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Document 62013CJ0400

    Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 18. Dezember 2014.
    Sophia Marie Nicole Sanders gegen David Verhaegen und Barbara Huber gegen Manfred Huber.
    Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Düsseldorf und des Amtsgerichts Karlsruhe.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung Nr. 4/2009 – Art. 3 – Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Antrag betreffend eine Unterhaltspflicht gegenüber einer in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Person – Nationale Regelung, die eine Zuständigkeitskonzentration begründet.
    Verbundene Rechtssachen C‑400/13 und C‑408/13.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2014:2461

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

    18. Dezember 2014 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Zusammenarbeit in Zivilsachen — Verordnung Nr. 4/2009 — Art. 3 — Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Antrag betreffend eine Unterhaltspflicht gegenüber einer in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Person — Nationale Regelung, die eine Zuständigkeitskonzentration begründet“

    In den verbundenen Rechtssachen C‑400/13 und C‑408/13

    betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Düsseldorf und vom Amtsgericht Karlsruhe (Deutschland) mit Entscheidungen vom 9. Juli und 17. Juni 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 16. und 18. Juli 2013 in den Verfahren

    Sophia Marie Nicole Sanders, vertreten durch Marianne Sanders,

    gegen

    David Verhaegen (C‑400/13)

    und

    Barbara Huber

    gegen

    Manfred Huber (C‑408/13)

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund,

    Generalanwalt: N. Jääskinen,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Eggers und A.‑M. Rouchaud-Joët als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. September 2014

    folgendes

    Urteil

    1

    Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 3 Buchst. a und b der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. 2009, L 7, S. 1).

    2

    Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zum einen zwischen dem minderjährigen Kind Sophia Marie Nicole Sanders – vertreten durch ihre Mutter, Frau Sanders – und ihrem Vater, Herrn Verhaegen, und zum anderen zwischen Frau Huber und ihrem getrennt lebenden Ehemann, Herrn Huber, wegen Unterhaltsansprüchen.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Die Erwägungsgründe 4, 9, 11, 15, 23, 44 und 45 der Verordnung Nr. 4/2009 lauten:

    „(4)

    Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere den Rat und die Kommission aufgefordert, besondere gemeinsame Verfahrensregeln für die Vereinfachung und Beschleunigung der Beilegung grenzüberschreitender Rechtsstreitigkeiten unter anderem bei Unterhaltsansprüchen festzulegen. Er hat ferner die Abschaffung der Zwischenmaßnahmen gefordert, die notwendig sind, um die Anerkennung und Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung, insbesondere einer Entscheidung über einen Unterhaltsanspruch, im ersuchten Staat zu ermöglichen.

    (9)

    Es sollte einem Unterhaltsberechtigten ohne Umstände möglich sein, in einem Mitgliedstaat eine Entscheidung zu erwirken, die automatisch in einem anderen Mitgliedstaat ohne weitere Formalitäten vollstreckbar ist.

    (11)

    Der Anwendungsbereich dieser Verordnung sollte sich auf sämtliche Unterhaltspflichten erstrecken, die auf einem Familien-, Verwandtschafts-, oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen; hierdurch soll die Gleichbehandlung aller Unterhaltsberechtigten gewährleistet werden. Für die Zwecke dieser Verordnung sollte der Begriff ‚Unterhaltspflicht‘ autonom ausgelegt werden.

    (15)

    Um die Interessen der Unterhaltsberechtigten zu wahren und eine ordnungsgemäße Rechtspflege innerhalb der Europäischen Union zu fördern, sollten die Vorschriften über die Zuständigkeit, die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 [des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)] ergeben, angepasst werden. So sollte der Umstand, dass ein Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Drittstaat hat, nicht mehr die Anwendung der gemeinschaftlichen Vorschriften über die Zuständigkeit ausschließen, und auch eine Rückverweisung auf die innerstaatlichen Vorschriften über die Zuständigkeit sollte nicht mehr möglich sein. Daher sollte in dieser Verordnung festgelegt werden, in welchen Fällen ein Gericht eines Mitgliedstaats eine subsidiäre Zuständigkeit ausüben kann.

    (23)

    Um die mit den Verfahren gemäß dieser Verordnung verbundenen Kosten zu begrenzen, wäre es zweckdienlich, so umfassend wie möglich auf die modernen Kommunikationstechnologien zurückzugreifen, insbesondere bei der Anhörung der Parteien.

    (44)

    Diese Verordnung sollte die Verordnung … Nr. 44/2001 ändern, indem sie deren auf Unterhaltssachen anwendbare Bestimmungen ersetzt. Vorbehaltlich der Übergangsbestimmungen dieser Verordnung sollten die Mitgliedstaaten bei Unterhaltssachen, ab dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit dieser Verordnung die Bestimmungen dieser Verordnung über die Zuständigkeit, die Anerkennung, die Vollstreckbarkeit und die Vollstreckung von Entscheidungen und über die Prozesskostenhilfe anstelle der entsprechenden Bestimmungen der Verordnung … Nr. 44/2001 anwenden.

    (45)

    Da die Ziele dieser Verordnung, nämlich die Schaffung eines Instrumentariums zur effektiven Durchsetzung von Unterhaltsforderungen in grenzüberschreitenden Situationen und somit zur Erleichterung der Freizügigkeit der Personen innerhalb der Europäischen Union, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht hinreichend verwirklicht und daher aufgrund des Umfangs und der Wirkungen dieser Verordnung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 [EUV] niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Verordnung nicht über das für die Erreichung dieser Ziele erforderliche Maß hinaus.“

    4

    Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 lautet:

    „Diese Verordnung findet Anwendung auf Unterhaltspflichten, die auf einem Familien-, Verwandtschafts-, oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen.“

    5

    Art. 3 dieser Verordnung sieht vor:

    „Zuständig für Entscheidungen in Unterhaltssachen in den Mitgliedstaaten ist

    a)

    das Gericht des Ortes, an dem der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder

    b)

    das Gericht des Ortes, an dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat …“

    6

    Die Art. 4 und 5 der genannten Verordnung betreffen Gerichtsstandsvereinbarungen bzw. die durch rügelose Einlassung begründete Zuständigkeit.

    7

    Art. 5 der Verordnung Nr. 44/2001 bestimmt:

    „Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

    2.

    wenn es sich um eine Unterhaltssache handelt, vor dem Gericht des Ortes, an dem der Unterhaltsberechtigte seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder im Falle einer Unterhaltssache, über die im Zusammenhang mit einem Verfahren in Bezug auf den Personenstand zu entscheiden ist, vor dem nach seinem Recht für dieses Verfahren zuständigen Gericht, es sei denn, diese Zuständigkeit beruht lediglich auf der Staatsangehörigkeit einer der Parteien;

    …“

    Deutsches Recht

    8

    § 28 („Zuständigkeitskonzentration; Verordnungsermächtigung“) des Gesetzes zur Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen im Verkehr mit ausländischen Staaten (Auslandsunterhaltsgesetz – AUG) vom 23. Mai 2011 (BGBl. 2011 I, S. 898) bestimmt:

    „(1)   Wenn ein Beteiligter seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland hat, entscheidet über Anträge in Unterhaltssachen in den Fällen des Artikels 3 Buchstabe a und b der Verordnung … Nr. 4/2009 ausschließlich das für den Sitz des Oberlandesgerichts, in dessen Bezirk der Antragsgegner oder der Berechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, zuständige Amtsgericht. Für den Bezirk des Kammergerichts ist das Amtsgericht Pankow-Weißensee zuständig.

    (2)   Die Landesregierungen werden ermächtigt, diese Zuständigkeit durch Rechtsverordnung einem anderen Amtsgericht des Oberlandesgerichtsbezirks oder, wenn in einem Land mehrere Oberlandesgerichte errichtet sind, einem Amtsgericht für die Bezirke aller oder mehrerer Oberlandesgerichte zuzuweisen. Die Landesregierungen können diese Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die Landesjustizverwaltungen übertragen.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    Rechtssache C‑400/13

    9

    Die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Mettmann (Deutschland) hat, nimmt ihren in Belgien lebenden Vater, Herrn Verhaegen, mit am 29. Mai 2013 beim Amtsgericht ihres Wohnorts, dem Amtsgericht Mettmann, eingereichtem Antrag auf Kindesunterhalt in Anspruch. Dieses Gericht gab nach Anhörung der Parteien das Verfahren gemäß § 28 Abs. 1 AUG an das Amtsgericht Düsseldorf ab.

    10

    Das Amtsgericht Düsseldorf ist der Auffassung, es sei nach Art. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 4/2009 nicht für die Entscheidung des Rechtsstreits zuständig. Zuständig sei nämlich das Gericht des Ortes eines Mitgliedstaats, an dem der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe, im vorliegenden Fall das Amtsgericht Mettmann.

    11

    Das vorlegende Gericht äußert insbesondere hinsichtlich der für Unterhaltsverfahren in § 28 AUG vorgesehenen Regelung einer „Zuständigkeitskonzentration“ Zweifel. Konkret nehme diese Zuständigkeitskonzentration im Inland lebenden Kindern die Möglichkeit, das Verfahren an dem für ihren gewöhnlichen Aufenthalt zuständigen Gericht führen zu können.

    12

    Unter diesen Umständen hat das Amtsgericht Düsseldorf beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Verstößt § 28 Abs. 1 AUG gegen Art. 3 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 4/2009?

    Rechtssache C‑408/13

    13

    Frau Huber ist in Kehl (Deutschland) wohnhaft und begehrt von ihrem auf Barbados wohnhaften Ehemann die Zahlung von Trennungsunterhalt. Den entsprechenden Antrag erhob sie bei ihrem Wohnsitzgericht, dem Amtsgericht Kehl. Dieses verwies den Antrag gemäß § 28 Abs. 1 AUG an das Amtsgericht Karlsruhe und führte zur Begründung aus, dieses Gericht sei zuständig, da die Antragstellerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe habe.

    14

    Das vorlegende Gericht äußert ebenfalls Zweifel an der Vereinbarkeit von § 28 Abs. 1 AUG mit Art. 3 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 4/2009.

    15

    Nach Ansicht dieses Gerichts verdrängt die Verordnung Nr. 4/2009 nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die nationalen Zuständigkeitsregeln vollständig. Wenn aber, so das vorlegende Gericht, Art. 3 Buchst. a und b dieser Verordnung die internationale und die örtliche Zuständigkeit regeln sollte, dürfte es den einzelnen Mitgliedstaaten verboten sein, von der genannten Verordnung abweichende Zuständigkeitsregelungen zu treffen.

    16

    Das Amtsgericht Karlsruhe vertritt die Auffassung, dass die genannte nationale Vorschrift die internationale Unterhaltsrealisierung entgegen der Zielsetzung der Verordnung Nr. 4/2009 nicht unerheblich erschwere. Denn die Unterhaltsberechtigten müssten ihre Ansprüche bei einem anderem Gericht als dem ihres Wohnsitzes geltend machen, was einen Zeitverlust mit sich bringe. Außerdem verfüge ein solches anderes Gericht nicht über die relevanten Informationen bezüglich der örtlichen wirtschaftlichen Verhältnisse der berechtigten Person – um deren Bedarf bestimmen zu können – und bezüglich der Leistungsfähigkeit der verpflichteten Person.

    17

    Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens gewillt sind, die Zuständigkeit des Wohnsitzgerichts der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens, d. h. des Amtsgerichts Kehl, zu begründen, sei es im Wege einer Gerichtsstandsvereinbarung oder im Wege der rügelosen Einlassung des Antragsgegners.

    18

    Unter diesen Umständen hat das Amtsgericht Karlsruhe beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Ist es mit Art. 3 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 4/2009 vereinbar, wenn in § 28 Abs. 1 Satz 1 AUG geregelt ist, dass dann, wenn ein Beteiligter seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland hat, über Anträge in Unterhaltssachen in den Fällen des Art. 3 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 4/2009 ausschließlich das für den Sitz des Oberlandesgerichts, in dessen Bezirk der Antragsgegner oder der Berechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, zuständige Amtsgericht entscheidet?

    19

    Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. Juli 2013 sind die Rechtssachen C‑400/13 und C‑408/13 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

    Zu den Vorlagefragen

    20

    In Anbetracht der in Rn. 17 des vorliegenden Urteils geschilderten Umstände deutet das Amtsgericht Karlsruhe eine mögliche Unvereinbarkeit der deutschen Rechtsvorschrift mit den Art. 4 und 5 der Verordnung Nr. 4/2009 an. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass dieses Gericht, wie die Kommission vorbringt, den Gerichtshof nur nach der Tragweite von Art. 3 dieser Verordnung fragt.

    21

    Des Weiteren geht aus den Vorabentscheidungsersuchen klar hervor, dass die Ausgangsrechtsstreitigkeiten nur den Fall betreffen, dass der Unterhaltsberechtigte bei dem Gericht des Ortes, an dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, einen Antrag gegen die verpflichtete Person stellt. Daher sind die Fragen der vorlegenden Gerichte nur im Hinblick auf Art. 3 Buchst. b der genannten Verordnung zu beantworten.

    22

    Mit ihrer jeweiligen Frage möchten die vorlegenden Gerichte im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 4/2009 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die eine gerichtliche Zuständigkeitskonzentration für grenzüberschreitende Unterhaltssachen bei dem erstinstanzlichen Gericht begründet, das für den Sitz des Rechtsmittelgerichts zuständig ist.

    23

    Zunächst ist klarzustellen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Vorschriften über die Zuständigkeit in Unterhaltssachen im Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32, im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) und in der Verordnung Nr. 44/2001 – die in einer Reihe mit dem Brüsseler Übereinkommen steht – für die Prüfung der entsprechenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 4/2009 insoweit weiterhin relevant ist, als die Vorschriften der Verordnung Nr. 4/2009 über die Zuständigkeitsregeln an die Stelle der entsprechenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001 getreten sind.

    24

    Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Vorschriften über die Zuständigkeitsregeln nach ständiger Rechtsprechung autonom und unter Berücksichtigung der Zielsetzungen und der Systematik dieser Verordnung sowie der allgemeinen Rechtsgrundsätze auszulegen sind, die sich aus der Gesamtheit der nationalen Rechtsordnungen ergeben (vgl. entsprechend Urteile Cartier parfums-lunettes und Axa Corporate Solutions assurances, C‑1/13, EU:C:2014:109, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie flyLAL-Lithuanian Airlines, C‑302/13, EU:C:2014:2319, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    25

    Vor diesem Hintergrund ist Art. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 4/2009 im Licht seiner Ziele, seines Wortlauts und der Systematik, in die er eingebettet ist, auszulegen.

    26

    Insoweit ergibt sich erstens aus dem 45. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 4/2009, dass diese auf die Schaffung eines Instrumentariums zur effektiven Durchsetzung von Unterhaltsforderungen in grenzüberschreitenden Situationen und somit auf eine Erleichterung der Freizügigkeit der Personen innerhalb der Union abzielt. Nach dem neunten Erwägungsgrund dieser Verordnung sollte es einem Unterhaltsberechtigten ohne Umstände möglich sein, in einem Mitgliedstaat eine Entscheidung zu erwirken, die automatisch in einem anderen Mitgliedstaat ohne weitere Formalitäten vollstreckbar ist.

    27

    Zweitens heißt es im 15. Erwägungsgrund der genannten Verordnung, dass die Vorschriften über die Zuständigkeit, die sich aus der Verordnung Nr. 44/2001 ergeben, angepasst werden sollen, um die Interessen der Unterhaltsberechtigten zu wahren und eine ordnungsgemäße Rechtspflege innerhalb der Europäischen Union zu fördern.

    28

    Was die Vorschriften über die Zuständigkeit bei grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten über Unterhaltsansprüche betrifft, hat der Gerichtshof zu Art. 5 Nr. 2 des Brüsseler Übereinkommens bereits entschieden, dass die Ausnahme zu den Vorschriften über die Zuständigkeit in Unterhaltssachen dem Unterhaltsberechtigten, der in einem solchen Verfahren als die schwächere Partei angesehen wird, einen besonderen Schutz gewähren soll (vgl. in diesem Sinne Urteile Farrell, C‑295/95, EU:C:1997:168, Rn. 19, und Blijdenstein, C‑433/01, EU:C:2004:21, Rn. 29 und 30). Insoweit sollen die Zuständigkeitsregeln der Verordnung Nr. 4/2009 ebenso wie die Zuständigkeitsregel in dem genannten Art. 5 Nr. 2 eine Nähe zwischen berechtigter Person und zuständigem Gericht garantieren, wie auch der Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge ausgeführt hat.

    29

    Außerdem ist zu betonen, dass das Ziel einer ordnungsgemäßen Rechtspflege nicht nur unter dem Blickwinkel einer Optimierung der Gerichtsorganisation zu verstehen ist, sondern auch, worauf der Generalanwalt in Nr. 69 seiner Schlussanträge hingewiesen hat, im Hinblick auf das Interesse der Parteien – unabhängig davon, ob es sich dabei um den Antragsteller oder den Antragsgegner handelt –, denen es möglich sein muss, u. a. einen erleichterten Zugang zur Justiz zu erlangen und die Zuständigkeitsregeln vorherzusehen.

    30

    Art. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 4/2009 legt das Kriterium fest, anhand dessen das für die Entscheidung in grenzüberschreitenden Unterhaltsrechtsstreitigkeiten zuständige Gericht bestimmt werden kann; maßgeblich ist danach „der Ort, an dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat“. Diese Bestimmung, die sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit festlegt, bezweckt, die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit zu vereinheitlichen (vgl. in diesem Sinne Urteil Color Drack, C‑386/05, EU:C:2007:262, Rn. 30).

    31

    In ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen weisen die deutsche Regierung und die Kommission darauf hin, dass auch dann, wenn Art. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 4/2009 die internationale und die örtliche Zuständigkeit der für die Entscheidung in grenzüberschreitenden Unterhaltsrechtsstreitigkeiten zuständigen Gerichte festlege, es gleichwohl allein den Mitgliedstaaten obliege, im Rahmen ihrer Gerichtsorganisation das Gericht zu bestimmen, das konkret für die Entscheidung über derartige Rechtsstreitigkeiten zuständig sei, und den Bezirk der Gerichte des Ortes, an dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt habe, im Sinne von Art. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 4/2009, festzulegen.

    32

    Hierzu ist festzustellen, dass zwar die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit durch eine Festlegung gemeinsamer Anknüpfungskriterien harmonisiert worden sind, die Bestimmung des zuständigen Gerichts aber weiterhin in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile Mulox IBC, C‑125/92, EU:C:1993:306, Rn. 25, und GIE Groupe Concorde u. a., C‑440/97, EU:C:1999:456, Rn. 31), vorausgesetzt, die entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften stellen die Ziele der Verordnung Nr. 4/2009 nicht in Frage und nehmen dieser nicht ihre praktische Wirksamkeit (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Zuid-Chemie, C‑189/08, EU:C:2009:475, Rn. 30, und entsprechend Urteil C., C‑92/12 PPU, EU:C:2012:255, Rn. 79).

    33

    Vorliegend ist erstens zu prüfen, ob in Verfahren, die Unterhaltsansprüche zum Gegenstand haben, eine Zuständigkeitskonzentration wie die in den Ausgangsverfahren fragliche dazu führt, dass im Inland lebende Personen den durch die Verordnung Nr. 4/2009 gewährten Vorteil verlieren, das Verfahren an dem für ihren gewöhnlichen Aufenthalt zuständigen Gericht führen zu können.

    34

    Insoweit wird auf S. 25 des Berichts von Herrn Jenard zum Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1979, C 59, S. 1) näher ausgeführt, dass „das nach dem Wohnsitz des Unterhaltsberechtigten zuständige Gericht am besten in der Lage [ist], die Unterhaltsbedürftigkeit festzustellen und den Unterhaltsbetrag festzulegen“.

    35

    Klarstellend ist anzumerken, dass die Verwirklichung der in den Rn. 28 und 29 des vorliegenden Urteils angeführten Ziele nicht impliziert, dass die Mitgliedstaaten an jedem Ort ein zuständiges Gericht errichten müssten.

    36

    Wichtig ist es jedoch, dass von den zur Entscheidung in Unterhaltsrechtsstreitigkeiten bestimmten Gerichten das Gericht zuständig ist, das eine besonders enge Verknüpfung zu dem Ort gewährleistet, an dem der Unterhaltsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

    37

    Die Kommission weist insoweit darauf hin, dass die Verordnung Nr. 4/2009 die Freiheit der Mitgliedstaaten bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts insofern begrenze, als es sich um eine örtliche Zuständigkeit am gewöhnlichen Aufenthaltsort der berechtigten Person handeln müsse. Daher muss bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts im Rahmen der Gerichtsorganisation des betreffenden Mitgliedstaats ein sinnvoller Bezug zwischen diesem Gericht und dem gewöhnlichen Aufenthaltsort der berechtigten Person hergestellt werden.

    38

    Vorliegend ist das zuständige Gericht nach der Regelung in § 28 AUG das für den Sitz des örtlich zuständigen Oberlandesgerichts, vor dem der Berechtigte im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens erscheinen müsste, zuständige Amtsgericht.

    39

    Daher trägt die genannte Vorschrift – indem sie als Gericht des Ortes, an dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, im Sinne von Art. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 4/2009 ein Gericht bestimmt, dessen Bezirk nicht zwingend mit dem des Gerichts übereinstimmt, das für nationale Rechtsstreitigkeiten mit demselben Gegenstand zuständig ist – nicht notwendigerweise zur Verwirklichung des Ziels der räumlichen Nähe bei.

    40

    Allerdings zählt die räumliche Nähe zwischen dem zuständigen Gericht und dem Unterhaltsberechtigten zwar zu den mit Art. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 4/2009 verfolgten Zielen, stellt aber, wie in Rn. 26 bis 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nicht das einzige Ziel dieser Verordnung dar.

    41

    Zweitens ist daher zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche geeignet ist, das mit der Verordnung Nr. 4/2009 verfolgte Ziel, die internationale Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen so weit wie möglich zu erleichtern, zu gefährden, indem sie möglicherweise dazu führt, dass das Verfahren schwerfälliger wird, weil sie für die Parteien einen nicht unerheblichen zeitlichen Mehraufwand mit sich bringt.

    42

    Die deutsche Regierung und die Kommission machen geltend, dass sich eine gerichtliche Zuständigkeitskonzentration für Unterhaltssachen wie die in den Ausgangsverfahren fragliche positiv auf die Rechtspflege auswirke, da sie den Zugang zu spezialisierten und damit zu Gerichten ermögliche, die mit einer größeren Sachkunde in dieser Art von Streitsachen – die regelmäßig von erheblicher tatsächlicher und rechtlicher Komplexität seien – ausgestattet seien.

    43

    Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass zwar die unterschiedlichen geografischen Bezirke der in Unterhaltssachen zuständigen Gerichte es bedingen, dass der Unterhaltsberechtigte bei einem grenzüberschreitenden Rechtsstreit in bestimmten Fällen einen weiteren Weg zurücklegen muss, dies aber nicht in jedem Fall so sein muss. Die Anrufung eines Gerichts bedeutet nämlich nicht, dass die Parteien in jeder Phase des Verfahrens eine Reise auf sich nehmen müssten. Daher ist, wie auch im 23. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 4/2009 klargestellt wird, zur Begrenzung der mit den Verfahren gemäß dieser Verordnung verbundenen Kosten in erster Linie so umfassend wie möglich auf die modernen Kommunikationstechnologien zurückzugreifen, insbesondere bei der Anhörung der Parteien, da diese verfahrenstechnischen Mittel geeignet sind, Reisen der Parteien zu vermeiden.

    44

    Zum anderen ist eine Zuständigkeitsregel wie die in den Ausgangsverfahren fragliche geeignet, die in den Rn. 26 bis 29 des vorliegenden Urteils angeführten Anforderungen, nämlich die Schaffung eines Instrumentariums zur effektiven Durchsetzung von Unterhaltsforderungen in grenzüberschreitenden Situationen, die Wahrung der Interessen der Unterhaltsberechtigten und die Förderung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege, gleichzeitig zu erfüllen.

    45

    Eine Zuständigkeitskonzentration wie die in den Ausgangsverfahren fragliche trägt nämlich zur Entwicklung einer besonderen Sachkunde bei, die die Effektivität der Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen erhöhen kann und zugleich eine ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleistet sowie den Interessen der Parteien des Rechtsstreits dient.

    46

    Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine solche Zuständigkeitskonzentration eine effektive Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen in grenzüberschreitenden Situationen einschränkt, was eine konkrete Prüfung der in dem betreffenden Mitgliedstaat bestehenden Situation durch die vorlegenden Gerichte voraussetzt.

    47

    Nach alledem ist Art. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 4/2009 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die eine gerichtliche Zuständigkeitskonzentration für grenzüberschreitende Unterhaltssachen bei dem für den Sitz des Rechtsmittelgerichts zuständigen erstinstanzlichen Gericht begründet, es sei denn, diese Regelung trägt zur Verwirklichung des Ziels einer ordnungsgemäßen Rechtspflege bei und schützt die Interessen der Unterhaltsberechtigten, indem sie zugleich eine effektive Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen begünstigt, was zu prüfen jedoch Sache der vorlegenden Gerichte ist.

    Kosten

    48

    Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenfestsetzung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 3 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die eine gerichtliche Zuständigkeitskonzentration für grenzüberschreitende Unterhaltssachen bei dem für den Sitz des Rechtsmittelgerichts zuständigen erstinstanzlichen Gericht begründet, es sei denn, diese Regelung trägt zur Verwirklichung des Ziels einer ordnungsgemäßen Rechtspflege bei und schützt die Interessen der Unterhaltsberechtigten, indem sie zugleich eine effektive Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen begünstigt, was zu prüfen jedoch Sache der vorlegenden Gerichte ist.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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