörden anzuzeigen, führt dazu, dass die Fortsetzung der Zuwiderhandlung begünstigt und ihre Entdeckung gefährdet wird. Dieses Verhalten stellt eine passive Form der Beteiligung an der Zuwiderhandlung dar und ist daher geeignet, die Verantwortlichkeit eines Unternehmens auszulösen ( 26 ).

85.

Der Umstand, dass ein Unternehmen die Ergebnisse einer solchen Sitzung nicht umsetzt, kann es nicht von seiner Verantwortung entlasten, sofern es sich nicht offen von dessen Inhalt distanziert hat. Darüber hinaus ist die Rolle eines Unternehmens im Rahmen einer wettbewerbswidrigen Absprache für die Feststellung seiner Verantwortlichkeit irrelevant und darf nur bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung zur Bemessung der Geldbuße berücksichtigt werden ( 27 ).

86.

Nach meiner Meinung ist diese Rechtsprechung, auch wenn sie im Kontext der unbeabsichtigten Teilnahme an einem kollusiven Treffen erging, auch für den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache einschlägig.

87.

Tatsächlich kann sich nämlich ein Unternehmen, das ein Online-Buchungssystem nutzt, das als Plattform für wettbewerbswidrige Verhaltensweisen missbraucht wird, entlasten, indem es durch eine der beiden von der Rechtsprechung des Gerichtshofs dazu entwickelten Möglichkeiten von diesem Verhalten Abstand nimmt: Es distanziert sich öffentlich von der rechtswidrigen Initiative oder zeigt diese bei den Verwaltungsbehörden an.

88.

Ich betone, dass es unzumutbar wäre, von einem Unternehmen zu verlangen, seine ablehnende Auffassung gegenüber sämtlichen an der abgestimmten Verhaltensweise beteiligten Unternehmen zum Ausdruck zu bringen. Insbesondere ist es angesichts der Umstände des Ausgangsrechtsstreits recht wahrscheinlich, dass die Identität der betreffenden Wettbewerber gar nicht unmittelbar zu erkennen war. So haben einige Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens vorgetragen, die Identität der anderen Nutzer des E-TURAS-Systems nicht gekannt zu haben.

89.

Der Widerspruch muss jedoch auf eine dem betreffenden Unternehmen vernünftigerweise zu Gebote stehende Art öffentlich zum Ausdruck gebracht werden, also zumindest durch Mitteilung an den Systemadministrator, der die Beschränkung platzierte, sowie an diejenigen Unternehmen, deren Identität möglicherweise bekannt ist.

90.

Das betreffende Unternehmen muss hinreichend deutlich machen, dass es mit der Initiative nicht einverstanden ist und beabsichtigt, sich nicht an die Praktik zu halten. Somit ist es beispielsweise nicht ausreichend, wenn das betreffende Unternehmen die Mitteilung ignoriert oder seine Mitarbeiter anweist, sich nicht an die Praktik zu halten. Auch würde es nicht ausreichen, der Praktik lediglich durch das eigene Marktverhalten zu widersprechen – indem z. B., wie von einigen Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens geltend gemacht, individuell zugeschnittene Rabatte gewährt werden, um die allgemeine Beschränkung auszugleichen. Ohne öffentlichen Widerspruch wäre es nämlich schwierig, ein solches Verhalten von einer bloßen Hintergehung der sonstigen Kartellmitglieder abzugrenzen.

91.

Andererseits – entgegen der vom Wettbewerbsrat in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Auffassung – darf das Widerspruchserfordernis nicht so weit gehen, dass eine Pflicht seitens des Unternehmens begründet wird, das Online-Buchungssystem ganz aufzugeben.

92.

Ich stimme zu, dass das betreffende Unternehmen nicht nur seinen Widerspruch zum Ausdruck bringen, sondern sich auch durch unabhängiges Marktverhalten abgrenzen muss. Dies bedeutet im vorliegenden Fall, dass im Rahmen der öffentlichen Distanzierung alle angemessenen Mittel einzusetzen sind, um die Beschränkung nicht zur Anwendung kommen zu lassen, wie beispielsweise über seine Webseite Mitteilungen an Kunden zu verbreiten, und, falls diese Maßnahmen keine Wirkung zeigen, den Vorgang den Verwaltungsbehörden anzuzeigen. Diese Pflicht darf jedoch nicht so weit gehen, dass sämtliche Geschäftsbeziehungen zu Eturas einzustellen sind, da dies den Zugang des Reisebüros zu einem im Grundsatz zulässigen Vertriebskanal abschneiden würde.

93.

Schließlich muss der Widerspruch zügig und in jedem Fall innerhalb eines angemessenen Zeitraums, nachdem die rechtswidrige Initiative bekannt geworden ist, zum Ausdruck gebracht werden. Erfolgt dies nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums, so wird die Verantwortlichkeit des Unternehmens ab dem Zeitpunkt ausgelöst, zu dem es Kenntnis von der Initiative erlangt hat oder diese hätte kennen müssen.

4. Beweisanforderungen und Unschuldsvermutung

94.

Angesichts der vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel möchte ich einige abschließende Anmerkungen zu der Frage machen, welche Anforderungen an den Beweis zur Feststellung des Vorliegens einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise zu stellen sind, damit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung Genüge getan wird.

95.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der nunmehr in Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatz der Unschuldsvermutung in Verfahren wegen Verletzung der für Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln anwendbar ( 28 ).

96.

Im Rahmen des Systems der öffentlichen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union obliegt es der Kommission, die Beweismittel beizubringen, die das Vorliegen der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellenden Tatsachen rechtlich hinreichend beweisen. Die Kommission hat hierzu genaue und übereinstimmende Beweise beizubringen ( 29 ). Dem zuständigen Richter verbleibende Zweifel müssen dem Unternehmen, an das die eine Zuwiderhandlung feststellende Entscheidung gerichtet ist, zugutekommen ( 30 ).

97.

Der Grundsatz der Unschuldsvermutung steht jedoch der Anwendung einer widerleglichen Vermutung im Wettbewerbsrecht nicht entgegen ( 31 ).

98.

Als Beispiele für solche Vermutungen sind hier die nach den Grundsätzen im Urteil Anic aufgestellte Vermutung sowie die Vermutung, dass ein Mutterunternehmen einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik seines 100%igen Tochterunternehmens ausübt ( 32 ), zu nennen. Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass in Fällen, in denen die Kommission festgestellt hat, dass ein Unternehmen an offenkundig wettbewerbswidrigen Sitzungen von Unternehmen teilgenommen hat, das entsprechende Unternehmen eine alternative Erklärung über den Zweck der Sitzung vorbringen und die von der Kommission gezogenen Schlüsse widerlegen kann ( 33 ).

99.

Durch diese Vermutungen wird die Beweislast nicht auf den Adressaten der Entscheidung der Wettbewerbsbehörde verlagert. Sie ermöglichen es der Behörde lediglich, aufgrund von Erfahrungssätzen bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen ( 34 ). Die somit prima facie entstehende Schlussfolgerung kann durch Gegenbeweise widerlegt werden, andernfalls genügt sie den Anforderungen an die Beweislast, die weiterhin bei der Verwaltungsbehörde liegt. Der Rückgriff auf solche Vermutungen ist darüber hinaus durch das Erfordernis gerechtfertigt, die praktische Wirksamkeit der Wettbewerbsregeln der Union zu gewährleisten, da ohne sie der Nachweis einer Zuwiderhandlung unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden könnte.

100.

Soweit sich die Vermutungen aus Art. 101 Abs. 1 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof ergeben und daher integraler Bestandteil des anwendbaren Unionsrechts sind, fallen sie nicht unter den Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten ( 35 ) und sind daher für nationale Behörden bei der Anwendung der unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln verbindlich ( 36 ).

101.

So können in der vorliegenden Rechtssache der Wettbewerbsrat und das vorlegende Gericht, ohne gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung zu verstoßen, die Vermutung anstellen, dass ein Unternehmen, das Kenntnis von der Systemmitteilung vom 27. August 2009 erlangt hat und das E-TURAS-System weiterhin nutzte, der rechtswidrigen Initiative stillschweigend zustimmte. Es obliegt dem betreffenden Unternehmen, Beweise beizubringen, dass es seine Ablehnung bekundet hat, oder nachzuweisen, dass die Abstimmung nicht geeignet war, sein Marktverhalten zu beeinflussen.

102.

Durch den Rückgriff auf eine solche Vermutung nehmen die Verwaltungsbehörde und das nationale Gericht weder eine Umkehr der Beweislast vor, noch verletzen sie Verteidigungsrechte oder verstoßen gegen die Unschuldsvermutung.

IV – Ergebnis

103.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:


( 1 )   Originalsprache: Englisch.

( 2 )   Siehe Schlussanträge in der Rechtssache Rhône-Poulenc/Kommission (T‑1/89, EU:T:1991:38, S. 939).

( 3 )   „AAA Wrislit“ UAB, „Visveta“ UAB, „Baltic Clipper“ UAB, „Guliverio kelionės“ UAB, „Baltic Tours Vilnius“ UAB, „Kelionių laikas“ UAB, „Vestekspress“ UAB, „Kelionių akademija“ UAB, „Travelonline Baltics“ UAB und „Megaturas“ UAB.

( 4 )   „AAA Wrislit“ UAB, „Vestekspress“ UAB, „Kelionių akademija“ UAB, „Travelonline Baltics“ UAB, „Visveta“ UAB, „Baltic Clipper“ UAB, „Megaturas“ UAB und „Keliautojų klubas“ UAB.

( 5 )   Für eine derartige frühere Rechtssache vgl. Urteil T‑Mobile Netherlands u. a. (C‑8/08, EU:C:2009:343).

( 6 )   Vgl. Urteil Kommission/Anic Partecipazioni (C‑49/92 P, EU:C:1999:356, Rn. 131).

( 7 )   Vgl. Urteile Suiker Unie u. a./Kommission (40/73 bis 48/73, 50/73, 54/73 bis 56/73, 111/73, 113/73 und 114/73, EU:C:1975:174, Rn. 26) und Kommission/Anic Partecipazioni (C‑49/92 P, EU:C:1999:356, Rn. 115).

( 8 )   Vgl. Urteile Suiker Unie u. a./Kommission (40/73 bis 48/73, 50/73, 54/73 bis 56/73, 111/73, 113/73 und 114/73, EU:C:1975:174, Rn. 174) und Kommission/Anic Partecipazioni (C‑49/92 P, EU:C:1999:356, Rn. 117).

( 9 )   Vgl. Urteile Kommission/Anic Partecipazioni (C‑49/92 P, EU:C:1999:356, Rn. 118 und 121) und Hüls/Kommission (C‑199/92 P, EU:C:1999:358, Rn. 161 und 162).

( 10 )   Vgl. in diesem Sinne Urteil T‑Mobile Netherlands u. a. (C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 59).

( 11 )   Ebd. (Rn. 60).

( 12 )   Vgl. Urteile Consten und Grundig/Kommission (56/64 und 58/64, EU:C:1966:41, S. 390), T‑Mobile Netherlands u. a. (C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 29) sowie Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission (C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 127).

( 13 )   Siehe Nr. 33 der vorliegenden Schlussanträge.

( 14 )   Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache AC‑Treuhand/Kommission (C‑194/14 P, EU:C:2015:350).

( 15 )   Vgl. Urteile Cimenteries u. a./Kommission (T‑25/95, T‑26/95, T‑30/95 bis T‑32/95, T‑34/95 bis T‑39/95, T‑42/95 bis T‑46/95, T‑48/95, T‑50/95 bis T‑65/95, T‑68/95 bis T‑71/95, T‑87/95, T‑88/95, T‑103/95 und T‑104/95, EU:T:2000:77, Rn. 1849) und BPB/Kommission (T‑53/03, EU:T:2008:254, Rn. 153 und 182).

( 16 )   Dies ist schon rein begrifflich der Fall, denn „Kooperation … [ist] zwangsläufig eine wissentliche Aktivität“, vgl. O. Black, Conceptual foundations of antitrust, Cambridge 2005, S. 142.

( 17 )   Vgl. hierzu Urteil Aalborg Portland u. a./Kommission (C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 82).

( 18 )   Vgl. Nrn. 97 bis 99 der vorliegenden Schlussanträge.

( 19 )   Vgl. Urteil T‑Mobile Netherlands u. a. (C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 50 bis 52).

( 20 )   Vgl. Urteile Bayer/Kommission (T‑41/96, EU:T:2000:242, Rn. 173) und BAI und Kommission/Bayer (C‑2/01 P und C‑3/01 P, EU:C:2004:2, Rn. 141).

( 21 )   Vgl. O. Odudu, „Indirect information exchange: the constituent elements of hub and spoke collusion“, European Competition Journal, Bd. 7, Nr. 2, S. 205.

( 22 )   Vgl. Nr. 35 der vorliegenden Schlussanträge.

( 23 )   Um ein hypothetisches Beispiel zu nennen: Entscheidet sich der Betreiber eines Online-Buchungssystems, die Preisgestaltungsmöglichkeiten der Unternehmen, die das System nutzen, zu beschränken, und handelt er dabei ausschließlich im eigenen Interesse – beispielsweise um seine Einkünfte aus Provisionen zu maximieren oder den Wettbewerb auf dem Markt der Buchungssysteme zu beschränken, halte ich es für problematisch, hieraus abzuleiten, dass die Nutzer des Systems schon deshalb an einer horizontalen Kollusion beteiligt sind, weil sie der Beschränkung nicht widersprochen haben. Nach meiner Meinung müsste dieses hypothetische Verhalten als eine Reihe vertikaler Vereinbarungen geprüft werden oder als potenziell unter Art. 102 AEUV fallendes einseitiges Verhalten.

( 24 )   Vgl. in diesem Sinne Urteil Imperial Chemical Industries/Kommission (48/69, EU:C:1972:70, Rn. 68) und Schlussanträge des Generalanwalts Vesterdorf in der Rechtssache Rhône-Poulenc/Kommission (T‑1/89, EU:T:1991:38, S. 954).

( 25 )   Vgl. Urteile Kommission/Anic Partecipazioni (C‑49/92 P, EU:C:1999:356, Rn. 96) und Aalborg Portland u. a./Kommission (C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 81).

( 26 )   Vgl. Urteil Aalborg Portland u. a./Kommission (C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 82 und 84).

( 27 )   Vgl. Urteil Aalborg Portland u. a./Kommission (C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 85 und 86).

( 28 )   Vgl. in diesem Sinne Urteile Hüls/Kommission (C‑199/92 P, EU:C:1999:358, Rn. 149 und 150) und Montecatini/Kommission (C‑235/92 P, EU:C:1999:362, Rn. 175 und 176).

( 29 )   Vgl. Urteile Baustahlgewebe/Kommission (C‑185/95 P, EU:C:1998:608, Rn. 58), BAI und Kommission/Bayer (C‑2/01 P und C‑3/01 P, EU:C:2004:2, Rn. 62) und E.ON Energie/Kommission (C‑89/11 P, EU:C:2012:738, Rn. 72 und 73).

( 30 )   Vgl. Urteil E.ON Energie/Kommission (C‑89/11 P, EU:C:2012:738, Rn. 72).

( 31 )   Für eine Analyse zur Anwendung solcher Vermutungen im Wettbewerbsrecht vgl. die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache T‑Mobile Netherlands u. a. (C‑8/08, EU:C:2009:110, Rn. 89 bis 93).

( 32 )   Vgl. entsprechend Nr. 33 dieser Schlussanträge sowie Urteil Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 60).

( 33 )   Vgl. Urteile Aalborg Portland u. a./Kommission (C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 87) und E.ON Energie/Kommission (C‑89/11 P, EU:C:2012:738, Rn. 75).

( 34 )   Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache T‑Mobile Netherlands u. a. (C‑8/08, EU:C:2009:110, Rn. 89) und Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑97/08 P, EU:C:2009:262, Rn. 72).

( 35 )   Man könnte argumentieren, dass die nationalen Behörden bei der Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV generell an die Rechtsprechung des Gerichtshofs betreffend Verfahrensgarantien in Verbindung mit Verteidigungsrechten im Rahmen der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts gebunden sind. Vgl. K. Kowalik-Bańczyk, Prawo do obrony w unijnych postępowaniach antymonopolowych, Warschau 2012, S. 546.

( 36 )   Vgl. in diesem Sinne Urteil T‑Mobile Netherlands u. a. (C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 50 bis 52).

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