Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62013CJ0647

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 4. Februar 2015.
Office national de l'emploi gegen Marie-Rose Melchior.
Vorabentscheidungsersuchen der Cour du travail de Bruxelles.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit – Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld in einem Mitgliedstaat – Berücksichtigung von Arbeitszeiten als Vertragsbediensteter im Dienst eines in diesem Mitgliedstaat ansässigen Organs der Europäischen Union – Gleichstellung von Tagen der Arbeitslosigkeit, für die nach den Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften eine Zahlung geleistet wird, mit Arbeitstagen – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit.
Rechtssache C-647/13.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2015:54

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

4. Februar 2015 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Soziale Sicherheit — Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld in einem Mitgliedstaat — Berücksichtigung von Arbeitszeiten als Vertragsbediensteter im Dienst eines in diesem Mitgliedstaat ansässigen Organs der Europäischen Union — Gleichstellung von Tagen der Arbeitslosigkeit, für die nach den Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften eine Zahlung geleistet wird, mit Arbeitstagen — Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“

In der Rechtssache C‑647/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour du travail de Bruxelles (Belgien) mit Entscheidung vom 27. November 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Dezember 2013, in dem Verfahren

Office national de l’emploi

gegen

Marie-Rose Melchior

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader sowie der Richter E. Jarašiūnas (Berichterstatter) und C. G. Fernlund,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Frau Melchior, vertreten durch S. Capiau, avocat,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und D. Martin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Oktober 2014

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit und von Art. 34 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Office national de l’emploi (nationales Amt für Beschäftigung, im Folgenden: ONEM) und Frau Melchior wegen der Weigerung des ONEM, Frau Melchior Arbeitslosengeld zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 96 der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften, die in der Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 259/68 des Rates vom 29. Februar 1968 zur Festlegung des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften sowie zur Einführung von Sondermaßnahmen, die vorübergehend auf die Beamten der Kommission anwendbar sind (ABl. L 56, S. 1), in der durch die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 723/2004 des Rates vom 22. März 2004 (ABl. L 124, S. 1) geänderten Fassung niedergelegt sind (im Folgenden: BSB), bestimmt:

„(1)   Der ehemalige Vertragsbedienstete, der nach dem Ausscheiden aus dem Dienst bei einem Organ der Gemeinschaft arbeitslos ist und

a)

der von der Gemeinschaft kein Ruhegehalt und kein Invalidengeld bezieht,

b)

der nicht aufgrund einer Entlassung oder Auflösung des Vertrags aus disziplinarischen Gründen aus dem Dienst ausgeschieden ist,

c)

der eine Mindestdienstzeit von sechs Monaten abgeleistet hat und

d)

der in einem Mitgliedstaat seinen Wohnsitz hat,

erhält unter den nachstehend festgelegten Voraussetzungen ein monatliches Arbeitslosengeld.

Hat er Anspruch auf Arbeitslosengeld aus einer einzelstaatlichen Versicherung, so ist er verpflichtet, dies dem Organ, dem er angehörte, anzugeben; dieses Organ setzt umgehend die Kommission davon in Kenntnis. In diesem Fall wird der entsprechende Betrag von dem nach Absatz 3 gezahlten Arbeitslosengeld abgezogen.

(2)   Um Arbeitslosengeld zu erhalten, muss der ehemalige Vertragsbedienstete

a)

auf eigenen Antrag beim Arbeitsamt des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz nimmt, als Arbeitsuchender gemeldet sein;

b)

die in diesem Mitgliedstaat gesetzlich vorgeschriebenen Auflagen und Bedingungen erfüllen, die dem Empfänger von Arbeitslosengeld aufgrund dieser Rechtsvorschriften auferlegt sind;

c)

dem Organ, dem er angehörte, jeden Monat eine Bescheinigung der zuständigen einzelstaatlichen Behörde vorlegen, aus der hervorgeht, ob er den Auflagen und Bedingungen nach den Buchstaben a) und b) nachgekommen ist; das Organ übermittelt die Bescheinigung umgehend der Kommission.

Das Arbeitslosengeld kann von der Gemeinschaft auch dann gewährt oder weitergezahlt werden, wenn die unter Buchstabe b) genannten einzelstaatlichen Auflagen nicht erfüllt sind, und zwar im Falle von Krankheit, Unfall, Mutterschaft, Invalidität oder einer gleichartigen Situation oder wenn die zuständige einzelstaatliche Behörde den ehemaligen Vertragsbediensteten von der Erfüllung dieser Auflagen befreit.

(7)   Der Vertragsbedienstete trägt zu einem Drittel zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung bei.

(9)   Unter Einhaltung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften tragen die für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit zuständigen einzelstaatlichen Stellen sowie die Kommission für eine effiziente Zusammenarbeit Sorge, damit dieser Artikel ordnungsgemäß angewandt wird.

…“

Belgisches Recht

4

Der Königliche Erlass vom 25. November 1991 zur Regelung der Arbeitslosigkeit (Moniteur belge vom 31. Dezember 1991, S. 29888, im Folgenden: Königlicher Erlass) sieht in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung in Art. 30 vor, dass über 50 Jahre alte Vollzeitarbeitnehmer nur dann Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, wenn sie in den 36 Monaten vor der Stellung des Antrags auf Arbeitslosengeld an 624 Arbeitstagen gearbeitet haben.

5

Nach Art. 37 § 1 des Königlichen Erlasses

„… werden als Arbeitsleistungen die tatsächliche normale Arbeit und Überstunden ohne Ausgleichsruhezeiten berücksichtigt, die in einem der Sozialversicherung, Sektor Arbeitslosigkeit, angeschlossenen Beruf oder Unternehmen erbracht worden sind, für die gleichzeitig

ein Entgelt mindestens in Höhe des Mindestlohns gezahlt worden ist, der in einer Rechtsvorschrift oder in einem für das Unternehmen verbindlichen Kollektivarbeitsvertrag oder andernfalls durch Übung festgesetzt ist;

von dem gezahlten Entgelt die vorgeschriebenen Abgaben für die Sozialversicherung, einschließlich solcher für den Sektor Arbeitslosigkeit, einbehalten worden sind.

…“

6

Art. 37 § 2 des Königlichen Erlasses bestimmt:

„Im Ausland geleistete Arbeit wird berücksichtigt, wenn sie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses geleistet wurde, das in Belgien zur Einbehaltung der Abgaben für die Sozialversicherung, einschließlich solcher für den Sektor Arbeitslosigkeit, führen würde.

§ 1 gilt jedoch nur, wenn der Arbeitnehmer, nachdem er im Ausland gearbeitet hat, Arbeitszeiten als abhängig Beschäftigter nach den belgischen Rechtsvorschriften abgeleistet hat.“

7

Nach Art. 38 § 1 Nr. 1 Buchst. a des Königlichen Erlasses werden für die Anwendung der Art. 30 ff. des Erlasses Arbeitstagen Tage gleichgestellt, für die eine Zahlung nach den Rechtsvorschriften über die Arbeitslosenversicherung gewährt worden ist.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

8

Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, war Frau Melchior, eine belgische Staatsangehörige, in verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen als Arbeitnehmerin in Belgien tätig, bevor sie vom 1. März 2005 bis zum 29. Februar 2008 als Vertragsbedienstete bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften in Brüssel arbeitete.

9

Mit Entscheidung vom 5. März 2008 verweigerte das ONEM ihr die Zahlung von Arbeitslosengeld, die sie am 1. März 2008 beantragt hatte, und zwar mit der Begründung, dass sie keine 624 Arbeitstage innerhalb der 36 Monate vor der Antragstellung nachweisen könne. Dabei hatte das ONEM die Zeit ihrer Beschäftigung bei der Kommission nicht berücksichtigt.

10

Nachdem Frau Melchior ab dem 1. März 2008 zwölf Monate lang das in den BSB vorgesehene Arbeitslosengeld bezogen hatte und zwischen dem 20. August 2008 und dem 13. Juli 2009 in verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet hatte, stellte sie erneut einen Antrag auf Arbeitslosengeld, den das ONEM mit Entscheidung vom 26. August 2009 abermals mit der Begründung ablehnte, dass sie nicht nachgewiesen habe, an 624 Arbeitstagen innerhalb von 36 Monaten vor der Antragstellung, also in der Zeit vom 14. Juli 2006 bis zum 14. Juli 2009, gearbeitet zu haben.

11

Zur Ermittlung der Zahl der geleisteten Arbeitstage legte das ONEM nur die auf die verschiedenen Beschäftigungsverhältnisse entfallenden Zeiten zugrunde. Es weigerte sich zum einen, die Beschäftigungszeit im Dienst der Kommission als eine im Ausland zurückgelegte Arbeitszeit im Sinne von Art. 37 § 2 des Königlichen Erlasses zu berücksichtigen, und zum anderen, auf der Grundlage von Art. 38 § 1 Nr. 1 Buchst. a des Erlasses die Zeit der Arbeitslosigkeit, für die Leistungen nach den BSB gezahlt worden waren, einer Arbeitszeit gleichzustellen.

12

Frau Melchior focht die Entscheidung des ONEM vom 26. August 2009 vor dem Tribunal du travail de Bruxelles (Arbeitsgericht Brüssel) an, das diese Entscheidung mit Urteil vom 14. Februar 2012 aufhob, feststellte, dass Frau Melchior vom 14. Juli 2009 an Anspruch auf Arbeitslosengeld habe, und das ONEM zur Zahlung der seit diesem Zeitpunkt fälligen Leistungen verurteilte.

13

Das ONEM hat gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel bei der Cour du travail de Bruxelles (Arbeitsgerichtshof Brüssel) eingelegt, mit dem es beantragt, das Urteil abzuändern und die Entscheidung vom 26. August 2009 wiederherzustellen.

14

In seiner Vorlageentscheidung führt die Cour du travail de Bruxelles aus, dass die von Art. 37 § 1 des Königlichen Erlasses erfassten Abgaben diejenigen nach belgischem Recht seien und dass dieser Erlass unabhängig von möglichen Auswirkungen des Unionsrechts nicht verlange, die Abgaben zu berücksichtigen, die gegebenenfalls in Belgien aufgrund einer anderen Regelung über Arbeitslosigkeit als der mit dem Erlass eingeführten geleistet worden seien. Daher habe das erstinstanzliche Gericht unabhängig vom Unionsrecht nicht davon ausgehen dürfen, dass etwaige Abgaben, die nach den BSB einbehalten worden seien, Abgaben im Sinne von Art. 37 § 1 des Königlichen Erlasses seien.

15

Bei der Prüfung der Anforderungen, die sich aus dem Unionsrecht hinsichtlich der Berücksichtigung von im Dienst eines europäischen Organs mit Sitz in Belgien zurückgelegten Beschäftigungszeiten ergeben können, stellt die Cour du travail de Bruxelles unter Bezugnahme auf die Urteile Ferlini (C‑411/98, EU:C:2000:530, Rn. 41) und My (C‑293/03, EU:C:2004:821, Rn. 35) sowie den Beschluss Ricci und Pisaneschi (C‑286/09 und C‑287/09, EU:C:2010:420, Rn. 26) fest, dass Frau Melchior nicht als Arbeitnehmerin im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2) oder der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1) einzustufen sei. Auch könne sich ein Arbeitnehmer, der, wie Frau Melchior, für ein europäisches Organ mit Sitz in Belgien tätig gewesen sei und zuvor nirgendwo anders als in diesem Mitgliedstaat gearbeitet habe, nicht auf die Bestimmungen des AEU-Vertrags, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleisteten, berufen, da diese auf rein interne Sachverhalte nicht anwendbar seien.

16

Die Cour du travail de Bruxelles weist jedoch darauf hin, dass der Gerichtshof mehrfach festgestellt habe, dass das belgische Versorgungssystem die Übertragbarkeit der Ansprüche eines Arbeitnehmers, der sowohl bei einem belgischen Arbeitgeber als auch im Dienst eines europäischen Organs beschäftigt gewesen sei, nicht ausreichend gewährleiste. Sie führt hierfür die Urteile Kommission/Belgien (137/80, EU:C:1981:237, Rn. 19) und My (EU:C:2004:821) an. Während das ONEM geltend macht, dass sich die Erwägungen in diesem letzteren Urteil auf eine spezielle Bestimmung im Bereich der Versorgung stützten, so dass sie nicht auf das System der Arbeitslosenversicherung übertragbar seien, hat die Cour du travail de Bruxelles Zweifel an diesem Vorbringen und führt aus, dass die vom Gerichtshof in diesem Urteil entwickelte Lösung an den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit anzuknüpfen scheine. Außerdem sei diese Lösung nicht nur im Bereich der Versorgung angewandt worden, sondern auch bei Elterngeld und Familienleistungen sowie im Zusammenhang mit einem Steuervorteil.

17

Nach Ansicht der Cour du travail de Bruxelles könnte aus dieser Rechtsprechung abgeleitet werden, dass der in Art. 4 Abs. 3 EUV normierte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit der Anwendung der Art. 37 und 38 § 1 Nr. 1 Buchst. a des Königlichen Erlasses in ihrer Auslegung durch das ONEM entgegenstehe. Darüber hinaus erscheint ihr ein Widerspruch zu Art. 34 Abs. 1 der Charta nicht ausgeschlossen, dessen Unterabs. 1 sich nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) auf Art. 12 der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten und am 3. Mai 1996 in Straßburg revidierten Europäischen Sozialcharta stütze.

18

Unter diesen Umständen hat die Cour du travail de Bruxelles beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen zum einen der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und Art. 4 Abs. 3 EUV und zum anderen Art. 34 Abs. 1 der Charta dem entgegen, dass sich ein Mitgliedstaat im Hinblick auf die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit weigert,

Arbeitszeiten zu berücksichtigen, die als Vertragsbediensteter im Dienst eines Organs der Europäischen Union mit Sitz in diesem Mitgliedstaat zurückgelegt wurden, insbesondere dann, wenn sowohl vor als auch nach der Beschäftigungszeit als Vertragsbediensteter Leistungen als Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats erbracht worden sind;

die Tage der Arbeitslosigkeit, für die im Rahmen der BSB eine Zahlung geleistet wurde, Arbeitstagen gleichzustellen, während die Tage der Arbeitslosigkeit, für die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats eine Zahlung geleistet wurde, gleichgestellt werden?

Zur Vorlagefrage

19

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung des ONEM am 26. August 2009, also vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, ergangen ist.

20

Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen möchte, ob Art. 10 EG und Art. 34 Abs. 1 der Charta einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die dahin ausgelegt wird, dass für den Anspruch auf Arbeitslosengeld die als Vertragsbediensteter bei einem Organ der Union mit Sitz in diesem Mitgliedstaat zurückgelegten Arbeitszeiten nicht berücksichtigt werden und Tage der Arbeitslosigkeit, für die Arbeitslosengeld nach den BSB gezahlt wurde, Arbeitstagen nicht gleichgestellt werden, solche, für die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats eine Zahlung geleistet wurde, hingegen schon.

21

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt und dass in Ermangelung einer Harmonisierung auf der Ebene der Union das Recht jedes Mitgliedstaats bestimmt, unter welchen Voraussetzungen Leistungen der sozialen Sicherheit gewährt werden. Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht beachten (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Kristiansen, C‑92/02, EU:C:2003:652, Rn. 31, und Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 40).

22

Hinsichtlich der BSB ist ferner darauf hinzuweisen, dass diese ebenso wie das Statut der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: Statut) durch eine Verordnung des Rates, die Verordnung Nr. 259/68, festgelegt wurden, die nach Art. 249 Abs. 2 EG allgemeine Geltung hat, in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt. Neben ihren Wirkungen innerhalb der Unionsverwaltung verpflichten die BSB somit auch die Mitgliedstaaten, soweit deren Mitwirkung zu ihrer Durchführung erforderlich ist (Urteile Kommission/Belgien, EU:C:1981:237, Rn. 7 und 8, Kommission/Belgien, 186/85, EU:C:1987:208, Rn. 21, und Kristiansen, EU:C:2003:652, Rn. 32).

23

Die belgische Regierung legt dar, dass das System der Arbeitslosenversicherung in Belgien auf dem Solidaritätsprinzip beruhe, das die vorherige Zahlung von Beiträgen impliziere. Die in diesem System aufgestellten Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld verstießen gegen keine Regel des Unionsrechts und insbesondere gegen keine spezielle Bestimmung der BSB. Daher sei die im Urteil My (EU:C:2004:821) entwickelte Lösung nicht auf das Ausgangsverfahren übertragbar.

24

Zwar enthält Art. 96 Abs. 1 der BSB, wonach einem ehemaligen Vertragsbediensteten, der nach dem Ausscheiden aus dem Dienst bei einem Organ der Union arbeitslos ist, unter bestimmten Voraussetzungen ein Arbeitslosengeld gezahlt wird, selbst keine weitere Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen für die Gewährung der in ihrem nationalen System vorgesehenen Leistungen festzulegen, als die sich aus dieser Vorschrift ergebende, nämlich zu beachten, dass das dort vorgesehene Arbeitslosengeld im Verhältnis zu dem Arbeitslosengeld, auf das der ehemalige Vertragsbedienstete möglicherweise nach dem betreffenden nationalen System Anspruch hat, ergänzenden Charakter hat.

25

Der Gerichtshof hat allerdings im Urteil My (EU:C:2004:821) entschieden, dass Art. 10 EG in Verbindung mit dem Statut so auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es nicht erlaubt, für die Begründung eines Anspruchs auf eine vorgezogene Altersrente nach dem nationalen System die Beschäftigungsjahre zu berücksichtigen, die ein Unionsangehöriger im Dienst eines Unionsorgans zurückgelegt hat. Im Beschluss Ricci und Pisaneschi (EU:C:2010:420) hat der Gerichtshof klargestellt, dass dies auch für die Begründung eines Anspruchs auf eine gewöhnliche Altersrente gilt.

26

Dabei hat sich der Gerichtshof nicht auf eine spezifische Bestimmung des Statuts gestützt, sondern unter Bezugnahme auf das Urteil Kommission/Belgien (EU:C:1981:237) in den Rn. 45 bis 48 des Urteils My (EU:C:2004:821) festgestellt, dass eine solche Regelung ebenso wie die Weigerung, die Maßnahmen zu ergreifen, die zu der in Art. 11 Abs. 2 des Anhangs des Statuts vorgesehenen Übertragung des versicherungsmathematischen Gegenwerts oder des pauschalen Rückkaufwerts der im nationalen Versorgungssystem erworbenen Ruhegehaltsansprüche auf das gemeinschaftliche Versorgungssystem notwendig sind, die Einstellung von nationalen Beamten mit einem gewissen Dienstalter durch die Unionsorgane erschweren könnte. Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass eine solche Regelung nämlich von der Ausübung einer Berufstätigkeit bei einem Unionsorgan abschrecken kann, weil ein Arbeitnehmer, der zuvor einem nationalen Versorgungssystem angehört hat, durch die Annahme einer Stelle bei einem solchen Organ Gefahr läuft, eine Altersleistung nach diesem System nicht mehr in Anspruch nehmen zu können, auf die er Anspruch gehabt hätte, wenn er diese Stelle nicht angenommen hätte. Der Gerichtshof hat entschieden, dass derartige Folgen angesichts der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit und Unterstützung, die den Mitgliedstaaten gegenüber der Union obliegt und die ihren Ausdruck in der Verpflichtung von Art. 10 EG findet, ihr die Erfüllung ihrer Aufgabe zu erleichtern, nicht hingenommen werden können.

27

Auch die Regelung eines Mitgliedstaats, wonach die Berücksichtigung der als Vertragsbediensteter bei einem Organ der Union mit Sitz in diesem Mitgliedstaat zurückgelegten Arbeitszeiten für den Anspruch auf Arbeitslosengeld verweigert wird, erschwert die Einstellung von Vertragsbediensteten durch die Organe. Wie nämlich der Generalanwalt in den Nrn. 51 bis 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann eine solche Regelung die in diesem Mitgliedstaat ansässigen Arbeitnehmer davon abschrecken, bei einem Unionsorgan eine Beschäftigung auszuüben, deren durch Rechtsvorschrift begrenzte Dauer sie vor die Aussicht stellt, sich früher oder später (wieder) in den nationalen Arbeitsmarkt einfügen zu müssen, da sie aufgrund dieser Beschäftigung Gefahr laufen, die Zahl der Arbeitstage nicht zu erreichen, die nach dieser Regelung für den Bezug von Arbeitslosengeld vorgeschrieben ist.

28

Eine solche Regelung könnte dieselbe abschreckende Wirkung damit entfalten, dass für die Begründung eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld in diesem Mitgliedstaat Tage der Arbeitslosigkeit, für die Arbeitslosengeld nach den BSB gezahlt wurde, Arbeitstagen nicht gleichgestellt werden, weil Tage der Arbeitslosigkeit, für die nach der Regelung des Mitgliedstaats eine Zahlung geleistet wurde, in dieser Weise gleichgestellt werden.

29

Folglich ist, ohne dass die Frage zu Art. 34 Abs. 1 der Charta geprüft zu werden braucht, auf die Frage zu antworten, dass Art. 10 EG in Verbindung mit den BSB einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die dahin ausgelegt wird, dass für den Anspruch auf Arbeitslosengeld die als Vertragsbediensteter bei einem Organ der Union mit Sitz in diesem Mitgliedstaat zurückgelegten Arbeitszeiten nicht berücksichtigt werden und Tage der Arbeitslosigkeit, für die Arbeitslosengeld nach den BSB gezahlt wurde, Arbeitstagen nicht gleichgestellt werden, solche, für die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats eine Zahlung geleistet wurde, hingegen schon.

Kosten

30

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 10 EG in Verbindung mit den Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften, die in der Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 259/68 des Rates vom 29. Februar 1968 zur Festlegung des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften sowie zur Einführung von Sondermaßnahmen, die vorübergehend auf die Beamten der Kommission anwendbar sind, in der durch die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 723/2004 des Rates vom 22. März 2004 geänderten Fassung niedergelegt sind, steht der Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegen, die dahin ausgelegt wird, dass für den Anspruch auf Arbeitslosengeld die als Vertragsbediensteter bei einem Organ der Union mit Sitz in diesem Mitgliedstaat zurückgelegten Arbeitszeiten nicht berücksichtigt werden und Tage der Arbeitslosigkeit, für die Arbeitslosengeld nach den Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften gezahlt wurde, Arbeitstagen nicht gleichgestellt werden, solche, für die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats eine Zahlung geleistet wurde, hingegen schon.

 

Unterschriften


( *1 )   Verfahrenssprache: Französisch.

Top